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KNDINÖ LIST DEC 1 1922
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ZEITSCHRIFT FÜR ÄSTHETIK
UMD
ALLGEMEINE KUNSTWISSENSCHAFT
HERAUSGEGEBEN
VON
MAX DESSOIR
VIERZEHNTER BAND
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STUTTGART
VERLAG VON FERDINAND ENKE
1920
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NOV A ^ 1959
Sily of ^^^'
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschjift in Stuttgart.
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Inhaltsverzeichnis des XIV. Bandes.
Abhandlungen.
*• Seite
I. Emil Utitz, Oeor(j; Simmei und die Philosophie der Kunst . . 1—41
II. Carl Enders, Die Deutung des Homuni<ulus in Goethes Faust 42—68
^'lll. Heinrich Merk, Wilhelm von Scholz als Theoretiker des Dramas 6Q— 89
IV. Theodor A. Meyer, Erkenntnis und Poesie 113—129
V. Hans Joachim Moser, Zur Methodik der musikalischen Oe-
schichtschreibung 130—145
AVI. Robert Klein, Heinrich Theodor Rötschers Theorie der Schau-
spielkunst : 146—170
VII. Betty M. Heimann, Das ästhetische Naturerlebnis 225—238
VIII. Otto Loewi, Über Wertung und Wirkung von Werken der bil-
denden Kunst 239—252
IX. V. Curt Habicht, Über Malerbildhauer und Bildhauermaler.
Kriterien zur Bestimmung von Werken aus einer Hand . . . 253—266
X. Josef O. Daninger, Über den Tonschatten 267—274
XI. Erwin Panofsky, Der Begriff des Kunstwollens 321—339
XII. Karl Vietor, Der Bau der Gedichte Hölderlins 340—355-
XIII. Friedrich Sieburg, Die Grade der lyrischen Formung . . . 356—396
Bemerkungen.
^ Georg Marzynski, Die impressionistische Methode 90—94
August Schmarsow, Rhythmus in menschlichen Raumgebilden . . 171 — 187
"Gerhart Roden wa Idt, Methodologisches 187—193
Erich Major, Das Ästhetische und die Kunst 275—279
Carl Enders, Fichte und die Lehre von der »romantischen Ironie« 279 — 284
Leo Adler, Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit in der Architektur 284—288
X Friedrich Kreis, Die Begrenzung von Epos und Drama in der Theorie
Otto Ludwigs 288-296
Walter Thomä, Über den Maßstab in der bildenden Kunst . . . . 397—404
Mela Escherich, Das sichtbare Unsichtbare 405—408
Besprechungen.
Broecker, M. v., Kunstgeschichte im Grundriß. Bespr. von Elisabeth
von Orth 299-300
Bühler, Charlotte, Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Bespr.
von Alfred Baeumler 310—312
Cohn-Wiener, Ernst, Die Entwicklungsgeschichte der Stile in der
bildenden Kunst. Bespr. von Elisabeth von Orth 307—310
IV INHALTSVERZEICHNIS DES XIV. BANDES.
Seite
Deutsche Bühne, Jahrbuch der Frankfurter Städtischen Bühnen. Bespr.
von Max Dessoir 317 — 320
Dvorak, Max, Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur
und Malerei. Bespr. von Erich Everth 409—425
Oundolf, Friedrich, Goethe. Bespr. von Hugo Bieber 1Q4— 208
Hamann, Richard, Ästhetik. Bespr. von Max Dessoir 297
Hoff ding, Harald, Humor als Lebensgefühl (Der große Humor).
Bespr. von Christoph Schwantke 95—96
Katann, Oskar, Ästhetisch-Literarische Arbeiten. Bespr. von Alfred
Baeumler 297—299
Münsterberg, Hugo, Orundzüge der Psychologie. Bespr. von Max
Dessoir 95
Nelson, Leonhard, Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik.
Bespr. von Christoph Schwantke 96—99
Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes. Bespr. von
Christoph Schwantke 316—317
Steinberg, S. D., Ferdinand Hodler, ein Platoniker der Kunst. Bespr.
von Erich Everth 302-307
Waetzoldt, Wilhelm, Deutsche Malerei seit 1870. Bespr. von Oskar
Wulff 425-432
Walzel, Oskar, Wechselseitige Erhellung der Künste. Bespr. von
Alfred Baeumler 300-302
Widmer, Dr. Johannes, Von Hodlers letztem Lebensjahr. Bespr. von
Erich Everth 302-307
With, Karl, Buddhistische Plastik in Japan. Bespr. von Hermann Smidt 312—316
Wundt, Wilhelm, Völkerpsychologie. Bespr. von Emil Utitz . . . 208—211
Schriftenverzeichnis für 1918.
Erste Hälfte 100-109
Zweite Hälfte 212-224
Vorlesungen an Universitäten deutscher Sprache.
Winter-Halbjahr 1918-19 110-112
Berichtigung zur Arbeit Daninger.
S. 272, Zeile 3 hat die Numerierung 1. zu entfallen; S. 272, Zeile 9 von unten:
Streichbässen statt Streichbläsern ; S. 274, Anmerkung : das Wort „eckige" ist zu streichen.
I.
Georg Simmel und die Philosophie der Kunst.
Von
Emil Utitz.
Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat an mich die ehrende Auf-
forderung gerichtet, in Form eines Nachrufes Georg Simmeis Kunst-
philosophie zu würdigen. Ich habe Georg Simmel nicht gekannt, ja
ich habe ihn niemals sprechen gehört. Sachlich stehe ich seinem Werl«
in vieler Hinsicht fern. Wenn ich mich trotzdem entschloß, der Ein-
ladung des Herausgebers Folge zu leisten, so überwand der Gedanke
alle Hemmungen, daß es vielleicht angebracht ist, nach den vielen Auf-
sätzen, die beredt die Persönlichkeit des Dahingeschiedenen gefeiert
haben, auch einmal ganz nüchtern zu schildern, welches Erbe Simmel
unserer Wissenschaft hinterlassen hat.
Es gibt zwei Arten segensreicher Erbschaften. Die erste läßt sich
leicht ausdrücken und berechnen durch greifbare Werte: Geld, Grund-
stücke, Häuser usw. Die zweite ist nicht so einfach faßbar: sie besteht
z. B. in einer sorgfältigen Erziehung, vortrefflichen Ratschlägen, in dem
Vorbild eines makellosen Lebens. Vom Erben hängt es nun ab, ob
und wie er diese Schätze ausnützt: den Vorzug der Erziehung, die
Weisheit des Rates, die Richtlinien aus jenem Dasein.
Durchmustert man das Erbe Simmeis für die Kunstphilosophie,
so ist es vorwiegend eines der zweiten Art: weniger festes Ergebnis,
geprägte Münze, als: Aufgabe, Problem, Weckruf und Ziel Weisung.
Wir wollen darum auch damit beginnen. Obgleich wir mit dem unserer
Wissenschaft zugefallenen Erbe uns möglichst zu bescheiden streben,
werden wir doch hier und da auf die Gesamtleistung Simmeis wenig-
stens hinblicken müssen. Denn er war ein Feind jeder atomisierenden
Zerstückelung; mit einer geradezu religiösen Verehrung kündete er
immer und immer wieder das Wunder der Einheit alles Lebens, die
Einheit der Persönlichkeit. Alles, was er schuf, mag es im einzelnen
noch so hart einander widerstreiten, wurzelt in der dunklen Tiefe eines
einzigartigen und einheitlichen Wesens. Alle seine Schriften sind
lediglich die schöpferische Entfaltung dieses Seins, Pulsschläge seiner
Lebensbewegtheit. Man darf wohl sagen: Simmel hat uns die Philo-
Z«jtschr. f. Äsllietik ti. al!_'. Kiinsfwi«cn5clmft XIV. I
EMIL UTITZ.
Sophie in seinem Werke »vorgelebt«. Der funktionelle Charakter der
Philosophie, den er vertrat, in ihm wurde er Tat und Wirklichkeit.
Und das ist das Hinreißende, Aufrührende und vielleicht auch Gefähr-
liche seiner Bücher und Aufsätze: sie offenbaren weniger Philosophie
im Sinne eines systematisch geordneten, ineinander verzahnten Begriffs-
systems, als Philosophieren in der Form eines ruhelosen Werdens und
Garens, das eines Denkens sich bedient, reich befruchtet von der
ganzen Weite eines Menschen, der erschauernd nimmer müde mit allen
Dingen dieser Welt ringt, mit ihren geringfügigsten und größten.
Sein letztes Buch trägt den Titel »Lebensanschauung«. In diesem
Wort sind die beiden Grundtatsachen vermählt, die Simmel stets an-
betete: das »Schauen* und das »Leben«. Gewiß galt seine Leiden-
schaft dem Denken; nicht so sehr der fertigen Erkenntnis, sondern
dem Denken als Prozeß, in dem sich ihm das Schauen kristallisierte,
ihm bewußt ward, und durch das er lebte. Indem sein Leben Denken
war, alles Leben in dieses Denken einströmte, um in ihm Form und
Gestalt, Wort und Bild zu werden, behielt dieses Denken auch noch
auf den eisigsten, höchsten Gipfeln der Abstraktion Glanz und Wärme,
jenen Hintergrund unausschöpfbarer, ewig rätselvoller Irrationalität, die
als stolzeste und zugleich verhängnisvollste Gabe allem Lebendigen
eignet. Indem aber sein Denken immer vom Leben umschlungen,
durchglüht, aufgepeitscht oder gezügelt erscheint, wird es nicht reines
Erkennen: es bleibt Bekenntnis, Dokument einer bestimmten Persön-
lichkeit. Das wissenschaftliche Ergebnis und überhaupt die Wissen-
schaft sind dabei — man verzeihe mir dieses harte Wort — etwas
letzthin Zufälliges, gar nicht in erster Linie Angestrebtes und Gewolltes.
Ob der Gegenstand Kant oder Rembrandt heißt, er ist nur ein Sprung-
brett, von dem aus Simmel aufschnellt, um sich auszuleben in der Form
seiner Geistigkeif. In ihrem Auswirken wird allgemein Gültiges ge-
funden und auch bewiesen, aber nur, weil es gerade in der Richtung
dieser Bewegtheit liegt. Man denkt dabei an Goethe, dem Simmel
eines seiner vorzüglichsten Werke gewidmet hat. Aber es ist nicht
der Goethe, von dem Simmel so ergreifend sagt: die Art, > wie Goethe
seinem eigenen Leben im Alter gegenüberstand, ist die großartigste
Objektivierung des Subjekts . . ., von der wir wissen. Denn nicht nur
die Vergangenheit, die er als abgeschlossen ansehen konnte, war ihm
ein reines Bild geworden. Sondern der eben erlebte Tag war ein
solches, ja, der Moment des Erlebens selbst war ihm ein objektives
Geschehen, nicht nur im Sinne der gleichzeitigen Selbstbeobachtung,
der Spaltung des Bewußtseins, die sicher oft gar nicht bestand, wenig-
stens nicht mehr als bei vielen anderen Menschen auch ; vielmehr, der
innere Ton des Erlebens, die Art, wie es subjektiv unmittelbar vorging.
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 3
hatte den Charakter der Objektivität. Nicht nur einzelne Lebensinhalte
waren ihm objektiv geworden, sondern sozusagen der LebensprozeB
selbst — er bedurfte für diese Objektivität nicht mehr der Form des
Gegenüber«. So geht durch das Goethesche Leben von sehr früh
an ein Zug von Resignation, »dem er oft Ausdruck und Nachdruck
gibt. Der Sinn aber dieses Verzichtens in dem allgemeinsten, sein
Leben durchziehenden Sinne scheint mir kein anderer zu sein, als datt
ihm nur auf diesem Wege jene Objektivierung seines Subjekts gelang.
Er mußte sich dauernd überwinden, damit die Intensität, die unmittel-
bare, selig-unselige Strömung seines Lebens gegenständlich werden
konnte«. Nein, jene Objektivation war Simmel nicht verliehen. Ich
spreche dies nicht als Tadel aus, sondern lediglich zur Charakteristik.
Das Skizzenhafte, Fragmentarische, Unabgeschlossene, die ewige
Melodie, die nur unterbrochen werden kann, ohne aber von sich aus
den klärenden, harmonischen Ausklang zu gewinnen, sie wurzeln in
jener Eigentümlichkeit Simmeis. Und darum ist er kein Piaton oder
Aristoteles, sondern ein Sokrates, der aus bedrängter Unruhe des
Herzens immer wieder fragt, der nichts zu wissen behauptet und doch
an allem rüttelt, der mit dem Bildhauer Kleiton über Kunst streitet und
mit jedem anderen gerade über das Problem, das zunächst ins Auge
fällt, der aber nicht geistig verfließt in die verstrickende Vielheit der
Fragen, sondern durch sie die Einheit seiner Persönlichkeit immer reiner
gestaltet. Denn hier ist Philosophieren Lebenshaltung und Lebensform
Tiefste Wesenssaiten Simmeis erklingen, wenn er diese Art des
Philosophierens versucht zu umschreiben, zu rechtfertigen und zu ver-
teidigen. Denn hier kämpft er für das Eigenrecht seiner Persönlich-
keit. Nach ihm soll die Philosophie nicht die Objektivität der Dinge
nachzeichnen, »das tun die ,Wissenschaften' im engeren Sinne, sondern
die Typen der menschlichen Geistigkeit, wie sie sich je an einer be-
stimmten Auffassung der Dinge offenbaren. Nicht die — irgendwie
verstandene — Übereinstimmung mit einem ,Gegenstand' steht für
ihre Behauptungen in Frage, sondern daß diese den adäquaten Aus-
druck für das Sein des Philosophen selbst, für den in ihm lebenden
Menschheitstypus darstellten — sei es, daß dieser eine bestimmte Kate-
gorie von Individuen umschriebe, sei es, daß er ein, in irgendeinem
Maße in jedem Individuum vorhandenes Element bildete«. »Platos
Ideenlehre, Pantheismus der Stoiker und Spinozas, Fichtes weltschöpfe-
risches Ich, Schellings Lehre von der Identität von Natur und Geist,
Schopenhauers Willensmetaphysik, — alles dieses ist oft und bündig
,widerlegt'; allein der jeweilige menschliche Typus, der in diesen
Irrtümern' seine Reaktion auf das Dasein niedergelegt hat, hat alle
Widerlegungen überlebt und jenen Lehren eine in seinem eigenen
EMIL UTITZ.
Maße unsterbliche Bedeutung verliehen — die ihr Kriterium als Wahr-
heit jedenfalls nicht von dem Punkte her gewinnt, auf den die sach-
liche Bedeutung zugeht, sondern von dem, aus dem sie herauskommt«.
Und in der nachgelassenen Schrift über »Lebensanschauung« heißt es:
»Welcher Leitbegriff . . . jeweils dem einzelnen Denker seine Welt als
solche schafft, hängt ersichtlich von einem charakterologischen Typus
ab, von dem Weltverhältnis seines Seins, das das Weltverhältnis seines
Denkens begründet.«
Besonders deutlich spricht sich Simmel aus in der Einleitung zu
dem — unter dem Namen >PhiIosophische Kultur« erschienenen — Bande:
»Soll der philosophische Prozeß wirklich von der universellen Breite
des Daseins ausgehen, so scheint er . . . in unpräjudiziert vielen Rich-
tungen laufen zu müssen. Manche Erscheinungen, manche Stimmungen,
manche Verknüpfungen des Denkens weisen die philosophische Re-
flexion in eine Direktive, die, bis ins Absolute verfolgt, ein Pantheis-
mus wäre, manche umgekehrt in die Richtung des Individualismus;
manchmal scheint diese Reflexion in einem idealistischen, manchmal
in einem realistischen, hier in einem rationalen, dort in einem volunta-
ristischen Definitivum enden zu müssen. Es besteht also ersichtlich
eine innerlichste Beziehung zwischen der ganzen Fülle des gegebenen
Daseins, das der philosophischen Tiefenschicht zugeführt zu werden
verlangt, und der ganzen Fülle möglicher metaphysischer Absolutheiten.
Das flexible Gelenk zwischen beiden, die mögliche Verbindung, um
von jedem Punkte des einen zu jedem des anderen zu gelangen, schafft
jene, auf keine Absolutheit festgelegte Bewegtheit des Geistes, die in
sich selbst metaphysisch ist.« Simmel fühlt sich gedrängt, seinen Stand-
punkt gegen den naheliegenden Einwand zu verteidigen, es handle sich
hierbei um Eklektizismus und Kompromißweisheit. »Beide sind nicht
weniger an den festgewordenen Resultaten des Denkens verankert, als
irgendeine einseitige exklusive Philosophie; nur daß sie die gleiche
Form statt durch einen prinzipiellen Gedanken, durch ein Mosaik von
Stücken solcher ausfüllen, oder deren Gegensätze graduell bis zur Ver-
träglichkeit herabsetzen. Hier aber handelt es sich um die ganz prin-
zipielle Wendung von der Metaphysik als Dogma sozusagen zu der
Metaphysik als Leben oder als Funktion, nicht um die Art des Inhalts
der Philosophie, sondern um die Art ihrer Form, nicht um die Ver-
schiedenheiten zwischen den Dogmen, sondern um die Einheit der
Denkbewegung . . .« Allerdings muß Simmel eingestehen, daß von den
genialen Schöpfern innerhalb der Geschichte der Philosophie kein
einziger diese Akzentverlegung von dem terminus ad quem der philo-
sophischen Bestrebung auf ihren terminus a quo zugeben würde. Er
sucht diesen Sachverhalt dahin zu deuten, daß die überaus starke
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST.
geistige Individualität jener Persönlichkeiten sich nur in ein dem Inhalt
nach völlig und einseitig bestimmtes Weltbild projizieren könne, und
daß der Radikalismus der formalen philosophischen Lebensaltitüde mit
diesem Inhalt unlösbar und intolerant in eins verschmelze. Wahrhaft
befriedigend ist diese Lösung gewiß nicht; denn eines verkennt Simmel
ganz sicher: den nach dem Unbedingten ringenden Wahrheitseifer jener
Großen, der nur vor Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten halt macht.
Wenn er hierfür eine echte philosophische Kultur verlangt, die sich
nicht auf das Bekenntnis zu einzelnen Theorien stützt, sondern in einem
durchgehenden geistigen Verhalten zu allem Dasein besteht, in einer
intellektuellen Bewegtheit auf die Schicht hin, in der alle überhaupt
möglichen Linien der Philosophie laufen, so ist dies letzthin eine Ver-
schiebung des Problems und eine Art »Ersatz«. Das durchgehende
geistige Verhallen zu allem Dasein haben alle führenden Philosophen
besessen, nur eben unter der einen Kategorie objektiver Erkenntnis.
Der ungenügende Stand der Wissenschaft, die subjektiven Einflüsse
der Individualität erscheinen ihnen als verfälschende Fehlerquellen,
deren sie sich freilich nicht immer bewußt waren. Ob jene Ver-
breiterung der philosophischen Einsicht auf Kosten der geschlossenen
Einheit des systematischen Kernes nicht zu teuer bezahlt wird, ist eine
andere Frage. Sie ähnelt gefährlich jener neuen Stufe der Kunstbildung,
die alle Stile als durchaus notwendig erkennt und darum die Sicherheit
des eigenen Kunstverhaltens einbüßt, ja das tiefste Schaffen lähmt.
Psychologisches und Philosophisches schillern durcheinander in den
Leitlinien Simmeis: einerseits hanJelt es sich doch um den seelischen
Orundtypus, dem die einzelnen philosophischen Gedankenwelten ent-
stammen, also um eine Art differentiell psychologischer Erklärung. Mit
der Aufweisung dieser Notwendigkeit ist aber gar nichts entschieden
über die sachliche Richtigkeit der betreffenden inhaltlichen Ergebnisse
die ja einer ganz anderen Schicht angehören. Und da scheint nun
Simmel zu glauben, daß nicht das einzelne philosophische System,
sondern alle zusammen erst der »Wahrheit« — ich gebrauche hier
diesen ungenauen Ausdruck, um mir längere Darlegungen zu er-
sparen — sich nähern. Das ist aber etwas völlig anderes als jene
Verankerung in der bestimmt charakterisierten Geistigkeit der einzelnen
philosophischen Vertreter. Ebenso wie wir unterscheiden müssen das
Philosophieren als psychologischen Prozeß von der Philosophie als
geregelter Ordnung der Begriffe. Das Ausleben einer Persönlichkeit
im Philosophieren mag für diese ein Entfalten ihrer letzten geistigen
Fähigkeiten bedeuten, ja einen Ausdruck ihres gesamten Daseins, aber
das hat mit dem Ertrag des Philosophierens nichts zu schaffen. So
scharf Simmel den funktionalen Charakter der Philosophie betont, so
EMIL UTITZ.
scharf ist er häufig in der Polemiic. Von seinen Voraussetzungen
aus l<önnte er aber doch nur um sein eigenes Lebensrecht kämpfen,
um die Eigengesetzlichl<eit seines Wesens, und nicht mit logischen
Mitteln und mit Formen des Beweises.
Nur anmerkungsweise wollte ich auf diese Zwiespältigkeiten hin-
weisen, die unaufgelösten Akkorden gleichen. Da ich aber mit einem
reinen Klange diese einleitende Betrachtung schließen möchte, gebe
ich einen der eindrucksvollsten Vergleiche Simmeis hier wieder. Wenn
ich so häufig — und vielleicht weit über das gewohnte Maß hinaus —
Simmel selbst sprechen lasse, geschieht es aus Furcht, durch Um-
gießung in andere Worte den Sinn seiner Darlegungen umzudeuten,
und aus dem Bestreben, dem Leser den eigentümlichen Reiz Simmel-
scher Schreibweise gerade in diesem Nachruf besonders deutlich vor-
zuführen: »In einer Fabel sagt ein Bauer im Sterben seinen Kindern,
in seinem Acker läge ein Schatz vergraben. Sie graben daraufhin den
Acker überall ganz tief auf und um, ohne den Schatz zu finden. Im
nächsten Jahre aber trägt das so bearbeitete Land dreifache Frucht.
Dies symbolisiert die hier gewonnene Linie der Metaphysik. Den
Schatz werden wir nicht finden, aber die Welt, die wir nach ihm
durchgraben haben, wird dem Geist dreifache Frucht bringen — selbst
wenn es sich in Wirklichkeit etwa überhaupt nicht um den Schatz ge-
handelt hätte, sondern darum, daß dieses Graben die Notwendigkeit
und innere Bestimmtheit unseres Geistes ist.«
Darum konnte auch Simmel ohne akademische Verengung schlecht-
hin über alles philosophieren, weil eben auf dem Philosophieren der
Nachdruck lag. Die Maler des Impressionismus malten auch alles;
da es ihnen weniger auf dieses »Alles« ankam, als auf das »Wie« des
Malens, in dem nicht nur ihr technisches Können beschlossen war,
sondern ihre gesamte Lebens- und Weltstellung. So philosophierte
Simmel über die Persönlichkeit Gottes und über die Mode, über eine
japanische Vase und über das Geld, über Geschichte und Zukunft,
über Ruinen und Alpen, über Michelangelo und Goethe. Diese In-
halte — und unzählige andere — traten erregend in sein Leben ein
und wurden von diesem in den Strom des Denkens hineingerissen.
Oft umgebogen und verzerrt, erfuhren sie doch auch häufig eine wunder-
same Erleuchtung und Durchleuchtung, und fast immer eine Vertiefung.
Stets fand Simmel den Weg von einem zum anderen, nichts blieb in
einsamer, abgesplitterter Vereinzelung, alles ward verwoben in die große
Einheit seines Lebens und seiner Welt.
Simmel liebte den Ausdruck: »letzte Entscheidung«. Oft und oft
I
GEORG SIMMKL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. ^
kehrt diese Formel wieder, auch in seinem letzten Werke klingt sie
hin und wieder an. Ihre Bedeutung wird am deutlichsten im Vorwort
zum Rembrandtbuch. Wenn man so pedantisch sein darf, hier von
einer Methode zu sprechen, offenbart sich ihre Art unter dieser
Spiegelung. Simmel gehl davon aus, daß man die fertige Kunst-
erscheinung unter vielerlei formale und inhaltliche Gesichtspunkte
stellen könne und sie damit in lauter einzelne Eindrucksfaktoren zer-
lege. »Allein sie ist aus deren Zusammensetzung so wenig herstellbar
und deshalb so wenig daraus verständlich, wie ein Körper als lebendiger
aus den zerschnittenen Gliedern auf dem Seziertisch. Das ästhetische
Nebeneinander ist ihr so wenig äquivalent wie das historische Neben-
einander, denn entscheidend für sie ist etwas ganz anderes: die
schöpferische Einheit.« »Ebensowenig ist der Eindruck des Kunst-
werks gleich den summierten Eindrücken all der Seiten und Qualitäten
seiner, die die sondernde Ästhetik hervorhebt. Vielmehr, auch hier ist
das Entscheidende etwas ganz Einheitliches, das sich aus oder über
jenen Einzeleindrücken erhebt; und alle psychologische Analyse...
läßt die schlechthin zentrale, seelische Wirkung draußen, die das künst-
lerische Erlebnis als solches ausmacht. Dieses Erlebnis geht nun
freilich, wie ich glaube, in die Formen wissenschaftlichen Erkennens
überhaupt nicht ein. Das unmittelbare Gefühltwerden ist die einzige
Art, auf die es da ist, und in ihr müssen wir es sozusagen unange-
rührt stehen lassen.« So setzt die philosophische Betrachtung das
Ganze des Kunstwerks, als Dasein und Erlebnis, voraus und sucht
dieses nun »in die ganze Weite der seelischen Bewegtheit, in die Höhe
der Begrifflichkeit, in die Tiefe der weltgeschichtlichen Gegensätze ein-
zustellen«:. »Jenes primäre Erlebnis des Kunstwerks, von dem dessen
philosophische Weiterführungen genährt werden, ist nicht mit objektiver
Eindeutigkeit festzulegen : es bleibt, soviel Theoretisches auch von ihm
ausgehen mag, in der Form der Tatsache, und ist der Theorie unzu-
gängig — zwar nicht von zufälliger Willkür erfüllt, aber von einer
immerhin individuellen Gerichtetheit, die die philosophischen Linien
von ihm aus in mannigfaltigster Richtung verlaufen läßt. Von jeder
Gruppe solcher Linien kann man beanspruchen, daß sie zu letzten
Entscheidungen führe, aber keine darf beanspruchen, zu den letzten
zu führen.« »Was mir von je als eine wesentlichste Aufgabe der
Philosophie erschien: von dem unmittelbar Einzelnen, dem einfach Ge-
gebenen das Senkblei in die Schicht der letzten geistigen Bedeutsam-
keiten zu schicken — das soll nun an der Erscheinung Rembrandts
versucht werden.« »Dies einfach Tatsächliche ist hier jenes Erlebnis
des Kunstwerks, das ich als ein unauflösbar Primäres hinnehmen will.
Daß die daran angesetzten philosophischen Richtlinien sich durchaus
8 EMIL UTITZ.
in einem äußersten Punkte zu schneiden, sich also in ein philosophisches
System einzuordnen hätten, ist ein monistisches Vorurteil, das dem —
viel mehr funktioneilen als substanziellen — Wesen der Philosophie
widerspricht.« Das der Theorie unzugängliche, wirklichkeitsgesätligte
Erlebnis in seiner Einheit und Unberührtheit ist demnach Grundlage
und auslösender Reiz; aber die durch dieses persönliche Erlebnis er-
regte Bewußtseinsbewegtheit schwingt und zittert nach auf dem ganzen
Wege — eben der Philosophie nach Simmel — bis zu jenen letzten
Entscheidungen, die das Einzelne verknüpfen mit den großen Zu-
sammenhängen, die alles Seiende verflechten. Jedes Erlebnis kann für
Simmel so Quellpunkt langer Reihenbildungen werden, ja manchmal
hat man sogar die Empfindung, daß Simmel — auch darin den Meistern
des Impressionismus ähnlich — geflissentlich gleichsam die Aschen-
brödel unter den Erlebnissen bevorzugt, um gerade an ihnen, sei es
seine virtuose Kunst des Philosophierens zu offenbaren — was mir
weniger sympathisch ist — oder sei es zu zeigen, wie selbst von
jenen Pfade in die letzten Tiefen leiten. Diese Tiefen münden aber
nicht in einen Punkt; sie sind lediglich höchst mögliche begriffliche
Erfassungen der »Welt«, oder die uns zugänglichen »Welten«. Nur
so glaubte er eine Abschattung der ganzen Fülle und Breite des
Lebens zu gewinnen und seiner weitesten Überhöhungen; jedes System
mußte ihm als Verengung erscheinen, als Ungerechtigkeit gegenüljer
allem, was in den Spannweiten des Systems nicht zur Eigengeltung
kam, ja als eine Beraubung an Eilanden des Geistes, die außerhalb
der Grenzen jener Reiche lagen. Diese Sehnsucht nach dem Grenzen-
losen und die Gefahr, im Gestaltlosen zu verfließen, teilt Simmel mit
der Mystik. Es ist eine der sonderbarsten Tafsachen — und schon
Spinoza ist ein großes Beispiel — wie in der Mystik bisweilen schärfstes
Denken und eine Bewegung über alles Denken hinaus sich vermählen,
und wie bestimmte Erlebnisse gleich hallenden Grundakkorden immer
und immer wieder durchklingen bis in die zartesten Verästelungen be-
grifflicher Analyse, so rein logisch auch diese erscheinen mögen. Dieser
subtile Psychologismus ist wissenschaftlich durch seine Verdecktheit
und Verhülltheit manchmal eine besonders peinliche und schwer zu
verstopfende Fehlerquelle, aber geistesgeschichtlich betrachtet: ebenso
manchmal eine schöpferische Kraft ersten Ranges.
Jene Verwurzelung Simmeis im Leben ist auch der Grund, daß
er allem Lebendigen fast fieberhaft sich zuneigt, wie aus einer geheimen
Angst heraus, irgendein Erlebnis nicht erschauernd durchkosten und
durchdenken zu dürfen. Und dieser Zug bedingt das, was wir als
seine »Modernität« bezeichnen können, das im betonten Sinne Zeitge-
nössische in seinem Wesen. Er horcht eben in die Zeit und den Tag
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 9
hinein, belauscht sie, um ihnen Form abzugewinnen, oder um ihnen
die Form seiner Oeistigkeit aufzuprägen. Als er nach der Gewohn-
heit vieler Professoren Kriegsvorträge hielt — gesammelt in -Der Krieg
und die geistigen Entscheidungen« — da stachelte ihn gewiß nicht
das Bedürfnis, auf Massen aufklärerisch zu wirken, oder gleich einem
neuen Fichte mahnend ans Volk sich zu wenden, sondern der rein
innere Kampf mit ungeheueren Tafsächlichkeiten und das würgende,
ihn fast erstickende Gefühl der Verpflichtung, sie durch Denken zu
bezwingen, im Denken ihnen ihren letzten Sinngehalt zu entreißen.
Denn sonst drohte der Ansturm jener Erlebnisse ihn zu vernichten.
Aber gerade weil er sich so häufig Tatsächlichkeiten zuwandte, die
noch ganz in der Glühhitze ihrer Bewegtheit und Erregung befangen
waren, drang er bisweilen — schauend, sichtend und erkennend —
gleichsam nicht bis zu ihnen durch, sondern fasste nur die oberfläch-
licheren Außenseiten, die ihnen geistige Mode aufgedrückt hatte. So
wie Worte oft Tatsachen verdunkeln, ja sich an ihre Stelle schieben,
so deckt manchmal die glatt kleidsame Form der Mode Strömungen,
die tief unter jener fließen und rauschen, und deren schaumgekrönte
Sichtbarkeit sie lediglich ist. Wenn dann Simmel noch so scharfsinnig
und kühn in immer höheren Übersteigerungen die ursprünglichen Ge-
gebenheiten fortentwickelt, es sind in diesen Fällen doch in sich frag-
liche und wackelnde »Gegebenheiten«, in den Kriegsvorträgen tritt
dies deutlich, sogar sehr deutlich hervor; aber wir spüren diesen Zug,
wenn Simmel — um Beispiele aus der Kunstphilosophie zu bringen —
nordisch-germanische und gräko-romanische Kunst scheidet, allzu be-
fangen in den Etiketten, die gerade geläufig sind, oder wenn er in starke
Abhängigkeit vom jüngsten Expressionismus sich begibt. Gewiß hat
eben dieser — an Hermann Bahrs Art und Weise erinnernde — Zug
ganz besonders Simmeis Popularität und Berühmtheit gesteigert, wie
ja oft die Ursache zum weittragenden Erfolge bei großen Männern an
ihre äußerlichsten Vorzüge anknüpft.
Aber neben dieser, immerhin etwas fatalen Seite der Modernität
treffen wir andere, bedeutungsvollere: So scheint es schon einer tieferen
Schicht anzugehören, wenn Simmeis Denken durchtränkt ist von allem
Geistigen der Gegenwart: von Nietzsche und Bergson, vom Neu-
kantianismus, und von der Phänomenologie, von Konrad Fiedler und
Alois Riegl. Gewiß lassen sich diese und viele andere »Einflüsse«
feststellen ; bald liegen sie offenkundig da, bald schillern sie in ver-
schiedenen Variationen durch, aber stets sind sie bei Simmel so weit
verarbeitet, daß sie sein Eigengut geworden sind, und er hat sie nur
insoweit angenommen, als sie in Tönung und Färbung seines Wesens
einbezogen werden konnten. Sie sind keine Fremdkörper geblieben.
10 EMIL UTITZ.
geschweige denn Aufputz oder Arabeske. Damit hängt es auch zu-
sammen, daß Simmel nicht gern zitiert, keine Literatur anführt, und,
auch wo er polemisiert, nur ganz selten bestimmte Namen nennt.
Wissenschaftlich bedeutet dieses Vorgehen gewiß keinen Vorteil; aber
Simmel konnte nicht anders, ohne seine Eigenart zu verleugnen. Die
.\nschauungen und Ansichten anderer sind eben sein6 eigenen Probleme
geworden, Möglichkeiten bestimmter Sachverhalte. Indem er eine Frage
hin- und herwirft, um sie von allen Seiten zu bespiegeln, tauchen jene
Motive auf, aber als Teilbestandteile seiner eigenen, ewigen Melodie,
und nur mit diesem Stellenwert. Ist er näher interessiert, tiefer er
schlittert, wie etwa von der Gedankenwelt eines Kant, der Persönlich-
keit eines Goethe oder der Kunst eines Rembrandt, dann ringt er mit
diesen Erlebnissen, aber sie selbst sind schon etwas anderes als Kant,
Goethe oder Rembrandt nach ihrem streng objektiven Sein. Aber gerade
darum glücken ihm auch bisweilen Einsichten, die an Entschleierung
tiefster Ichqualitäten weit das in den Schatten werfen, was nüchterne
Unpersönlichkeit zu erarbeiten vermag. Die fast überreiche Instru-
mentation Simmelscher Schreibweise beruht gewiß mit darauf, daß alle
jene Einflüsse mitklingen, aber nicht vereinzelt, sondern eingeschmolzen
in die Einheit seines Lebens und Denkens. Er hat sich durch sie
entfaltet, und sie haben ihn bereichert; sie sind aber keine »Vermögen«
in ihm, sondern sie sind zu seinen eigenen Kräften geworden. Von
Assimilation darf man daher nicht sprechen, weil da immer noch eine
Zweiheit verbleibt, wenn auch eine innige und naheverbundene, sondern
von einer vollen Einbürgerung. Hier stoßen wir auf einen Zug, der
von fern an Goethe gemahnt, den ehrfürchtig bewunderten Meister
Simmeis. Und gerade dieser Zug sichert dem Simmelschen Schaffen
den bezwingenden Eindruck des edel Kultivierten.
In eine noch tiefere Schicht läßt uns aber jene »Modernität«
blicken: nämlich in die, aus der heraus Simmel als erster Probleme
der Zeit ergriffen hat. Er ist Pragmatist lange vor dem Pragmatismus
gewesen. Er ist einer der Begründer der gegenwärtigen Soziologie
und Geschichtsphilosophie. Er bietet in seinem Goethebuch das erste
Beispiel, eine einzigartige Persönlichkeit aus dem Wesenskern ihres
Seins her zu verstehen, aus der Eigengesetzlichkeit ihres Charakters.
Die Beispiele ließen sich leicht häufen. Es ist — nur um noch ein
einziges zu nennen — oft erstaunlich, wie Simmel von ganz anderen
Seiten her Fragen der neuesten differentiellen Psychologie aufwirft,
auch hier ganz dem Zuge der Zeit folgend, oder sie verstehend ihr
voraneilend. Indem er eben völlig die Gegenwart durcherlebt, erfährt
er auch immer wieder, was sie will. In wenigen kreiste ihr geistiges
Wollen so stark, so brausend, wie in ihm. Und das fühlte dunkel-
GEÜKG SIMMEL UND DIE l'HILOSÜPHIE DER KUNST. l\
ahnend die Jugend und jubelte ihm zu. Sie grüßte in ihm sich selbst;
in vielem war er ihr Bestätigung eigenen Strebens, Rechtfertigung
eigenen Wünschens, Legitimation eigener Tat.
Nach zwei Richtungen hin unterschied sich Simmel allerdings
deutlich von der heutigen Jugend. Sie verlangt nach dem Absoluten
und Endgültigen. Er war Skeptiker. So tief er nach letzten Ent-
scheidungen bohrt, die »letzte Entscheidung« zu finden, lehnt er ab.
Metaphysik; dies dunkle, weite Land ist seine geistige Heimat, die er
als ewiger Wanderer durchzieht in immer neuem, gläubigen Staunen.
Aber das »Unbedingte« sucht er nicht, das Wandern ist seine Be-
stimmtheit. Wer stets wandert, tut dies auch bisweilen nur um des
Wanderns willen. Und hier verknüpft sich mit jener Skepsis — die
ich durchaus ehre und weit jeder glatt voreiligen und vorwitzigen
Lösung vorziehe — ein Zug des »l'art pour VarU. In der Kunst läßt
Simmel diesen Grundsatz nicht gelten, aber sein Denken nähert sich
manchmal in schwächeren Stunden dieser Form. Das Artistische, die
Brillanz des großen Könners ist ihm nicht durchaus fremd. Keiner,
der ein Instrument meistert, verzichtet darauf, gelegentlich mit ihm und
auf ihm bloß zu spielen. Denn auch dieses Spiel ist probende Kraft,
schwingender Rhythmus des Lebens. Es ist also kein einseitiger Lob-
spruch zugunsten der Jugend, wenn sie nach diesen Tendenzen hin völlig
von Simmel abrückt. Nur wahre Genialität kann ihn da überwinden; und
auch sie nicht völlig. Denn was Simmel von Goethe sagt, gilt all-
gemein von allem Schöpfertum aus lebendigen Tiefen eigenen Seins: > Ge-
rade was Goethes Werk so unvergeßlich macht: daß es in jedem
Augenblick der unmittelbare Pulsschlag seines Lebens ist, macht es
in vielen dieser Augenblicke schwächer, als das Werk des sekundären
Künstlers, das von einer dem Leben bereits gegenüberstehenden Norm
reguliert ist. Damit liegt aber auch hier eine objektive Bedeutung vor,
die diese Äußerungen jenseits der bloßen Tatsache ihres momentanen
seelischen Erzeugtwerdens besitzen: innerhalb des Daseins Goethes,
innerhalb der Ordnung, die von der Kategorie Goethe objektiv normiert
wird, sind sie genau so an ihrer Stelle und genau so legitimiert, wie
Tasso und die Wahlverwandtschaften in den Ordnungen, die unter
den objektiven Kategorien der Ästhetik stehen.«
Ein allseitig ausgebautes System der Kunstphilosophie wird dem-i
nach niemand von Georg Simmel erwarten dürfen; sondern die ein-
zelnen Fragen steigen in bunter Folge aus dem erlebenden Erstaunen
hervor und tauchen immer wieder auf, wenn die Lebenswelle von
neuem an ihre Ufer brandet, einmal stärker und das andere Mal
12 EMIL UTITZ.
schwächer. Daher ist die sachliche Behandlung der Fragen auch an
keine strenge wissenschaftliche Form gebunden, und die einzelne Frage
wird stets nur soweit untersucht, als der augenblickliche Zweck er-
heischt, als der Stellenwert es gerade erfordert. Darum schrieb auch
Simmel nicht eigentlich ästhetische, psychologische oder metaphysische
Werke, sondern bloß der Ausgangspunkt ist festgelegt als ästhetischer,
psychologischer usw. Dann läßt Simmel sich von seinem Denken
treiben, gibt sich ihm vertrauensvoll hin; und Psychologie steigt zur
Metaphysik auf; und eine ästhetische Auseinandersetzung landet beim
kategorischen Imperativ. Auch dies ist wissenschaftlich ein Nachteil
und oft sehr unbequem für den Leser, der gern erfahren würde, was
eigentlich Simmel zu einer Frage zu sagen hatte. Er muß mühsam
suchen und zusammentragen, und an Stellen — wo er es nie ver-
mutete — quilh ihm plötzlich die Antwort entgegen. Und doch herrscht
kein Chaos bei Simmel, im Gegenteil: wir erleben zwingend die Not-
wendigkeit, mit der er von Frage zu Frage schreitet, bald länger ver-
weilend und tiefer sich eingrabend, bald hastend bis zu einem fast
den Atem beraubenden Tempo. Es ist eben der heiße Pulsschlag des
Denkens, den wir hier nacherleben. Wir sind in der Werkstatt des
Philosophierens, Zeugen dessen, wie eine geistige Bewegtheit Probleme
gebiert, verfolgt, spaltet, wegwirft, um wieder nach ihnen zu greifen usw.
Ein Drama des Geistes offenbart sich uns. Das ist aber etwas ganz
anderes als reine Wissenschaft, von der Husserl seine einfache, völlig
klare, aufgelöste Ordnung« verlangt. Echte Wissenschaft kennt —
seiner Anschauung zufolge — »soweit ihre wirkliche Lehre reicht,
keinen Tiefsinn. Jedes Stück fertiger Wissenschaft ist ein Ganzes von
den Denkschritten, deren jeder unmittelbar einsichtig, also gar nicht tief-
sinnig ist. Tiefsinn ist Sache der Weisheit, begriffliche Deutlichkeit
und Klarheit Sache der strengen Theorie«.
Die Simmelsche Ordnung gleicht dem Zusammenhang in der
Sammlung eines echten Kunstfreundes. Er hat immer nur das ge-
kauft, was ihn erregte, was ihm Erlebnis ward, ohne daran zu denken,
geschichtliche Entwicklungszüge durch die Aufeinanderfolge der Werke
zu verdeutlichen, Schulgemeinschaften hervorzuheben usw. Und doch
herrscht eine bezwingende Einheit in der Sammlung: weil alle ihre
Stücke erwählt sind aus einer einzigen Stellungnahme zur Kunst heraus,
aus einer einzigen Lebens- und Weltanschauung. Weil dies der Fall
ist, treten die Werke — wenn auch noch so verschieden in ihrem
Stil — in inneren Zusammenhang und verlieren ihre Vereinzelung.
Wie nun Simmel Kunstphilosophie betreibt, möchte ich an zwei
kleinen — und darum leicht übersichtlichen — Beispielen illustrieren;
nämlich an der sehr bezeichnenden Abhandlung »Der Henkel«, und
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 13
an einem Aufsatz über das Porträt, der wenige Tage nacli Simmeis
Tode in der Neuen Deutschen Rundschau erschien und in gedrängter
Form eine ganze Reihe für Simmel charai<teristischer Anschauungen
vorträgt :
Der Henkel ist das Glied, an dem die Vase ergriffen, gehoben,
gekippt wird; mit ihm ragt sie anschaulich »in die Weit der Wirklich-
keit; d. h. der Beziehungen zu allem Außerhalb hinein, die für das
Kunstwerk als solches nicht existieren«. »Diese Henkel, die die Vase
dem Dasein jenseits der Kunst verknüpfen, sind zugleich in die Kunst-
form einbezogen, sie müssen, ganz gleichgültig gegen ihren praktischen
Zwecksinn, rein als Gestaltung und dadurch, daß sie mit dem Vasen-
körper eine ästhetische Anschauung bilden, gerechtfertigt sein. Durch
diese zweifache Bedeutung und ihr charakteristisch deutliches Hervor-
treten wird der Henkel zu einem der nachdenklichsten, ästhetischen
Probleme.« Die Formulierung dieses Problems wirkt gewiß über-
raschend, aber es ist doch seinem Wesen nach nichts anderes als die
so viel erörterte Frage von »Schönheit und Zweckmäßigkeit«. Sehr
bezeichnend für Simmel ist es, daß er jene recht weit gediehenen
Diskussionen einfach beiseite schiebt, nicht einmal erwähnt, sondern
von einem einzelnen Erlebnis ausgeht. Dadurch empfängt das Problem
einen pikanten Reiz, aber es wird auch einseitig. Man sieht es allzu-
sehr unter der Perspektive dieses einen Beispiels, und nur der genaue
Kenner hat alle die Möglichkeiten vor Augen, welche Architektur,
Denkmalkunst, sozialer Roman, religiöse Malerei aufgeben. Gewiß
vermag die Beweisführung am Einzelfall des Henkels so geführt zu
werden, daß sie allgemein gültig und schlechthin entscheidend wird,
aber das Problem wächst dann aus einer sehr schmalen Grundlage
auf, und seine Linien zeichnen sich nur recht dünn ab. Jedenfalls soll
nun — um Simmeis Ausführungen fortzusetzen — der Henkel seine
praktische Funktion nicht nur tatsächlich üben können, »sondern er
muß dies auch durch seine Erscheinung eindringlich machen«. »Es
handelt sich gerade darum, daß die Nützlichkeit und die Schönheit
als zwei einander fremde Forderungen an den Henkel herantreten —
jene von der Welt, diese von dem Formganzen der Vase her — , und
daß nun gleichsam eine Schönheit höherer Ordnung beide übergreift
und ihren Dualismus in letzter Instanz als eine nicht weiter beschreib-
liche Einheit offenbart. Durch die Spannweite seiner beiden Zuge-
hörigkeiten wird der Henkel zu einem höchst bezeichnenden Hinweis
auf diese . . . höhere Schönheit, für die alle Schönheit im engeren Sinne
nur ein Element ist; diese wird von jener sozusagen überästhetischen
Schönheit mit den gesamten Forderungen von Idee und Leben zu der
synthetischen Form zusammengefaßt, die eben diese engere oder
14 EMIL UTITZ.
speziellere, bisher aber fast ausschließlich analysierte Schönheit an den
unmittelbareren Elementen des Daseins vollzieht. Diese Schönheit
oberster Instanz ist wohl das Entscheidende für alle wirklich großen
Kunstwerke, und ihre Anerkennung scheidet uns am weitesten von
allem Ästhetentum.« Man merkt wohl deutlich, wie Simmel die Probleme
zerfließen, indem er sie übersteigert. Zuerst ein nachdenkliches Er-
lebnis; dann blitzt die Frage von »Schönheit und Zweckmäßigkeit«
auf; es ist aber nur ein kurzer Übergang — das Motiv klingt an —
und bald taucht nichts Geringeres auf als das große Grundproblem
von »Form und Inhah« und ihre Vermählung, Durchdringung in der
Kunst, und zum Schluß ertönt sogar der gewaltige Akkord, um dessen
Auflösung sich die ganze allgemeine Kunstwissenschaft müht, ja zu
dessen Zweck sie geschaffen wurde. Und all dies: gelegentlich der
Betrachtung eines Henkels! Ein wunderbares Beispiel, wie man einer
Frage nachjagen kann, wie man sie in immer tiefere Schichten hinein
verfolgt; aber wirklich befriedigt werden die so aufgedeckten Probleme
nicht. Was heißt hier überhaupt »schön« oder »ästhetisch«, »Form«
oder »Kunst«? Man ahnt es, fühlt es, begreift es halb und ungefähr,
und man versteht, was Simmel meint, weil man den Zug seines Denkens
miterlebt. Jetzt müßte jedoch die systematische, kritische Untersuchung
eingreifen, nachdem die Probleme in so spannender Anschaulichkeit
aufgerollt sind.
Es folgt aber ein zweiter Ausblick, der uns die Weite der sym-
bolischen Beziehungen zeigen soll, »die sich gerade an ihrer Geltung
auch für das an und für sich Unbedeutende offenbart. Denn es handelt
sich um nichts Geringeres, als um die große, menschliche und ideale
Synthese und Antithese: daß ein Wesen ganz und gar der Einheit
eines umfassenden Gebietes angehört und zugleich von einer ganz
anderen Ordnung der Dinge beansprucht wird, indem diese letztere
ihm eine Zweckmäßigkeit auferlegt, von der seine Form bestimmt wird,
ohne daß diese Form darum weniger jenem ersten Zusammenhange —
als ob der zweite gar nicht bestünde — eingeordnet bleibt«. »Wie der
Henkel über seine Bereitheit zu der praktischen Aufgabe nicht die
Formeinheit der Vase durchbrechen darf, so fordert die Lebenskunst
vom Individuum, seine Rolle in der organischen Geschlossenheit des
einen Kreises zu bewahren, indem es zugleich den Zwecken jener
weiteren Einheit dienstbar wird und durch solche Dienstbarkeit den
engeren Kreis in den umgebenden einordnen hilft.« Und >das ist ein
Wunderbarstes in der Weltauffassung, Weltgestaltung im Menschen,
daß ein Element die Selbstgenügsamkeit eines organischen Zusammen-
hanges mitlebt, als ginge es ganz in ihm auf, und zugleich die Brücke
sein kann, über die ein ganz anderes Leben in jenes erste einfließt,
ÜEORG SIMMKL UND IHK PHILOSOPHIE DER KUNST. 15
die Handhabe, an der die Ganzheit des einen die Ganzheit des anderen
erfaßt, ohne daß darum eine von ihnen zerrissen wird. Und diese
Kategorie findet in dem Henkel der Vase vielleicht ihr äußerlichstes
aber eben deshalb ihre Spannweite am meisten offenbarendes Symbol« •
So ist also auch in schnellem Fluge der Weg von dem Problem der
allgemeinen Kunstwissenschaft bis in die Metaphysik durchmessen.
Man bewundert diese kräftige philosophische Bewegtheit, die wahr-
lich im Geringsten das Höchste erschaut, wie der Gläubige im schlichten
Grashalme das ewige Rätselwerk göttlicher Schöpfung. Aber ein wenig
von der Haltung dieses »Gläubigen« bleibt bei Simmel. Gewiß ist
mit diesen Anmerkungen eine Frage nicht für ihn »erledigt«; eine Er-
ledigung kennt er doch überhaupt nicht. In immer neuen Zusammen-
hängen dringt er in die Tiefenschicht der Grundfragen vor, aber es
sind eben Zusammenhänge des Vordringens, nicht jene kritische Ord-
nung, in der die Fragen allein ihre Heimat haben. Ein sehr scharfer
Kritiker hat darum Simmel vorgeworfen, er unterbreite seine Studien
dem Publikum; das ist ausgezeichnet gesagt: aber dieses Studieren ist
für Simmel Philosophie in ihrem funktionellen Charakter; jede andere
lehnt er ab. Er glaubt nicht an das Ausmalen und Beenden; die
Komposition ist Erzeugnis seiner Geistigkeit, nicht objektive Ver-
knüpfung der Sachverhalte. All das sei nur zur Charakteristik gesagt,
nicht um überhebend Lob und Tadel zu verteilen. Man muß aber
auch erkennen, was Simmel nicht bot, nicht bieten konnte und durfte,
um einzusehen, was er war. Am Ende einer Betrachtung über Ruinen
sagt Simmel: »Die Gleichung zwischen Natur und Geist, die das Bau-
werk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur. Diese Ver-
schiebung schlägt in eine kosmische Tragik aus, die für unser Empfinden
jede Ruine in den Schatten der Wehmut rückt; denn jetzt erscheint
der Verfall als die Rache der Natur für die Vergewaltigung, die der
Geist ihr durch die Formung nach seinem Bild angetan hat.« Diese
kosmische Tragik ist auch letzthin die Tragik Simmeis.
Wir nahmen uns vor, als zweites Beispiel Simmelschen Kunst-
philosophierens seine Abhandlung über das Problem des Porträts durch-
zusprechen: das angeblich Sichtbare ist ein buntes Gemenge des wirk-
lich Gesehenen mit Ergänzungen äußerer und innerer Art, mit Ge-
fühlsreaktionen Schätzungen, Verknüpf theiten mit Bewegungen und
Umgebungen; dazu kommt der Wechsel in Standpunkt und Anteil-
nahme des Beobachters, kommen die praktischen Interessen, die sich
zwischen Mensch und Mensch schlingen; -- kurz, der Mensch ist
dem Menschen ein fluktuierender Komplex von Eindrücken aller Sinne
und seelischen Assoziationen, von Sympathien und Antipathien, von
Urteilen und Vorurteilen, Erinnerungen und Hoffnungen. Alles dies
16 EMIL UTITZ.
tritt uns mit der körperlichen Erscheinung des Menschen gegenüber,
und aus diesem Knäuel das herauszulösen, was wir wirklich »sehen«,
das rein sinnlich Optische daran, jenseits aller Deutungen und Hinzu-
fügungen, uns zu besonderem Bewußtsein zu bringen, haben wir in
der Regel weder Interesse noch Möglichkeit. Andererseits sehen wir
auch zu wenig, wir bemerken unzähliges Sichtbare nicht, weil unsere
Aufmerksamkeit sich nicht darauf richtet, weil kein praktischer Wert
sich daran knüpft. Was wir populärerweise das Bild des Menschen
nennen und auch eigentlich zu sehen glauben, ist sehr viel mehr und
sehr viel weniger als seine wirkliche Sichtbarkeit«. Dieses wirklich
Sichtbare am Menschen herauszustellen, ist das erste Amt des Porträts.
»Das Auge des Malers hebt aus dem unabsehlich vielgliedrigen und
zugleich fragmentarischen Geflecht, das uns für die Praxis des Tages
den bestimmten Menschen bedeutet, das rein optische Sinnenbild
heraus. Es vollzieht die Abstraktion des rein Anschaulichen aus der
verworrenen Wirklichkeit des Menschen.«
Wie vermag aber die Malerei das Seelische zu gestalten, wenn
ihre eigene Aufgabe lediglich in der Beschränkung auf das rein Optische
besteht? Simmel erklärt, daß Körper und Seele nicht zwei »Teile« des
Menschen sind, die ihn erst zusammensetzen, und von denen der eine
unmittelbar sinnlich gegeben ist, der andere erst erschlossen werden
muß. Vielmehr der Mensch ist eine lebendige Einheit, die erst durch
eine nachträgliche Abstraktion in jenes beides zertrennt wird, und als
diese Einheit nehmen wir ihn auch wahr. >.Nicht das Auge in seiner
anatomischen Einzelbedeutung als ein isoliertes Instrument, sondern
unser einheitliches Sein, der ganze Mensch, wird des anderen ganzen
Menschen gewahr, und die einzelnen Sinne sind nur die Kanäle, durch
die die Oesamtwahrnehmungskraft unseres Wesens fließt. Wie der
Wahrnehmende selbst eine Totalexistenz ist, die in jeder ihrer be-
sonderen Funktionen doch ganz lebt, so ist für ihn auch der Wahr-
genommene von vornherein der beseelte Leib als eine Einheit, die
nicht erst durch eine nachträgliche komplizierte Synthese zustande
kommt.« Das Seelische, die Beseeltheit ist nun Einheitsprinzip des
Bildes; denn die Seele »ist das zusammenhaltende, ordnende Gesetz
der Züge, die allein die malerische Realität sind, wie das Naturgesetz
weder die Sache selbst ist, noch irgendwo außerhalb der Sache ist,
sondern die Ordnung und die verständliche Einheit und das gegen-
seitige Verhältnis der Sachen ausmacht«. Es muß aber absolut daran
festgehalten werden, daß dem Maler in erster und letzter Linie nur
Farbflecken zur Verfügung stehen, daß sein Endzweck lediglich die
künstlerisch vollkommene Gestaltung der optischen Erscheinung, der
Oberfläche des Menschen sein kann. Diese sinkt unmöglich zu einem
3
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. I7
bloBen Mittel herab, um zu etwas zu gelangen, was nicht sichtbar ist
»Malerei ist nicht Psychologie, und wenn ihr Zweck wäre, uns die
Seele eines Menschen zu offenbaren, so wäre das Porträt eines Menschen
ersichtlich gänzlich überflüssig, falls uns seine Seele etwa durch andere
Mittel, durch unmittelbare Beobachtung, durch Zeugnisse und Bekennt-
nisse bekannt würde.« Nur das, aber auch alles das, was jenseits der
künstlerischen Vollendung der Erscheinung, rein als geformter und
farbiger Erscheinung, steht, kann als Mittel für eben diese Vollendung
gelten, in unserem Falle also die Beseeltheit als Prinzip der Einheit,
Zusammengefaßtheit und Gesetzlichkeit.
Eine zweite, oder die zweite Einheitsbindung ist die ornamentale:
»Die Geschichte des Menschenbildnisses zeigt, daß die Erscheinung
um so strenger stilisiert, um so formalsymmetrischer, bis zum Geometri-
schen hin, um so mehr im ornamentalen Sinne ausgeglichen und ge-
schlossen ist, je weniger der Ausdruck der Seele gesucht wird oder
gelingt.« Nebenbei bemerkt, scheint es doch auffällig, daß Simmel sich
hier dem populären Sprachgebrauch anpaßt und von einem Streben
nach seelischem Ausdruck redet; folgerichtig könnte er bloß von einem
Streben handeln, das die reine Sichtbarkeit durch Beseeltheit zu ver-
einheitlichen trachtet. Er findet, daß in einem großen Teil der primi-
tiven wie der hieratisch ägyptischen Kunst die Erscheinung in eine
Form eingestellt wird, die an und für sich, auch jenseits der mensch-
lichen Gestalt, einen in sich geschlossenen Sinn hat und dadurch die
Einheit des in sie Hineingestalleten von vornherein anschaulich garan-
tiert: den Kreis, das Dreieck oder Viereck, die genaue Symmetrie der
Hälften um die Mittelachse herum. Die Einheit kommt hier nicht aus
dem Gegenstand selbst, wächst nicht organisch in und aus ihm, sondern
es besteht ein für sich allein schon sinnvolles, rationales Schema, in
das die Erscheinung eingestellt wird und das ihr seine eigene Ein-
heitlichkeit mitteilt. »In der klassischen Kunst der Griechen und der
Renaissance ist diese Gestaltungsart noch keineswegs ganz ver-
schwunden, sie ist nur sehr viel biegsamer, lebendiger, komplizierter
geworden und zum großen Teil schon durch die andere Form oder
Kraft der Einheit ersetzt: durch den Ausdruck der Beseeltheit.« Man
kann genau verfolgen, daß das eine Prinzip gerade in dem Maße domi-
niert, in dem das andere zurücktritt. Zu vollkommener Herrschaft aber
kommt die Seelenhaftigkeit als zusammenhaltende Funktion der Er-
scheinung erst bei Rembrandt. »Soweit es noch an der Seele als allein
zusammenhaltender Kraft fehlt, soweit noch ein geometrisierendes Schema
sie vertritt, müssen die Elemente reduziert, vereinfacht werden, um in
diesem unterzukommen. Die Seele ist ein soviel weiter ausgreifendes,
tiefer erfassendes, bewegter schwingendes Gestaltungsprinzip, daß sie
Zcilsclir. f. Ästhetik II. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 2
18 EMIL UTITZ.
I
ihre Macht über ganz frei spielende, unendlich differenzierte, mit der
Berechnung gar nicht festzulegende Elemente üben kann. Den äußersten
Pol dieser Reihe stellen gewisse Porträtbüsten von Rodin dar, die mit
offenbarer Absichtlichkeit noch die letzte Schematik : die Symmetrie der
beiden Gesichtshälften zerstören, deren Ungleichheit fast übertreibend
betonen; die Seele zeigt vielleicht erst hier das Unbegrenzte ihrer
Möglichkeiten.« Aber auch diese Kunst kann nicht völlig ausschalten
das rein formale Aufeinanderangewiesensein der Oberflächenteile, den
Zusammenhalt durch ihr dekoratives Verhältnis. »Es kommt nur darauf
an, welches der beiden diametral entgegengesetzten Prinzipien den ent-
scheidenden und gewollten Dienst für die Vereinheitlichung der mensch-
lichen Erscheinung leistet.«
Das Zeitgenössische« und »Moderne« — wovon wir bereits ein-
gehend sprachen — treten gerade in diesem Aufsatz besonders stark
hervor. Ein Nachhall aus Pragmatismus und Bergson leitet ihn ein;
dann melden sich deutlich die Anschauungen Fiedlers und Hildebrands
an. Der Streit von »Form und Seele«, »Abstraktion und Einfühlung« usw.
spielt sehr charakteristisch hinein. Staunenswert ist wieder die Weite
des Blicks! Aber der Standpunkt scheint so hoch gewählt, daß die
meisten Linien sich verzerren oder ineinanderfließen. Man fühlt sich
immer versucht, an bestimmten Punkten zu unterbrechen, um kritische
Erwägungen, Sicherungen und Ergänzungen einzuschieben. Es ist
wunderlich, wie Simmel bisweilen ganz offenkundige Ungereimtheiten
übersieht, wie er sich mit vieldeutigen Umschreibungen begnügt, weil
er ganz im Banne des Problems liegt, dem er gerade nachpürscht. Ich
will nicht durch eine ins einzelne sich verbeißende Kritik den Eindruck
verwischen; aber vielleicht darf ich meinen eigenen Eindruck schildern:
er ist fast quälend, weil die einander überstürzenden und durcheinander
wirbelnden halben und dreiviertel Wahrheiten mich nicht in Ruhe ent-
lassen, sondern aufpeitschen. Das möchte ich beinahe als Erfolg
Simmeis buchen : diese fast zwingende Gewalt, einen zur selbständigen
Weiterführung zu nötigen. Auf den ersten Blick blendet z. B. die
kühne Erfüllung Fiedlerschen Formalismus mit seelischem Gehalt auf
den Wegen einer psychologischen Deutung, die an James, Bergson,
Scheler oder William Stern erinnert, und durch die Erklärung, Beseelt-
heit sei das Ordnungsgesetz der Sichtbarkeit. Was wird aber damit
geholfen? Wir wissen alle, daß etwa die melancholische Stimmung
eines Herbstabends zum Gestaltungsmotiv eines Bildes werden kann,
und in diesem Falle die gesamte Komposition bedingt. Die Stimmung
liegt nicht irgendwie »hinter« den Farben, steht nicht als >ldee über
ihnen«, sondern lebt nur in eben dieser bestimmten räumlichen und
qualitativen Anordnung der Farben. Simmel pointiert lediglich eine
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. IQ
heute in fortschrittlichen Kreisen kaum mehr bestrittene Lehre. Neu
ist nur, daß die Beseeltheit > Mittel« bleiben muß. Aber gerade das
erscheint schief: ihre Gestaltung in die reine Form der Sichtbarkeit ist
ja zweifellos gerade der Zweck, wenn wir schon von diesem Typ der
Kunst reden. Nur auf diese eine Unausgeglichenheit wollte ich hin-
weisen, weil auch sie für Simmel charakteristisch scheint, nämlich eine
gewisse Übertünchung bestehender Anschauungen. Sie entspringt
keineswegs eitler Originalitätshascherei, selbst wenn sie so deutlich
sich aufdecken läßt wie in unserem Falle, sondern jener Eigenart
Simmeis, alles der Bewegtheit seines Denkens anzupassen und in sie
hereinzuziehen. Streift man aber diese Form ab — dann verlischt
manchmal der Glanz — und auch dies weist auf das Kunstmäßige
im Schaffen Simmeis hin. Gewiß hat jede Wissenschaft ihre Form,
die man nicht als Kleid betrachten darf, das beliebig gewechselt werden
kann, sondern als apriorische Voraussetzung ihres Seins; die Form
Simmeis ist aber häufig nicht jene von der Wissenschaft geforderte,
sondern die seiner eigenen Persönlichkeit.
Darum treten nun auch Vorlieben für bestimmte Künstler und
Kunstrichtungen so überaus stark hervor. Simmel bemüht sich kaum,
seine ausgeprägten Zuneigungen aus Gründen historischer oder syste-
matischer Gerechtigkeit zu unterdrücken. Schon aus der Porträtabhand-
lung geht hervor, daß er das Prinzip der Beseeltheit dem ornamentalen
vorzieht, es irgendwie als das höhere betrachtet. Und diese Beseelt-
heit erscheint ihm dann zur höchsten Vollendung gereift, wenn sie
anschauliche Manifestation jener Lebensbewegtheit wird, die ihm selbst
Grundlage des Seins und Schaffens bedeutet. Diese sucht er in der
Kunst, und er glaubt sie besonders bei Michelangelo, Rembrandt und
Rodin gefunden zu haben, und vor allem auch bei Goethe. Seine,
diesen einzelnen Persönlichkeiten gewidmeten Schriften wirken fast
wie Umlagerungen seiner eigenen geistigen Gesetzlichkeit in eine andere
Ebene, und wie komplizierte Variationen über ein nie abbrechendes
Motiv; man könnte auch sagen: wie letzte Überhöhungen des
eigenen Selbst.
Wir folgen zuerst dem Rembrandtbuch und wollen dann die
anderen Arbeiten nur kürzer besprechen. Das Bezeichnende ist, wie
Simmel jede Qualität der Rembrandtschen Kunst bis ins Metaphysische
hinein verfolgt, also nicht nur eine ganze Kunstwissenschaft um sie
umbaut, sondern eine ganze Philosophie. Natürlich nicht im Sinne
eines Systems, sondern immer gelegentlich im Zuge der einzelnen
Fragen. Er handelt z. B. vom Bewegungsproblem Rembrandts. Da
20
EMIL UTITZ.
beruft er sich darauf, daß der »ganze Mensch, das Absolute von Seele
und Ich, in jedem einzelnen Erlebnis enthalten zu sein« scheint; »denn
die in ihm geschehende Produktion wechselnder Inhalte ist die Art,
auf die das Leben lebt, und es behält sich nicht eine irgend abtrenn-
bare »Reinheit« und Fürsichsein jenseits seiner Pulsschläge vor«. Leben
ist Kontinuität, die in jedem Augenblick sich als ganze in einer anderen
Form äußert. »Dies ist nicht weiter zu deduzieren, weil das Le^jen,
das hiermit irgendwie zu formulieren versucht wird, eine fundamentale,
unkonstruierbare Tatsache ist. Jeder Augenblick des Lebens ist das
ganze Leben, dessen stetiger Fluß — dies eben ist seine unvergleich-
liche Form — seine Wirklichkeit nur an der Wellenhöhe hat, zu der
er sich jeweilig hebt; jeder jetzige Moment ist durch den ganzen vor-
herigen Lebenslauf bestimmt, ist der Erfolg aller vorangegangenen
Momente, und schon deshalb ist jede jetzige Lebensgegenwart die
Form, in der das ganze Leben des Subjekts wirklich ist.« Und die
Rembrandtsche Lösung des Bewegungsproblems steht völlig im Zeichen
dieser Auffassung des Lebens. Man bemerkt, wie Simmel gleichsam
in Rembrandt die künstlerische Bestätigung seiner eigenen philosophi-
schen Lebenshaltung gewinnt, und wie er darum Rembrandt schätzt.
Ganz im Gegensatz dazu steht die italienische Kunst, eingeordnet in
die Wertmetaphysik des klassischen Griechentums: »Sinn und Wert
der Dinge liegt im Sein, in ihrer festumschriebenen Wesenheit, wie
ihr zeitloser Begriff sie ausdrückt.« So sucht diese Kunst die jenseits
alles Kommens und Gehens verharrende Idee, die überhistorische Form
der seelisch-körperlichen Existenz.
Wie kann aber der Maler Bewegtheit im Bilde wiedergeben ? Be-
wegtheit ist — nach Simmel — Qualität gewisser Anschauungen. Der
Künstler bringt sie auf ihren Höhepunkt, indem er sie an ein tatsäch-
lich unbewegtes Bild zu binden weiß. »Und erst, wenn wir uns klar-
machen, daß wir auch der Wirklichkeit gegenüber nicht die von der
Momentphotographie festgehaltene Attitüde .sehen', sondern Bewegung
als Kontinuität, was dadurch ermöglicht wird, daß . . . unser subjektives
Leben selbst eine Lebenskontinuität ist und nicht ein Kompositum aus
einzelnen Momenten, das ja überhaupt kein Prozeß und keine Aktivität
wäre — so begreifen wir, daß das Kunstwerk viel mehr ,Wahrheit'
darbieten kann, als die Momentphotographie.« Wir empfinden den
Augenblick der Bewegung als den Erfolg der Vergangenheit und die
Potentialität des Zukünftigen; eine »gleichsam an einem inneren Punkte
gesammelte Kraft setzt sich in die Bewegung um. Je reiner und stärker
aber diese Bewegung erfaßt ist, desto weniger bedarf sie für den Be-
schauer der intellektuellen und phantasiemäßigen Assoziationen, sondern
ihre Bestimmtheiten liegen unmittelbar innerhalb der Anschauung, nicht
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST, 21
außerhalb ihrer«. Ist die Bewegung wiri<iich in ihrer ganzen Kraft.
Richtung, undurchkreuzten Einheit innerlich erfaßt und künstlerisch
durchlebt, so ist der geringste Teil ihrer Erscheinung eben schon die
ganze, »denn jeder Punkt enthält ihr bereits Abgelaufenes, weil es ihn
bestimmte, und ihr noch Bevorstehendes, weil er es bestimmt — und
diese beiden, zeitlichen Determinationen sind in der einen, einmaligen
Sichtbarkeit dieses Striches gesammelt, oder vielmehr: sie sind der
Strich«, eben der Strich Rembrandts.
Ist so Rembrandt der Maler der unmittelbaren Lebenskontinuität,
handelt es sich doch keineswegs bei ihm um gemalte Psychologie;
denn diese ergreift einzelne, ihrem Gehalt nach begrifflich ausdrück-
bare Elemente oder Seiten der inneren Geschehensganzheit. »Ein sozu-
sagen logisch faßbares Element wird von der Kunst, wo Psychologie
sie beherrscht, als Vertreter dieser Ganzheit vorgetragen. Die psycho-
logische Gerichtetheit bewirkt immer eine Singularisierung und damit
eine gewisse Verfestigung, die sich der in jedem Augenblick vor-
handenen, aber kontinuierlich fließenden Ganzheit des Lebens enthebt.
Die Darstellung des Menschen bei Rembrandt ist im äußersten Maße
beseelt, aber nicht psychologisch.« Und ebenso darf man nicht Rem-
brandts Kunst unter dem Gesichtspunkt des rein Malerischen betrachten.
Als ihr malerisches Problem erscheint einfach die »Darstellung einer
menschlichen Lebensganzheit, aber wirklich als malerisches, nicht als
psychologisches, oder metaphysisches oder anekdotisches Problem«.
Von so tiefem Leben durchschüttert, in so langlaufende Schick-
salsfäden versponnen Rembrandts Figuren uns oft erscheinen, keine
hat jenes eigentümlich Rätselhafte, wie die Mona Lisa oder Botticellis
Giuliano Medici, wie Giorgiones Jünglingsköpfe in Berlin und Budapest
und Tizians Junger Engländer in Pitti; obgleich gerade diese Kunst
durchaus auf rationalistische Klarheit ausgeht, auf die Descartessche
»Deutlichkeit«. Gewissen letzten Tatsachen und Problemen gegenüber
ist die Bemühung nach logisch-begrifflicher Klarheit ihrer Darstellung
und Lösung bisher immer aus einer fundamentalen Unklarheit ent-
sprungen, die sich in eine nicht geringere der scheinbaren Resultate
fortgesetzt hat. Oder anders ausgedrückt: »das Sein, so viel plastischer,
formsicherer, unproblematischer als das Werden es erscheint, ist dennoch
rätselhaft und verschlossen, während das Werden, dem all jenes mangelt,
dennoch erst uns eigentlich nachfühlbar ist und jedes Stadium des
Seins uns innerlich assimiliert und begreiflich macht — vielleicht, weil
auch das Begreifen ein Leben ist, und nur das Lebendige eigentlich
vom Leben begriffen werden kann. Jenes Rätselhafte, bis zur Un-
heimiichkeit gesteigert, das dem klassischen Porträt oft eignet, geht
vielleicht darauf zurück, daß es ein der zeitlichen Lebendigkeit ent-
22 EMIL UTITZ.
hobenes Sein darstellt; das Rembrandtsche Porträt scheint uns seine
Rätsel selbst zu deuten, weil es dem immer nur werdenden, dem Zeit-
schicksal unterworfenen Leben enttaucht, dem es doch oder das ihm
doch verhaftet bleibt«.
Diese Verwurzelung im Leben hebt bei Rembrandt — genau so
wie bei Shakespeare — den Dualismus des Sinnlich-Körperlichen und
des Geistigen auf. Vielleicht haben wir wie eine Totalexistenz, so auch
eine Totalwahrnehmung, nämlich eine Fähigkeit, den anderen Menschen
mit einer einheitlichen Funktion wahrzunehmen, in der sinnliches und
geistiges Wahrnehmen so wenig durch einen inneren Teilstrich ge-
trennt sind, wie eben das Körperliche und das Seelische als Lebens-
tatsachen es sind. Innerhalb der Plastik dürften die Gestalten Michel-
angelos das am eindringlichsten machen. Hier erscheint die körper-
liche Gestaltung objektiv, vom Schöpfer her, derart von der seelischen
Stimmung durchdrungen, daß ein einziger, innerlich ganz untrennbarer
Akt des Beschauers beides aufnimmt: körperliche Geformtheit und
seelische Bedeutung sind hier nur zwei Worte für einen und denselben
Tatbestand des Seins, der viel zu einheitlich ist, als daß seine Auf-
nahme sich erst aus einer bloß sehenden und einer bloß deutenden
Funktion zusammensetzen sollte. Die Einheit des Kunstwerks kann
jedenfalls nicht nach der Synthese ihrer Teile, als wären sie Zweck
und Mittel, aufgefaßt werden, schon weil sie keine »Teile« in dem-
jenigen selbständigen Sinne besitzt, der solche Synthese ermöglichte.
Darum faßt das Porträt, mindestens in der von Rembrandt erreichten
Vollkommenheit, Körper und Seele nicht in einer »Wechselwirkung
auf, in der eines das Mittel zur Darstellung oder Deutung des anderen
wäre, sondern erfaßt die Totalität des Menschen, die nicht die Synthese
von Körper und Seele, sondern ihre Ungetrenntheit bedeutet. Dem
ganzen theoretischen und moralischen Gezänk zwischen dem Körper-
lichen und dem Seelischen, oder den Sinnen und dem Geist, wird der
Kampfplatz entzogen, sobald der Mensch Wesen und Sinn seiner
Existenz darin sieht, daß er Individuum ist, eben das Unteilbare. Simmel
hält es für eine »durchgehende Erfahrung, daß, je tiefer wir die Indi-
vidualität eines Menschen erfassen, sein Äußeres und sein Inneres
um so unscheidbarer für uns zusammengehen, um so weniger auseinander-
gedacht werden können. Die maximale Herausarbeitung des Indivi-
duellen in der Rembrandtschen Kunst erscheint als einer der inneren
Wege, auf denen sich Überwindung des seelisch-körperlichen Dualismus
vollzieht, oder richtiger, die beschreitend es einer eigentlichen Über-
windung seiner im vornherein nicht bedarf«. Ich gebe diese An-
schauungen Simmeis hier wieder, obgleich sie zum Teil mit denen aus
dem bereits angeführten Porträtaufsatz sich decken, zum Teil ihnen
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPraE DER KUNST. 23
widerstreiten. Aber gerade sie zeugen deutlich von den Wandlungen
einer Problematil< durch mannigfache Spiegelung und Einstellung. Ich
will mich nun auch hier und im folgenden jeder Kritik enthalten,
sondern lediglich darauf bedacht sein, ein möglichst treues und an-
schauliches Bild Simmelscher Kunstphilosophie zu entwerfen. Nur eine
Freiheit muß ich mir nehmen, nämlich die einer gewissen systemati-
schen Verbindung und Ordnung, um nicht dem Leser lauter Bruch-
stücke vorzulegen.
Sind nun aber die Rembrandtschen Bildnisse bloß »Symbole«, um
etwas vorstellen zu lassen, was ihre gegebene Anschaulichkeit nicht
vorstellt? Sie treten uns als Äußerungen seiner Vision entgegen, das
betrachtende Auge bleibt an die Erscheinung, wie sie dasteht, gebannt,
und überträgt sie nicht in die Kategorie der Wirklichkeit. Damit ist
nicht jener Solipsismus eines gewissen Artistentums gemeint, dem die
menschliche Form auf der Leinwand nur eine Anordnung von Farb-
flecken, ein Sammelpunkt optischer Reize, ein besonders kompliziertes
Ornament ist; alles Seelische und Übersinnliche, das seinen Gestalten
einwohnt, bleibt zu Recht bestehen. Aber es ist gleichgültig, ob es
von dem Menschen jenseits dieser Vision gilt, oder nicht gilt, es gilt,
als von seinem Definitivum, von dem Menschen innerhalb dieser Vision
selbst. Tatsächlich ist hier also erreicht, was begrifflich unmöglich
erschien: der Eindruck des nur materiellen Bildnisses, das nur Körper-
haftes nachbildet, kann nicht anders ausgedrückt werden, als daß Leben
und Seele unmittelbar — und nicht erst in Rückdatierung zu deren
realem Bestände am Modell — mit ihm gegeben sind, an ihm empfunden
werden. Dieser Eindruck müßte in seiner Tatsächlichkeit auch dann
anerkannt werden, wenn er uns logisch widerspruchsvoll und psycho-
logisch nicht analysierbar wäre. Und wirklich sehe ich mich zu einer
genauen Auflösung des Problems nicht imstande.« Simmel spricht die
Vermutung aus, daß jener Eindruck vielleicht darauf beruhe, daß die
Gestalt Schöpfung einer Seele sei. Aber — wendet er selbst ein —
die künstlerische Seele schafft zwar das Gebilde als ihr objektives Er-
zeugnis, allein sie ist doch nicht dessen subjektive Seele, die ihm zu-
käme, wie die lebendige Seele ihrem eigenen lebendigen Leib. So
formuliert und gewendet tritt das Einfühlungsproblem bei Simmel
hervor.
Sind Kunstwerke Äußerungen von Visionen, so stellen sie Objekti-
vierungen des Subjekts dar und erhalten dadurch ihren Platz jenseits
der Realität, die am Objekt für sich oder am Subjekt für sich haftet.
Gibt das Kunstwerk die Reinheit seiner Jenseitsschicht auf, sei es, um
bloß ein Objekt darzustellen, sei es, um bloß das Subjekt auszusprechen,
so gleitet es in eben diesem Maße aus seiner spezifischen Kategorie
24 EMIL UTITZ.
in die der Realität. Es wäre aber bürolcratische Engherzigkeit, bloß
um der Reinlichlceit des Begriffes Kunst willen die Bedeutung gewisser
Werke herabzusetzen, in denen die eine oder die andere jener Inten-
tionen auf die Wirklichkeit hin oder von der Wirklichkeit her sich ver-
nehmbar macht, falls nur ein Großes und Wesentliches erreicht ist.
In der Schauspielkunst — dem besten Beispiel — lassen zwei ent-
sprechende Extreme das reine Kunstgebilde in die Realität verlaufen.
Auf der einen Seite steht der Imitator, dessen Leistung einen jenseits
der Kunstsphäre gelegenen Wirklichkeitsvorgang vortäuscht, auf der
anderen der subjektivistische Schauspieler, der in allen Rollen sich selbst
spielt. Rembrandts Porträts offenbaren den weitesten Abstand von
diesen beiden Formen des Realismus.
Wie haben wir uns nun die künstlerische Zeugung zu denken,
jenen Weg von der Vision bis zum vollendeten Kunstwerk? Simmel
meint, die ganze extensive Gestaltung jeglichen Kunstwerkes gehe von
einem seelischen Keim aus, der, wenn nur das Extensive Gestaltung
ermögliche, gestaltlos sei. Der Keim oder Samen enthält auch nicht
das Lebewesen im kleinen, sondern hat zu diesem ein rein funktionelles
Verhältnis, indem er ausschließlich die auf jene Bestimmtheit hin ge-
richteten potenziellen Energien enthält. Das seelische Keimgebilde tritt
nicht in Erscheinung, sondern bleibt, wie man sagt, »unbewußt«, denn
sein Hervortreten bedeutet ja gerade, daß es nun auseinandergelegt
ist, daß es den Reifezustand vielheitlicher Gliederung erreicht hat. Ver-
gleicht man ein minderwertiges Porträt, insbesondere eines von dilet-
tantischem Charakter, das doch von der Ähnlichkeit mit seinem Modell
überzeugt, mit einem Meisterporträt, so hat man von dem ersteren den
Eindruck, der Maler habe von dem Modell jeweils Zug für Zug, wie
er ihn einzeln erschaute, in dem gleichen Nacheinander auf die Lein-
wand übertragen. Bei Rembrandt aber ist es, als habe er die Er-
scheinung des Menschen auf eine schlechthin einheitliche transphäno-
menale Wesensintuition zurückgeführt und diese nun den in ihr
gesammelten Triebkräften überlassen, aus denen sich, in freiem or-
ganischem Wachstum, die Extensität der Formen entfaltete. »Dies
scheint mir das eigentliche Schöpfertum in der Porträtkunst zu sein:
daß für den Künstler die Beschauung des Modells nur Empfängnis,
Befruchtung ist, und daß er die Erscheinung noch einmal zeugt, daß
sie noch einmal auf dem Boden und unter den eigentümlichen Kate-
gorien des Künstlertums wächst, als Entwicklung jenes seelischen Ge-
bildes, das ich dem Keimbläschen verglich.« Die immer gründlichere
Verneinung der Unmittelbarkeit des Verhältnisses zwischen der Wirk-
lichkeit und dem Kunstwerk hält Simmel für eine der wesentlichsten
Obliegenheiten der Kunstphilosophie. Es muß durchaus anerkannt
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 25
werden, daß die Kunst ein schlechthin selbständiges Gebilde ist, und
als Formung der Weltinhaite nicht auf Borg von deren anderer Formung
lebt, »die wir Wirk!ichi<eit nennen. Nicht die mindeste Gegeninstanz
ist es, daß alle großen Künstler rastlos die natürliche Wirklichkeit
studiert haben. Denn wenn das Kunstwerk, wie ich vermute, aus einem
seelischen Keim hervorgeht, der dessen schließlich anschauliche Ex-
tensität gar nicht enthält, — so ist damit nach keiner Richtung hin
präjudiziert, welche Bedingungen und Anregungen denn die künst-
lerische Seele braucht, damit jener Keim in ihr entstehe«.
Jenes Verhältnis des Kunstwerks zur gewöhnlichen Wirklichkeit
erläutert Simmel sehr eingehend an der Hand eines Beispiels: der Pelz-
kragen auf der Rembrandtschen Radierung ist nicht, wie eine Photo-
graphie es wäre, ein Oberflächenbild von demjenigen, den seine Mutter
wirklich trug, sondern ist ein ebenso selbständiges, ebenso gleichsam
aus eigener Wurzel gewachsenes Gebilde, wie dieser, kein »Schein^
einer Wirklichkeit, vielmehr der künstlerischen Welt und deren eigenen
Kräften und Gesetzen angehörig, und deshalb der Alternative: Wirk-
lichkeit oder Schein — durchaus enthoben. Der Schein gehört noch
der Wirklichkeit zu, wie der Schatten noch der Körperwelt, denn er
ist nur durch sie, beide stehen, wenn auch gewissermaßen mit ent-
gegengesetzten Vorzeichen, innerhalb derselben Ebene. Die Kunst aber
lebt in einer anderen, mit jener sich nicht berührenden — gleichviel,
ob der Künstler, ebenso wie der Beschauer, um in sie zu gelangen,
durch jene hindurchgehen muß. In dem Geschaffenen, das schließlich
in unabhängiger Objektivität dasteht, sind die psychologischen Vor-
stadien und Bedingungen seines Geschaffenwerdens überwunden. Der
wirkliche Pelzkragen und der radierte Pelzkragen sind eine und dieselbe
Wesenheit, auf zwei voneinander essenziell verschiedene und unab-
hängige Arten ausgedrückt. »Kann man sich von der metaphysischen
Belastetheit des Wortes frei machen, so ist es ganz legitim zu sagen,
daß die Idee des Pelzkragens von der Wirklichkeit und von der Kunst
wie von zwei Sprachen ausgesprochen wird. Daß die erstere nun
gleichsam unsere Muttersprache ist, daß wir die Seinsinhalte oder Ideen
aus dieser, in der sie uns zuerst begegnen, in jene übersetzen müssen —
diese seelisch zeitliche Notwendigkeit ändert doch nichts an der
Selbständigkeit und Fundamentalität jeder der beiden Sprachen ; ändert
nichts daran, daß jede den gleichen Inhalt mit ihren Vokabeln und
nach ihrer Grammatik ausdrückt, und diese Form nicht von der anderen
borgt.« Was wir Wirklichkeit nennen, ist auch nur eine Kategorie,
in die ein Inhalt geformt wird, so ein völlig einheitliches Gebilde er-
gebend. Auch die Kunst ist nichts anderes, und wenn wir den Rem-
brandtschen Pelzkragen sehen, so sehen wir tatsächlich nur diese
26 EMIL UTITZ.
Striche, die nicht einen anderswo gegebenen und sich assoziativ vor-
schiebenden Pelzl<ragen »darstellen«, sondern genau so ein Pelzkragen
»sind«, wie die einzelnen Haare des von Rembrandts Mutter getragenen
zusammen ein Pelzkragen sind. Hier rühren wir an eine der Orund-
überzeugungen Simmeis, die in metaphysischer Verankerung sein letztes
Werk »Lebensanschauung« in immer neuen Spiegelungen beleuchtet.
Wenn so »Wirklichkeit« und Kunst als Welten eigener Ordnung
voneinander sich lösen, vereint lediglich im Pulsschlag des Lebens,
was bedeutet dann der Gegenstand im Kunstwerk? Daß z. B. die
Madonna in der kirchlichen Sphäre ein Gegenstand der Anbetung ist,
geht das Kunstwerk als solches so wenig an, wie daß der Kohlkopf
in der Sphäre der Praxis ein Gegenstand der Ernährung ist. Diese
Gleichgültigkeit des Gegenstandes, die seinen außerhalb der Kunst ge-
legenen Sinn für diese betrifft, wird nun aber völlig unrichtig als eine
Gleichgültigkeit gedeutet, die dem Gegenstand als reinem Inhalt des
Kunstwerks zukommt, in der »grenzsicheren Immanenz seiner künst-
lerischen Verwertung. Ihn auch in diesem Sinne für indifferent zu
erklären, ist eine willkürliche Zerreißung der Einheit des Kunstwerks,
die für kein in sie eingeschlossenes Element Gleichgültigkeit zuläßt«.
Die Madonna ist freilich nicht deshalb ein »würdigerer« Darstellungs-
gegenstand, weil sie angebetet, der Kohlkopf aber nur verspeist wird,
sondern weil ihre Darstellung mehr Gelegenheit zur Entfaltung rein
künstlerischer Qualitäten gibt.
Jene Einheit des Kunstwerks — in der Simmeis Betrachtungen
von den verschiedensten Seiten her einmünden — gehört ebenso, wie
sein »Antinaturalismusc, zu den Grundfesten seines Verhältnisses zur
Kunst. Und so spielt das Problem der Einheitsprinzipien bei ihm —
wie wir bereits auch sahen — eine große Rolle. Die Einheit des wohl-
komponierten Renaissancebildes liegt außerhalb des Bildinhaltes selbst;
sie ist als abstrakte Form zu denken: Pyramide, Gruppensymmetrie,
Kontrapost usw. — Formen, deren an und für sich selbständige Be-
deutung auch mit anderem Inhalt erfüllt werden könnte. »Diese
gleichsam tendenziöse, unbarmherzig betonte Vollendetheit der Form
begünstigt es, daß das Sonett die am meisten zur äußerlichen Spielerei
verführende, am leichtesten leer und formalistisch wirkende Versart
ist — wo nicht, genau wie bei dem geometrischen Schema der
bildenden Kunst, eine singulare Genialität dieser Gefahren Herr wird.«
Bei Rembrandt erwächst die Gesamtform des mehrfigurigen Bildes aus
dem Leben der einzelnen Figuren, d. h. daraus, daß das Leben der
einzelnen, ausschließlich von ihrem eigenen Zentrum aus bestimmt,
gewissermaßen über sie hinausströmt und dem der anderen begegnet.
Eine übergreifende Gesamtform, die man als für sich vorstellbare und
ÜEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 27
bedeutsame dem Ganzen entnehmen oder als ein Schema vorzeichnen
könnte, wie an geometrisch komponierten Bildern, besteht hier nicht.
Diese mehr geometrisch orientierte Einheit ist aber ersichtlich nicht
an organische Erfüllungen gebunden, sondern kann sich mit dem
gleichen Erfolge formaler Geschlossenheit auch an unlebendigen In-
halten verwirklichen. Im Unterschiede dazu aber gibt es eine Ein-
heitlichkeit, die unmittelbar ihren Erfüllungen verhaftet ist, die gerade
nur an diesem Stoff bestehen kann und zwar, weil sie nur aus ihm
zu erstehen vermag. Dies ist die Einheit ausschließlich des organischen
Wesens; sie läßt sich gar nicht als eine Form denken, die mit einem
irgendwie qualitativ anderen Gehalt auszufüllen wäre. »Indem die
Nachtwache so und so viele Lebendigkeiten und nur sie zum Bild-
inhalt macht und dem Geheimnis ihrer rein vitalen Wechselwirkungen
anschauliche Sprache gibt, hat sie jenes alte germanische Drängen zu
einer Einheit, die nicht geschlossen formmäßig, nicht für sich darstellbar,
sondern nur an ihren Trägern zu realisieren ist, zum erstenmal in der
Geschichte der Kunst rein befriedigt. Die Einheit ist hier, wo sie
zugleich ganz tief und ganz labil ist, auf eine viel gewagtere Weise
gewonnen als im klassischen Kunstwerk, bei dem sie durch den eigenen
vorbestehenden Sinn der Form eine gewisse Garantie für das Nicht-
auseinanderfallenkönnen und das Verstandenwerdenmüssen in sich trägt.
Es besteht hier eine tiefe Beziehung zu dem Prinzip der Individualität:
daß sie dasjenige Gebilde ist, dessen Form absolut mit seiner Wirk-
lichkeit verbunden ist, nicht unter der Voraussetzung oder zum Gewinn
eines selbständigen Sinnes aus dieser Wirklichkeit herauszuabstra-
hieren ist.<
Stellt sich in der reinen Form gewissermaßen die abstrakte Idee
der Erscheinung dar, so steht die Farbe sowohl diesseits wie jenseits
dieser: sie ist »sinnlicher und metaphysischer«, ihre Wirkung ist einer-
seits unmittelbarer, andererseits tiefer und geheimnisvoller. »Ist die
Form etwa als die Logik der Erscheinung zu bezeichnen, so bedeutet
die Farbe eher deren psychologischen und metaphysischen Charakter —
auch hier diese beiden, untereinander durchaus geschiedenen Intentionen
in ihrer gemeinsamen Gegensätzlichkeit gegen das logische Prinzip er-
weisend; die vorwiegend logisch interessierten Denker verhalten sich
deshalb häufig gleichmäßig ablehnend gegen die psychologische wie
gegen die metaphysische Sinnesart, und dies scheint nur der tiefere
Zusammenhang zu sein, aus dem heraus Kant in seinem ästhetischen
Wertsystem die Farbe eigentlich ganz zugunsten der Form ablehnt.
Macht man sich nun klar, daß die Farbe im Unterschied gegen die
Linie — gerade wie an ihrer Stelle Psychologie und Metaphysik im
Unterschied gegen die Logik — der Ort der Graduierungen, des Stärker
28 EMIL UTITZ.
und Schwächer, der Valeurs mit ihren unendlichen quantitativen Mög-
lichkeiten ist, so ist weiterhin ersichtlich, daß mit dem Vorherrschen
der Form und ihrer geometrischen Intendierung die gleichmäßige
Durchführung aller Bildteile gegeben ist. In dem geometrischen Ge-
bilde ist alles gleich berechtigt ... die geometrisierende Tendenz und
die scharfe Deutlichkeit alles Vorgeführten sind nur zwei Ausdrücke
für dieselbe rationalistische Gesinnung.« Wo aber das Bild vom Leben
durchtränkt ist, da ist auch Ungleichmäßigkeit der Durchführung ge-
geben ; »denn Leben ist Rangierung, betonte Hauptsache und vernach-
lässigte Nebensache, Mittelpunktsetzung und Abstufung zur Peripherie«.
»Insofern hat, wenn man will, das Leben der Welt gegenüber etwas
Ungerechtes; aber alle Genialität läßt sich so ausdrücken, daß sie uns
die Überzeugung gibt, mit dieser, unmittelbar vom Subjekt und nicht
vom Objekt abhängigen Akzentverteilung dennoch eine tiefere Ge-
rechtigkeit auch dem Objekt gegenüber realisiert zu haben — nicht
freilich in seiner scharf abschneidenden Isolierung, auch vielleicht nicht
in der rein kosmischen Betrachtung, die den Elementen keine Be-
deutungsunterschiede läßt. Wohl aber wird durch diese Unterschiede
das Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem Objekt, das doch auch
eine objektive Tatsache ist, allein angemessen ausgedrückt.«
Wir lernten die Beziehung der organischen Einheit des Kunst-
werks zum Prinzip der Individualität kennen. Hier knüpfen weitere
Untersuchungen Simmeis an. Gerade das für Menschheit oder Kultur
Allgemeinste ist für den Schöpfer sein Persönlichstes, gerade dies
markiert die Einzigkeit dieser Individualität. :>Die unvergleichliche In-
dividualität Schopenhauers liegt doch nicht in seinen »persönlichen«
Verhältnissen: daß er in Danzig geboren wurde, ein unliebenswürdiger
Junggeselle war, mit seiner Familie zerfiel und in Frankfurt starb; denn
jeder dieser Züge ist nur typisch. Seine Individualität, das Persönlich-
Einzige an Schopenhauer ist vielmehr »die Welt als Wille und Vor-
stellung« — sein geistiges Sein und Tun, das gerade als umso indi-
vidueller hervortritt, je mehr man nicht nur von jenen Spezialbe-
stimmungen seiner Existenz, sondern auch innerhalb der geistigen
Ebene von dem Detail der Leistung abzieht. Gerade dessen Einzel-
heiten und Besonderheiten mögen hier und da an andere Schöpfer
erinnern, ihr Allgemeinstes, einheitlich Durchgehendes, ist schlechthin
mit Schopenhauer und nur mit ihm synonym.« Im Äußeren und Un-
lebendigen freilich gewinnt eine Erscheinung Besonderheit und relative
Einzigkeit in dem Maße, in dem immer mehr Einzelbestimmungen an
ihr hervortreten. Denn in eben diesem Maße wird die Wiederholung
der gleichen Kombination unwahrscheinlicher; hier wird talsächlich die
Individualisiertheit einer Vorstellung durch Detaillierung innerhalb ihres
3
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 29
Inhalts erreicht: und dies geschieht auch an seelischen Objekten, in-
soweit wir sie in psychologischer Äußerlichkeit, also nach mechanisti-
scher Art betrachten; dann wächst auch hier das Maß der Besonder-
heit proportional der Zahl angebbarer Einzelheiten — obgleich ersicht-
lich die sichere Erreichung einer wirklichen Individualität auf diese
Weise eine nie zu vollendende Aufgabe wäre. Wird aber eine seelische
Existenz von innen erfaßt, nicht als eine Summe von Einzelqualitäten,
sondern als eine Lebendigkeit, deren Einheit jenes ganze Detail erzeugt
oder bestimmt oder deren Zerlegung dieses ist, so ist solche Existenz
von vornherein als volle Individualität da. Die Individualität des Ge-
bildes als Ganzen, seine dadurch entstehende Einzigkeit, daß jedes
Teilchen nur in bezug auf gerade dieses Zentrum Existenz und Sinn
hat — diese wird jedenfalls durch das Fehlen genauer Detaillierung
begünstigt; denn eine solche läßt den Teilen einen Sonderbestand, der
ihre Einstellung in einen anderen Zusammenhang prinzipiell ermöglicht
und sie der Einzigkeit ihrer jetzigen Bedeutung enthebt. Und dies
gilt nun in vollem Maße von der Kunst, besonders der Rembrandts.
Das Rembrandtsche Begreiflichmachen einer Persönlichkeit verfolgt
demnach ein anderes Ziel und einen anderen Weg als eine Vermittlung
durch den Typus. Darin spiegelt sich der ganze, weit reichende Unter-
schied zwischen den beiden Arten, wie wir überhaupt einen Menschen
kennen. Die eine unterstellt ihn allgemein seelischen Begriffen: er ist
klug oder dumm, großartig oder kleinlich, gutmütig oder boshaft usw.
Dies ist in steigernder Verfeinerung die Methode wissenschaftlich-
psychologischer Erkenntnis. Aber damit lerne ich einen Menschen
nicht von ihm selbst her kennen, aus ihm selbst heraus, sondern meine
Kenntnis seiner fließt aus Begriffen, die ich bereits mitbringe. Von
jenem unmittelbaren Wissen ist das erste Stadium bereits in dem
Augenblick gewonnen, in dem der Mensch ins Zimmer tritt. »Wir
wissen in diesem ersten Augenblick nicht dies und das, keine jener
angedeuteten Kategorien von ihm, aber doch unendlich viel, ihn selbst,
sein Unverwechselbares. Es gibt eine kontinuierliche Entwicklungs-
reihe des Kennens, die sich an diesen ersten Augenblick ansetzt und
in dessen Art verbleibt, die dieses erste, gar nicht auseinanderlegbare
Wissen nur vertieft und vermehrt, ohne daß es sich damit um be-
stimmte Teile vermehrte.« Worauf es hier ankommt, ist nicht das
Unbezweifelte: daß der Mensch eine Individualität ist, die nicht aus
der Summe seiner angebbaren Eigenschaften zusammenzusetzen ist, —
sondern, daß die Erkenntnis eben dieser Individualität gleichsam mit
einem besonderen Organ erfolgt, das für die Erkenntnis der beschreib-
lichen Eigenschaften gar nicht zusammenfällt. Rembrandt muß dieses
Organ in erstaunlicher Ausbildung besessen haben. »Aus seinen Por-
30 EMIL UTITZ.
träts leuchtet uns, der Art nach, vor allem das entgegen, was wir von
einem Menschen beim ersten Anbh'ck als ganz Unaussprechbares wissen,
als die Einheit seiner Existenz. Denn nur die Totalität des Menschen —
die Rembrandt als den Totalverlauf seiner Schicksale anschaulich macht —
ist das Einzige, alles Einzelne an ihm ist ein Allgemeines. Auf das
letztere aber richtet sich im wesentlichen das italienische Porträt.«
In dieser Totalität des Lebendigen liegt auch der Tod beschlossen.
Denn er steht dem Leben nicht als Möglichkeit gegenüber, die irgend-
wann einmal Wirklichkeit wird, sondern unser Leben wird zu dem,
als was wir es kennen, überhaupt nur dadurch geformt, daß wir,
wachsend oder verwelkend, immer solche sind, die sterben werden.
Freilich sterben wir erst in der Zukunft, aber daß wir es tun, ist kein
bloßes Schicksal«, sondern es ist eine innere Immer-Wirklichkeit jeder
Gegenwart, ist Färbung und Formung des Lebens, ohne die das Leben,
das wir haben, unausdenkbar verwandelt wäre. »Der Tod ist eine Be-
schaffenheit des organischen Daseins, wie es eine von je mitgebrachte
Beschaffenheit, eine Funktion des Samens ist, die wir so ausdrücken:
daß er einst eine Frucht bringen wird.« Diese Art, den Tod zu
empfinden, glaubt Simmel bei Rembrandt gegeben; allerdings nicht in
einem elegischen oder pathetischen Sinne. Denn dieser gerade ent-
steht, wo der Tod als eine dem Leben wie von außen drohende Ver-
gewaltigung erscheint, als ein Schicksal, das an irgendeiner Stelle unseres
Lebensweges auf uns gewartet hat, unvermeidlich zwar der Tatsache
nach, aber nicht aus der Idee des Lebens heraus notwendig, sondern
ihr sogar widersprechend. Ganz anders, wenn der Tod von vorn-
herein ein characterindelebilis des Lebens ist. Nun ordnen sich aber
viele unserer wesentlichen Daseinsbestimmungen zu Oegensatzpaaren,
so daß der Begriff des einen seinen Sinn erst an der Korrelation mit
dem andern findet: das Gute und das Böse, das Männliche und das
Weibliche und zahlreiche andere. Diese beiden Relativitäten werden
aber oftmals noch einmal umfaßt von einem absoluten Sinne, den eine
von beiden erwirbt. >Gewiß schließt Gutes und Böses in beider re-
lativem Sinne sich gegenseitig aus; vielleicht aber ist das Dasein in
einem absoluten göttlichen Sinn schlechthin gut, und dieses Gute birgt
in sich das relativ Gute wie das relativ Böse . . . Und so vielleicht sind
Leben und Tod, insofern sie einander logisch und physisch auszu-
schließen scheinen, doch nur relative Gegensätze, umgriffen vom Leben
in dessen absolutem Sinne, der das gegenseitige Sichbegrenzen und
Sichbedingen von Leben und Tod unterbaut und übergreift.« Diese
Grundtatsache — Immanenz des Todes im Leben — scheinen die
tiefsten Rembrandtporträts zu verkünden; jene Porträts enthalten das
Leben in seiner weitesten Bedeutung, in der es auch den Tod ein-
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 3|
schließt. Der Typus — wenn es mit Simme! gestattet ist, diese Be-
traclitungen noch weiterzuführen — stirbt nicht, aber das Individuum
stirbt. Je individueller also der Mensch ist, desto »sterblicher« ist er,
denn das Einzige ist eben unvertretbar und sein Verschwinden ist
deshalb um so definitiver, je mehr es einzig ist. So hat die italienische
Kunst, weil sie typisiert, etwas Heiteres, die germanische, mit ihrer
individualistischen Leidenschaft, oft etwas Zerrissenes; »jenes eigen-
tümlich Unabgeschlossene gegenüber der Abgerundetheit des Klassi-
schen, das ins Unendliche Weiterstrebende der germanischen Kunst,
als würde man von jeder endlichen und beruhigenden Lösung immer
weiter einem erst zu Gewinnenden oder niemals zu Gewinnenden zu-
getrieben — dies speist sich vielleicht aus der Unversöhnlichkeit der
Individualität, in die der Tod eingewebt ist, mit der Kunst, die rein
als Kunst über dem Tode steht.«
Diese — nun genügend nach allen Seiten hin charakterisierte —
germanische Kunst, zu deren glanzvollsten Beispielen Rembrandts Werk
zählt, zielt nicht in letzter Linie auf Schönheit. Was aber ist Schön-
heit? Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß von allen großen Werten,
mit denen unser Geist dem Dasein Bedeutung verleiht, nur die Schön-
heit sich auch am Unlebendigen verwirklicht. Bloß das Beseelte kann
sittliche Werte erzeugen, nur für den Geist kann es Wahrheit geben.
Schönheit aber kann an dem Stein, an dem Wassersturz und seinem
Regenbogen, an dem Zug und der Färbung der Wolken haften, am
Unorganischen wie am Organischen. Schönheit ist >in unserer durch-
gängigen Auffassung des Wortes« keineswegs ein völlig abstrakter,
an jeder Auffassungsweise der menschlichen Erscheinungen realisier-
barer Begriff; wir verstehen unter ihr die klassische Formgebung. Aus
der Inthronisierung dieser Schönheit spricht die Weltanschauung, die
in dem Allgemeinen (wie die Herrschaft des Typus in dem indivi-
duellen Phänomen sie offenbart) und in der immanenten Gesetzlich-
keit (die die Elemente der Erscheinung unmittelbar untereinander und
gleichsam freischwebend verbindet) absolute Werte sieht.
Dringen wir über diese Schönheitskunst zur Gesamtheit der Kunst
vor, so drückt Simmel ihre Beziehung zum Leben in dem Buche über
Lebensanschauung in knappster und klarster Formulierung aus: das
Leben mit seiner biologischen und religiösen, seelischen und meta-
physischen Bedeutung wirkt nicht von jenseits der künstlerischen
Formen in das Werk hinein, sondern diese Formen sind die Formen
des Lebens selbst, die sich freilich vom Leben, als einem teleologisch
strömenden, emanzipiert haben, aber ihre Dynamik und ihren Reichtum
doch von eben diesem Leben, soweit es diese Güter besitzt, zu Lehen
tragen. Das Mehr-als-Kunst, das jede große Kunst zeigt, fließt aus
32 EMIL UTITZ.
derselben Quelle, der sie, nun als rein ideales, lebensfreies Gebilde,
entstammt ist. In die aus ihm entsprungenen Formen überträgt das
Leben, auch wenn sie in schlechthin objektivem, unabhängig eigenem
Sinne wirken, dann doch seinen Charakter, und läßt sich wiederum
von ihnen bestimmen, so daß es gleichsam diesseits und jenseits ihrer
steht; zu gleichen Rechten wird es in ihnen äternisiert, wie sie in ihm
vitalisiert werden.
In zwei ganz unterschiedenen Bedeutungen können wir — auf
dem Boden dieser Auffassung — von unvollkommener Kunst reden.
Es gibt unvollkommene Kunst, insoweit das Werk zwar ganz und gar
um der künstlerischen Intention willen gestaltet ist und sich in der
strengen Umgrenzung der autokratisch künstlerischen Formen hält —
aber den immanenten Forderungen der Kunst nicht genügt, uninter-
essant, banal, kraftlos ist. Und es gibt unvollkommene Kunst, wenn
das Werk, die letzteren Beeinträchtigungen vielleicht nicht zeigend, seine
künstlerischen Formen noch nicht völlig von der Lebensdienstbarkeit
befreit, die Wendung dieser Formen von ihrem Mittel-Sein zu ihrem
Eigenwert-Sein noch nicht im absoluten Maße vollzogen hat. Dies ist
der Fall, wo ein tendenzhaftes, anekdotisches, sinnlich exzitatives In-
teresse als ein irgendwie bestimmendes in der Darstellung mitklingt.
Dabei kann das Werk von großer seelischer und kultureller Bedeutung
sein; denn dazu braucht es keineswegs an die begriffliche Reinheit
einer einzelnen Kategorie gebunden zu sein. Aber als Kunst bleibt
es unvollkommen, solange seine Formungen noch irgend etwas von
derjenigen Bedeutung fühlbar machen, mit der sie sich den Strömungen
des Lebens einfügen — so tief und umfassend sie diese Strömungen
auch in sich aufgenommen haben.
Simmel hat sein Erleben und Erfassen Rembrandtscher Kunst und
Rembrandtschen Wesens zu einer Philosophie der Kunst ausgeweitet.
Auch wo er andere Künstlerpersönlichkeiten eingehender behandelt,
sind ihm diese in erster und letzter Linie Objektivierungen seiner eigenen
Geistigkeit, seines Lebens- und Weltverhältnisses in der Sphäre der
Kunst, in ihrer Wirklichkeitsschicht. Darum sind ihre Werke ihm
Beispiele, Bestätigungen seiner Problemstellungen und Problemlösungen.
Aber er braucht diese Beispiele oder Bestätigungen nicht zusammen-
zuklauben und zu suchen, um ein System praktisch zu illustrieren,
sondern jene Erlebnisse sind Quellpunkt und Rechtsgrund seiner theo-
retischen Anschauungen; diese sind nur begriffliche Deutungen und
Verknüpfungen jener, Weiterführungen ins Metaphysische. Denn
Simmeis gesamte Kunstphilosophie ist ihrer Tendenz nach metaphysisch,
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 33
SO viele und reiche psychologische oder rein l<unstwissenschaftliche
Ergebnisse sie auch zeitigen mag. Wir glauben, ihre Orundzüge bereits
skizziert zu haben; das folgende soll sie noch ergänzen, keineswegs
aber » erschöpfen c.
Michelangelo würdigt Simmel als die ganz und gar tragische Per-
sönlichkeit. Sein Leben war auf das Anschauliche, Irdischschöne ge-
richtet. Aber die Sehnsucht nach dem Transzendenten zerbrach diese
Tendenz. Und doch war diese Sehnsucht nicht weniger notwendig,
denn sie stammte aus dem tiefsten Fundamente seiner Natur, und
darum konnte er innerer Vernichtung so wenig entrinnen, wie er sich
von sich selbst abtun konnte. Denn tragisch ist gerade dasjenige,
was gegen den Willen und das Leben, als dessen Widerspruch und
Zerstörung gerichtet ist, und dennoch aus dem Letzten und Tiefsten
des Willens und des Lebens selbst wächst — im Unterschied gegen
das bloß Traurige, in dem die gleiche Zerstörung aus einem gegen
den innersten Lebenssinn des zerstörten Subjekts zufälligen Verhängnis
gekommen ist. Die tragische Vernichtung stammt aus demselben
Wurzelgrunde, aus dem das Vernichtete in seinem Sinn und seinem
Wert gewachsen ist. In dem Buche über »Lebensanschauung« kommt
Simmel noch einmal auf das Tragische zu sprechen, und ohne den
Standpunkt zu wechseln, vertieft er ihn in großartiger Weise. Er deutet
auf das unheimliche Gefühl hin, daß das ganz Notwendige unseres
Lebens doch noch irgendwie ein Zufälliges sei. Das volle Gegenteil
und die Überwindung davon bietet nur die Form der Kunst in der
Tragödie. Denn diese läßt uns fühlen, daß das Zufällige gerade bis
in seinen letzten Grund hinein ein Notwendiges ist. Gewiß geht
der tragische Held an der Reibung zwischen irgendwelchen äußeren
Gegebenheiten und seiner eigenen Lebensintention zugrunde; allein
daß dies geschieht, ist eben in dieser letzteren selbst ganz fundamental
vorgezeichnet — sonst wäre sein Untergang nichts Tragisches, sondern
nur etwas Trauriges. »In der Aufhebung jener Unheimlichkeit des
Zufälligen im Notwendigen — und zwar nicht nach einer vorgeblichen
»sittlichen Weltordnung« Notwendigen, sondern nach dem Lebens-
Apriori des Subjekts — liegt das »Versöhnende« der Tragödie; sie ist
insofern immer »Schicksals«-Tragödie. Denn die Bedeutung des Schick-
salsbegriffes: daß das bloß Ereignishafte der Objektivität sich in das
Sinnhafte einer individuellen Lebensgerichtetheit wandele oder als solches
enthülle, — stellt sie in einer Reinheit dar, zu der es unser empirisches
Schicksal nicht bringt, weil sein Ereigniselement hier auf sein selb-
ständig kausales, sinnfremdes Wesen nie ganz verzichtet.«
Ist Michelangelo für Simmel die tragische Persönlichkeit, stellt
Goethe ihm schlechthin das menschliche Ideal dar; ihm hat er darum
Zeitschr. f. Ästhetik u. alli;. Kunstwissenschaft. MV. 3
34 EMIL UTITZ.
auch ein Buch der Huldigung gewidmet, das ganz einzigartig ist —
ich würde vorbildlich sagen, wenn da nicht die Frage eines Nachbildes
einfach unsinnig wäre — in dem kühnen und sicheren Spürsinn, mit
dem hier der geistige Sinn der Ooetheschen Existenz erfaßt wird, die
Eigengesetzlichkeit seines Wesens. Ich kann weder den Inhalt dieses
Werkes wiedergeben, noch seine Grundgedanken. Aber an einigen
wenigen Beispielen will ich doch aufweisen, bis zu welchen Tiefen
der Deutung Simmel vorgedrungen ist.
Die Erzeugung von an sich wertvollen Inhalten des Lebens aus
dem unmittelbaren, nur sich selbst gehorsamen Prozeß des Lebens
selbst begründet die fundamentale Abneigung Goethes gegen allen
Rationalismus, denn dessen eigentliches Absehen ist, umgekehrt das
Leben aus den Inhalfen zu entwickeln, erst aus ihnen ihm Kraft und
Recht zuzuleiten — weil er dem Leben selbst nicht traut. ^Das tiefe
Zutrauen zum Leben, das überall in Goethe zu Worte kommt, ist nur
der Ausdruck jener genialischen Grundformel seiner Existenz.«: Daß
die Produktivität nach dem eigenen Gesetz und Trieb bei Goethe so
die vollkommenste Angemessenheit zur Welt zeigt, ist zwar in der
letzten metaphysischen Beschaffenheit seines Naturells verankert; inner-
halb der bezeichenbareren Schichten aber wird es von der ungeheuren
Assimilationskraft seines Wesens gegenüber allem Gegebenen getragen.
Diese Schaffenskraft, die ununterbrochen aus dem einheitlichen Quell
der Persönlichkeit zeugte, nährte sich ebenso ununterbrochen aus der
Wirklichkeit um sie herum. Seine Geistigkeit muß eine Analogie zu
dem Vermögen des ganz gesunden physischen Organismus gehabt
haben, die Nahrungsmittel bis ins Letzte auszunutzen, das Unverwend-
bare störungslos auszuscheiden, das Zurückbehaltene dem Lebenskreis-
lauf so selbstverständlich einzuverleiben, als bildeten beide schon von
vornherein eine organische Einheit.« Aus jenem festen Vertrauen zum
Leben entwickelt Goethe sein Schönheitsideal, das er weder ins Trans-
zendente, hinter die Natur, verbannt, noch auch einem Singulären in
Isoliertheit gegen das ganze Sein zuerkennt, sondern bloß derjenigen
Erscheinung, in der die einheitliche Ganzheit des natürlichen Seins zum
Ausdruck kommt. Wie im psychologischen Symbol drückt Goethe
diese tiefste Bedeutung des Schönen« in dem Satze aus: Wer die
Schönheit erblickt, fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Über-
einstimmung.<
Mit prachtvoller Klarheit entwickelt Simmel, wie schon in Goethes
Jugend, in der doch die Fülle und Bewegtheit seines Inneren mit einer
ganz einzigen Unmittelbarkeit und Unabgelenktheit in Äußerungen und
Lebensgestaltung ausfloß, die Objektivierung des Subjekts sich anzeigt,
und wie sich diese in großartiger Weise entfaltet. Und das Kapitel
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 35
Über die >Liebe< gehört gewiß zum Besten und Edelsten, das über
Goethe geschrieben wurde. Ich l<ann es mir nicht versagen, eine be-
sonders charal<teristische Steile trotz ihrer Länge hier wörtlich anzu-
führen: »Die Wesensformel, die an Goethe ihre reinste und stärkste
historische Verwirklichung findet, war doch immer diese: daß ein Leben,
ganz dem eigenen Gesetz gehorchend, wie in einheitlich naturhaftem
Triebe sich entwickelnd, eben damit dem Gesetz der Dinge entspricht,
d. h. daß seine Erkenntnisse und Werke, reine Ausdrücke jener inner-
lichen, aus sich selbst wachsenden Notwendigkeit, doch wie von den
Forderungen des Objekts und denen der Idee her gebildet sind. Er
hat jeden eigengesetzlichen Sachgehalt durch die Tatsache, daß er ihn
erlebte, so von innen her geformt, als wäre er aus der Einheit dieses
Lebens selbst geboren. Gemäß diesem Gesamtsinn seiner Existenz
scheinen sich auch deren erotische Inhalte zu entwickeln. Auch diese
treten auf, als wären sie von seinem Innern und dessen Entwicklungs-
notwendigkeiten bestimmt, wie sich eine Blüte an den Zweig ansetzt,
in dem Augenblick und in der Form, wie dessen eigenste Triebkraft
es erfordert und entwickelt. Nirgends, selbst in so extremen Fällen,
wie in der Leidenschaft für Lotte und Ulrike von Levetzow, spüren
wir jenes Preisgegebensein, das dem erotischen Erlebnis das Symbol
des Liebestranks verschafft hat und oft den Gefühlston, als wäre es
viel eher etwas, das mit uns oder an uns vorgeht, als eine Äußerung
eines sich selbst gehörenden Lebens. Wir hören, daß er mit all seinen
sinnlichen Hingerissenheiten doch immer Herr seiner selbst ge-
blieben ist.«
Die Art, wie Simmel Goethes Schaffens deutet, entfernt sich weit
von jenem »Erlebnis', das Dilthey als Quelle des Kunstwerks ansah.
Mit Recht macht Simmel darauf aufmerksam, daß damit die Genesis
aus Milieu und Modell keineswegs grundsätzlich verlassen ist, sondern
nur subjektivisch verfeinert. Denn auch aus dem Erlebnis wächst un-
mittelbar keine Überleitung zu der künstlerischen Spontaneität. Im Ver-
hältnis zu ihr ist auch das Erlebnis etwas Äußeres, mag sich auch
beides im Umfang des Ich abspielen. Die Verbindungsmöglichkeit
liegt darin, daß der Lebensprozeß mit seinem beharrenden Charakter,
Intention und Rhythmus als die gemeinsame Voraussetzung und Form-
gebung sowohl für das Erleben, wie für das Schaffen wirkt. Es gibt
vielleicht eine — für jedes Individuum andere — allgemeinste, nicht
in Begriffe zu fassende Wesensformel, nach der seine seelischen Vor-
gänge sich bestimmen, ebenso das Hineinnehmen der Welt in das Ich
im Erlebnis, wie das Hinausgehen des Ich in die Welt im Schöpfer-
tum.« In dem Maße, in dem diese fundamentale Wesensbewegtheit
selbst schon den Charakter überwiegender Spontaneität und künst-
36 EMIL UTITZ.
lerischen Oestalfens trägt, in eben dem wird auch schon das Erlebnis
von vornherein und in der Art eben seines Erlebtwerdens die Züge
des Schöpfertums und der künstlerischen Werte an sich tragen. »Wo
die Wurzelsäfte der Persönlichkeit . . . künstlerisch fingiert sind, da ist
das Erlebnis sozusagen schon ein artistisches Halbprodukt und seine
prinzipielle Fremdheit gegen das Kunstwerk aufgehoben.« Bei Goethe
scheint dieser Prozeß sich mit einer so selbstverständlichen Unmittel-
barkeit, einer souveränen Ungestörtheit durch Kategorien anderer Rich-
tung vollzogen zu haben, und vor allem über eine so weite Gesamt-
heit einer höchst differenzierten Existenz hin, »wie bei keiner uns sonst
bekannten Erscheinung. Sogar die Hingabe an das Erkennen und an
reine Wissenschaft war nicht imstande, die Herrschaft seiner künst-
lerischen Kategorien in Weltbild und Erlebnis zu durchbrechen«.
So wie Simmel es liebt, Rembrandts Wesen durch den Vergleich
mit der italienischen Renaissance zu belichten, kontrastiert er gern
Goethe und Kant. Ausgangspunkt ist natürlich cler kategorische Im-
perativ. Simmel glaubt, Kants Moral habe wohl das Schicksal der
meisten Menschen ausgesprochen, wenn sie das Sinnliche und Leiden-
schaftliche gegen die Forderung der Pflicht kämpfen läßt (»zwischen
Sinnenglück und Seelenfrieden bleibt dem Menschen nur die bange
Wahl«), was schließlich entweder einen unbefriedigten Dualismus oder
eine Verarmung hinterläßt. »In Goethe aber kämpfte es gegen die
Forderung der Harmonie, der ausgeglichenen Totalität des Lebens —
wie er sich ja auch nicht scheut von einer Übertriebenheit des Morali-
schen zu sprechen, eine für Kant völlig unausdenkbare Vorstellung —
und darum konnte der Sieg hier ein vollkommener sein, weil der Feind
selbst in die Einheit der schließlich gewonnenen Form einbegriffen
ist.« Im Sinnlichen fand Goethe dieselbe Wertströmung der Lebens-
einheit, die das Sittliche trägt. Und diesen Vergleich »Kant und
Goethe« führt Simmel in einem eigenen Buche weiter, er erblfckt in
ihnen die äußersten Pole zweier Weltanschauungen, wobei er aber
persönlich derjenigen Goethes zuneigt. Jenes Problem der Goethe-
schen Moralauffassung findet erst in dieser Schrift seine umfassende
Auswirkung: Goethes Vorstellungen über das Verhältnis der Ge-
schlechter oder über die Taten Napoleons oder über die Verbindung
des Einzelnen mit seiner Nation widerstreiten sicher den üblichen
ethischen Idealen, denn sie werden völlig von dem darüber gelegenen
Ideal der Natur beherrscht: daß der Mensch — so könnte man in
Goethes Sinne sagen — seine Triebe und Anlagen in der Art und
mit der Auswahl zu entwickeln habe, daß ein Maximum von Gesamt-
entwicklung herauskommt. Da das Sein und der Wert nichts Ge-
trenntes sind — »am Sein erhalte dich beglückt!« — so ist die höchste
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 37
Steigerung des Seins auch die des Wertes. »Ihren tiefsten Ausdruck
scheint mir diese übermoralische Moral in dem folgenden merkwürdigen
Satz zu gewinnen, den er sich aus antiker Quelle aneignet: »Was die
Menschen gesetzt haben (nämlich die Gesetze), das will nicht passen,
es mag recht oder unrecht sein; was aber die Götter setzen, das ist
immer am Platz, recht oder unrecht.« Über den Gegensatz von Recht
und Unrecht, also über den am Kriterium der Moral entstandenen,
stellt er hier einen höheren Begriff: das »Passen«:, d. h. die Fähigkeit
der Einzelheit, sich in den letzten, höchsten Zusammenhang und
Harmonie der Dinge einzustellen. Ich stehe nicht an, jenen ange-
führten Satz für eine der tiefsten und größten Deutungen vom Sinn
des Daseins zu halten; er läßt uns einen fundamentalen Zusammen-
hang, eine gegenseitige Beziehung aller Dinge ahnen, in dem die
Einheit der Natur besteht oder sich offenbart und demgegenüber es
ein kleinlicher Anthropomorphismus ist, in dem zufälligen Ausschnitt,
den wir als Moral bezeichnen, den Höhepunkt des Seins zu erblicken.«
Auf der Voraussetzung, daß Natur und Geist, oder Wirklichkeit
und Wert nicht ihrem Wesen nach auseinanderklaffen, sondern daß
ihre tiefe Einheit an dem einzelnen Werk nur eine besonders über-
zeugende Deutlichkeit gewinne — darauf steht die Existenz jedes
Künstlers. Sie würde leer und sinnlos sein, wäre er nicht überzeugt,
daß die Schönheit und Bedeutsamkeit, die die Erscheinung unter seinen
Händen annimmt, kein äußeres Hinzufügsei ist, sondern die eigentliche
Wahrheit, das von allen Verfälschungen befreite Wesen dieser Wirk-
lichkeit ausspricht. In diesem Sinne ist freilich jede Kunst ;>Naturalis-
mus«, weil für den Künstler als solchen :>Natur< eben von vornherein
die Einheit des Realen und des Idealen bedeutet. Wenn Goethe nach
seinem eigenen Wort »die Idee mit Augen sieht«, so heißt das, »daß
ihm Wert und Vollendung der Dinge, die für uns andere nur wie ein
mehr oder weniger traumhaftes Gebilde über ihnen zu schweben scheint,
in ihrer Wirklichkeit wohnte, wie er sie zu sehen verstand«.
Simmeis stärkste geistige Liebe gilt — in Sachen der Kunstphilo-
sophie — dem Wesen der einzelnen, singulären Künstlerpersönlichkeit;
in ihre Gesetzlichkeit eindringend, gewinnt er die Weite, in der sich
ihm die Gesamtheit der Kunst enthüllt, ja noch mehr, in der sich ihm
die letzten Geheimnisse des Lebens und der Welt erschließen. Aber
selbstverständlich ist es, daß der berühmte Vertreter der modernen
Geschichtsphilosophie auch der Entwicklung der Kunst seine Auf-
merksamkeit widmet. Außer seinen »Problemen der Geschichtsphilo-
sophie« kommen hier vornehmlich zwei Abhandlungen aus seinem
38 EMIL UTITZ.
letzten Lebensjahre in Betracht: »Vom Wesen des historischen Ver-
stehens« und »Die historische Formungc
Geschichte ist nicht das Vergangene, das uns, unmittelbar und
genau genommen, immer in Gestalt diskontinuierlicher Stücke gegeben
ist, sondern eine bestimmte Form oder Summe von Formen, mit denen
der betrachtende synthetische Geist diesen zuvor festgestellten Stoff,
die Überlieferung des Geschehenen durchdringt und bewältigt. Durch
das historische Verstehen einer Reihe kommt ihr inhaltlich nichts Neues
zu, nur eine funktionelle Verbindungsart wird damit von der inneren
Anschauung gewonnen oder gestiftet. Wenn verschiedene Arten des
Verständnisses den Ansprüchen an logischen und künstlerischen Zu-
sammenhang, einheitliche Klärung der Dunkelheiten, nachfühlbare Ent-
wicklung der Teile auseinander in gleichem Maße genügen, so sind
sie alle in gleichem Maße richtig. Soll ich den Faust dagegen historisch-
psychologisch verstehen, das heißt, das entstandene Gebilde aus den
seelischen Akten und Entwicklungen verstehen, die es Teil für Teil
in Goethes Bewußtsein erwachen ließen, so ist eine entsprechende
Mehrdeutigkeit prinzipiell ausgeschlossen; denn dieser Schöpfungs-
prozeß hat sich schlechthin in einer bestimmten Weise abgespielt, die
unsere Erkenntnis ergreifen oder verfehlen mag, die sie aber nicht auf
mehrere äquivalente Arten vorstellen kann. Reichtum und Beweglich-
keit seelischer Verbindungen sind so groß, daß keinerlei >psychologi-
sches Gesetz K die Weiterentwicklungen einer bestimmten seelischen
Konstellation bündig zu bestimmen imstande ist, daß sehr oft vielmehr
eine solche Entwicklung, nach einer bestimmten Seite hingehend, uns
genau so plausibel erscheint, wie die nach der genau entgegenge-
setzten hin erfolgende. Wo also genetische Reihen durch psychologi-
sche Interpolation zustande kommen — was, mehr oder weniger be-
wußt, allenthalben der Fall ist — ist von eingesehener Notwendigkeit nicht
die Rede. Nur um Annäherungen an die Wirklichkeit kann es sich
handeln.
Gehen wir vom Gebiet der allgemeinen Geschichte auf das der
Kunstgeschichte über, so finden wir, daß z. B. Gemälde diskonti-
nuierlich hintereinander stehen, je eine inselhafte Einheit. Der Kunst-
historiker konstruiert unter ihnen eine allmähliche Entwicklung von
Starrheit zu Bewegtheit usw. Es kann dabei gar nicht die Rede sein,
daß der Schöpfer des höchsten Werkes etwa alle vorangängigen Stadien
in seiner persönlichen Entwicklung durchlaufen hätte. Auch wird
danach überhaupt nicht gefragt, sondern nach der Möglichkeit, diese
:Entwicklungs«-Reihe nach sachlichen Kriterien aus dem objektiven
Bestand der Werke, als wäre jedes vom Himmel gefallen, aufzubauen.
Aber eben diese Möglichkeit liegt in dem, was man das methodische
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 3g
Subjekt nennen könnte, einem ideellen Gebilde, das diese Schöpfungen
in einer seeliscii begreifiiciien Evolution durchläuft, die sachlicfie Ord-
nung ihres Nebeneinander in einen als zeitlich gedachten lebendigen
Verlauf vereinheitlichend, dessen Kontinuität nicht an dem Rahmen des
einzelnen Werkes stockt. Wir hypostasieren also einen Hilfsbegriff,
der die ausschließlich dem Lebendigen vorbehaltene Fähigkeit der Selbst-
entwicklung hat, und dessen Lebensäußerungen oder Etappen die ein-
zelnen Kunstwerke sind.
Das Nacheinander der Künstlerpersönlichkeiten würde niemals die
kontinuierliche Zusammengehörigkeit einer einheitlichen historischen
Reihe haben, wenn ihre Leistungen nicht ihrem Sachgehalt nach und
ohne jede Rücksicht auf ihre historische Plazierung aufeinander An-
weisungen gäben, wenn sie nicht eine ideale Reihe bildeten. So sind
es die inneren Verhältnisse dieser Kunstbildungen, die wir gemäß der
artistischen Logik ergreifen und in ihrer rein sachlichen Bedeutung ver-
stehen müssen, damit jene in der Zeit realen Erscheinungen eine
historische« Reihe formen; andernfalls wären sie ein beziehungsloses
Nacheinander, dem Prinzip und Möglichkeit der Zusammenfassung zu
einer Reihe fehlte. Geht nun die Kunstgeschichte auf ein volles und
fundamentales Begreifen der Erscheinungen aus, kann sie sozusagen
keine immanente sein, d. h. keine, die eine künstlerische Erscheinung
aus der anderen verständlich und gesetzmäßig entwickelte, weil die
Verhältnisse der Gesellschaft, der Religion, des intellektuellen Niveaus,
der individuellen Schicksale die nächsten Erscheinungen mitbestimmen
und doch ihrerseits aus den vorhergegangenen künstlerischen nicht
berechenbar sind.
Aber nicht nur der großen rhythmischen Wellenbewegung des
Stilwandels schenkt Simmel seine Aufmerksamkeit, sondern auch dem
i^litzernden Oberflächenspiel der Mode. Gerade ihr hat er eine seiner
anziehendsten Abhandlungen gewidmet. Er spricht von den Lebens-
bedingungen der Mode als einer durchgängigen Erscheinung in der
Geschichte unserer Gattung. Sie ist Nachahmung eines gegebenen
Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung;
sie führt den Einzelnen auf die Bahn, die Alle gehen; sie gibt ein
Allgemeines, das das Verhalten jedes Einzelnen zu einem bloßen Bei-
spiel macht. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterschieds-
bedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sichabheben.
So ist die Mode nichts anderes als eine besondere unter den vielen
Lebensformen, durch die man die Tendenz nach sozialer Egalisierung
mit der nach individueller Unterschiedenheit und Abwechslung in einem
einheitlichen Tun zusammenführt. Sie ist die Geschichte der Versuche,
die Befriedigung dieser beiden Gegentendenzen immer vollkommener
40 EMIL UTITZ.
dem Stande der jeweiligen individuellen und gesellschaftlichen Kultur
anzupassen. Daß die Mode ein bloßes Erzeugnis sozialer oder auch
formal psychologischer Bedürfnisse ist, wird vielleicht durch nichts
stärker erwiesen als dadurch, daß in sachlicher, ästhetischer oder
sonstiger Zweckmäßigkeitsbeziehung unzählige Male nicht der geringste
Grund für ihre Gestaltungen auffindbar ist. Darum ist die Herrschaft
der Mode am unerträglichsten auf den Gebieten, auf denen nur sach-
liche Entscheidungen gelten sollen. Religiosität, wissenschaftliche In-
teressen, ja Sozialismus und Individualismus sind freilich Modesachen
gewesen; aber die Motive, aus denen diese Lebensinhalte allein ange-
nommen werden sollten, stehen in absolutem Gegensatz zu der voll-
kommenen Unsachlichkeit in den Entwicklungen der Mode und ebenso
zu jenem ästhetischen Reize, den ihr die Entfernung von den inhalt-
lichen Bedeutungen der Dinge gibt, und der, als Moment solcher tiefer
Entscheidungen ganz unangebracht, ihnen einen Zug von Frivolität
aufprägt. Wenn die Mode — welcher Sachverhalte sie sich auch
immer bemächtigt — den Egalisierungs- und den Individualisierungs-
trieb, den Reiz der Nachahmung und den der Auszeichnung zugleich
zum Ausdruck bringt und betont, so erklärt dies vielleicht, weshalb
die Frauen im allgemeinen der Mode besonders stark anhängen.
Die Mode gibt dem Menschen ein Schema, durch das er seine Bindung
an das Allgemeine, seinen Gehorsam gegen die Normen, die ihm von
seiner Zeit, seinem Stande, seinem engeren Kreise kommen, aufs un-
zweideutigste dokumentieren kann, und mit dem er es sich so erkauft,
die Freiheit, die das Leben überhaupt gewährt, mehr und mehr auf
seine Innerlichkeiten und Wesentlichkeiten rückwärts konzentrieren zu
dürfen. »Vielleicht ist Goethe in seiner späteren Epoche das leuchtendste
Beispiel eines ganz großen Lebens, das durch die Konnivenz in allem
Äußeren, durch die strenge Einhaltung der Form, durch ein williges
Sichbeugen unter die Konventionen der Gesellschaft gerade ein Maximum
von innerer Freiheit, eine völlige Unberührtheit der Zentren des Lebens
durch das unvermeidliche Bindungsquantum erreicht hat.«
Ich habe mich bemüht, Simmel möglichst selbst sprechen zu lassen.
Ich habe also ganz mit seinen Farben gemalt. Nur eine Freiheit nahm
ich — notgedrungen — für mich in Anspruch: Auswahl und Kompo-
sition. Ich zog das heran, was mir entweder für Simmeis Wesen beson-
ders charakteristisch, oder für die Wissenschaft besonders wichtig er-
schien. Und da ich es nicht in atomisierender Zerstückelung darbieten
konnte, war eine Verknüpfung notwendig, die hoffentlich nicht Simmeis
Geist widerstreitet. Aber selbst im Falle des Gelingens meiner Ab-
H
GEORG SIMMEL UND DIE PHILOSOPHIE DER KUNST. 41
sieht kann es sich nur um eine Si<izze handeln, um einen dürftigen
Anfang, Simmeis Sein nnd Werk darzustellen. Das ist gewiß keine
irgendwie spielerische Bescheidenheit, sondern Ausdruck der Über-
zeugung, daß es gerade in diesem Falle ganz besondere Schwierig-
keiten bereitet, das uns überkommene Erbe auf seinen Gehalt zu prüfen
und dadurch erst eigentlich nutzbar zu machen. Zwei Aufgaben hat
da die Wissenschaft in erster Linie zu erfüllen: die geistige Existenz
Simmeis in ihrem Sinn uns so aufzuhellen, wie er es mit Goethe
getan, d. h. aus der Einzigkeit seiner Persönlichkeit sein Tun und
Lassen, sein Schaffen und Leisten zu verstehen. Und dann: Simmeis
Arbeiten gesammelt und geordnet vorzulegen, versehen mit genauen
Registern. Dadurch werden sie für den Betrieb der Wissenschaft erst
recht fruchtbar werden, und sie kommt in die Lage, all das viele Gold,
das aus Simmeis Werk glitzert, gleißt und glänzt, in die Münzen ihrer
Prägung umzuformen. Es ist ja tragisch, daß nicht die Persönlich-
keiten in der Wissenschaft weiterleben, sondern einzelne gesicherte
Ergebnisse, Methoden, Gesetze oder Hypothesen. Aber auch so —
in restloser Entpersönlichung — wird von Simmel vieles noch lange
bleiben, und es wird geraume Zeit währen, bis seine Arbeit völlig
überwunden und nur noch historische Erinnerung ist; aber in der
allgemeinen Geistesgeschichte wird Simmel gewiß nie sterben; als
»lebende Philosophie« gehört er zu unseren »großen Schriftstellern«
und vor allem zu den wenigen, in denen sich das gewaltige und er-
schütternde Bild der untergegangenen geistigen Gegenwart in breiter
Vielseitigkeit und echter Tiefe spiegelt. Und aus dem Werk klingt
so vieles, das in die Zukunft weist: das tiefe, gläubige Vertrauen zum
Leben, die radikale Abwendung von aller Mechanisierung und Materiali-
sierung und trotz aller Skepsis die leidenschaftlich hervorbrechende
Bejahung einer metaphysischen Weltergreifung. Diese Qualitäten haben
auch seine ganzen kunstphilosophischen Bestrebungen geadelt. Als
Schutzheilige schweben nicht über ihnen, sondern leben in ihnen:
Rembrandt und Goethe.
II.
Die Deutung des Homunkulus in Goethes Faust.
Von
Carl Enders.
Eine Idassische Schrift muß nie ganz verstanden
werden können. Aber die, welche gebildet sind und
sich bilden, müssen immer mehr daraus lernen wollen
Friedrich Schlegel, Lyzeumsfragmente Nr. 20.
1.
Es kann nicht bestritten werden, daß die Deutung des Homun-
kulus einer der Angelpunkte für die Erklärung des 2. Teils von Goethes
Faust ist. Er spielt eine entscheidende Rolle sowohl im äußeren Gang
■der Handlung, d. h. in der ursächlichen Verknüpfung der Ereignisse
in sich, wie in der Entfaltung der Idee oder, besser gesagt, der Ideen-
welt, welche in der Dichtung lebendig wird. Zunächst im Gang der
Handlung: Der Erzeugung des chemischen Männleins liegt ursprüng-
lich die Absicht Mephistos zugrunde, Faust durch die Beschäftigung mit
einem der elementarsten Rätsel des denkenden und schaffenden Menschen-
geistes abzulenken von einer Richtung seines Wollens, in welcher
Mephisto fürchten muß, ihm mit seiner Macht nicht viel helfen zu
können und dadurch seinen Einfluß zu verlieren. Nun zeigt sich
Homunkulus aber befähigt, Faust gerade in dieser Richtung zu dienen,
und wird daher der Führer zu jenen Regionen geistigen Lebens, die
Mephisto so fremd sind. Der Schalk muß zusehen, wie er sich In
diese Lage hineinfindet und nach Möglichkeit seinen vertraglichen
Pflichten gegen Faust nachkommt. In der »klassischen Walpurgis-
nacht«, die Faust den Weg zu Helena eröffnet, übernimmt dann Homun-
kulus für weite Strecken die Führung der Handlung, einer Handlung,
die zwar unmittelbar nichts zu tun hat mit Fausts Geschick, aber doch
eine gewisse Parallele zu dessen seelischer Entwicklung darstellt.
Ebenso ist Homunkulus von Bedeutung für die Durchführung des
ideenhaften Gehalts. Nachdem Faust die kleine Welt egoistischer trieb-
hafter Genüsse nicht nur unbefriedigt, sondern in seinen Ansprüchen
an das Wesen des Genusses anspruchsvoller, geläuterter, überwunden
hat, soll er von der Sehnsucht nach dem Bild höchster Schönheit zum
Besitz Helenas als der Verkörperung dieses im Griechentum wirklich
gewordenen Ideals geführt werden. Nur ein geistiges Wesen, ein
n
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 43
Dämon«, der durch eine vollkommene Menschwerdung noch nicht
verdüstert und beschränkt worden< ist, kann ihn dahin geleiten, ein
Wesen, das geeignet ist, ihm die >Antezedentien<; zu vermitteln, die
befähigen, in der Luft der griechischen Mythologie und Heidensage
zu leben, in der Helena erst das wird, was sie ist. Daß Homunkulus
dazu der einzig mögliche Führer ist, gilt es natürlich noch zu er-
weisen.
Schließlich betont ja auch Goethe selbst im Gespräch mit Ecker-
mann 1829') die Bedeutung des Homunkulus, gegen den sogar Me-
phistopheles in Nachteil zu stehen kommt. Er gleicht diesem an
geistiger Klarheit, hat aber durch seine Tendenz zum Schönen und
förderlich Tätigen viel vor ihm voraus.
Grell sticht gegen diese Bedeutsamkeit der Gestalt die Ratlosig-
keit und Unbestimmtheit ab, mit der die Forschung dem Homunkulus
gegenübersteht. Nicht nur Kuno Fischer begnügt sich '■') mit einer
bescheidenen Paraphrase, über die ja überhaupt seine Erklärung des
2. Teils nicht hinauskommt, sondern auch die neuere Forschung ist
nicht viel weiter gekommen.
2.
Aus der Notwendigkeit, diesen »Stein des Anstoßes endlich aus
dem Wege zu räumen«, hat nun Paul Alsberg^) eine Deutung ver-
sucht. Durchaus zu billigen ist seine Methode, dem Wesen des
Dämons dadurch auf die Spur zu kommen, daß man seine Entwick-
lung in der Vorstellungswelt des Schöpfers zu verfolgen sucht. Diesen
Weg werden auch wir zu gehen haben, wenn wir in der Kritik seiner
Resultate und in der Darstellung unserer eigenen Meinung eine andere
Deutung versuchen, die wohl mit der seinigen einiges gemeinsam hat,
aber, weitergreifend, ein geschlosseneres, notwendigeres und in sich
weniger widerspruchsvolles Bild entwirft.
Aisberg meint, Homunkulus habe in seiner späteren Umbildung
aus dem chemischen Männlein zum Dämon einen »faustischen Charakter«
erhalten. ^Er ist in seinem inneren Wesen geradezu auf Faust zu-
geschnitten, um nicht zu sagen: er ist aus Faust herausgeschnitten.
So sehr grenzt ihre Wesensverwandtschaft an Wesensgleichheit.« Er
kann sich mit dieser hauptsächlich auf die Tendenz des Geistes zur
Tätigkeit, auf den Trieb von dem unbefriedigenden, rein geistigen Zu-
stand ins Körperlich-Menschliche, auf die Überlegenheit über Mephisto
gestützten Behauptung nicht genug tun: »Hier kann es keine andere
') Castles Ausgabe 1, S. 29S.
') 4. Ausgabe, herausgegeben von V. Michels, Bd. 4, S. 79 ff.
') Jahrbuch der Goethegesellschaft 1918, Bd. 5, S 108 ff.
44 CARL ENDERS.
Meinung geben (!)«. »Die Cliarakter- und Wesensübereinstimmung ist
unbestreitbar.« Das kann für ihn natürlich nur den Sinn haben:
Homunkulus soll irgendwie als Symbol für Faust, d. h. für dessen
Geisteserlebnis dienen (S. 115). Aus dieser Wesensgleichheit heraus
muß Homunkulus den Traum des Faust (Ledas Empfängnis) wie sein
eigenes Erlebnis verkünden und zur Fahrt nach Griechenland anstiften,
gewissermaßen als Doppelgänger für Faust selbst sprechend. Als
weitere Stütze führt er, wie schon vor ihm Rosenthal (siehe unten S. 67)
die »Gleichartigkeit« der Faust- und Homunkulushandlung an und das
Wechselspiel der Handlungen, welches so scharf durchgeführt ist, daß
die eine Handlung schweigt, wenn die andere spielt. »Dadurch wird
die Homunkulushandlung in zwei gesonderte Teile gespalten, welche
die kurze Fausthandlung einschließen. Sie umrahmt dieselbe nicht nur,
sondern sie ergänzt sie auch und führt sie fort. Kam im ersten Teile,
gemäß der Fausthandlung, lediglich der Trieb zur Griechenwelt zum
Ausdruck, so wird ihr zweiter Teil allein von dem Drange nach Ent-
stehung beherrscht, wiederum entsprechend dem Fortgange der Faust-
handlung (S. 119).«
Im weiteren verdichtet sich nun für Aisberg das Bild des Homun-
kulus zu der Idee echt mittelalterlichen Geistes (Glasgehäuse aus dem
alchymistischen Laboratorium, mittelalterliche Absperrung anzeigend).
Nun bedrängt ihn aber die Schwierigkeit, die Entstellung dieses faustisch-
mittelalterlichen Geistes aus Wagners, des »trockenen Schleichers« Re-
torte zu erklären. Wir dürfen diesem Wagner nach seiner Meinung
nicht unrecht tun: »Denn auch ein Wagner hat seine Leistung für
sich, wenn sie auch nicht an der eines Faust gemessen werden darf.«
Daß er Fausts überreiches Wissen in sich aufgenommen habe, mache
ihn »schließlich doch zu einem treuen Verkünder der Lehre seines
Meisters«. Unermüdlich bearbeitet er den von Faust übernommenen
Wissensstoff, und : »nichts anderes als das Wissen und den
Geist seines Lehrers läßt er in seiner Retorte brodeln und blitzen (!)«.
So windet sich denn Aisberg bis zu seiner These durch: »Fausts
Geist steckt in der Phiole« (S. 123), der Homunkulus ist nichts
anderes, als die »symbolische Verkörperung von Fausts altem, mittel-
alterlichem Geiste«. In der Homunkulushandlung soll nun nach seiner
Meinung die mittelalterliche Begriffswelt überwunden und Faust zum
Renaissancemenschen wiedergeboren werden, um ihn so zu Helenas
Gemahl heranreifen zu lassen. Die Lücke in den »Antezedentien« zum
Helenaakt (Losbittung in der Unterwelt, Proserpinaszene), die uns in
den Entwürfen zur Ankündigung und in verschiedenen Blättern der
Paralipomena bekanntlich skizziert ist und in der fertigen Dichtung
allgemein schmerzlich vermißt wird, will Aisberg als Lücke nicht mehr
F
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 45
gelten lassen. Sie soll geschlossen werden eben durch Fausts Stell-
vertreter Homunkulus in dessen Kampfstellung gegen die gewaltsame
Abschließung von der Natur, in seinem Anschluß an die griechischen
Naturphilosophen und seinem Drang zur natürlichen Entstehung. »Zu-
gleich gibt Homunkulus zu erkennen, wie der naturbeseligte Geist
(sc. Fausts in Homunkulus) nunmehr in unaufhaltsamem Drange zur
Oriechenwelt hinstürmt, wie der vorher so ängstliche Hüter seines
Olasgehäuses mit begeistertem Ungestüm gegen den Muschelwagen
der griechischen Schönheitsgöttin anprallt« (S. 130). »Weilt auch Faust
fern von unseren Blicken, Homunkulus ist sein Herold, der der Welt
seine geistige Eroberung der Helena verkündet.« Um die Einheitlich-
keit des 2. Aktes, in dem der innerlich erlebende und sich erneuernde
Faust in der Rolle des Homunkulus uns vorgeführt werde, nicht zu
zerstören, sei die Proserpinaszene nicht ausgeführt worden.
3.
Es ist nicht zu verkennen, daß diese Meinung Aisbergs manches
Bestechende hat, und eine verwandte Auffassung ist ja auch ungefähr
gleichzeitig von Rosenthal (siehe unten S. 67) ausgesprochen worden.
Das liegt vor allem daran, daß, wie wir sehen werden, richtige Er-
kenntnisse in eine im Grunde haltlose Hypothese verwoben sind. Daß
ein geistiger Wandlungsprozeß rückständig gewordener Weltanschauung
in der Lebensgeschichte des Homunkulus versinnlicht ist, daß dieser
Wandlungsprozeß zu den Antezedentien des Helenaaktes notwendig
gehört, um die geistig-seelische Atmosphäre zu schaffen, in der allein
der nordisch-germanische Faust sich mit der südlich-griechischen Helena
vereinigen kann, das ist das Wahre in diesen Ausführungen; daß Faust
selbst in Homunkulus lebendig wäre, daß Homunkulus geradezu eine
geistige Stufe seines individuellen Seins vertrete, ist das Falsche
und Irreführende der Hypothese.
Die Wesensgleichheit des Homunkulus und des Faust aus den
wenigen Worten seines Bekenntnisses und der Charakteristik von
außen her feststellen zu wollen, ist mehr als kühn. Es ist freilich das
Bewußtsein seines tätigen Dranges in Homunkulus lebendig. Er
bekennt: »Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein«, und dem-
entsprechend legt ihm auch Goethe die Tendenz zum Schönen und
förderlich Tätigen bei. Aber eine lebendige Anschauung der ideen-
haften Gestalt der Helena, wie Faust, hat er schon nicht. Er hat nur
eine rezeptive Aufnahmefähigkeit für die Vision des Faust, dem er als
selbständige Individualität gegenübertritt. Wie wäre es sonst zu ver-
stehen, daß er, Faust erblickend und seine Traumvision erschauend,
erstaunt wäre, wie Goethe ausdrücklich als Anweisung vermerkt,
I
46 CARL ENDERS.
und daß er aus diesem Erstaunen über ein ihn so überraschendes und
also durchaus nicht selbstverständliches Gesicht bewundernd und ur-
teilend ausriefe: »Bedeutend«? Er schildert nun, was er im Traume
Fausts sieht: die Empfängnis der Leda.
Mephisto: So klein du bist, so groß bist du Phantast.
Ich sehe nichts. —
Homunkulus: Das glaub' ich; du aus Norden,
Im Nebeialter jung geworden.
Im Wust von Rittertum und Pfäfferei,
Wo wäre da dein Auge frei!
Im Düstern bist du nur zu Hause . . .
Wie wollt er sich hierher gewöhnen,
Ich, der bequemste, duld' es kaum.
Hier setzt er sich durchaus in Gegensatz zu der nordisch-mittel-
alterlichen Nebelwelt, aus der Mephisto zu Hause ist, nicht er. Er
setzt sich aber auch in einen graduellen Abstand zu Faust selbst und
hebt sich als Eigenwesen durch abweichende Anlage von ihm ab: er
ist bequemer, beharrender als Faust. An diesem Wort einwandfreier
Überlieferung ist doch wohl weniger zu rütteln und zu deuteln, als
an einem durch die Erinnerung Eckermanns überlieferten Gespräch,
des Mannes, dessen Materialbedingtheit die neue Ausgabe von Castle
erneut dartut und dessen oft willkürliche Sinnbiegungen und Unge-
nauigkeilen neuerdings an einigen trefflichen Beispielen Max Wundt ^)
erwiesen hat. Homunkulus, der, eingeschlossen in die Schranken seines
Olaskäfigs, bequem, beharrend und sich anpassend wider Willen ist,
kann nicht mehr haben als den Drang zur Tätigkeit, der aus seiner
Orundanlage stammt, dem ihm von seinem paracelsistischen Ahn ver-
erbten lehrhaften Wissen um alles was geschieht. Solange er reiner
Geist ist, kann er nicht wirklich tätig sein, d. h. sich frei schaffend in
die Wirklichkeit projizieren. Der Drang zur Tätigkeit, der sich- vor-
läufig nur in einer gewissen Geschäftigkeit äußert, ist der Trieb, der
ihn später befreit.
Daß die Träume des Faust, die um Helena kreisen, unabhängig
von Homunkulus gedacht waren, und diesem daher als ein objektiv
Fremdes vorkommen müssen, zeigt auch der zweite Entwurf zur An-
kündigung der Helena, wo es noch nach dem tumultuarischen Ende
der Geisterbeschwörung am Kaiserhofe heißt : Faust, aus einer schweren
langen Schlafsucht, während welcher seine Träume sich vor den
Augen des Zuschauers sichtbar umständlich begeben,
ins Leben zurückgerufen, tritt exaltiert hervor und fordert den
') Max Wundt, Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen
Lebensideals, Berlin 1913, Anhang, S. 493 ff.
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 47
Besitz (Helenas) heftig von Mephistopheles«^. Daraufhin erst kommt
Mephisto auf den Gedanken, ihn zu Wagner zurückzuführen und durch
die Erzeugung des chemischen Männieins zu fesseln und abzulenken.
Ursprünglich sollten also die Träume selbst auch bildhaft vorgestellt
werden.
Die Oleichartigkeit der Handlungen, vor allem die Oleichartigkeit
des Ziels für Homunkulus und Faust, wird nur durch eine unklare
Auflösung der beiden Ziele ins Nebelhaft-Allgemeine konstruiert. Die
Sehnsucht des Homunkulus ist darauf gerichtet, von seiner reinen
Geistigkeit loszukommen, einen Körper zu erhalten und so von dem
Scheinmenschentum, das in seinem nicht ohne ironische Färbung
wirkenden Namen Homunkulus (= Menschlein) sich selbst bezeichnet,
zum wahren Menschentum zu gelangen, dadurch die künstliche Ge-
bundenheit (symbolisiert durch die Glashülle) eines nur leuchtenden,
erhellenden Zustandes des reinen Wissens und Denkens zu verlieren
und den Drang zum Tätigsein, der sich jetzt nicht entfalten kann, zur
Auswirkung zu bringen. Er strebt aus einem ganz allgemeinen
Zustand in einen anderen ganz allgemeinen Zustand menschlichen
Erlebens und Strebens. Er klaubt, diesem Drang nachgebend, im
Humus der thessalischen Ebene (Pharsalus), wo so viele ganze,
aus Geist und Körper bestehende Menschenwesen sich aufge-
löst haben, phosphoreszierende Atome auf, wie die Kohorten der
Cäsareaner und Pompejaner versuchen, zu »legitimer Auferstehung«
sich die Bestandteile ihrer Individualitäten stürmisch, wie es ihrem
Wesen entsprach, zuzueignen, er läßt sich zu diesem Zweck auf die
Naturphilosophien des Anaxagoras und Thaies ein in der Hoffnung,
durch sie zu erfahren, wie diese legitime Entstehung möglich ist.
Faust ist über die Bedingtheiten dieses Zustandes für seine
Individualität längst hinaus; wenn er auch solche Naturerkenntnisse
als System noch nicht erörtert hat. so sind sie ihm doch längst
natürlich, ersehnt schon vor dem Zeichen des Erdgeistes und Makro-
kosmos, erst recht in der Erfüllung seines Einsgefühls mit der Natur
und ihren wirkenden Kräften in >Wald und Höhle«. Nicht staunenden
Besuch nur erlaubt ihm längst der erhabene Geist,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen,
Du führst die Reihen der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich, meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Wenn Mephisto sich wundert, wie er »aus dumpfem Moos und
triefendem Gestein wie eine Kröte Nahrung sich einschlürfen könne,
so antwortet ihm schon der Faust des I.Teils: Verstehst du, was
48 CARL ENDERS.
für neue Lebenskraft Mir dieser Wandel in der Öde schafft?« Und
nur dem Naturverwandten kann die Natur so heilsam werden, wie
Faust im Eingang des 2. Teils. Klare Interpretation muß die Grund-
lage alier unserer Betrachtungen bleiben. Und auf dieser Grundlage
bleibt es dabei: Fausts Ziel ist kein so allgemeines, sondern ein ganz
besonderes, ganz bestimmtes: Helena! Und nichts anderes! Freilich
Helena nicht mehr als das schönste Weib schlechthin, wie im Volks-
buch und Volksschauspiel, wie auch noch im Spiegel der Hexenküche,
sondern Helena als die Ledatochter, deren Zeugungsstunde er eben
im Traum erlebt hat, die verkörperte Idee klassischer Schönheit. Zur
Erfassung dieser Idee, welche in Faust selbst ja schon lebendig ist,
ist freilich die Fähigkeit notwendig, griechisch-sinnlichen Geist zu er-
leben. Ganz allgemein notwendig, für jeden Menschen notwendig,
also auch für das ideale Publikum vor der Bühne, auf der dieser
2. Teil der Dichtung sich abspielt, und das nachher diese Idee, welche
Helena verkörpert, in sich lebendig aufnehmen soll. Ihm diesen Geist
nahezubringen, ist auch die klassische Walpurgisnacht da, in der Ho-
munkulus mitspielt. Insofern stellt sie Antezedentien des Helena-
aktes dar.
Damit fallen auch die Betrachtungen Aisbergs über das Wechsel-
spiel der Handlungen (Fausthandlung und Homunkulushandlung) in
sich zusammen. Denn wie könnten sich zwei Handlungen, deren
Wesen und Ziel so verschieden ist, wechselseitig fortführen, gegen-
seitig sich ergänzen? Das Ziel der einen ist ein naturphilosophisches:
psychisch-physische Entstehung der realen Individualität des Menschen;
das Ziel der anderen ist ein kulturphilosophisches: sinnfälliges Er-
lebnis der kulturbildenden Idee der griechischen Helena. Die natur-
philosophische Anschauung ist eine der Voraussetzungen dieser Idee
und insofern antezedentischen Charakters für den 3. Akt unseres
Dramas; das ist alles, was die beiden Handlungen verbindet. Helena
selbst wird gar nicht zu realem individuellem Leben er-
weckt; sie hat in der Inhaltsangabe der Dichtung für »Dichtung
und Wahrheit« von 1816 noch reinen Märchen Charakter. Durch
einen magischen Ring wird ihr die Körperlichkeit gegeben, und das
Schloß, auf dem sie (wie in einem früheren griechischen Märchen mit
Achill auf der Insel Leuke) in Sparta leben kann, ist »mit einer
Zaubergrenze umzogen, innerhalb welcher allein diese Halb Wirk-
lichkeiten gedeihen können«, genau wie in Tiecks Elfenmärchen;
da sie in Verzweiflung die Hände ringt, »streift sie den Ring ab und
fällt Faust in die Arme, der aber nur ihr leeres Kleid umfaßt«, genau
wie der Held im Melusinemärchen. Aber auch später, in der voll-
endeten Dichtung, bleibt sie, wenn auch nicht eine so naive Märchen-
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 4Q
kgestalt, so doch durchaus Allegorie, ein Phantom für die »Phantasma-
gorie«, als welche der Helenaakt in die Dichtung eingereiht wird.
Bekanntlich übernimmt Mephisto zum Teil die Rolle eines erklärenden
^ Epilogisten für das Publikum, in welcher er geradezu seinen teuflischen
P Orundcharakter ablegt. So sehr wird die Phantasmagorie von der
Bühnenwirklichkeit der übrigen Handlung abgerückt in »romantischer
Ironie«. Also: Helena wird gar nicht zu realem individuellem Leben
erweckt, wie es Homunkulus erstrebt, sondern aus dem Schattenreiche
losgebeten zu zeitweiligem rein ideellem Leben, um nach Voll-
bringung ihrer Mission in der Entwicklungsbahn Fausts zurückzu-
kehren in den Hades. Und so kann denn auch nie und nimmer die
Homunkulushandlung jene Lücke ausfüllen, die man mit Recht immer
festgestellt hat. jenen Aufenthalt Fausts in der Unterwelt unter Führung
der Manto, der Mittlerin zwischen Lebenden und Schatten, der gleich-
gearteten Tochter des homerischen Teiresias; jene Szene, in welcher
Faust Helena losbittet. Nicht weil Homunkulus sie überflüssig ge-
macht hätte (besäßen wir sie doch !), sondern weil Goethe die Stunde
für das unendlich schwere Werk nicht erschien: >Was muß das nicht
für eine Rede sein, da die Proserpina selbst zu Tränen davon gerührt
wird ! — Dieses alles . . . hängt sehr vom Glück ab, ja fast ganz von
der Stimmung und Kraft des Augenblicks.« Dieser Augenblick hat
sich nicht mehr eingestellt. In der Ausführung der Antezedenlien zur
Helena (im 2. Akt) fehlt deshalb die Szene, so notwendig sie auch
für den Abschluß der Fausthandlung ist.
Wie Aisberg sich in der Erklärung des Verhältnisses winden muß,
in dem Homunkulus zu den übrigen Personen der Laboratoriumszene
steht, haben wir schon angedeutet. Wie widerspruchsvoll ist schon der
Satz: »So verdichtet sich das äußere Bild des Homunkulus im Zu-
schauer von selbst zu der Idee, in ihm ein Abbild echt mittelalterlichen
Geistes vor Augen zu haben«, wenn wir gerade erfahren, daß der
Dämon deshalb die Vision Fausts sofort erfaßt, weil er selbst sie in
sich erlebt als Herold und Doppelgänger des Faust. Nur die merk-
würdige Entstehungsart aus der Retorte des armseligen Wagner hält
Aisberg für kurze Zeit zurück, seine Wesensgleichheit mit Faust zu
proklamieren. Und so muß denn der trockene Schleicher gegen allen
Sinn der Dichtung noch zu einem brauchbaren Gelehrten erhoben
werden, der Gewalt hat über den Geist eines Faust, sei es auch des
vorpaktischen! Das durfte uns nicht zugemutet werden! Daran allein
hätte ihm die ganze Hypothese unwahrscheinlich werden müssen. An
einer anderen Schwierigkeit schleicht Aisberg vorbei, ohne mit einem
Wort sie anzudeuten. Damit ist sie aber doch nicht verschwunden,
wie dem Kinde, das die Augen zumacht, ein schreckliches Gesicht
Zeilschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 4
50 CARL ENDERS.
verschwindet. Das ist die heimliche Mitwirkung des Mephistopheles
an der Erzeugung des Homunl<uius, die, wie ja auch Aisberg vermeri<t,
im Drama mehrfach angedeutet und auch vom Dichter ausdrücklich
bestätigt ist. Betrachten wir Homunkulus nur als Figur der äußeren
Handlung, so ist klar, wozu Mephistopheles sich Wagner hilfreich er-
zeigt, ihn zustande zu bringen. In der zweiten Ankündigung zur Helena
wird das ganz deutlich ausgesprochen: »Zuletzt noch die wachsende
Ungeduld des Herrn zu beschwichtigen, beredet er ihn gleichsam im
Vorbeigehen auf dem Weg zum Ziele den akademisch angestellten
Doktor und Professor Wagner zu besuchen, den sie in seinem Labora-
torium finden, hoch gloriierend, daß eben ein chemisch Männlein zu-
stande gekommen sei.« Also Ablenkung! Nach R. Petsch *) hat Me-
phisto den Homunkulus schlechthin geschaffen und ihm daher auch
seine besonderen Eigenschaften vererbt, Ironie, Erfahrenheit und Klug-
heit. Wenn das richtig wäre, so wüßte man nicht, wozu diese Wieder-
holung seiner selbst dienen sollte. Diese Auffassung verbietet auch
durchaus die Überlegenheit, welche Homunkulus gerade hier Mephisto
gegenüber an den Tag legt. Der Verstand des Mephisto und des
Homunkulus ist verschieden geartet; der des Mephisto ist negativ,
zergliedernd, analytisch, der des Homunkulus positiv, zusammen-
fassend, aufbauend, konstruierend, synthetisch. Mephisto ist nur mit-
beteiligt an seiner Erzeugung, er hat Elemente beigesteuert, die über die
Kraft des trockenen Schleichers gehen. Die Verwandtschaft zwischen
beiden soll denn auch nur entfernter Art sein: Ȇbrigens nennt er
ihn Herr Vetter«, sagt Goethe zu Eckermann =); »denn solche geistige
Wesen, wie der Homunkulus, die durch eine vollkommene Mensch-
werdung noch nicht verdüstert und beschränkt werden, zählte man
zu den Dämonen, wodurch denn unter beiden eine Art von Verwandt-
schaft existiert«. Aber immerhin eine Art von Verwandtschaft. Es
ist jedenfalls Homunkulus in dem anhängigen Prozeß zwischen Faust
und Mephisto näher zu diesem gezogen als zu Faust. Was gibt das
nun für ein seltsames Verhältnis, wenn Homunkulus, der »Vetter» des
Mephisto, identisch wird mit dem mittelalterlichen Faust als dessen
symbolischer Vertreter! Wie vor allen Dingen läßt sich das mit der
Sauberkeit des Paktes zwischen Faust und Mephisto vereinigen?
4.
Wie steht es denn nun aber um die Deutung des Homunkulus?
Was ist seine tiefere Wesensart?
') Vorträge über Goethes Faust, Würzburg 1903, S. 142 ff.
') Castle I, S. 298.
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 15
Als der I.Teil des Faust erschien, war Goethe fast sechzig Jahre
alt. Ein Werk war abgeschlossen, das in wesentlichen Teilen aus
Kunstanschauungen heraus entstanden war, die ihm längst nicht mehr
galten. Die neuen, jetzt sein Schaffen bestimmenden Anschauungen
hatten — öfters unorganisch genug wirkend — sich eingemischt, z. B.
in der 1. Walpurgisnacht, besonders in der Umbildung eines alten
literarischen Oelegenheitsspieis »Oberons und Titanias goldene Hoch-
zeit« zum Walpurgisnachtstraum >). Die stärksten Anregungen zu
diesen neuen Anschauungen gingen aus von seiner Aufnahme der
Antike Winckeimannscher Observanz. Auf dem Wege zu dieser neuen
antikisierenden klassischen Kunst stehen die römischen Elegien, in
denen das sinnlich-lebendige Erlebnis antiken Geistes in Italien sich
am unmittelbarsten auswirkt, die Idyllen >Alexis und Dora« und der
»neue Pausias«. Der Orundzug dieser antikisierenden, klassisch-fröh-
romantischen Kunstlehre, soweit es sich um Gestaltung von Kultur-
erlebnissen handelt, ist die Typisier ung, die in dem Begriff der
Allegorie ihren Höhepunkt findet. Die Theoretiker auf dieser Linie
sind vor allem Winckelmann, Herder und Friedrich Schlegel.
Winckelmanns Abhandlung über die Nachahmung läuft aus in die
Erhebung der Allegorie als letzter Blüte einer kultureilen Kunst, einer
Kunst, die eine eminente Ideenmasse in Anschauung umsetzen muß.
Epochemachend war der letzte Satz dieser berühmten Schrift: »Der
Pinsel, den der Künstler führt, soll in Verstand getunkt sein, wie
jemand von dem Schreibegriffel des Aristoteles gesagt hat: Er soll
mehr zu denken hinterlassen, als was er dem Auge gezeigt, und
dieses wird der Künstler erhalten, wenn er seine Gedanken in Alle-
gorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden gelernt hat. Der
Kenner wird zu denken haben und der bloße Liebhaber wird es
lernen« -).
Während die Ausführungen Herders über das Wesen der Allegorie
im 4. Stück des 2. Bandes der Adrastea ') nicht tiefer in das Problem
hineinführen, hat Friedrich Schlegel, mitbestimmt durch die Vorstel-
lungen des Hemsterhuis über die Ursprache und angeregt durch
Herdersche Gedanken zur Mythologie, die Winckelmannschen An-
schauungen weiter ausgebaut in der »Rede über die Mythologie« und
dort wieder im Gespräch über die Poesie« ').
Die Allegorie wird ihm zur Konzentration von Kultur-
erlebnissen der Generationen und Völker in einer von Be-
') Vgl. M. Morris, üoelhestudieii, Bd. 1, Berlin 1902, S. 54 ff.
4 C. Enders, Fr. Schlegel, Leipzig' 1913, S. 71.
') 180102, Suphans Ausgabe, Bd. 23, S. 309 ff.
*) J. Minors Ausgabe der Jugendschriften Fr. Schlegels, Bd. II, S 357 ff.
52 CARL ENDERS.
griffen umwitterten Gestalt, die so zu einem Bedeutungs-
träger wird, der den Eingeweiliten, den der gemeinschaftlichen
Kultur wirklich Teilhaftigen, Unendliches zu sagen weiß, und
mehr noch anzudeuten als auszusprechen, weil die mitarbeitende
Vorstellungswelt der Genießenden die Gestalt sofort mit einer
Atmosphäre von Begriffen, Bildern und Handlungen umgibt, die
durch die allegorische Gestalt jederzeit lebendig vertreten werden. Sie
erhebt so ganze Massen von Kulturerfahrungen ins halbe Bewußtsein,
während sie doch als Einzelgestalt in einem einfachen Geschehen
stehen und sich bewegen kann. Eine solche Gestalt ist im voll-
kommensten Sinne z. B. Helena in der Faustdichtung. Sie tritt als
in sich bedingte Individualität in die Handlung mit Faust ein, in ein
individuelles, durch individuelle Charakterzüge bedingtes Verhältnis von
Mensch zu Mensch und ist doch zugleich Versinnlichung einer ganzen
Anschauungswelt, die nicht nur in der Antike, sondern im Lauf unserer
ganzen Kulturentwicklung sich um ihre Gestalt geschichtet hat; ihr
Name ist eine Idee, und doch ist sie eine individuelle Persönlichkeit,
die nichts von ihrem Dunstkreis weiß, oder, wenn sie ihn traumhaft
ahnt, ängstlich sich wehrt, um nicht in seelische Verwirrung zu geraten.
Friedrich Schlegel verlangt, daß für eine jede nur geahnte Geislig-
keit solche Allegorien den Ausdruck schüfen. Dabei sollen sich die
Künstler an das schon auf natürlichem Wege Gebildete anschließen, vor
allem also an die allegorisch-mythologischen Gestalten der Griechen *).
Solch eine Allegorie des tatbereiten Heldentyps ist im Volksbuch
und in einem Paralipomenon zum 1. Akt des 2. Teils Alexander der
Große, der in ähnlichem Sinn von Faust als alter Fortinbras ange-
redet wird; es wird lebendig das Unrecht, das um der Tat willen
geschieht und geschehen muß, und es wird der ganze Konflikt lebendig,
der um Hamlets Unlähigkeit zur Tat wittert. Solchen allegorischen
Charakter haben mehr oder minder alle Persönlichkeiten, welche in der
klassischen Walpurgisnacht auftreten, z. B. Chiron, der, da er zu Ver-
trauten spricht, nur aus der pädagogischen Bildungsatmosphäre, die
ihn umhüllt, einzelnes auftauchen läßt. Im Mummenschanz des 1. Aktes
legen die Mitspielenden allegorische Masken an: der beschmeichelte
Kaiser die ironisch wirkende Maske des großen Pan, Faust die des
Plutus, seiner neuen Stellung am Hofe gemäß. So ist uns schließlich
Faust selbst zu einer solchen Allegorie geworden, wie Iphigenie zu der
Allegorie neuhumanistischer Geisteskultur.
Goethe selbst hat dann in den Propyläen, zunächst für die
bildende Kunst, sich zu Anschauungen bekannt, die mit diesen in enge
■) Enders, a. a. O. S. 228 ff.
p
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 53
Verbindung gebracht werden können. Auf die Dichikunst übergeleitet
wird dann die neue Kunstanschauung, die ihre Wurzeln natürlich
schon in die früheren Epochen bis in die Jugenddichtung erstreckt
und aus einem Orundtriebe seines menschlichen und künstlerischen
Wesens erwächst, im Briefwechsel mit Schiller. Hier entwickeln sich
die neuen Erkenntnisse aus Schillers gleichzeitigem Studium antiker
Dramen. »Es ist mir aufgefallen,« schreibt dieser im April 1797, >da6
die Charaktere des griechischen Trauerspiels mehr oder weniger idea-
lische Masken und keine eigentlichen Individuen sind.« Im Ulysses
des »Ajas« und des »Philoktet« sieht er das Ideal der listigen, über
ihre Mittel nie verlegenen engherzigen Klugheit, im Kreon des »Öpi-
pus« und der »Antigene« die kalte Königswürde. Die (psychologische)
Wahrheit leide darunter nicht, weil sie bloßen logischen Wesen ebenso
entgegengesetzt sind, wie »bloßen Individuen«. Goethe, dem diese
Erfahrungen ja von der Plastik ausgehen, bestätigt, »daß in den Ge-
stalten der alten Dichtkunst wie in der Bildhauerkunst ein Abstraktum
erscheint, das seine Höhe nur durch das, was man Stil nennt, er-
reichen kann«. Er hebt es ab gegen das Abstrakte aus Manier. Die
lebendige Ausführung, die desto stetiger sein könne, je besser die
Fabel sei, bleibe das Verdienst des Dichters. Also wird die indivi-
duelle Verknüpfung in ein besonderes Geschehen immer erforderlich
sein. Wie ernst ihm diese Erkenntnisse sind, bestätigt die Mahnung:
»Wir wollen deshalb künftig sorgfältiger als bisher das, was zu unter-
nehmen ist, prüfen.«
Praktisch hat er um die Jahrhundertwende ganz diesen Forde-
rungen entsprechend sein Drama »Paläophron und Neoterpe« ge-
schaffen. 1807 entwirft er die »Pandora«. Sie ist eine allegorische
Gestalt in diesem hohen Sinne. Sie tritt zwischen Epimetheus, den
»Sinn«Begabten, der nach allem Unendlichen, Unerreichbaren, nach
den »Gestalten« der Ideenwelt strebt, und den auf das praktisch Er-
reichbare gerichteten Tatmenschen Prometheus, der das Streben nach
dem Unerreichbaren haßt, weil es die reale Wirkungskraft lähmt, um
schließlich beide zu versöhnen im dritten Reich beseelter, durchgeistigter
Kultur, in welchem die Gestalten jenes Reiches Wirklichkeit in diesem
werden ^). Was Goethe von dem Festspiel »Pandora« bekennt, es
gehe nicht mehr unmittelbar auf »Varietät und Individualität« aus, sondern
»mehr aufs Generelle«, gilt ebenso von allen allegorischen Gestalten
des 2. Teils des Faust. Alle sind sie über das individuelle Schicksal
Fausts erhoben in die Entwicklungssphäre der Kulturmenschheit über-
haupt. Homunkulus kann aus diesem Kreise nicht herausgenommen
') E. Cassirer, Goethes Pandora, in dieser Zeitschrift XIH, 1918, S. 113«.
54 CARL ENDERS.
werden. Auch er hat eine überindividuelle, d. h. hier überfaustische,
ideelle Entwicklungsstufe allegorisch zu vertreten. Er ist eine Allegorie,
wie die anderen auch. Freilich ist er das erst geworden während
seiner allmählichen Ausbildung im Geiste seines Schöpfers. Drückten
sich diesem doch, wie er bekennt, solche »Motive, Legenden, uralt
geschichtlich Überliefertes tief in den Sinn«, schien es ihm doch »der
schönste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft
erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch,
ohne sich zu verändern, einer reinem Form, einer entschiedeneren Dar-
stellung entgegenreiften«. Genau so ist es ihm mit dem Homunkulus
ergangen.
Es ist Schlegel bei der Unzulänglichkeit seiner Gestaltungskraft
nicht gelungen, die Allegorien, welche er selbst aus seiner theoretischen
Forderung heraus schuf, so lebendig zu machen, wie er es wünschen
mußte; aber auch bei ihm sollten sie nicht nur, »weil der Gedanke der
Dichtung sie fordert«, auftreten. Es sollte immer so sein, wie Helene
Herrmann ') von den Gestalten der klassischen Walpurgisnacht sagt:
»Hier bleibt kaum etwas antiquarisch oder allegorisch (im heutigen
gebräuchlichen Wortsinn), wie fern hergeholt es auch scheinen mag,
vielmehr findet für jeden, der erst das Grundgefühl dieser Szenen er-
griffen hat, eine wunderbare Belebung des fernsten Kulturgutes statt.«
— »Gestaltblühende Lebendigkeit« sollte immer die künstlerische Frucht
charakterisieren. Und doch ist keine dieser Gestalten mehr als »Aus-
wirkung der allgemeinen Lebendigkeit ihrer besonderen Sphäre, alle
haben nur an ihr Existenz« ^). Das unterscheidet sie eben von den realen
Individualitäten. Von allen Gestalten des Faust (auch im L Teil) kann
Helene Herrmann sagen: »So lebensvoll sie als Gestalten sind, sie leben
doch immer von jenem großen Grundstrom lyrischen Weltgefühls her,
der sie trägt. Sie sind immer zu fühlen als sein verschiedenartiges
Gestalt werden «ä). Im 2. Teil lebt hinter ihnen eine universale Weltan-
schauung, welche ihre einzelnen Elemente, aus der sie historisch und
in inneren Wandlungen sich gebildet hat, kultursymbolisch in den
Gestalten der Dichtung sich auswirken läßt.
Daß Homunkulus zunächst Mephisto nur zur Ablenkung von
Helena dienen soUte, haben wir schon bemerkt. Im Anschluß an die
Überlieferung des Paracelsus (de generatione rerum naturalium), der
Paracelsisten und des Anthropodemlcus Plutonicm des Prätorius, welche
Goethe ja schon früher und neuerdings für seine Balladen und die
1. Walpurgisnacht benutzt hatte, wird das Männlein (von dem die
') Anm. unten a. a. O. S. 94.
^) S. 114.
4 S. 119.
i
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 55
Inhaltsangabe für Dichtung und Wahrheit von 1816 noch nichts weiß)
eingeführt zuerst in der zweiten Ankündigung zur Helena; dort aber
noch als Zwerglein, ein Kristallisationsgebilde, wie es zu Goethes Zeit
der Philosoph J. J. Wagner für möglich hielt. Für die Überleitung zur
klassischen Walpurgisnacht ist hier schon das der Überlieferung ent-
nommene Wissen des Zwergleins willkommen, das durchaus welt-
kalenderartig ist.
Aber wie Pandora aus dem lockenden Dämon der antiken Über-
lieferung, aus dessen Gefäß alle Übel aufsteigen, auf dem von Goethe
selbst gekennzeichneten Wege zu der Allbegabten und Allgebenden
wird (Cassirer, a. a. O.), wie Helena sich von dem mittelalterlichen
Buhlweib entwickelt über die Märchengestalt der Inhaltsangabe für
Dichtung und Wahrheit zu der allegorischen und doch individuellen
Persönlichkeit der fertigen Dichtung, so auch Homunkulus von dem
alchymistischen Produkt, das die äußere Handlung fortschiebt, zu einem
allegorischen Individuum. Der Drang nach Vertiefung der Gestalt liegt
schon angedeutet in der Betonung des historisch-mythischen Naturells,
das Homunkulus zugeschrieben wird. Auch das »grenzenlose Ge-
schwirre historisch-geographischer Notizen« führt schon etwas weiter,
jedenfalls aber sollte schon hier die symbolische Deutung des Ent-
stehungstriebes angebahnt werden, der nun die ganze Walpurgisnacht
belebt und an dieser Stelle als organische Notwendigkeit erklärt. Des-
halb wird denn auch Homunkulus ganz folgerichtig der Führer zu dieser
Welt, die sich aus Uranfängen bildet, dieser Welt von allegorischen
Gestalten im Winckelmann-Schlegelschen Sinne, die in geschichtsphilo-
sophischer Anordnung Epochen der Weltentwicklung andeutet.
5.
Mittelalterlich, aber auch noch, wie eben ausgeführt, bis in die
jüngste Gegenwart des schaffenden Dichters reichend, sind die Ver-
suche Wagners, auf alchymistisch-experimentellem Wege einen künst-
lichen Menschen zu schaffen, aber die durch diese allegorischen Vor-
gänge zur Anschauung gebrachte Idee, auf rein geistigem Wege
mit Ausschaltung der natürlichen Zeugung, ja mit Verachtung ihrer
Elemente einen Menschen bilden zu können, ist eine Grundidee der
durch den Schöpfer des Faust überwundenen Aufklärungsepoche, im
besonderen ihres verflachenden Ausklangs. Den zerebralen Verstandes-
menschen nach Art des Nikolai waren die natürlichen Dinge ja ab-
scheulich und tierisch, und der Gedanke, der Mensch könne einmal
^ höheren« Ursprungs werden, rein aus Verstandes- und wissenschaft-
lichen Experimenten entstehen, war den Herren zwar ein Märchen,
aber ein schönes Märchen. Sie hätten eben gerne den Menschen der
56 CARL ENDERS.
Zukunft nach ihrem eigenen Bilde erschaffen. Und allegorische Satiren
dieses lebensfremden Schöpfungs- und Entwicklungsgedankens waren
denn auch vor der künstlichen Erschaffung des Homunkulus in der
romantischen Literatur schon vorhanden, die bekannteste und be-
liebteste in Friedrich Schlegels Lucinde. Man findet sie dort in der
»Idylle über den Müßiggang«, welche die ziellose, nichtige Geschäftig-
keit der Aufklärer ironisieren will.
Julius, der Held des Romans, sieht sich in einem Theater. Das
Publikum zeigt sich in einem »unermeßlichen Gedränge von Zuschauern,
einem wahren Meer von wißbegierigen Köpfen und teilnehmenden
Augen. An der rechten Seite des Vordergrundes war statt der De-
koration ein Prometheus abgebildet, der Menschen verfertigte. Er war
an einer langen Kette gefesselt und arbeitete mit der größten Hast und
Anstrengung; auch standen einige ungeheure Gestalten daneben, die
ihn unaufhörlich antrieben und geißelten. Leim und andere Materialien
waren im Überfluß da; das Feuer nahm er aus einer großen Kohlen-
pfanne« '). Das ist die Fratze eines wahren Schöpfers, der statt von der
»Tätigkeit«, diesem Ziele auch des Faust, von nichtiger Geschäftigkeit
erfüllt ist; die Materialien sind ihm die Hauptsache; das Feuer der Be-
lebung stammt nicht von der Sonne, sondern aus einer schwelenden
Kohlenpfanne, wie hier im Laboratorium aus Retorten und Tigeln.
Dieser Prometheus gleicht einer satirischen Verzerrung Wagners, und
seine Produkte werden uns anmuten wie Persiflagen des Homunkulus.
In der Lucinde heißt es weiter: »Gegenüber zeigte sich auch als stumme
Figur der vergötterte Herkules, wie er abgebildet wird mit der Hebe
auf dem Schoß. Vorn auf der Bühne liefen und sprachen eine Menge
jugendlicher Gestalten, die sehr fröhlich waren, und nicht bloß zum
Seh ein lebten. Die jüngsten glichen Amorinen, die mehr erwachsenen
Bildern von Faunen« *). Herkules, als der Vertreter der Lebenskraft,
ist der physisch starke und sexuell besonders befähigte Mann. Die
amoureusen und faunischen Satanisken sind danach nicht schwer zu
fassen. Herkules ist hier (mit der Hebe, der Göttin der Fruchtbarkeit
auf dem Schoß) stumm, denn bei diesem zerebralen Aufklärungs-
prometheus hat er nichts zu sagen. Die Satanisken reden nun die
Geschöpfe des falschen Prometheus höhnisch an: »Ihr irrt darin, daß
ihr ein Ich zu haben glaubt; aber wenn ihr indessen euren Leib und
Namen, oder eure Sachen dafür haltet, so wird doch wenigstens ein
Logis bereitet, wenn etwa ja noch ein Ich kommen sollte.« — »Und
diesen Prometheus könnt ihr nur recht in Ehren halten, sagte einer
') Lucinde, Neudruck von Jonas Fränkel, Jena 1907, S. 88 f.
») S. 89 f.
i
i
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 57
der größten; er hat euch alle gemacht und macht Immer mehrere
euresgleichen.« — In der Tat warfen auch die Gesellen jeden neuen
Menschen, sowie er fertig war, unter die Zuschauer hinab, wo man
ihn sogleich gar nicht mehr unterscheiden konnte, so ähnlich waren
sie alle. >Er fehlt nur in der Methode!« fuhr der Sataniskus fort:
»Wie kann man allein Menschen bilden wollen? Das sind gar nicht
die rechten Werkzeuge.« Und dabei winkte er auf eine rohe Figur
vom Gott der Gärten '), die ganz im Hintergrunde der Bühne zwischen
einem Amor und einer sehr schönen unbekleideten Venus stand.
»Darin dachte unser Freund Herkules richtiger, der fünfzig Mädchen
in einer Nacht für das Heil der Menschheit beschäftigen konnte, und
zwar heroische. Er hat auch gearbeitet und viele grimmige Untiere er-
würgt, aber das Ziel seiner Laufbahn war doch immer ein edler Müßig-
gang^), und darum ist er auch in den Olymp gekommen. Nicht so
dieser Prometheus, der Erfinder der Erziehung und Aufklä-
rung. Von ihm habt ihr es, daß ihr nie ruhig sein könnt und euch
immer so treibt; daher kommt es, daß ihr, wenn ihr sonst gar nichts
zu tun habt, auf eine alberne Weise sogar nach Charakter streben
müßt, oder euch einer den anderen beobachten und ergründen wollt.
Ein solches Beginnen ist niederträchtig. Prometheus aber, weil er die
Menschen zur Arbeit^) verführt hat, so muß er nun auch arbeiten,
er mag wollen oder nicht. Er wird noch Langweile genug haben und
nie von seinen Fesseln frei werden«^). Witkowski hat kürzlich an der
Hand Nordens gezeigt ■*), daß eine ähnliche Auffassung des Prometheus
als des Feindes der gesammelten Ruhe und des Glücks der Menschen
schon vom Altertum her (bei Seneca, Plutarch, Phädros, Chrysostomos)
sich neben der des göttlichen Lichtbringers geltend macht und daß
Rousseau in seinem Discours sur les sciences et les arts 1750 aus-
führt: »Cetait une ancienne tradition, passee de V Egypte en Orece,
qWun dieu, ennemi du repos des hommes, etait Vinventeur des
sciences. t Dieser bezieht die Überlieferung auf die allegorische Fabel
von Prometheus. Wie hier Prometheus als Feind der Ruhe der Men-
schen erscheint, so bei Wieland in den »Beiträgen zur geheimen
Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens^: (1770), als der
') Der Gott der Gärten ist der Phallus.
■^) Das ist in der paradoxen Terminologie Sclilegels der Gegensatz der auf-
klärerischen Geschäftigkeit ohne tiefes Erlebnis, es ist die Ruhe zur Anschauung,
die echte Mutter der wahren Tätigkeit.
') Im Gegensatz zu fruchtbarer Tätigkeit; Arbeit ist die nicht von innen heraus,
sondern von außen bestimmte Beschäftigung.
') A. a. O. S. 91 ff.
») Zeitschrift für Bücherfreunde, Juli 1916, S. 90 ff.
58 CARL ENDERS.
»nüchterne Denker«, der vom goldenen Zeitalter nichts wissen will und
(in einer Traumerscheinung) Menschen aus Leim und Wasser macht i).
Es ist eine so interessante Verwandtschaft vorhanden zwischen
dieser Bildnerei zerebraler Aufklärungsmenschen und der Erzeugung
des Homunkulus, daß irgend eine geistige Beziehung, die wir jedoch
durchaus nicht im Sinn unmittelbarer Abhängigkeit verstanden wissen
wollen, angenommen werden muß, und daß man die Äußerung aus
Riemers Mitteilungen (11, 251) etwas tiefer als bisher auffassen möchte,
Homunkulus sei der apriorische theoretische Mensch, wie er auf
unseren Akademien formiert werde. Die innere Verwandtschaft wird
noch deutlicher, wenn wir die Szene im Faust uns darauf noch einmal
ansehen. Da haben wir bei Wagner dieselbe hochmütige und groteske
Erhabenheit über die natürlichen Zeugungs Vorgänge:
Behüte Gott! Wie sonst das Zeugen Mode war,
Erklären wir für eitel Possen.
Der zarte Punkt, aus dem das Leben sprang,
Die holde Kraft, die aus dem Innern drang.
Und nahm und gab, bestimmt sich selbst zu zeichnen,
Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen.
Die ist von ihrer Würde nun entsetzt:
Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt,
So muß der IVlensch mit seinen großen Gaben
Doch künftig reinem, höhern Ursprung haben.
Und da haben wir dieselbe diabolische, ja zynische Ironie Mephistos,
wie bei dem großen Sataniskus. Er stellt sich, als ob er nicht ver-
stünde, wo er doch ganz genau weiß, was geschieht: »Und welch
verliebtes Paar habt ihr ins Rauchloch eingeschlossen?« — Wagner,
durchaus nicht stumm, wie der Herkules bei Schlegel, prahlt:
Was man an der Natur Geheimnisvolles pries.
Das wagen wir verständig zu probieren.
Und was sie sonst organisieren ließ.
Das lassen wir kristallisieren.
Mutet es nicht fast an, als ob Mephisto in jenem Sataniskus
Schlegels gesteckt hätte, wenn er antwortet:
Wer lange lebt, hat viel erfahren,
Nichts Neues kann für ihn auf dieser Welt geschehn;
Ich habe schon in meinen Wanderjahren
Kristallisiertes Menschenvolk gesehn.
Dazu muß man sich klar machen, welchen Wert die klassische
und frühromantische Ästhetik auf den Organisationsgedanken legte,
der das bestimmende Werk von Karl Philipp Moritz (Ȇber die bildende
Nachahmung des Schönen«) erfüllt^).
') Witkowski, a. a. O. S. 99. Vgl. auch Morris, Der junge Goethe VI, S. 315.
*) Vgl. außer meinem Buch über Fr. Schlegel Walzels Studie «Die Sprache der
Kunst« im Jahrbuch der Goethegesellschaft I, 1914, S. 3 ff.
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 59
Die Vermutung einer ideenmäßigen Verbindung des Schlegelschen
Prometheus und seiner künstlichen Menschprodukte mit dem Professor
Wagner in seinem Laboratorium und seiner künstlichen Schöpfung,
dem Homunkulus, wird noch wahrscheinlicher dadurch, daß wir einen
Verwandten aus der dichterischen Werkstatt Goethes selbst haben, in
der Gestalt des Prometheus der »Pandora« von 1807, den schon Roethe
in seinem Festvortrag von 1914') als einen Handwerker bezeichnet,
dessen Ziel durchaus utilitaristisch bestimmt ist. Witkowski*) hat in eben
dem Prometheus der Lucinde einen, den wesentlichen Anreger zu diesem
Prometheus der »Pandora« sehen wollen, der so gänzlich abweicht von
dem Prometheus des jungen Goethe, dem gewaltigen, himmelstürmenden
Titanen. Selbstverständlich ist der Ooethesche Altersprometheus weit
erhaben über die Schlegelsche Parodie, er ist immerhin ein Positiver,
ein Ganzer, aber doch nur Repräsentant des positiv und unmittelbar
Nützlichen. »In seinem Bereich der materiellen Zwecke, in welchem
der Maßstab und die Rechtfertigung alles Strebens nur in seinem Ertrag
gesucht wird, hat alles, was der reinen Form als solcher angehört,
keine Stätte« (Cassirer), ganz anders, als bei Epimetheus, in dessen
Welt des Sinns und des Bildens die Idee herrscht. Dieser Prometheus
ist ein Feind der geruhigen Versenkung, wie der Prometheus der
Lucinde: »Was kündest du für Feste mir, sie lieb ich nicht: Erholung
reichet Müden jede Nacht genug: Des echten Mannes Feier ist die
Tat.« Die letzte große Tat aber ermöglicht erst das Reich der Pan-
dora, die Tat, welche durch die Idee geheiligt und befruchtet ist. Dort
gibt es keine Arbeit mehr, wie sie der Schlegelsche Prometheus zum
Unglück der Menschen erfunden hat, »die ihren Wert erst durch den
äußerlichen Zweck, dem sie dient, erhält, sondern die Tätigkeit selbst
ist Ausfluß des Formwillens«. Die Geschäftigkeit Wagners und des
Homunkulus läßt sich vergleichen mit der Tendenz der neuen Pro-
metheusgestalten, die Tat, zu welcher Faust selbst geläutert werden
soll, ist jene höhere, die im Reich Pandorens lebendig wird.
In der Lucinde wird das »leere, unruhige Treiben« charakterisiert
als eine »nordische Unart«, die nichts wirkt als Langeweile, fremde
und eigene. »Und womit beginnt und endigt es, als mit der Antipathie
gegen die Welt, die jetzt so gemein ist? Der unerfahrene Eigendünkel
ahndet gar nicht, daß dies nur Mangel an Sinn und Verstand sei und
hält es für hohen Unmut über die allgemeine Häßlichkeit der Welt
und des Lebens, von denen er doch noch nicht einmal das leiseste
Vorgefühl hat.« Wer denkt da nicht an die Haltung Wagners im
Osterspaziergang:
') Jahrbuch der Qoethegesellschaft I. ^
•) A. a. O. S. lOZ
60 CARL ENDERS.
Doch würd' ich nicht allein mich herverh'eren,
Weil ich ein Feind von allem Rohen bin.
Das Fiedeln, Schreien, Kegelschieben
Ist mir ein gar verhaßter Klang;
Sie toben, wie vom bösen Geist getrieben,
Und nennen's Freude, nennen's Gesang.
»Er kann es nicht haben,« fährt Schlegel fort, »denn der Fleiß
und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert,
welche dem Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehren. Nur mit
Gelassenheit und Sanftmut, in der heiligen Stille der echten Passivität,
kann man sich an sein ganzes Ich erinnern, und die Weit und das
Leben anschauen. Wie geschieht alles Denken und Dichten, als daß
man sich der Einwirkung irgend eines Genius ganz überläßt und hin-
gibt« '), wie es Epimetheus tut.
So entsteht also Homunkulus, als verkörperter Verstand, als ein
rein geistiges, unsinnliches Destillat der Aufklärung. Ausgezeichnet
charakterisiert Helene Herrmann die zarte Geistigkeit der Szene, die sie
künstlerisch so hoch erhebt über unsere Parallelbilder. Faust selbst
»darf hier nicht sprechen, die Erregung seiner Stimme zerrisse
das zarte Gewebe dieser dünnen, hellen Geistesluft«. Wie Homun-
kulus, »selbst eine Art Ballung all der den inneren Raum dieser Szenen
durchschwirrenden Geistigkeiten«, von dem Ledatraume spricht, »ver-
liert sich alle Passion; ein zuschauender, wissender Geist wägt lächelnd
Gewicht und Recht dieser Wünsche und verteidigt sie gegen den
Nebel- und Norddämon, der sie nicht versteht, mit leichtem, fast welt-
männischem Ton«. Sie zeigt, wie im Gegensatz zur Aufnahme des
gleichen Bildes durch Faust am Peneios die Schilderung in Homunkulus
Munde etwas beinahe Rokokohaftes gewinnt. »Das Suchen nach dem
tiefen, erfüllenden und vollendenden Leben ist hier abgehandelt in einer
Gestalt, wie es in der Sphäre der Nurgeistigkeit gefaßt werden kann»*).
Die drangvolle Geschäftigkeit, die Homunkulus mit Wagner gemein
hat, und die in ihm allerdings läuterungsfähig ist, wie in dem Prometheus
der Pandora, ist ein Wesenszug der Aufklärung, gefördert durch ihren
mählich verflachenden Optimismus. Gegen sie schrieb Schlegel ja
vor allem seine Idylle. — Homunkulus selbst aber wird nun in die
Kulturentwicklung hineingestellt, wie der Prometheus der »Pandora«.
Sein Drang zur Tat sucht nach Sinn und Ziel, und wird sich schließ-
lich nach seiner Erlösung zum organischen Werdensgang wirklich ent-
falten können. Dann wird er sich auch Zeit nehmen, sich nicht mehr
»so treiben lassen«:
') A. a. O. S. 84 ff.
') Helene Herrmann, Faust, der Tragödie II. Teil, Studien zur inneren Form
des Werks, in dieser Zeitschrift Bd. XII, 1916, S. 93.
I
DIE DEUTUNG EffiS HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 61
Da regst du dich nach ewigen Normen,
Durch tausend, abertausend Formen,
Und bis zum Menschen hast du Zeit.
Der wißbegierige und lehrhafte Reisende, als der Homunkulus
auftritt, ist eine der bezeichnendsten Erscheinungen der Aufklärung.
Die Sucht nach der mannigfaltigen Fülle von Tatsachen bestimmt die
Mehrzahl der bändereichen Reisebeschreibungen, »die oft ohne viel
Urteil und Phantasie eine Fülle von Tatsachen vor dem Leser aus-
schütten, um dem Reisenden ein Wegweiser, dem daheimgebliebenen
Publikum eine Fundgrube alles Wissens- und Sehenswerten zu sein^').
Oar oft ließ da, wie bei Homunkulus, »ein grenzenloses Oeschwirre
geographisch-historischer Notizen, auf die Gegenden, worüber sie hin-
streifen, bezüglich«, die Reisenden »unterwegs nicht zu sich selbst
kommen«. — Auch in der Rolle des Seelenkünders erscheint uns Ho-
munkulus als Vertreter der fortgeschrittenen Aufklärungsepoche. Me-
phisto wendet sich an ihn wie an einen Adepten des Magazins für
Erfahrungsseelenkunde von Karl Philipp Moritz oder ähnlicher Be-
strebungen Lavaters: »Hier zeige deine Gabe« (nämlich: in der Seele
Fausts zu lesen). Daraus wird es auch verständlich, daß Wagner, ehe
er Homunkulus zu eigenem Werk entläßt, von ihm etwas erfahren
will, über Probleme, wie sie jene Leute beschäftigten:
Zum Beispiel nur: noch niemand könnt' es fassen,
Wie See! und Leib so schön zusammenpassen,
So fest sich halten, als um nie zu scheiden.
Und doch den Tag sich immerfort verleiden.
Auch der Sataniskus in der Schlegelschen Idylle wirft den Geschöpfen
des falschen Prometheus vor, wenn sie sonst gar nichts zu tun hätten,
strebten sie auf eine alberne Weise nach Charakter und suchten sich
gegenseitig zu beobachten und zu ergründen.
In der Aneignung des Wissenstoffs und in der Erschließung der
Erfahrungsquellen gilt der Grundsatz, daß Rücksicht genommen werden
muß auf das, was dem einzelnen für seine .Absichten brauchbar und
dienlich ist^). So sucht sich jeder von den Reisenden in der klassi-
schen Walpurgisnacht das aus, was ihm angemessen ist. Faust fragt
nur nach »ihr«, nach Helena; Mephisto hält sich zu den Phorkyaden,
seinen Geistesverwandten, Homunkulus an die Elemente physischer
Organisation und an die Lehren der Naturphilosophie. Aber auch
der Entwicklungstrieb des Homunkulus zur individuellen Entfaltung
und Ergänzung ist in der fortschrittlichen Aufklärung gefördert worden.
Die Scheingebilde der Vernunft befriedigen nicht mehr. Der Geist ist
') Max Wundt, a.a.O. S. 11.
») Max Wundt, a.a.O. S. 31.
62 CARL ENDERS.
den wahren Jüngern des Leibniz »ein ewig Lebendiges, das unablässig
Vergangenes abstreift, um Künftigem zuzustreben«. Das Zeitalter
»glaubt an die Zukunft und die Kraft des Geistes, sie schöner und
besser zu gestalten, als die Gegenwart« '), oder, wie Helene Herrmann *)
meint: Die Weltschicht des Studierzimmers »hat sich mit Wagners Men-
schenfabrikation in ihrer eigenen Richtung bis ins Extreme bewegt, bis
dahin, wo das tollgewordene Gehirnwesen umschlägt in sein Gegenteil,
wo auch dies verstandeserzeugte, dämonische Kleinwesen Homunkulus
sehnlich ins Lebendige verlangt«. Die Antike aber ist es, die alle
leitenden Werte in ewig gültiger Form ausgebildet hat, die nicht mehr
als einfacher Besitz angeeignet werden soll, sondern die als Aufgabe
wirkt, das »eigene Wesen immer völliger diesem Ideal nachzubilden«*).
Selbstverständlich ist die allegorische Bedeutsamkeit des Homun-
kulus nicht zeitlich beschränkt; aus dem zeitlichen Erlebnis hat Goethe
nur seine Erfahrung gezogen. Solche falsche Prometheusgestalten und
Wagnernaturen, und solche entwicklungsgierige Aufklärungsmenschen
gibt es immer. Homunkulus ist so unzeitlich, wie es auch Euphorion
ist, trotz dem Klagegesang auf Byron, und wie es Helena selbst ist,
die für alle ihre allegorischen Brüder und Schwestern dasteht in den
Versen :
Der Dichter bringt sie, wie er's braucht, zur Schau,
Nie wird sie mündig, wird nicht alt,
Stets appetitlicher Gestalt.
Wird jung entführt, im Alter noch umfreit;
G'nug, den Poeten bindet keine Zeit.
6.
Alle Bemühungen, den Weg zur Entstehung zu finden, alle Be-
lehrungen durch Anaxagoras und Thaies haben Homunkulus nicht
zum Ziel geführt. Von Nereus, der mit seiner Erziehung und Berätung
der Menschen zu Dingen, die ihnen nun einmal nicht liegen, so böse
Erfahrungen gemacht hat, daß er mit dem großen Sataniskus den
falschen Prometheus als den Erfinder der Erziehung schelten könnte,
wird er zu Proteus gewiesen, der die wahren Entwicklungsstadien
durch Verwandlung von Stufe zu Stufe vermittelt. Thaies stellt ihn vor:
Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften;
Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften.
Das ist die schärfste Charakteristik, die er bis dahin erfahren, dieser
Geist ohne Körper, dieses Verstandeswesen, das sich schon nach
Gefühl zu sehnen beginnt, diese Männlichkeit, die nach Weiblichkeit
') M. Wundt, a. a. O. S. 26.
■') A. a. O. S. 92.
') M. Wundt, a. a. O. S. 34 ff.
d
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. gj
verlangt, diese These, welche nach ihrer Antithese strebt, umSynthese zu
werden; der erst greiflich Tüchtighaftes leisten wird, erst wahrhaft tätig
sein kann nach dieser Vereinigung mit dem ausgleichenden Gegensatz-
Bis jetzt gibt ilim das Olas aliein Oewiciit,
Docti war' er gern zunäctist verl<örper!icht.
Er ist für Proteus ein wahrer Jungfernsohn, der nur einseitig ge-
schlechtlich bestimmt ist, wie jene Geschöpfe des falschen Prometheus
in der Lucinde; frühreif, wie jene, die sich sofort lebhaft unter die
Menge mischen, seiend, ohne doch wahrhaft zu sein, wie die Satanisken
Schlegels höhnen: Ihr habt kein Ich. Sollte er hermaphroditisch sein,
so müßte es, meint Proteus ironisch, desto eher glücken nach der
Lehre des Professors Oken '), der hier eine versteckte, spöttische Ab-
fuhr für seine Phantastereien über die menschliche Urzeugung im
Meere erfährt^).
Auch die glückliche, liebende Vereinigung dieses männlichen Organi-
salionselementes mit dem weiblichen in religiös-mystischer Inbrunst, er-
innert an romantische, künstlerische Manifestationen von allegorisch-
mythischem Charakter, wie die Miniatur auf das Leben und Weben
der ewig strömenden Schöpfung in der berühmt-berüchtigten »Re-
flexion« der Lucinde: »Das vollendete Bestimmende wirft sich durch
einen kühnen Sprung aus dem seligen Traum des unendlichen Wollens
in die Schranken der endlichen Tat und nimmt, sich selbst verfeinernd,
immer zu an großmütiger Beschränkung und schöner Genügsamkeit.
Dort geschautes Bild der Idee, hier nachdenkende Reflexion.
Der Weg von der Führerschaft des Thaies bis zu dieser geistig-
seelischen Einheit im jubelnd sich ausgleichenden Ineinanderströmen
der Gegensätze (Homunkulus und Galatea) zur Einheit lebendiger
Persönlichkeit ist noch ein weiter; aber er ist in seinen einzelnen
Stufen historisch kaum faßbar, weil diese Wandlungen für jeden zu
individuell, weil sie zu irrational sind. Auch dazu findet sich in der
Lucinde eine Betrachtung, von der ich gewiß nicht behaupten will,
daß Goethe sie mit dem Bewußtsein unmittelbarer Bezugnahme ge-
lesen und dementsprechend irgendwie »verwandt-« hätte, die aber eine
geistesgeschichtliche Parallele erschließt, welche festzustellen meines
Erachtens viel wertvoller ist, als irgendeine Abhängigkeitsnachweisung.
Julius will der Geliebten von seinen Entwicklungsstadien sprechen
und führt aus: »Andeuten will ich dir wenigstens in göttlichen
Sinnbildern, was ich nicht zu erzählen vermag. Denn wie ich
auch die Vergangenheit überdenke und in mein Ich zu dringen strebe.
') Über die Entsteiiuiig des Menschen, Isis 1819.
-') W. Büchner, Goethes Faust, eine Analyse der Dichtung, Leipzig 191 1, S. 111 f.
64 CARL ENDERS
um die Erinnerung in klarer Gegenwart anzuschauen und dich an-
schauen zu lassen: es bleibt immer etwas zurück, was sich nicht
äußerlich darstellen läßt, weil es ganz innerlich ist. Der Geist des
Menschen ist sein eigener Proteus, verwandelt sich und will
nicht Rede stehen vor sich selbst, wenn er sich greifen möchte.
In jener tiefsten Mitte des Lebens treibt die schaffende Willkür
ihr Zauberspiel. Da sind die Anfänge und Enden, wohin alle Fäden
im Gewebe der geistigen Bildung sich verlieren. Nur was allmählich
fortwirkt in der Zeit und sich ausbreitet im Raum, nur was
geschieht, ist Gegenstand der Geschichte. Das Geheimnis einer
augenblicklichen Entstehung oder Verwandlung kann man nur
erraten und durch Allegorie erraten lassen« i). So empfand es
auch Goethe. Und er schuf dieses allegorische Bild: Homunkulus
auf dem Rücken des Proteus. Nereus, der alte Weise, hat es, im
Gegensatz zu dem noch aufklärerisch-erziehungsgläubigen Homunkulus,
längst erfahren, daß man den Menschen überhaupt nicht so »allmählich
fortrücken c kann in seiner Entwicklung durch bewußte, erzieherische
Tätigkeit. Daher sind ihm schon die Stimmen der Menschen, die ihm
diese bittere Erfahrung gebracht haben, verhaßt:
Wie es mir gleich im Herzen grimmt!
Gebilde, strebsam, Götter zu erreichen,
Und doch verdammt, sich immer selbst zu gleichen.
Seit Jahren ifonnt' ich göttlich ruhn,
Doch trieb mich's an, den Besten wohlzutun;
Und schaut ich dann zuletzt vollbrachte Taten,
So war es ganz, als hätt' ich nicht geraten.
Auf welchen Wegen die Entwicklung wirklich schreitet, das erlebt er
heute mit hoher Vaterfreude in der Erhöhung der Galatea, die in pro-
teischen Verwandlungen im Meer entstanden ist zur Erbin der Kypris
auf Paphos. Nie wirst du ein Wesen durch Erziehung und Ratschläge
zu etwas anderem machen können, als es ist: nur die »schaffende
Willkür«, welche »in jener tiefsten Mitte des Lebens ihr Zauberspiel
treibt«, vermag das in proteischer Verwandlung. Solche proteischen
Wandlungen, allegorisch darstellbar, erlebt Julius in seiner Laufbahn,
solche proteische Wandlung hat Goethe selbst oft erlebt, am wunder-
barsten in Italien, zu neuem Leben auftauchend aus der Zerschellung
des alten als der junggewordene Dichter der römischen Elegien.
So ist es denn durchaus keine Verlegenheitsabweisung, um den
lästigen Frager los zu werden, sondern folgerichtige Forderung, wenn
Nereus, nun nicht mehr ärgerlich, sondern wahrhaft hilfreich, seine
letzte Erkenntnis preisgebend, rät:
') Lucinde, S. 213 f.
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 65
Hinweg, es ziemt in Vaterfreudestunde
Niciit Haß dem Herzen, Scheltwort nicht dem Munde,
Hinweg zu Proteus! Fragt den Wundermann:
Wie man entstehn und sich verwandeln Itann.
Die Allegorie dieser organischen Lebensbildung des Menschen
auf ihrer höchsten Stufe, in welcher Homunkulus das geistig-erotische
Element darstellt, Oalatea das physisch-erotische, hat eine reizvolle Ab-
wandlung schon früher in der »Pandora« gefunden, die als Vorstufe
der Gestaltung im Faust anzusprechen ist. Nur sind hier, wo der
abstrakt-gedankliche Charakter überwiegt, die Rollen der Geschlechter
getauscht, entsprechend ihrer Abstammung in dem allegorischen Fest-
spiel, die mächtiger wirkt, als die Geschlechtlichkeit an sich. Phileros,
der liebeverlangende Triebmensch, dem die geistige Beherrschung seines
Temperaments vor seiner Wiedergeburt versagt ist, und der deshalb
für das neue dritte Reich der Pandora sich wandeln muß, der Sohn
des diesseitigen Prometheus, vertritt hier den physischen Lebenstrieb;
Epimeleia, die Nachdenkliche, die zum ewig-Typischen, zu Kunst und
Wissenschaft gewandte Tochter des jenseitigen Epimetheus, verkörpert
den geistigen Bildungstrieb. Das szenische Bild ist schon ganz ähn-
lich, wie im Faust, und hat dieses sicher mitbestimmt: Das bewegte
Meer, von leuchtendem Glanz übergössen: »Eos (vom Meere herauf-
steigend): Jugendröte, Tagesblüte Bring ich schöner heut als jemals
Aus den unerforschten Tiefen Des Okeanos herüber.« Homunkulus
läßt in dieser Lebensfeuchte erst seine Leuchte mit herrlichem Getön
erglänzen, er »flammt um die Muschel, um Galateas Füße.
Bald lodert es mächtig, bald lieblich, bald süße.
Als war' es von Pulsen der Liebe gerührt.«
Ganz ebenso entfaltet sich die »gottgewählte, die festliche Stunde« in
der Vereinigung des Phileros und der Epimeleia:
Aus den Fluten schreitet Phileros her.
Aus den Flammen tritt Epimeleia;
Sie begegnen sich und eins im andern
Fühlt sich ganz und fühlet ganz das andre.
So vereint in Liebe, doppelt herrlich,
Nehmen sie die Welt auf. Oleich vom Himmel
Senket Wort und Tat sich segnend nieder,
Gabe senkt sich, ungeahnet vormals').
') Friedr. Schlegel, Lucinde, »Dithyrambische Phantasie über die schönste
Situation« (a. a. O. S. 17): »Nur hier sehe ich mich ganz und harmonisch, oder
vielmehr die volle ganze Menschheit in mir und in dir. Denn auch de'n Geist
steht bestimmt und vollendet vor mir; es sind nicht mehr Züge, die erscheinen und
zerfließen: sondern wie eine von den Gestalten, die ewig dauern, blickt er mich
aus hohen Augen freudig an und öffnet die Arme, den meinigen zu umschließen . . .
Jede Idee öffnet ihren Schoß und entfaltet sich in unzählig neuen Geburten.« So
Zeitschr. f. Ästhetik ii. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 5
I
66 CARL ENDERS.
Und wie Galatea von ihrem Meergefolge umringt und umtanzt wird,
so auch Phileros. Die Delphine, die hilfreichen Rosse des schöpferischen
Meeres, deren Gestalt auch Proteus am angemessensten scheint für
diesen Moment der Wiedergeburt, fehlen auch hier nicht.
Nun entsteigt der Oöttergleiche
Von den ringsumschäumten Rücken
Freundlicher Meerwunder schreitend,
Reichutnblüht von meinen (der Eos) Rosen,
Er, ein Anadyomen,
Auf zum Felsen.
Ein Anadyomen, ein proteisch-Gewandeiter, ist auch Phileros, der jetzt,
gereinigt von seiner triebhaften Zügellosigkeit, reif geworden ist zur
Vereinigung mit Epimeleia.
Auch hier hat wieder Helene Herrmann in ihren Studien zur
inneren Form des Faust gezeigt, wie Homunkulus allmählich seinen
Ton ändert. »Er begann nach seiner anorganischen Geburt ganz
wissend, sicher, spöttisch-hell«, schon im Anfang der Walpurgisnacht
»wird etwas wie leidenschaftliches Entzücken in seiner Sprache hörbar«
und zuletzt »spricht er in weichen, gedehnten, ja dunklen Lauten, ganz
gewiegt von der sinnlichen Empfindung«, um schließlich in »schaukelnden
Rhythmen, echoverlangenden Reimen« hinzuschmelzen *).
7.
Wir haben schon gesagt, daß die Vorgänge der klassischen Wal-
purgisnacht, an welchen Homunkulus als Zuschauer und Lernender,
dann als Handelnder beteiligt ist, mit ihrer naturphilosophischen
Tendenz insofern als Antezedentien zum Helenaakt aufzufassen sind,
als diese naturphilosophische Tendenz Voraussetzung der kultur-
philosophischen des Faustganges zur Unterwelt ist: Die vollendetste
Gestalt im Reigen der meergeborenen Allegorien physischer Ent-
wicklungsstufen ist die Tochter des Meerbeherrschers Nereus.
Galatea, die herrliche Statthalterin der Kypris selbst, die Schönste im
Farbenspiel von Venus Muschelwagen. Auch sie hat man wieder in
dunstiger Paraphrase mit Helena identifiziert. Sie ist nicht Helena,
sondern nichts anderes als Galatea; sie ist auch in keiner Weise Stell-
vertreterin der Helena, sondern Statthalterin der Kypris, sie steht
durchaus auf einer Stufe, wenn auch auf einer hochentwickelten, der
physischen Welt; sie ist eine Grazie des Meeres, ein schön Gebild,
das sich so zierlich regt<, die Herrin der Doriden, denen die Knaben
erscheinen die Gaben aus der Kypsele der Pandora (»Sitzende Dämonen — Wissen-
schaft und Kunst«), die Hochzeitgabe der Pandora. »Die äußersten Enden der
zügellosen Lust und der stillen Ahndung leben in mir«: Phileros und EpimeleiaJ
') A. a. O. S. 97 f.
3
DIE DEUTUNG DES HOMUNKULUS IN GOETHES FAUST. 67
geschenkt sind zu wechselnder Liebe, Die Treue, diese Frucht höherer
seelischer Entwicklungsstufen, kann Nereus, wie er bekennt, nicht ver-
leihen, sondern nur Zeus gewähren. Helena ist dagegen herausge-
sliegen aus menschlichen Kulturkreisen; ihr Anbeginn aus dem Meere
liegt um unzählige Entwicklungsstufen weiter zurück, als der Galateas,
die noch im Meere lebt und webt, die noch eng verbunden ist mit
den Quellen und Entwicklungsstufen ihrer physischen Bedingtheit.
Galatea hat Voraussetzungscharakter für Helena, wie diese in Verbindung
mit Oretchen Voraussetzungscharakter hat für die höchste, übermensch-
liche Stufe des Ewig-Weiblichen in den Schlußszenen im Himmel.
Aber wir haben in der klassischen Walpurgisnacht ja neben den
Vertretern der physisch-psychischen Entwicklung, welche Homunkulus
erlebt, auch die Vertreter von Kulturstufen der Menschheit. Das
Gemeinsame ist die Entwicklungstendenz. Ihr Verständnis und ihr
Erlebnis ist die Voraussetzung auch für Verständnis und Erlebnis der
Helena. Und so gilt es natürlich, wie für das ideale Publikum des
Dramas, auch für Faust selbst. »Nereiden und Tritonen, die mehr als
Fische sein wollen, die Kabiren, jene sehnsuchtsvollen Hungerleider;
nach dem ewig Unerreichlichen, Proleus, sind ihm dauernde Vorbilder
des Eingehens in höhere Lebensformen« ^). Es hindert uns nichts,
anzunehmen, ja, das dürfte eine stillschweigende Voraussetzung des
Dichters sein, daß auch Faust auf seiner Reise durch die klassische
Walpurgisnacht dem Wesen nach ähnliche Erlebnisse gehabt hat, wie
die, welche wir an der Seite des Homunkulus zu unserer eigenen Vor-
bereitung auf den Helenaakt genossen haben. Also auch aus diesem
Gesichtspunkte ist die, wie gezeigt wurde, in sich unmögliche Gleich-
setzung von Faust und Homunkulus durchaus nicht erforderlich. Für
Homunkulus gilt vielmehr das, was Helene Herrmann allen Gestalten
des zweiten Teils zuschreibt: sie >erscheinen als Symbole der per-
sönlichen Entfaltung und als unbedingt seiend in ihrer kos-
mischen Wahrheit«-).
8.
»Es gibt Dichtungen in der alten Religion,< so formuliert der Held
der Lucinde zusammenfassende Betrachtungen, »die selbst in ihr einzig
') Georg Rosenthal, Homunkulus, Monatshefte der Comeniusgesellschaff XXVI,
1Q17, S. 74. Rosenthal hat die Hypothese von der Identifizierung des Faust und
Homunkulus innerlicher durchgeführt als Aisberg. Insofern, als der Kulturstand,
den Homunkulus allegorisch vertritt, als ein allgemein menschlicher, auch für Fausts
Ausbildung gilt, behalten seine Ausführungen ihre volle Bedeutung; am reizvollsten
ist seine Parallele der Homunkulusidee mit der stufenweisen Entfaltung Fausts in
den Verklärungsszenen des Schlusses.
') A.a.O. S. 116.
68 CARL ENDERS.
schön, heilig und zart erscheinen. Die Poesie hat sie so fein und
reich gebildet und umgebildet, daß ihre schöne Bedeutsamkeit unbe-
stimmt geblieben ist und immer neue Deutungen und Bildungen er-
laubt.« Unter diesen hat er seiner Lucinde, um ihr einiges anzudeuten,
was er über die Metamorphosen des liebenden Gemütes ahnt, d. h.
also, über die proteischen Verwandlungen, in denen es sich entfaltet,
die ausgewählt, von denen er glaubt, »der Gott der Harmonie könnte
sie, nachdem ihn die Liebe vom Himmel auf die Erde geführt und
ihn zum Hirten gemacht, den Musen erzählt, oder doch von ihnen
angehört haben. Damals, an den Ufern des Amphrysos, hat er auch
glaube ich, die Idylle und die Elegie ersonnen«. Dadurch, daß ein
reales Geschehen, das in sich selbst Phantasiereize hat, mit höherer
Bedeutsamkeit erfüllt wird, wird die Synthese von Realität und Idealität
erreicht, welche die »Universalpoesie« verlangt. Mit ihr wird Idylle
und Elegie in enge Verbindung gebracht. Schlegel knüpfte hier eng
an die Definitionen Schillers an. Die sentimentalische Dichtung, zu
der ja fraglos unsere Szenen des zweiten Aktes gehören, wird durch
die Reflexion mit bezug auf das Absolute zerlegt in die satirische (Kon-
trast von Wirklichkeit und Ideal), die elegische (Sehnsucht nach dem
Ideal) und die idyllische (Glück im erreichten Ideal). Alle diese
Gattungen sind durch die Reflexion an das Absolute gebunden. Die
Schillersche Elegie darf deshalb nicht, wie die der Zeitgenossen und
Vorgänger, die Entbehrungen irdischer Genüsse besingen, sondern nur
den Verlust des Ideals. Und ebenso darf die Idylle nicht versinken
in die Ausmalung von sinnlich wohltuenden Naturstimmungen und
behaglichen Bildern menschlicher Zufriedenheit im Alltag, sondern sie
muß das hohe Lied heiliger Synthese von Wirklichkeit und Ideal singen.
Schlegel paßt sich dieser Definition an, läßt aber die Scheidung der
drei Gattungen als besonderer Gattungen nicht bestehen, weil sich das
mit seiner Proklamation der Universalpoesie, die alles in sich vereinigt,
nicht vertrug. Bei ihm sind daher Satire, Elegie und Idylle nur Zu-
standsbezeichnungen der einen Poesie. »Sie beginnt als Satire mit
der absoluten Verschiedenheit des Idealen und des Realen, schwebt
als Elegie in der Mitte und endigt als Idylle mit der absoluten Identität
beider«'). Praktisch kommt das auf dasselbe hinaus. Es ist nach alle-
dem klar, daß man die Homunkulusepisode am besten und treffendsten
als klassisch-romantische Idylle charakterisiert, wie die Euphorionepisode,
über die demnächst in gleicher Weise zu sprechen wäre, als Elegie.
') Athenäumsfragment 238, Enders, a. a. O. S. 52 f. und S. 375 f.
III.
Wilhelm von Scholz als Theoretiker des Dramas.
Von
Heinrich Merk.
Dem Schaffen des Künstlers, das sich mit Iriebhafler, instinl<livcr
Sicherheit betätigt, kann Großes gelingen, aber das Größte wird ihm
versagt bleiben. Der schöpferische Wille, der zu den erhabensten
Zielen emporstrebt, braucht den führenden, zielschaffenden Gedanken.
Wir sehen daher, wie sofort das Nachdenken über Mittel, Wege und
Aufgaben der Kunst einsetzt, sobald sich ein Dichter der höchsten
Kunstform, dem Drama, zuwendet. Man hat diese intellektuellen Be-
strebungen nicht immer gebührend zu würdigen gewußt; manche sahen
darin nur müßige Theorien, gewissermaßen eine Zeit- und Kraftver-
geudung — aber man mußte sich damit abfinden. Denn gerade unsere
bedeutendsten Geister hatten nun einmal das Bedürfnis, ihre Kraft auch
intellektuell zu vergeuden. Es liegt hier zweifellos ein Problem ver-
borgen. Bereits Wilhelm v. Humboldt spricht in seinem Versuch über
Schillers Geistesentwicklung von den Hindernissen, welche :'ZU mächtig
angeschwollene Ideenbeschäftigung und zu deutlich gewordenes Be-
wußtsein entgegensetzten«.
Wilhelm v. Scholz, der als Lyriker wie als Dramatiker in der
zeitgenössischen Dichtung Sitz und Stimme hat, entfaltete seit seinen
ersten Anfängen eine reiche literarästhetische Tätigkeit. In grundlegen-
den Essays hat er sich um ein tieferes Verständnis Günthers, der Droste
und Hebbels bemüht; in dem Sammelwerk »Deutsche Dramaturgie«
sucht er das Gedankengut unserer Dramatiker für die Bühne flüssig
zu machen; vornehmlich aber durch seine Theorien zur Lehre vom
Drama hat er in den zuständigen Kreisen Beachtung und Anerkennung
gefunden. Ein Beurteiler kam sogar zu dem achselzuckenden Ergeb-
nis: — vielleicht weiß er zu viel für einen Dichter.« Das drama-
turgische Denken von Scholz entwickelte sich an dem Problem Friedrich
Hebbel (> Friedrich Hebbel« — in der Sammlung »Die Dichtung« von
P. Remer). Seinen ersten selbständigen Ausdruck fand es in den
»Gedanken zum Drama« (1905 bei Gg. Müller, München). Die Fort-
setzung, Ergänzung und Vollendung dieses Buches sind die »Gedanken
zum Drama, neue Folgen (1915 ebenda). Man hat sich bisher meist
70 HEINRICH MERK.
auf anerkennende Worte und empfehlende Hinweise beschränl<t. Damit
ist natürlich der Sache selbst nicht gedient. Wir wollen in dieser
Studie das Versäumnis nachholen. Wir werden versuchen, die wich-
tigsten Gedanken und Erkenntnisse herauszuarbeiten, um für die künf-
tige kritische Auseinandersetzung eine sichere Grundlage zu schaffen >).
r.
In der ersten These seiner Abhandlung »Kunst und Notwendig-
keit« greift Scholz auf gewisse Tatsachen unseres Seelenlebens zurück,
um von hier aus die Einsicht in das Wesen des Dramas zu fördern.
Er behauptet nämlich, die Grundtendenz aller menschlichen Tätigkeit
sei ein »Streben nach Zwang, nach empfundener Notwendigkeitc
(N. G. S. 5Q). Er weist damit auf folgende Erscheinungen hin : Wie
etwa die Luft den Raum in seiner ganzen Ausdehnung zu durchdringen
sucht und nicht eher ruht, bis sie seine letzten Höhen und Tiefen
erfüllt hat, so geht auch das menschliche Streben dahin, die letzten
ihm gezogenen Grenzen zu erreichen, das Leben mit dem denkbar
reichsten Inhalt und Gehalt auszustatten. Solange diese Grenzen noch
nicht erreicht sind, bewegen wir uns in dem Bereiche der Möglich-
keit, in der Sphäre des unsicheren Schwankens.
Daß Scholz bei seinen Erörterungen gerade von dem Begriff der
Notwendigkeit ausgeht, ist nicht willkürlich und zufällig. Was für das
logische Denken Gewißheit und Wahrheit sind, das ist für den Künstler
und den Betrachter seiner Schöpfung die künstlerische Notwendigkeit.
Bei den Klassikern und vor allem bei den Nachklassikern, auch bei
den philosophischen Systematikern der Ästhetik spielt dieser Begriff
eine entscheidende Rolle. Die Kritiker bedienen sich seiner, um den
Wert eines Kunstwerkes festzustellen. Man fragt sich, ob es Ausdruck
einer schöpferischen Notwendigkeit ist; man prüft, ob seine einzelnen
Teile organisch, d. h. eben notwendig zusammengehören usw. Immer
kommt man dabei auf den Begriff Notwendigkeit zurück. Es ist daher
eine wichtige Angelegenheit des Theoretikers, sich über den Sinn
dieser ästhetischen Grundkategorie klar zu werden. Scholz stellt eine
Reihe von Bedeutungen fest. Man kann darunter verstehen: >einmai
das elementar notwendige Hervorgehen des Werkes aus der Seele eines
Schöpfers, ein anderes Mal die Zwangslage des Handelns, in der sich
die Figuren befinden (von woher der Begriff wahrscheinlich stammt!),
die Übereinstimmung der Kausalität im Kunstwerk mit der realen Kau-
salität, im höchsten Falle die organische Beziehung und Wechsel-
wirkung des Ganzen und seiner Teile« (N. G. S. 82).
') Der »HebbeU-Essai ist zitiert mit H., das Werk »Gedanken zum Drama«
mit O. und das letztgenannte Buch »O. z. Drama, Neue Folge« mit N. O.
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS. 71
Was aber sagen uns diese verschiedenen Definitionen und Kon-
struktionen von dem Gegenstande unserer Betrachtung? Sagen sie uns
überhaupt etwas davon? Die Notwendigkeit erleben wir nur in
unserem Bewußtsein; wir finden sie einzig und allein als Bewußtseins-
erlebnis, aber nicht als eine Objektseigenschaft. Diese erkenntnis-
theoretische Einsicht ist auch entscheidend für die Lösung unseres
dramaturgischen Problems. Wenn ein Kritiker ein Kunstwerk als not-
wendig bezeichnet, so spricht er nicht vom Kunstwerk, sondern nur
von sich. Darum lehnt auch Scholz die verschiedenen Wendungen,
die man dem Notwendigkeitsgedanken gegeben hat, mit Recht ab.
Der »Wille zum Zwang«, den er dafür einführt, soll kein Ersatz für
den aufgegebenen Begriff sein, sondern die Rückführung des Problems
in seine ursprüngliche Lebenssphäre. Man hat wiederholt Versuche
gemacht, Kriterien der künstlerischen Notwendigkeit zu gewinnen.
Hebbel z. B. stellt die Skala auf: »es kann sein, es ist, es muß sein«.
Der Urteilscharakter des problematischen »es kann sein« wird von
manchen Logikern angezweifelt. Der Ästhetiker wird sich dieser Auf-
fassung anschließen. Der Begriff der »Möglichkeit« ist etwas Unfer-
tiges; er kann geradezu als der logische Ausdruck für künstlerische
Formlosigkeit bezeichnet werden; er ist das Widerspiel der Kunst.
Nicht minder unbrauchbar ist für die künstlerische Betrachtung das
apodiktische Urteil »es muß sein«. Wir sind nicht imstande — wie
es diese Modalität erfordert — , ein Gesetz zu formulieren, aus dem
wir etwa die Erkenntnis einer Notwendigkeit ableiten könnten. Wir
müssen uns eben letzten Endes mit dem einfachen »es ist<: begnügen.
Diese Seinsnotwendigkeit besteht nun darin, daß wir uns an das
Tatsächliche halten, und geht in dem Bewußtsein auf, daß wir über
die Tatsachen nicht hinauskommen. Wir lehnen eine »Ilias post
tiomerum.'i instinktiv ab, weil wir empfinden, daß ein Hinauskommen
über Homer nkht möglich ist.
Die Notwendigkeit wird hier als Unmöglichkeit des Gegenteils
erlebt und kann daher auch als »negative Notwendigkeit« umschrieben
werden. Da aber jedes bloß negative Urteil im Hinblick auf seinen
Erkenntniswert nur eine Urteilsvorstufe darstellt, so können wir mit
Scholz von »niederen negativen Notwendigkeiten« sprechen, die sich
unserem Erkenntnisstreben als unübersteigliche Schranken entgegen-
stellen (N. G. S. 73 f.). Das Bewußtsein dieser Schranken ist — positiv
gewendet — nichts anderes als die Anerkennung des Zufalls. »Das
Wort jZufall' hat in unserem Sprachgebrauch seinen Sinn sehr weit
nach der Seite des scheinbar ganz Zusammenhanglosen, Unbegründeten,
ich muß das Wort selbst zu seiner Erklärung zu Hilfe rufen: des
Zufälligen verschoben. Wir brauchen diesen Sinn aber nicht notwen-
72 HEINRICH MERK.
dig mit dem Worte zu verbinden und können in dem Hauptwort
jedenfalls einfach ,das Zufallende' sehen« (N. O. S. 81). Scholz, der
so nachdrücklich die Notwendigkeit in den Mittelpunkt des dramatur-
gischen Denkens stellt, vertritt nun mit der gleichen Entschiedenheit
das Recht des Zufalls. Wir dürfen dabei, wie bereits hervorgehoben
wurde, unter diesem Begriff nicht das »Unbegründete« verstehen, denn
im Drama muß alles sehr wohl begründet sein; aber nichts hindert
uns, ihn im Sinne des »Unergründlichen« zu nehmen. Wir werden
niemals in der Lage sein, anzugeben, warum die Personen eines Stückes
in einer ganz bestimmten Weise handein müssen; wir werden daher
niemals begründen können, warum die einzelnen Szenen gerade so
und nicht anders aufeinander folgen. Wir können uns höchstens auf
die »in unserem Leben herrschenden Zwänge und Notwendigkeiten«
(N. G. S. 66) berufen, d. h. eine Unbekannte auf eine andere zurück-
führen.
Und doch erleben wir das große Kunstwerk als eine Notwendig-
keit, wir erleben höchste Kraftentfaltung, worin der »Wille zum Zwang«
seine Erfüllung findet. Dieses Erlebnis gehört zum Werk wie der
Geist zum Körper; es würde in seinen tiefsten Daseinsbedingungen
getroffen, sobald vom künstlerischen Organismus nur ein Glied heraus-
genommen würde. Wir stellen hiermit keinen Widerspruch fest, son-
dern eine Lücke, die wir vorläufig mit dem Hinweis Lotzes ausfüllen
müssen, daß der Umkreis unseres Erlebens eben weiter ist als der
unseres Erkennens. Es kommt nur immer darauf an, daß wir uns
nicht in Wortillusionen verlieren; daß wir uns stets bewußt bleiben,
was unsere Begriffe leisten und was sie nicht leisten können.
"•
Nach dieser grundsätzlichen Erörterung gehen wir über zur Be-
trachtung des Dramas. Wir handeln zunächst vom Drama überhaupt,
dann von seinen wichtigsten Erscheinungsformen: Komödie und Tra-
gödie.
Hebbel bemerkt einmal, »daß der religiöse Ursprung des Dramas
nicht zufällig ist« (vgl. Deutsche Dramaturgie I, S. 361). Man kann
hinter diesen Worten allen erdenklichen Tiefsinn vermuten. Scholz
aber greift den Gedanken auf, um aus dieser religiösen Bedingtheit
dramaturgische Erkenntnisse zu gewinnen. Während man gewöhnlich
das Theater aus dem Drama herleitet, leitet Scholz das Drama aus dem
Theater, d. h. aus der festlich gestimmten Versammlung her.
Aus der strahlenden Helligkeit des Tages sind wir in die Stille
des verdunkelten Raumes versetzt. Ungewisse Erwartungsgefühle, ver-
gangene Theatererlebnisse wirken in uns und erzeugen so »eine
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS.
73
bestimmte Spannung«. In der versammelten Menge entsteht eine Oe-
fühlsfülle, »die nacii Auslösung drängt, Wille, der sich kaum beherr-
schen läßt, weil er zum Zuschauen gezwungen ist und handeln möchte.
Die Gemütsspannung läßt sich geradehin als den betrachtenden Willen
bezeichnen. Vor ihm spielt sich das Drama ab« (O. S. 6).
Der Zuschauer ist nicht in das Theater gekommen, um sich han-
delnd zu betätigen, sondern um die Wirkungen eines Kunstwerkes zu
erleben. Man kann an Stelle des >Erlebens« auch von einem »Be-
trachten« sprechen. Anderseits strebt der Wille, jene »Gefühlsfülle,
die nach Auslösung drängt«, zur Entfaltung und Befriedigung. Auf
den ersten Blick scheint dieses Streben mit dem Geiste der Betrachtung
im Widerspruch zu stehen, scheint es durch Reflexionshemmungen im
bloßen Wunsche zu erstarren. Das ist aber nicht der Fall. Indem
nämlich der Zuschauer das Geschehen auf der Bühne betrachtet, d. h.
in seiner ganzen Fülle erlebt, lebt er sich in die fremden Gestalten
und Schicksale hinein, lebt er mit ihnen und löst so die Willens-
spannung in seinem Innern in hemmungslose Willenstätigkeit aus.
»Wir werden vor dem Drama an einem außerordentlichen Ereignis
unmittelbar Teilnehmende« (N. G. S. 21). Die zunächst paradox an-
mutende Wendung »betrachtender Wille« wird so verständlich.
Die Frage ist nun: Wie wird dieser Wille zum Schöpfer des
Dramas? Wie lernen wir aus dem Wesen des Theaters heraus das
Wesen des Dramas verstehen?
»Der Zuschauer will sich sehen und versteht nur sich. Wille ist
Zuschauer; so ist Wille das Thema des Dramas. Wille läßt sich zeigen
nur an Widerständen, die er bezwingt, charakterisieren nur durch die
Art der Widerstände, die sich ihm gegenüberstellen. Auch diese Wider-
stände müssen Willen sein, wenn der Zuschauer Wille sie lebendig
mitfühlen soll. Willen gegen Willen: Kampf« (G. S. 2,3). Vor grauen
Zeiten gehörte diese Lehre zu den dramaturgischen Binsenwahrheiten,
Nachdem aber die Gegenwart dem Wesen des Dramas so sehr ent-
fremdet wurde, daß man die Darstellung des Kampfes durch novel-
listische und lyrische Zustandsschilderungen zu ersetzen suchte, ist es
doppelt wichtig, mit dem gebührenden Nachdruck darauf hinzuweisen.
Es handeh sich dabei um keine blutleere, abstrakte Theorie, sondern
um eine Forderung des Theaters. Diese Tatsache sollte zu denken
geben.
Damit sind aber die wesentlichen Eigenschaften, die spezifischen
Kennzeichen des dramatischen Kampfes noch nicht berührt. Dieses
Problem wird uns aber nahegerückt, wenn wir bedenken, daß auch
der epischen Dichtung meist ein Kampf zugrunde liegt.
Goethe und Schiller sahen den Hauptunterschied bekanntlich darin,
74 HEINRICH MERK.
»daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt
und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt«. »Das
epische Gedicht stellt vorzüglich persönlich beschränkte Tätigkeit, die
Tragödie persönlich beschränkte Leiden dar; das epische Gedicht den
außer sich wirkenden Menschen: Schlachten, Reisen, jede Art von
Unternehmungen, die eine gewisse sinnliche Breite fordert; die Tra-
gödie den nach innen geführten Menschen, und die Handlungen der
echten Tragödie bedürfen daher weniges Raumes« (vgl. Deutsche Dra-
maturgie Bd. II, S. 303 f.). Diese Bemerkungen wirkten anregend und
befruchtend auf die dramaturgische Diskussion. Die beiden Klassiker
gehen von den Mitteln aus, deren sich die einzelnen Dichtungs-
gattungen bedienen. Das Epos ist »Schilderung«, das Drama »unmittel-
bare Darstellung«. Diese Formunterschiede müssen natürlich auf eine
stoffliche Grundlage zurückgeführt werden. Auch hiezu haben Goethe
und Schiller den Weg gewiesen. Schlachten, Reisen usw. sind Gegen-
stand der epischen Dichtung: Zustände und Vorgänge, die sich immer
nur schildern lassen. Man kann wohl ein Ereignis aus einer Reise
dramatisch gestalten, aber nie die Reise selbst ; was der Reisende erlebt
hat, das kann er nur erzählen, und so etwas ist immer episch, auch
wenn es auf der Bühne geschieht. Man spricht von einer »epischen
Breite«. Je weiter der Horizont ist, den die Erzählung umspannt, je
umfassender der Raum, den die Tatsachen ausfüllen — umso größer
ist die künstlerische Leistung. Aber niemand wird von einer »drama-
tischen Breite« sprechen. Im Gegenteil: Konzentration, Streben auf
einen Mittelpunkt hin, ist das Grundgesetz des Dramatikers. Hier haben
vor allem die nachklassischen Kritiker des Dramas — Grillparzer, Otto
Ludwig — eingesetzt. Auch Hebbel scheint dieser Auffassung nicht fern
zu stehen, wenn er im Drama ohne großartige Persönlichkeit nichts
sieht als einen »Roman in umgekehrter Form«.
Scholz hat dieser dramaturgischen Überlieferung keine wesentlich
neuen Gedanken hinzugefügt.
»Mag der epische Dichter uns mit dem Teleskop seiner Anschau-
ung die fernen Begebenheiten auch nah und lebensgroß vors Auge
rücken: sie behalten eine gewisse Lautlosigkeit hinter der Stimme des
Dichters, die zwischen uns und ihnen liegt. Das Drama stellt nicht
nur die Handlung sinnlich-gegenwärtig vor uns, es schafft wesentlich
mehr, als daß es uns nur zu unbeteiligten Zuschauern eines in sich abge-
schlossenen Bühnengeschehens macht. Wir werden vor dem Drama:
an einem außerordentlichen Ereignis unmittelbar Teilnehmende« (N. G.
S. 20/1).
Ebenso wird die räumliche Enge des Dramas hervorgehoben.
Ȇberall, wo nichts die Menschen hindert, mit aller Leidenschaft
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS.
75
offen oder verhüllt aufeinander zu prallen, und wo die Enge zum Kampfe
zwingt, wächst das Drama: in voli<reichen Städten, in Heerlagern, an
Königshöfen; schließlich auch in Familien. Aber nicht in der großen,
mächtigen Natur, die der Idylliker . . . immer wieder vergeblich mit
Dramen zu beleben versuchen wird. So ist das Alpendrama ein unlös-
bares Problem — c (N. O. S. 287).
Neben dieser objektiven Analyse des Werkes selbst betont Scholz
die subjektive Seite, den psychischen Vorgang, das persönliche Erlebnis
des Schaffenden, das seinerseits wieder auf die dichterische Eigenart
der Kunstgattung zurückzuführen ist (s. N. O. S. 3Q).
Das Ergebnis dieses Exkurses ist nicht ganz so bedeutungslos,
wie es auf den ersten Blick hin scheinen möchte. Das Drama hat
seine eigenen Gesetze; es macht keine Zugeständnisse und duldet
keine Grenzverwirrungen. Wäre diese Einsicht überall dort, wo sie
nötig ist, durchgedrungen, so gäbe es nicht immer wieder Dichter,
die sich verpflichtet fühlten, aus einem Roman oder einer Novelle kurz-
händig ein Theaterstück zu bauen. Der Dramatiker müßte erst den
Versuch machen, den Stoff aus seiner epischen Form, mit der er zu
einer Einheit zusammengeschmolzen ist, herauszulösen. Das ist natür-
lich umso schwieriger, je größer die Kunst des Vordermannes ist. —
Ungleich wichtiger sind die Erkenntnisse, die wir gewinnen, sobald
wir aus der Phantasiesphäre heraustreten, um Drama und Leben ein-
ander gegenüber zu stellen. Die hohen Ansprüche, die das Drama
erhebt, fordern zu diesem Vergleich heraus. Menschen beruft es in
seinen strengen Dienst, damit sie seinen Schattengestalten Körper,
Leben und Seele verleihen. Der Bühnenraum öffnet sich, eine fremde
Welt mit ihren geheimnisvollen Schauern entringt sich der Dunkelheit;
alles ist Leben, wirkliches Leben, das uns für Stunden in seine Zwänge
nimmt wie die Welt, in der wir uns täglich bewegen. Was gibt dem
Drama diese Lebenskraft, diese Wirklichkeit, der wir uns nicht
entziehen können, die uns in ihre Kreise lockt und erinnerungsschwer
wie ein großes Ereignis in uns nachwirkt?
»In der Wirklichkeit spannt uns jeder Kampf, der Wettkampf der
Pferde, ein Prozeß, ein Ringkampf. Wir wissen, daß der Kampf auf
der Bühne im Sinne der Ailtagswirklichkeit unwirklich ist; wissen
auch, daß die Wucht und Spannung, mit der ein Kampf uns erfaßt,
von seinem Gewicht, d. h. von dem Maß an Wirklichkeit abhängig ist>
das wir in ihm sehen. Wirklichkeit: darin liegt alles« (O. S. 6).
Den Illusionsmitteln — Kulisse, Kostüm, künstliche Beleuchtung —
fehlt diese Lebenskraft. Wir durchschauen sie, wenn der Reiz der
Neuheit verflogen ist, bald als leere Scheingebilde. Wir können sogar
beobachten, daß überall, wo im Drama selbst die Nachahmung des
76 HEINRICH MERK.
Lebens, die Illusion vorherrscht, die Spannung sofort nachläßt. Wir
empfinden den Schein zu aufdringlich. Wenn aber nicht das äußere,
so kann es nur noch das innere, das geistige Geschehen sein, in dem
wir das dramatische Geheimnis suchen müssen. Worin besteht nun
jene unwiri<iiche Wirklichkeit, in der das Drama wurzelt und ohne die
es in Schein zerfiele?
Wir müssen hier von dem Gedanken ausgehen, daß alles, was
unser geistiges Leben berührt, das Interesse weckt, auch wenn es nur
als Phantasieerlebnis erscheint. Wir betrachten dabei die äußeren Vor-
gänge nicht als selbständige Tatsachen, sondern als Ausdrucksmittel.
Man hat das dramatische Schaffen auch so gedeutet, daß der Dichter
die verborgenen Fäden bloßlegt, aus denen das Gewebe der mensch-
lichen Handlungen besteht, so daß sich nun das wahre Gesicht der
Dinge enthüllt. Das Drama stellt — um ein Wort von Goethe und
Schiller zu wiederholen — »den nach innen geführten Menschen dar«.
Was ist mit dieser Innerlichkeit gemeint? Wessen werden wir inne?
Diese Frage kann einmal dahin beantwortet werden, daß im Kunst-
werk das Dunkel unserer Seele gelichtet wird, daß wir darin wie in
einem Spiegel in unbekannte Tiefen, die hinter uns liegen, hinab-
blicken. Es ist also zunächst ein psychologisches Interesse, das uns
in Spannung hält. Scholz bemerkt hiezu: »Hier ist wirklicher Kampf,
auch wo er nur Spiel ist. Er hat die Wirklichkeit der Dinge, die nicht
zutage treten können, solange noch in der groben Welt des Faust-
kampfes oder des geschriebenen Rechts gerungen wird, die ganz aus
ihrem Bann gelöst werden, wenn das äußere Bild des Kampfes nur
Schein ist« (N.G. S. 17).
Die Antwort wird in einem mehr ethisch-metaphysischen Sinne
lauten: In den dramatischen Vorgängen offenbaren sich die großen
ewigen Gesetze und Mächte, von denen das menschliche Dasein be-
herrscht wird. »Mächte, die wir kraft unserer menschlichen Veran-
lagung nie als möglich, sondern immer als wirklich, als unausschaltbar
empfinden, wo sie nur genannt werden. Jene Leben zeugenden und
fördernden Mächte, Werte, die in unserem zur Bewußtheit gesteigerten
Fühlen und Wollen herrschen, denen wir Untertan und hingegeben
sind, auf denen wir beruhen, aus denen unsere Kraft und unser Glück
fließt, deren Willenswirklichkeit aus unserem Innern heraus alle andere
Wirklichkeit überwuchert, wie uns unser Wille wirklicher wird als die
Dinge« (N. G. S. 17). Auch die Iliusionsmittel erfüllen nur insoweit
ihren Zweck, als sie von diesem inneren Leben getragen werden.
»Wenn der Dichter für die Handlung seiner Personen eine alte Gasse,
einen Marktplatz, ein städtisches Tor als Prospekte aufstellt, so bleiben
diese Bilder tot, wofern er nicht das Leben einer Stadt, wie fernes
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS. ^^
Geräusch und Rollen, wie Gesetze und Macht, wie Wollen und
Leiden vieler Menschen, in die gemalten Kulissen zu dichten vermag«
(N. G. S. 8).
Nur diese Durchseelung des Scheins, diese Vergeistigung des Stoffes
hebt das Spiel des Dichters über bloße Spielerei, so daß es würdig
wird, eine Angelegenheit für ernste Menschen zu bilden.
Das Illusionsproblem hat eine umfangreiche Literatur hervorgerufen,
aber es ist dabei nicht viel herausgekommen. Dieser Mißerfolg ist
hauptsächlich auf eine falsche Fragestellung zurückzuführen. Man hat
die Illusion in den Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens gerückt,
wohin sie offenbar nicht gehört. Wir suchen in der Kunst nicht
Täuschung, sondern Wahrheit. Alle Illusionen sind nur Mittel, um
uns die Wege zur inneren Wahrheit eines Kunstwerkes zu öffnen.
Und je stärker diese Lebenswahrheit ist, umso schwächer können die
Illusionsmittel sein. Das Grundphänomen der Kunst ist nicht die
ästhetische Illusion, sondern das Leben — und dieses läßt sich nie-
mals vortäuschen. —
Das Drama, von dem wir bisher gehandelt haben, hat nach der
Ansicht von Scholz »für uns heute den Wert einer Urform, von der
die Erkenntnis ausgehen muß«. Es ist zweier Steigerungen fähig:
»es kann zur Komödie und es kann zur Tragödie werden« (G. S. 5),
Wir gehen zunächst auf die Komödie ein.
IIL
Scholz gibt folgende Begriffsbestimmung: »Die Komödie ist eine
Steigerung des Inhalts zu einer in Willkür persönlich schöpferischen
Widerspiegelung des Lebens« (G. S. 5). Er spricht ausdrücklich von
einer »Widerspiegelung«, nicht von einer Nachahmung. Das Spiegel-
bild ist etwas ganz anderes als das, was sich darin spiegelt. Darum
ist auch das Kunstwerk etwas ganz anderes als das sogenannte Leben.
Es ist Neuschöpfung aus dem Geiste, Stoffverwandlung, Übergang in
eine andere Sphäre der Wirklichkeit.
Dieses Schöpfertum muß sich willkürlich, persönlich entfalten.
Anderseits ist es dem Gesetze der Notwendigkeit unterworfen.
Scholz bezeichnet es als Wirkung der Komödie, daß sie »das
Drama zur Freiheit im Geiste führe«. Was wir darunter zu verstehen
haben, hat Schiller einmal dahin formuliert: »Unser Zustand in der
Komödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder tätig noch
leidend, wir schauen an und alles bleibt außer uns, dies ist der Zustand
der Götter, die sich um nichts Menschliches bekümmern, die über allem
frei schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt«
(Deutsche Dramaturgie Bd. II, S. 426). Diese Wirkung aber kann der
78 HEINRICH MERK.
Dichter nur dann erzeugen, wenn sie in ihm bereits als schöpferische
Kraft lebt. Einen solchen ursächlichen Zustand und die aus ihm her-
vorgehende Tätigkeit nennen wir Willkür. Sie ist nichts anderes als die
persönliche Eigenart des Künstlers, die mit dem gegebenen Stoffe frei,
d. h. nach den eigenen, nicht nach den Gesetzen des Stoffes waltet.
Damit hängt der Spielcharakter der Komödie zusammen, der den Schein
unverhüliter und unbekümmerter hervortreten läßt, als in der Tragödie.
Die Notwendigkeit nun, die auch in diesem willkürlichen Schöpfer-
tum zur Geltung kommen muß, besteht darin, daß die persönliche
Eigenart sich wirklich voll entfaltet, daß sie ihre letzten als unüber-
windbar empfundenen Grenzen erreicht; daß in der dramatischen Be-
handlung der Willkür jede Willkür ausgeschaltet, daß der »Wille zum
Zwang« nicht verkümmert wird.
Aus dieser Wesensbestimmung ergeben sich alle anderen Kenn-
zeichen der Dichtungsart. Sie trachtet danach, »sich im höchsten
Intellekt zu verkörpern«; sie ist »breites, behagliches Verweilen, Gegen-
wart; wie denn auch in der Komödie der Monolog zu einer Höhe der
Bühnenwirkung werden kann« (G. S. 5). Aus einer intellektuellen Über-
legenheit ist sie hervorgegangen, nur im höchsten Intellekt kann sie
daher ihren Höhepunkt finden. Das Wesen des Intellekts ist gegen-
warterfüllte Anschauung; also Gegenwart das Wesen der Komödie.
Wir finden daher nicht selten ein sorgloses Ausruhen in den komischen
Situationen; der einzelne Augenblick wird hinausgedehnt, um ihn in
vollen Zügen auszukosten und zu genießen. In der Tragödie wäre
so etwas nicht möglich. Da es sich ferner letzten Endes um einen
schöpferischen Befreiungsakt handelt, in dem die Selbstherrlichkeit des
Dichters ihre eigenen Gesetze durchsetzt, so daß sich die Forderungen
des Stoffes als unverbindliche Scheinforderungen entpuppen, so ist
klar, daß. die Komödie — wie wir bereits angedeutet haben — einen
anderen Grad von >WirklichkeitsiUusion als die Tragödie hat. Die
leichten Gefühle, die die Komödie erzeugt, begnügen und befriedigen
sich an einem bewußteren Schein, als die schweren tragischen Gefühle.
Darauf beruht die Möglichkeit komischer Unmöglichkeiten, die mit
Lachen hingenommen werden und wirken« (G. S. 5 f.). Bei allen diesen
grundlegenden Unterschieden darf aber nicht vergessen werden: ; Das
Letzte, was die Komödie darstellt, ist, in einer anderen geistigen Ver-
fassung gespiegelt, auch der Inhalt der Tragödie: ein Menschliches^
(G. S. 6). Dies führt zur Tragödie.
IV.
Um das Wesen der Tragödie recht zu erfassen, dürfen wir nicht —
wie z. B. Hebbel tat — von einer Weltanschauung ausgehen, aus der
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS. 79
sich das tragische Geschehen entwici<elt, sondern wir müssen sie vom
Drama her zu verstehen suchen. Man neigt nur allzusehr dazu, »die
Tragödie schon im Stoff zu sehen, während sie nur in der Form, im
Drama entsteht« (N. G. S. 301). Scholz definiert sie daher kurz als
eine Steigerung 5 der dramatischen Form zum höchsten Formgehalt«. —
Wenn wir nun bedenken, daß Form nichts anderes ist, als die restlose
Entfaltung ihres Inhalts; wenn wir uns ferner daran erinnern, daß der
Inhalt des Dramas ein Kampf ist, so kann der Sinn der Definition von
Scholz nur der sein: die Tragödie ist eine Steigerung des dramatischen
Kampfes bis zur völligen Auswegslosigkeit. Hier gibt es keine schwan-
kenden Möglichkeiten mehr, sondern nur noch eherne, unerbittliche
Notwendigkeit.
Worin besteht nun diese Auswegslosigkeit? Welcher Weg führt
zu ihr?
Wir können drei Stufen des Tragischen unterscheiden. Nehmen
wir den Fall: Eine Freundschaft wird durch eine Frau, die dazwischen
tritt, zertrümmert. Heiligste Bande lösen sich unter den schmerzlichsten
Erlebnissen, die Freunde treten sich mit der Waffe gegenüber und der
überlebende Sieger nimmt erschüttert von der Geliebten Besitz. — Man
wird hier mit Recht bezweifeln, ob der Zweikampf das letzte Mittel
und der Tod die einzige Lösung ist; aber die meisten Tragödien halten
sich auf dieser ersten Stufe.
Über ihr steht eine zweite, höhere Auffassung. »Überall, wo Freude
und Leid, Glück und Unglück, Jubel und Schmerz, Erfüllung und Ver-
lust in eines geschmiedet sind, aus einer Quelle fließen, unlöslich
organisch verbunden beide hingenommen werden müssen, da entsteht
in uns der Gefühlskonflikt, den das Wort ,tragisch' bezeichnet«
(G. S. lOf.). Ein erlauchtes Beispiel hiefür ist die Tragödie der
Antigone. Indem diese ihren religiösen Pflichten und schwesterlichen
Gefühlen genügt, frevelt sie gegen Kreons Gebot. Ihr höchstes Glück
ist zugleich ihr tiefstes Unglück. In dem Wirbel der Widersprüche,
der sie umkreist, bricht sie ohnmächtig zusammen. Aber auch hier
ist die Notwendigkeit noch keine unbedingte. Der Tod streckt von
draußen seine Hand nach der Heldin aus; innerlich jedoch ist sie
ungebrochen und ungebeugt. Auch dieser typische Fall kann daher
noch nicht die letzte Erfüllung der Forderungen bedeuten, die wir an
die Tragödie stellen. Erst wenn die Vernichtung von innen heraus
wächst, wenn der Kampf nicht mehr nur die äußeren Verhältnisse,
die schließlich immer in gewisser Weise vom Zufall beherrscht sind,
sondern die Seele des Helden zerreißt, erst dann ist jener Grad von
Notwendigkeit erreicht, der zur völligen Auswegslosigkeit führt.
Wir kommen damit zur dritten Stufe: zur Lehre vom sich-selbst-
80 HEINRICH MERK.
setzenden Konflikt. »Zwei Momente kennzeichnen die Antithesen des
sich-selbst-setzenden Konflikts: die innere Nähe zueinander und ihre
Unvereinbarkeit, ihr unlöslicher Zusammenhang in der Vorstellung, in
der sie einander immer erzeugen, und das Beruhen ihrer Verwandt-
schaft in ihrer ewigen Urfeindschaft« (N. G. S. 68). Das Drama wurde
bereits als Gegensatz zur Wirklichkeit, als Vorstellungskunst erkannt.
Nur unter dieser Voraussetzung ist die wahre Tragödie überhaupt
denkbar. Aus dem ursprünglichen Stoff muß alles, was der restlosen
Entfaltung der tragischen Möglichkeiten widerstrebt, herausgelöst und
ausgeschaltet werden. Der Formwille des Dichters erst schafft das
Problem, schafft eine neue Wirklichkeit, die mit der alten vielleicht
noch ein paar Namen oder eine spärliche Handlung gemein hat. Wir
können hier auch von einer dramatischen Stilisierung sprechen. »Alle
Zufallsschranken, die die großen Gegensätze im Leben trennen und
einen Konflikt zwischen ihnen verhindern, räumt der Gedanke hinweg.
Die Dinge, die im Leben durch breiten Raum jeder Art getrennt sind,
die aber in der Seele des die Breite des Lebens überschauenden Dra-
matikers kraft ihrer inneren Verwandtschaft, kraft der ewigen und rätsel-
haften Verwandtschaft, die in jeder Gegensätzlichkeit liegt, in Oedanken-
nähe zusammentreten können und dadurch in Konflikt geraten, erzeugen
das Drama, das dann aus einem für unser Vorstellen nicht mehr aus-
schaltbaren Konflikt hervorgeht« (ebenda). Scholz spricht mit guten
Gründen von einer Wesensnähe der Antithesen, denn die eine ver-
dankt der anderen ihre Entstehung. Und er spricht mit dem gleichen
Rechte von ihrer ewigen Urfeindschaft, denn die eine jagt die andere
aus dem Bewußtsein. Der Wille des Dramatikers aber zwingt sie zu
einem Nebeneinander und zwingt sie so kraft ihrer inneren Unverein-
barkeit zum Konflikt. Der im höchsten Sinne tragische Fall ist etwas
zeitlich Unbedingtes; er darf nicht erst durch eine bestimmte äußere
Situation oder besondere Zeitverhältnisse geschaffen werden. Die Tra-
gödie wird daher von Scholz gelegentlich auch bezeichnet »als ein
zeitloses, rein aus unserem in Antithesen erlebenden Geiste hervor-
gehendes Urphänomen, das aus jeder Art objektiver Wirklichkeit nur
das Gewand für die subjektivsten aller Vorstellungsgeschehnisse nimmt«
(N. G. S. 301). Das Musterbeispiel für diesen Konflikt und zugleich
ein ragendes Denkmal der großen Tragödie ist Schillers »Wallensteinc.
»Macht und Ohnmacht, Herr und Diener sein, bis zur Stärke der Idee
ausgeprägt und in einen Menschen gebunden, führt notwendig einen
Konflikt mit sich, beide Gegensätze zerzerren den Menschen, der in
ihnen auf die Dauer nicht leben kann. Dieser sich-selbst-setzende
Konflikt reiner Gegensätze ist der Konflikt des ,Wallenstein': Der macht-
lose Herr und der übermächtige Diener« (N. G. S. 6Q). Wenn wir
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS. 81
unter der Idee im Drama das schöpferische Prinzip verstehen, aus dem
heraus das Geschehen sich entwickelt, so ist l<lar, daß für Scholz der
sich-selbst-setzende Konflikt mit der dramatischen Idee zusammenfällt.
Wir behandeln hier nicht alle Fragen, die mit diesem Problem in Zu-
sammenhang stehen; nur die Grundfragen sollen uns beschäftigen.
Mit der Auswegslosigkeit allein ist es noch nicht getan, denn diese
könnte an sich auch komische Wirkungen hervorbringen. Darum ist
es wichtig, die Bedingungen zu kennen, die den Konflikt zum tragischen
Konflikt machen. »Eine Tragödie« — heißt es in dem Hebbel- Essay
(H. 43) — »kann nur da entstehen, wo tief berechtigte Dinge, also
letzte ethische Werte, in Gegensatz geraten: nur in der Region des
Allgemein-Menschlichen. Denn nur die Mächte, die ihr Recht dort
beweisen können, sind als berechtigt im höchsten Sinn — wie es die
Tragödie erfordert — anzuerkennen.« Von diesem Standpunkt aus
kommt Scholz zur Ablehnung der »bürgerlichen Tragödie« : Ihr Wesen
bestehe darin, daß ihre Konflikte einzig und allein in der Welt des
Bürgerlichen möglich sind, daß sie nicht allgemein-menschliche Probleme,
sondern nur »Fälle« darstellen (vgl. H. S. 42 ff.). Daß Scholz das All-
gemein-Menschliche so entschieden in den Mittelpunkt rückt, liegt
hauptsächlich darin, daß dieses in seiner höchsten Ausprägung das
allein Wertvolle darstellt. Wir können daher auch sagen: Der tragische
Konflikt ist an die Entfaltung des Wertvollen im Menschen gebunden.
Damit kommen wir zur letzten grundlegenden Bestimmung des Tragi-
schen. »Die seltsame, schicksalsvoll-ursächliche Zusammenschweißung
eines Wertes und eines Unterganges ist das unbedingte Erfordernis
der Tragödie« (H. S. 40). Scholz verlangt schlechthin, »daß ein wert-
voller Mensch gerade in seinem Werte Grund und Anlaß seines Unter-
ganges trägt«. »Allein wertvolle Menschen können in die großen
Konflikte geraten. Und erst in den großen Konflikten entsteht und
bewährt sich ihr Wert. Hier haben wir das typische Epigramm«
(G. S. 11). Scholz bewegt sich mit diesen Gedanken in den Bahnen
idealistischer Denker, die es als ein Vorrecht großer Seelen betrachten,
schuldig zu werden. Nur der unbedeutende Mensch ist nach dieser
Anschauung vor solchen Konflikten geschützt. Hier ist vielleicht der
Punkt, wo die Ableitung des Tragischen aus dem Dramatischen nicht
mehr restlos gelingt, wo die großen Weltanschauungsfragen in den
Umkreis irdischer Dinge und Vorgänge hereinragen.
V.
Die Technik des Dramas, der wir uns in diesem Schlußabschnitt
zuwenden, hat die Aufgabe: »die volle Erfüllung aller unabweisbaren
Forderungen, die der Stoff stellt, zu ermöglichen« (G. S. 17). Die erste
ZdtKhr. f. Ästhetik u. alle. Kunstwisjenschaft. XIV. 6
82 HEINRICH MERK.
dieser Forderungen lautet: Am Anfang ist die Situation. — Die Situa-
tion fordert die Ciiaralttere zur Willensbetätigung heraus und umschreibt
das Gebiet ihres Handelns, sie ist das Gegebene, die Voraussetzung,
für die der Charakter des Möglichen und nicht-ailzu-Entlegenen genügt«
(G. S. 3). Scholz bezeichnet es als einen »Irrtum, anzunehmen, die
Handlung eines Dramas entwickle sich aus dem Charakter des Helden«
(O. S. 4). Sobald eine Situation da ist, führt sie ein selbständiges Dasein,
und der Held des Dramas hat sich, selbst wenn er sie geschaffen
haben sollte, mit ihr auseinanderzusetzen. Beide zusammen bilden den
Ausgangspunkt, die Aufgabestellung. »Ein Schicksal, weiches das
Letzte aus einem Charakter herausreißt; ein Charakter, welcher not-
wendig Schicksal auf sich zieht. Ein Schicksal und ein Charakter, die
aneinander erst sichtbar werden, die voneinander nicht zu trennen sind
(N. O. S. 28). Auch diese Aufgabestellung wird unter die Perspektive«
der Notwendigkeit genommen. »Man lehnt sehr zufällig und willkür-
lich gestellte Aufgabjen ab, als ohne Interesse bei ihrer Seltenheit und
Vereinzelung. Man verlangt eine typische oder wesentliche Aufgabe-
stellung. Sie ist die Grundlage mehrerer großen Dramen, bei denen
ein Gefühl von Notwendigkeit erwacht, weil sie ständigen, sich immer
wiederholenden Problemen nachgebildet sind« (N. G. S. 67). Notwen-
digkeit heißt danach hier nichts anderes als: Probleme aufstellen, in
denen sich das Leben eines Individuums, einer Zeit, zur höchsten
Fülle steigert; heißt: Symbole schaffen. »Ein einmaliges Besonderes
drückt das sich ewig Wiederholende, Allgemeine — nur nach irgend-
einer seiner wesentlichen Seiten verstärkt und deutlicher gemacht —
aus. Es wird ein Epigramm auf dieses Allgemeine« (N. O. S. 212).
Hier beginnt bereits der Streit der Meinungen, den keine Theorie und
Dramaturgie aus der Welt schaffen wird. Je tiefer ein Dichter seine
Probleme sucht, umso schwerer wird es sein, ihm zu folgen. Hebbels
dramatische Ideen galten bei seinen Zeitgenossen für erklügelt. Das
Typische darf eben mit dem Landläufigen nicht verwechselt werden —
man würde damit der künstlerischen Eigenart nicht gerecht.
Die Aufgabestellung ist von der sogenannten Exposition wohl
zu unterscheiden; sie ist mehr als diese, sie umfaßt im Keime das
ganze, noch unausgeführte Drama. Die Exposition hingegen enthält
nur die Summe der zeitlichen, örtlichen und persönlichen Verhältnisse,
unter denen die dramatische Handlung einsetzt und sich entwickelt.
Sie ist also lediglich eine technische Frage. Die Exposition, lehrt
Scholz, teilt sich: >sie geht in den starken Mittelstrom der Handlung
über, aber sie löst sich nicht ganz in ihm auf; es geht auch ein Blei-
bendes (oder ein sich Entwickelndes) aus ihr hervor, das Expositions-
charakter, d. h. aufgabestellenden Charakter behält, das die Handlung
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS. 83
umschließt und immer wieder bedingt. Fast überall läßt sich die feine
Grenze zwischen dem eigentlichen, körperhaften, stark erlebten Drama
und der als gegeben hingenommenen Forlführung der Exposition, der
Aufgabe auffinden« (O. S. 18). Die Exposition ist der Hintergrund
des dramatischen Geschehens, der größere Zusammenhang, in den
dieses als Teil des Ganzen hineinwächst. Ein Werk, dessen Elemente
sich nicht in einer höheren Einheit zusammenfinden, ist nicht lebens-
fähig, ist mit den Kennzeichen des Zerfalls behaftet.
Im Dienste der Einheit des Dramas steht vor allem die berühmte
Lehre von den drei Einheiten. Sie wird zu den Grundproblemen der
Dramaturgie gerechnet — und teilweise mit Recht. Aber sie wird
insofern doch zu hoch eingeschätzt, als man in ihr eine Einsicht in
das Wesen des Dramas zu besitzen glaubte. Das gibt sie uns zweifellos
nicht; sie gehört nur zur Technik. Scholz nimmt zu diesem Problem
in folgender Weise Stellung: »In den alten umstrittenen Einheiten kann
ich nichts anderes sehen, als ein Verlangen nach deutlich zusammen-
hängender Handlung ohne spannung-zerreißende epische Unterbrechung.
In diesem Sinne haben sie hohe Berechtigung.« Freilich wird auch
betont, daß durch die Einheit der Handlung die Einheit von Ort und
Zeit ersetzt werden kann. Das hängt aber ganz allein von der Kunst
des Dichters ab. Wenn die Handlung nach einem Vorhangfall nicht
unmittelbar an das Vorangegangene anknüpft, darf nur ein Stück selbst-
verständlicher Entwicklung überschlagen werden, die der Zuschauer
schon kommen sah, ehe der Vorhang fiel, in die sich die neue Situation
sofort, nach wenigen Worten, deutlich einrichtet« (G. S. 19). Die Folge
aller Erzählungen, Schilderungen und Berichte ist ein Loslassen der
dramatischen Spannung, die »der Zuschauer neu knüpfen muß: an
solchen Stellen wird stets der Gewinn der vorangegangenen Steige-
rungen verloren« (ebenda). Diese Spannungslösung ist auf eine Tat-
sache zurückzuführen, die wir bereits kennen: Am dramatischen Ge-
schehen nehmen wir unmittelbar teil; bei der Erzählung aber hören
wir bloß zu. Damit sind natürlich nicht alle epischen Elemente aus
dem Drama verbannt; sondern nur solche, wodurch Lücken ergänzt
werden sollen.
Die Lehre von der Einheit der Handlung erfordert noch eine
gesonderte Betrachtung. Dieses Prinzip sagt nicht, daß es im Drama
nur eine einzige Handlung geben dürfe. In der Tragödie, die die
Gegensätze braucht, wird es meist ohne Mehrheit von Handlungen
nicht abgehen. Die ^Einheit« bekommt dann den Sinn von -Einheit-
lichkeit«. In dieser Bedeutung wird sie durch den Begriff der Not-
wendigkeit wesentlich ergänzt. Die wichtigste Forderung ist dabei,
»daß die dargestellten Vorgänge einander deutlich und ausreichend
84 HEINRICH MERK.
bedingen, daß das Gefühl der Lückenlosigkeit dieses Sichbedingens
sich bis zur Einsicht in sie steigert« (N. O. S. 66). Scholz bezeich-
net dies auch als »Notwendigl<eit des Ablaufs«. Die Betrachtung
dieses Problems greift bereits über in das Gebiet der dramatischen
Kausalität. Von einer Kausalität spricht man nur, wo es Veränderungen
gibt. Jede Veränderung aber, die Ausdruck einer Willenstätigkeit ist,
nennt man Handlung. Die dramatische Kausalität setzt daher den
Begriff der Handlung voraus.
Man unterscheidet in herkömmlicher Weise zwischen einer stei-
genden und sinkenden Handlung. Die sinkende Handlung ist die »nur
aus sich selbst weiterlaufende, keine Expositionsmomente mehr ent-
haltende, gewissermaßen in den Flammen der Konsequenzen auf ihrem
Wege bis zum Ende des Dramas die Exposition verbrennende Hand-
lungf. »Wie die Schönheit der sinkenden Handlung zweifellos Not-
wendigkeit ist, so ist die Schönheit der steigenden Handlung möglichst
früh vorhandene und möglichst früh sichtbare Einheit . . . Diese Einheit
und Ordnung ist gewissermaßen die unumgängliche Vorstufe jener
Konzequenz, sie ist die beginnende Konzentration auf den ringsum be-
dingten Zwangsschlußlauf der Handlung. Nur wenn von der Mitte
des Stückes aus alles Weitere lediglich Folgerung ist, nirgends mehr
der Erklärung bedarf, tritt das hochgesteigerte dramatische Miterleben
des Zuschauers, die Wirkung ein« (H. S. 23). Es ist das Grund-
gebrechen vieler Werke, daß die Gegensätze zu spät in jene unverein-
bare Einheit zusammengepreßt werden, aus der die großen Katastrophen
hervorgehen. Die Vorbereitung, die Schaffung des Konflikts nimmt
zu viel Raum in Anspruch, so daß für das eigentliche Drama nichts
mehr übrig bleibt; es erscheint meist nur noch als ein dürftiger Anhang
zu einer großen, gegenstandslosen Aufmachung. Sobald aber jene
Einheit hergestellt ist, darf kein neues Moment mehr entscheidend in
die Ereignisse eingreifen. Dadurch würde das Gewebe wieder zerstört
und müßte neu geflochten werden. Auch dagegen wird nicht selten
gefehlt. Die Handlung stockt, die Bewegungskraft, die in der vor-
handenen Einheit wirkt, ist oft nicht stark genug, um das Ende herbei-
führen zu können. Neue Kräfte müssen einsetzen, damit der tote Punkt
überwunden wird. Oft aber erschöpft sich das schöpferische Unver-
mögen auch in Gefühlsaussprachen und lyrischen Stimmungsbildern.
— Die lückenlose Führung der Handlung, von der wir ausgegangen
sind, ist kein besonderes Kennzeichen des Dramas; auch die epische
Darstellung fordert sie. Der Unterschied besteht nur in der Art und
Weise, wie diese Lückenlosigkeit erreicht wird. Wilhelm v. Humboldt
sieht — von Goethe und Schiller kommend — im Drama eine Linie,
während das Epos den Eindruck des Flächenhaften hervorrufe. Von
I
I
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS. 85
einem anderen Standpunkte aus müssen wir diesen Satz in sein völliges
Gegenteil verkehren: Das Auge, das sich von der Gegenwart der Ver-
gangenheit zuwendet, erschaut alles als eine Linie, in der sich die
Ereignisse in einem Nacheinander bewegen, Scholz spricht daher bei
der epischen Kausalität schlechthin von einer »Kausalität in einer Linie«
Der Dramatiker aber, der in der Gegenwart lebt, sieht, wie die Fäden
von dort und hier zusammen laufen, wie sich von allen Seiten Gegen-
sätze entwickeln und sich den Raum streitig machen. »Die eigentliche
dramatische Kausalität zeigt das Werden und Wachsen eines Gescheh-
nisses aus mehreren, einander teilweise oder gänzlich widerstrebenden,
sich begegnenden oder auseinandergehenden Willen, als ein,' so wie
es wird, Ungewolltes, Naturnotwendiges . . . Vom bühnentechnischen
Standpunkt aus gesehen, ist jede andere als eine im Sinne des Epos
unberechenbare Handlung langweilig und ermüdend. Denn nicht das
gut Vorbereitete überhaupt, sondern die gut vorbereitete Überraschung
ist dramatisch« (H. S. 6Q f.). Damit haben wir unsere frühere Unter-
scheidung zwischen Epos und Drama von der technischen Seite
her nicht unwesentlich ergänzt; zugleich werden wir auf das wich-
tigste Mittel der Kausalität hingewiesen: auf die Motivation. Hebbel
bemerkt: »Das Notwendig-bringen, aber in der Form des Zufälligen:
das ist das ganze Geheimnis des dramatischen Stils.« Diese Idee
gehört auch für Scholz zu den Grundpfeilern des Dramas. »Man hat
,dramatisch' definiert als gut vorbereitet. Schon Lessing hat die Über-
raschung im Drama bekämpft. Die psychologisch schärfste Analyse
findet aber in allen dramatisch wirkenden Momenten einen gewissen
Gehalt an Überraschung« (Die Schaubühne 1905, S. 115). Die Über-
einstimmung mit Hebbel wird noch deutlicher, wenn wir bedenken,
daß Überraschung letzten Endes nichts anderes ist als das Erlebnis
eines Zufälligen. So können wir auch hier beobachten, wie Zufall und
Notwendigkeit überall ineinander überfließen. Scholz lehnt die Psycho-
logie als Grundlage des Dramas ab. »Psychologische Richtigkeit eines
Motivs ist für die Bühnenwirkung zunächst gänzlich belanglos; sie
erzeugt im Zuschauer kaum mehr als ein halb wissenschaftliches Bei-
stimmen, eine bejahende Kritik der Erfahrung« (G. S. 25). »Alles Psycho-
logische ist nur wie eine Farbe an einem Bau. Der Bau muß fest
und sicher stehen auch ohne diese Farbe« (G. S. 23). Am schärfsten
wird diese antipsychologistische Anschauung ausgeprägt in dem Apho-
rismus: »Psychologisch motivieren und dramatisch motivieren sind
Gegensätze« (Schaubühne 1905, S. 115). Der Sinn dieser Worte ist
folgender: Bei der psychologischen Motivierung gelangen wir zur
Erkenntnis: es mußte so kommen und daher überrascht es uns nicht.
Bei der dramatischen Motivierung aber sagen wir: es mußte so kom-
86 HEINRICH MERK.
men und trotzdem überrascht es uns. Die hier dargelegte Lehre hat
also mit den Gedanken, die ihr Joh. Volkelt in seiner »Ästhetik«
(III. 124) unterlegt, nichts zu tun.
Es ist nur eine letzte Konsequenz seiner Orundanschauungen,
wenn Scholz erklärt: »Alles ist im Drama auch ohne ausdrückliche
Motivierung und Vorbereitung möglich, was wie Schicksal empfunden
wird, was den sonderbar packenden Charakter bestimmter persönlicher
Züge im unbestimmten unpersönlichen Kräftechaos hat — wie sich
für Augenblicke gestaltende Umrisse eines Kopfes, einer- Hand im
treibenden Gewölk. Der Dramatiker wird ein schlechter Dichter sein,
wenn das Schicksal nicht mitten in jedem seiner Werke steht«
(O. S. 20). Für die technische Behandlung des Motivs ist besonders die
Tatsache der psychischen Einreihung oder Ausgleichung bedeutsam.
Die Seele nimmt die empfangenen Eindrücke nicht einfach passiv hin,
sondern sucht sie einzugliedern in den Kreis der Dinge, die sie be-
beschäftigen. In jeder Erfahrung liegt neben dem rezeptiven auch ein
aktives Moment, eben diese Durchdringung des einzelnen Eindrucks
mit den Gesetzen der individuellen Eigenart und Beschaffenheit. >Die
Seele vollzieht nun diese Ausgleichung völlig im Dunkeln, ohne daß
etwas ins klare Bewußtsein tritt, ja ohne daß der Gedanke das zu
Tuende, nachdem es einmal in die Seele hineingeglitten ist, mehr zu
berühren braucht.« »Für das Drama bedeutet diese seelische Tatsache:
daß aus Gründen psychologischer Richtigkeit jedes neue Motiv dunkle
Zeit in den Seelen der Gestalten braucht, um sich in ihren Ideenkreis
einzureihen — und ebenso, aus Gründen der Wirkung, im Zuschauer
einmal untersinken muß, um von ihm angeglichen zu werden. Auch
das heißt: Vorbereitung im Drama« (N. G. S. 2312).
Wir sehen hier an einem treffenden Beispiel, wie Scholz ständig
auf die Grundtatsachen des Seelenlebens zurückgreift, wie er durch
wissenschaftliche Erkenntnisse das Schaffen des Künstlers zu befruchten
sucht. Der schöpferische Genius braucht zwar diese Hilfsmittel nicht,
aber auch er kann sie brauchen, wenn er sie auch nicht immer ge-
hrauchen kann. — Wir haben bisher das Motiv hauptsächlich als
psychische Tatsache betrachtet; es ist aber noch eine andere, und
zwar die eigentlich dramaturgische Betrachtungsweise möglich, ob-
wohl auch sie letzten Endes psychologisch fundiert ist. Die Be-
deutung des Motivs besteht — wie schon der Name sagt — darin,
das menschliche Handeln vorwärts zu bewegen und so die Handlung
zum Konflikt zu steigern. Motiv und Konflikt gehören zusammen.
Es ist nun wichtig, das innere Verhältnis zwischen diesen beiden
Elementen des Dramas zu erfassen. Was ist ursprünglicher: das Motiv
oder der Konflikt? Vom Zuschauer aus gesehen, ist es das Motiv,
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS. 87
vom Dramaliker aus der Konflikt. In seinen früheren Schriften formu-
lierte Scholz seine Anschauung mehr vom Zuschauer aus. »Es gilt,
für jedes Motiv den wesentlichen Konflikt zu finden, der es am klarsten
ausdrückt, der am wenigsten fremder Zutaten bedarf, um zu entstehen«
(H. S. 61). Später änderte er seinen Standpunkt, womit natürlich nicht
gesagt ist, daß er auch seine Auffassung geändert hätte. Er geht nun-
mehr von der Mitte des Dramas, der Idee, aus, um die Aufgabe der
Motive zu bestimmen. Er weist dabei vor allem auf die Bedeutung
des sich-selbst-setzenden Konfliktes hin, der ja schließlich das Wesen
der dramaturgischen Idee ausmacht. Er stellt hier die Forderung auf:
daß alle wichtigen Momente, die den Ablauf bedingen, aus den beiden
Orundgegensätzen des sich-selbst-setzenden Konfliktes hervorgehen,
daß sie diese Antithese spiegeln müssen« (N. O. S. 70). Dieses Postulat
wird verständlich, wenn man bedenkt, daß die Idee kein abstraktes,
theistisch-abgeschiedenes Dasein führt, sondern als die Seele des Kunst-
werkes in dem voll entfalteten Drama in die Erscheinung tritt. Ein
Motiv, das nicht aus diesem schöpferischen Ursprung hervorgeht,
gehört daher nicht in das Drama hinein; es ist ein Fremdkörper, der
dessen organische Einheit zerstört. »Der Konflikt steht so sehr im
Herzen des Dramas, daß das ganze Werk, soweit es von Blut durch-
pulst wird, von ihm erfüllt ist . . . daß ein neues Moment der Hand-
lung immer dann überzeugt und voll begründet erscheint, wenn es
sich auf eine der beiden Gegenmächte des Grundkonfliktes stützt«
(N. G. S. 19). Begriff und Eigenart des dramatischen Konflikts selbst,
seine besonderen Merkmale usw. wurden bereits ausführlich behandelt.
Hier handelt es sich nur noch um einzelne Bestimmungen, die weniger
das Wesen als die Gestaltung betreffen; um Probleme also, die man
mit Recht zur Technik des Dramas rechnet. »Der Konflikt bedingt
im Helden nicht ein langes, bewußtes Schwanken, sondern setzt nur
ein schweres, von den Hemmungen des Zwiespalts beengtes Handeln
voraus. Das Zaudern des tragischen Helden ist vielleicht nicht einmal
ein Zweifeln, sondern nur ein in Qualen vor sich gehendes Wachsen
des siegenden Willens über den unterdrückten« (N. G. S. IQ). Der
Konflikt ist kein Zustand zaudernder Überlegung, mag diese auch noch
so schmerzlich sein, sondern Kraftentfaltung und -entladung, die durch
die »Wucht der in ihr gebundenen Gegensätze« (N. G. S. 225) für das
Drama fruchtbar wird. »In der großen Leidenschaft wird das Handeln
des Menschen schicksalhaft. Es wird von den aufgeregten Urkräften
getragen wie vom Sturm. Der Wille wird ein dahingerissenes Ge-
schehen« (N. G. S. 223). Hier ist das höchste Ziel dichterischer Wahr-
heit erreicht. Der Zuschauer fragt nicht mehr nach der Möglichkeif
Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit der Handlung. »Die Illusion
88 HEINRICH MERK.
ist ein Erzeugnis seiner Erregung« (N. G. S. 21 Q). Als eine der tiefsten
dicilterischen Wirkungen wird hervorgehoben, wenn »der Held selbst
an das schlummernde Verderben rührt, so daß es erwacht und über
ihn hereinbricht« (N. G. S. 226). Hier ist eben mehr als ein mensch-
liches Handeln; hier ahnen wir ein Schicksal. Jeder große Konflikt
ist Schicksalsfügung, jede große Tragödie Schicksalstragödie. — Vom
Schluß des Dramas verlangt Scholz, daß er wirklich ein Abschluß sei.
Darum lehnt er z. B. den Ahasverstoff als ungeeignet für das Drama
ab. Diese Sage verliere sich im Endlosen; was dargestellt werden
könne, sei demgegenüber nur eine unscheinbare Episode (vgl. G. S. Q4).
Beachtenswert ist ferner die Bemerkung, daß der Selbstmord als tra-
gischer Abschluß verfehlt sei. »Ihm mangelt, da der Selbsterhaltungs-
trieb als stärkste Lebensmacht nur sehr bedingt künstlerisch als über-
wunden dargestellt werden kann, fast immer die überzeugende innere
Notwendigkeit. Die Willenskunst vermag die Aufhebung des Lebens-
willens mit ihren Mitteln schlechthin nicht zu geben und kann sie nur
beiläufig darstellen, indem sie den Willen auf etwas richtet, dem diese
Aufhebung des Selbst notwendiges Mittel ist: das Sich-opfern« (H. S. 40).
Wir haben uns in dieser Übersicht hauptsächlich darauf beschränkt,
die grundsätzlichen Gedanken aus den Schriften von Scholz hervor-
zuheben und in einen systematischen Zusammenhang zu bringen.
Aufgabe des Kritikers wird es sein, den Wert und die Berechtigung
solcher Konstruktionen zu prüfen. Er wird vor allem die Frage nach
der Bedeutung dieser Theorien für das künstlerische Schaffen und
ästhetische Erkennen untersuchen. Die wissenschaftliche Forschung
betätigt sich meist in der Sphäre allgemeiner Grundlegungen; sie bildet
die wichtigsten Elementarbegriffe, befaßt sich mit dem Wesen der
ästhetischen Erkenntnis (Intuition, Einfühlung), stellt Formalprinzipien
auf usw. So unerläßlich diese Dinge an sich auch sind, bei der Beur-
teilung des einzelnen Werkes leisten sie nur geringe Dienste. Die
Ästhetik ist eben zum größten Teil Prinzipienwissenschaft in dem
Sinne, in dem Wundt diesen Begriff nimmt (Wundt, Naturwissenschaft
und Psychologie S. IIQ). Wie nun der Naturforscher aus einem metho-
dologischen Prinzip keine naturwissenschaftlichen Entdeckungen ab-
leiten kann, ebensowenig kann der Kritiker den Wert eines Dramas
feststellen. Schließlich ist das auch gar nicht der Zweck von Prin-
zipien. Sie sollen nicht Erkenntnis unmittelbar hervorbringen, sondern
die Bedingungen ermitteln, unter denen Erkenntnis möglich ist. Eine
Ästhetik, die sich damit zufrieden gäbe, würde gar bald die Fühlung
mit der Kunst verlieren; sie würde sich selbst zur Unfruchtbarkeit
verurteilen. Es wird deshalb immer ihre vornehmste Aufgabe sein.
WILHELM VON SCHOLZ ALS THEORETIKER DES DRAMAS.
89
nicht allgemeine Regeln und Normen zu abstrahieren, sondern die
Fülle der Phänomene selbst zu erfassen und zu durchdringen. Wir
haben umfassende, auf gründlicher Sachkenntnis beruhende Werke —
wie z. B. die »Ästhetik des Tragischen« von Joh. Volkelt — , die dieser
Forderung zu entsprechen suchen; aber sie begnügen sich gewöhnlich
damit, die Erscheinungsformen lediglich zu klassifizieren, ihre Arten
und Gattungen zu bestimmen. Damit ist natürlich die Erkenntnis
nicht wesentlich gefördert, denn die Ästhetik hat bekanntlich andere
Ziele als die Botanik. Wie die moderne Wissenschaft der genetischen
Definition den Vorrang vor der topischen (klassifizierenden) einge-
räumt hat, so wird sich auch die ästhetische Arbeit mehr als bisher
einer genetischen Betrachtungsweise zuwenden. Das Kunstverständ-
nis wurde von manchen Forschern (Theod. Lipps, Georg Simmel) als
bewußte Neuschöpfung eines Kunstwerkes bezeichnet. In diese Rich-
tung weisen gegenwärtig die wertvollsten Untersuchungen, zu denen
der Kritiker wohl auch die dramaturgischen Betrachtungen von Scholz
zählen wird.
Bemerkungen.
Die impressionistische Methode.
Von
Georg Marzynski.
Die Frage nach der impressionistischen Methode gabelt sich in zwei Fragen:
Wie sieht der Impressionist die Weit, und wie gibt er die gesehene Welt wieder?
Die impressionistische Technik des Sehens läßt sich in eine Folge von Re-
duktionen zerlegen. Der Rohstoff ist die Welt des gewöhnlichen Sehens, die durch
den Reduktionsvorgang eine sich steigernde Einengung erleidet. Die erste Rück-
führung macht aus dieser dreidimensionalen Welt eine zweidimensionale. Sie ist
die älteste und gebräuchlichste aller Reduktionen, jede nachahmende Malerei mußte
sie vornehmen, da sie eben nur flächenhaft abbilden kann. Physiologisch ausge-
drückt heißt das: Der Maler sieht die Welt so, wie sie bei Ruhigstellung der inneren
und äußeren Augenmuskeln erscheint. Das im Sehvorgang allmählich eintretende
Sehen wird auf das gleichzeitige Sehen reduziert.
Die zweite Reduktion unterdrückt die sogenannten Gedächtnisfarben. Ein
»weißes« Blatt Papier wird in jeder Beleuchtung und trotz aller farbigen Reflexe,
die auf ihm liegen, als weiß aufgefaßt, während es vielleicht gerade grünlich oder
violett aussieht. So hat jeder Gegenstand seine bestimmte Eigenfarbe, das Blatt ist
grün, die Zigarre braun, die kindliche Haut rosig, trotzdem sie in Wirklichkeit je
nach der Beleuchtung und je nach den Reflexen, die von ihrer farbigen Umgebung
her auf sie fallen, jedesmal verschieden aussehen. Grün, braun, rosig sind die »Ge-
dächtnisfarben<c von Blatt, Zigarre, kindlicher Haut. Die Gedächtnisfarbe eines Gegen.
Standes ist gleich der Farbe, die er bei zerstreutem Sonnenlicht unter Fernhaltung
aller Reflexe annehmen würde. Ihre Entstehung wird verständlich, wenn man daran
denkt, daß ein weißes Papier und ein rotes zwar unter jeder Beleuchtung anders,
aber jedesmal sozusagen im gleichen farbigen Abstand erscheinen. Um die Aus-
sage zu machen: »dieses Papier ist weiß«, muß man erst die Fähigkeit erlangt haben,
dem jetzt vielleicht gerade grünlichen Papier anzusehen, wie es bei Normal-
beleuchtung aussehen würde, man muß gelernt haben, die Eigenschaftsfarbe von
der augenblicklichen Beleuchtung abzutrennen, sie unter der Beleuchtung zu er-
kennen. Die Gedächtnisfarbe ist also ein Erzeugnis der Erfahrung; ein eben
operierter Blindgeborener sieht das Papier nicht weiß, sondern in der Farbe, die
es gerade jetzt wirklich hat. Die zweite Reduktion nimmt der Erscheinung alle
assimilitativen Bestandteile, die aus der Erfahrung stammen, sie liefert die augen-
blicklich vorhandene farbige Erscheinung der Dinge.
Diese Abscheidung der assimilitativen Bestandteile ist nicht erst vom Impressio-
nismus geleistet worden. Er hat in dieser Hinsicht eine Menge von »Vorläufern«.
Was er für sich in Anspruch nehmen kann, ist allein die größere Folgerichtigkeit
Nur der Impressionismus hat sich restlos von den Gedächtnisfarben freigemacht.
Die dritte Reduktion führt sämtliche Erscheinungsweisen der Farben in »Flächen-
BEMERKUNGEN.
91
farbenc: über. Es ist gezeigt worden'), daß man eine Farbe noch nicht eindeutig
beschreibt, wenn man ihre Helligkeit, ihre Sättigung und ihre Farbqualität festlegt.
Es gibt von einer ganz bestimmten Farbabstufung, ganz bestimmter Helligkeit und
Sättigung sehr verschiedene »Erscheinungsweisen^. Eine Farbe sieht anders aus,
wenn sie als Farbe an einem Gegenstand haftet, anders, wenn sie als Glanz auf
einem Gegenstand liegt. All die verschiedenen Erscheinungsweisen, und die auf-
gezählten sind nicht die einzigen, haben aber die Eigentümlichkeit, daß sie sich
auf eine Farbenart, die als »Flächenfarbe« bezeichnet wird, reduzieren lassen. Die
bekanntesten Beispiele von Flächenfarben sind das Blau des Himmels und das sub-
jektive Augengrau. Diese Farben sind im Vergleich mit den Farben auf der Ober-
fläche eines Gegenstandes locker, unkörperlich, schwebend. Aber jede Oberflächen-
farbe kann man in die entsprechende flächenfarbige Erscheinungsweise überführen,
und zwar wird dies experimentell dadurch bewirkt, daß man vor einen farbigen
Gegenstand einen Schirm mit kleiner Öffnung hält, der den Gegenstand verdeckt
und dadurch die gegenständliche Auffassung verhindert. Beim Blick durch einen
solchen Schirm verwandelt sich die auf dem Gegenstand haftende, feste Oberflächen-
farbe ganz deutlich in die lockere, unkörperliche Flächenfarbe des gleichen Farbtons.
Ganz ebenso kann man die Farbe des Feuers oder einen Glanz, überhaupt jede
Farbmodifikation, in die entsprechende Flächenfarbe überführen. Beim Blick durch
den Schirm verliert die Feuerfarbe ihre ^.Feurigkeit«, der Seidenreflex seinen Glanz,
imd gewinnt dafür die Wesensart einer Flächenfarbe. iVlan muß nur das Loch im
Schirm so klein wählen, daß die betrachteten Farberscheinungen nicht als Glanz
oder als Feuer erkannt werden können. Durch die Rückführung werden die Farben
vereinheitlicht, sie werden alle zu Farben der gleichen Erscheinungsweise. Dazu
kommt noch ein zweiter Umstand: Bei der Reduktion auf die Flächenfarbe geben
die Farben ihre besondere räumliche Stelle auf und rücken alle, wenigstens ungefähr,
in eine Ebene, die der Stirn parallel läuft; das heißt also: diese Reduktion führt
die Welt mit einem Schlage in ein Bild über. Sieht man völlig von jeder gegen-
ständlichen Auffassung ab, so verwandelt sich die farbbehaftete, farbig durchleuchtete,
dreidimensionale Welt der Qegenstäde in eine Fläche, die erfüllt ist mit schimmernden,
durchsichtigen Farbflecken.
Damit ist das Wesen der impressionistischen Sehtechnik aufgedeckt; denn sie
ist nichts anderes als Reduktion auf die Flächenfarben. Die Impressionisten ver-
wenden freilich keinen Schirm ; aber worauf es ankommt, ist allein die Unterdrückung
der gegenständlichen Auffassung. Und diese leisten die Impressionisten einerseits
durch eine bestimmte Art des »flüchtigen Hinsehens«, und andererseits durch eine
besondere Einstellung, nämlich durch Sammlung der Aufmerksamkeit auf die bloße
Farbigkeit der Erscheinung, ein seltsam zurückhaltendes Sehen, das sozusagen an
der farbigen Oberfläche als bloßer farbiger Fläche haften bleibt und sie von den
Gegenständen ablöst. Das Sehen ist eben kein Augenblicksvorgang, es ist ein Ablauf,
dessen erste Stufe der impressionistisch Sehende festhält. Der Impressionismus gibt
das, was von dem Ablauf noch nicht angerührt, oder wie er es empfindet, ver-
fälscht ist.
Schon bei der ersten Reduktion wurde darauf hingewiesen, daß sie das Nach-
einander-Sehen auf das Simultan-Sehen einschränkt. Danach könnte es scheinen,
als sei die Reduktion auf die Fläche möglich, ohne daß die Erscheinungsweisen der
Farben vereinheitlicht wurden. In Wahrheit ist das aber nicht möglich. Geschieht
die Rückführung auf die Fläche im wirklichen Sehakt, so verwandeln sich jedesmal
') Siehe D. Katz, »Die Erscheinungsweisen der Farben«. J. A. Barth, Leipzig 1911.
92 BEMERKUNGEN.
sämtliche Erscheinungsweisen in Fiächenfarben. Früher hat man das nicht be-
obachtet, weil man die ReduI<tion nicht im wirl<iichen Sehen, sondern mit Hilfe der
perspektivischen Projektion, einer Art von angewandter Geometrie, durchführte. Auch
die Unterdrückung der Gedächtnisfarbe dürfte als vereinzelte Reduktion nicht voll-
ziehbar sein. Die Rückführung auf die Flächenfarbe ist eben keine letzte Steigerung
der früheren Reduktionen, die ihnen noch irgend etwas hinzufügt, sie ist vielmehr
die einzige, wirklich ausführbare Reduktion, und die anderen sind unvollkommene
Ansätze zu ihr.
Die Methode des flüchtigen Sehens, die dazu bestimmt ist, die gegenständliche
Auffassung zu verhindern, hat eigentümliche Nebenwirkungen '). Auf ihr beruht die
»Skizzenhaftigkeit« der impressionistischen Bilder, die engherzige Kritiker gerne als
tadelnswerte Faulheit der Maler hinstellten. Wichtiger aber ist etwas anderes. Sehr
genaue Versuche haben ergeben, daß bei flüchtigem Blick der leere Raum zwischen
den Gegenständen sich mit einer eigentümlichen Farbigkeit erfüllt, die unter dem
ruhigen, fixierenden Blick wieder verschwindet. Man erinnert sich, welchen Wert
die Impressionisten darauf legten, den gegenstandsleeren Raum, die Luft um die
Gegenstände herum, zu malen. Nur für den impressionistisch, also »flüchtig« Sehenden
füllt sich die Luft mit Farbe und wird dadurch malbar; deshalb hat man früher die
Luft nicht darstellen können. Nebenbei gesagt, dies ist bemerkenswert: Der flüchtige
Blick sieht mehr, als der genaue Blick. Hier zeigt sich eine Gelegenheit, unsere
allgemeinen Untersuchungsgrundsätze zu verbessern.
Man könnte übrigens darüber streiten, ob das Farbigwerden der Luft eine bloße
Nebenwirkung der impressionistischen Reduktion ist. Es wäre ja denkbar, und
es ist tatsächlich so geschehen, daß die Impressionisten zuerst entdeckt hätten, daß
die Luft bei einer bestimmten Art des Sehens malbar wird, und nun diese Art des
Sehens pflegten, weil sie das Reich des Malbaren erweitert. Aber hier wird ja
nicht nach der geschichtlichen Reihenfolge gefragt. Das sachliche Prius ist ent-
schieden die Reduktion, als eine Art des Sehens, welche die Welterscheinung so
gründlich verändert, daß das Einströmen der Farbe in den gegenstandsleeren Raum
darüber zur Nebenwirkung herabsinkt.
Durch die Reduktion gelangt der Impressionist zu der Welterscheinung, die er
malen will. Denkt man daran, daß die Arbeit des Malers, grob gesprochen, darin
besteht, eine Fläche mit Farbflecken zu bedecken, so sieht man den Erfolg der Re-
duktion: sie gleicht die natüriiche Welterscheinung der bildhaften Erscheinung an,
sie macht die Welt malfähig. Die so vorbereitete Welt soll jetzt wiedergegeben
werden. Hier setzt also die Leistung der Maltechnik ein. Zuerst wird man gar
keine Möglichkeit mehr zu einer eigentümlichen Leistung der Maltechnik sehen, denn
die Schwierigkeiten der Hand sind ja keine Schwierigkeiten der Methode. Was die
Reduktion als verbleibenden Rest herausgearbeitet hat, der sichtbare Kern der Er-
scheinung, das scheint so beschaffen, daß seine malerische Wiedergabe keine Probleme
mehr stellt, das wirklich Sichtbare ist auch das wirklich Malbare. Die ilächenfarbige
Welt besteht aus flächenhaft ausgebreiteten Farbflecken ; man sollte meinen, daß
sich diese Welt mit den Farbstoffen auf der Leinwand unmittelbar nachahmen ließe.
Aber auch in dieser Aufgabe steckt ein Problem der Methode, und dies rührt daher,
daß ein flächenfarbiger Farbfleck dem gleichtonigen Pigmentfleck nicht absolut
gleichsieht. Die Pigmentfarbigkeit bleibt stets unüberwindbar verschieden von der
Flächenfarbigkeit, sie gleicht viel eher der Erscheinungsweise von Oberflächenfarben.
') Vgl. hierzu Jaensch, »Über die Wahrnehmung des Raumes«. J.A.Barth,
Leipzig 1909.
BEMERKUNGEN. 03
In diesen Verhältnissen liegt es begründet, daß die vorimpressionistische Malerei
immer auf Nachahmung der Oegenstandsoberdächen ausging. Nun wirkt aber eine
Farbe als Oberflächenfarbe nur bei gegenständlicher Auffassung der Erscheinung,
und diese hängt an der Dreidimensionalität. Die dem Flächenbild fehlende Drei-
dimensionalität versuchte man daher durch die Kunstmittel der Tiefendarstellung
vorzutäuschen. Jede realistische Malerei hatte räumlich-gegenständliche Täuschungs-
absichten, das offenbart sich in der alten Fabel von den Vögeln, die nach den ge-
malten Trauben picken. Diese Täuschungsabsicht fehlt dem Impressionismus. Der
Impressionist gibt einfach wieder, was er sieht. Für ihn verschwänden daher alle
Darstellungsprobleme, wenn es gelänge, Farbstoffe herzustellen, die wie Flächen-
farben wirken. Nur weil man solche Pigmente bisher, und wohl für immer, nicht
herstellen kann, muß auch der Impressionist darauf verzichten, seine Welt ganz
entsprechend wiederzugeben, auch er muß sie mit unangemessenen Mitteln nach-
ahmen. Während aber der Realist einerseits die Oberflächenfarben mit Pigmenten
unangemessen wiedergibt, anderseits die Dreidimensionalität durch perspektivische
Verkürzung und Schattenführung vortäuscht, bildet der Impressionist Flächenfarben
mit Pigmenten nach. Das impressionistische Bild enthält Imitationen, aber, mit einer
gleich zu erklärenden Einschränkung sei das gesagt, keinen Täuschungsmechanismus.
Das Malproblem des Impressionismus hat zwei grundsätzliche Lösungen ge-
funden. Den unmittelbaren Weg schlug der Neo-Impressionismus ein, der die
flächenfarbigen Farbflecken einfach durch Pigmentflecken nachahmte. Seine Bilder
sehen sehr farbkräftig und leuchtend aus, sind aber immer erlüllt von einem
schimmernden farbigen Dunst, bedingt durch die Massigkeit, die Undurchdiinglich-
keit, wie sie den Pigmenten im Vergleich mit den Flächenfarben eigentümlich ist
Daher ist das Anwendungsgebiet dieser Technik sehr eng begrenzt. Die Mehrzahl
der Impressionisten versuchte die Schwierigkeiten zu umgehen. Sie malen keine
bloßen Farbflecken, sondern zweidimensional verkürzte Gegenstände. Durch Auf-
lockerung der Kontur und Stehenlassen des Pinselstriches erreichen sie es aber, daß
die aufgetragene Farbe nicht als Oberflächenfarbe wirkt, sondern als selbständige,
abgelöste Farbe. Sie deuten also den Gegenstand an, um die Farbe als vom Gegen-
stand abgelöste Farbe wirken zu lassen ; sie erregen die gegenständliche Auffassung
und heben sie gleich wieder auf; sie lassen den Sehvorgang über seinen ersten
Abschnitt hinaus fortschreiten und treiben ihn gleich wieder zurück. Der Neo-
Impressionismus hingegen kümmert sich gar nicht um die Gegenständlichkeit der
ihm gegenüberstehenden Welt, sondern liefert einfach den Rohstoff für die gegen-
ständliche Formung.
Das impressionistische Verfahren besteht also darin, aus der Welt des naiven
Sehens eine Schicht herauszukristallisieren, von der eine bildlich angemessene Wieder-
gabe möglich ist. Man muß sich darüber klar werden, daß es zwei von Grund auf
verschiedene Arten des Malens gibt: Das wiedergebende Malen und das darstellende
Malen. Der darstellende Maler geht auf die Erzeugung einer Illusion aus, sein
Bild ist ein zweidimensionales, farbiges Reizsystem, das mit Hilfe eines eigentüm-
lichen Täuschungsmechanismus den Eindruck einer gegenständlich dreidimensionalen
Weif erregt. Der Impressionist hingegen ist ein abmalender Maler, er gibt einfach
wieder, was er sieht. Wirklich treffende Wiedergabe ist auch ihm freilich nicht
möglich, auch er muß sich wegen der Unterschiede zwischen Pigmenten und
Flächenfarben mit einer bildlichen Angemessenheit begnügen. Daher kennt der
Impressionist noch Probleme der Wiedergabe, nicht nur Schwierigkeiten der aus-
führenden Hand; aber das Täuschungsfeld ist gegen früher unvergleichlich ein-
geengt. Der Impressionist muß sehen lernen, so wie man früher malen lernen
94 BEMERKUNüEN.
mußte, »ich male die Welt, wie ich sie sehe^. Kann man erst richtig sehen,
so bedarf es fast nur noch der Geschmeidiglteit des Handgelenks. Sehen und das
Handgeleni< ausbilden auf der einen Seite — malen lernen auf der anderen: Man
spürt die Gegensätzlichkeit, die Verschiebung des Schwerpunkts. Der darstellende
Maler malt, sozusagen, ad hominein; er steht vor seinem Bild und fragt: wie wird
das wirken? Während der Impressionist, streng sachlich gerichtet, vor seinem Bild
fragt: ist das richtig? Die Trennung von sachlicher Malerei und Illusionsmalerei ist
übrigens in dieser Schärfe nur gedanklich möglich, und es liegt auch keineswegs
so, daß erst der Impressionismus den abmalenden Maler schuf. Was der Impressio-
nismus geleistet hat, ist die gründliche Rückführung der gegenständlich geformten
Welt auf ihren sichtbaren und darum wirklich abmalbaren Kern. Weil seine Welt
wirklich abmalbar ist, deshalb braucht er nicht mehr über Perspektive, körperhaftes
Zeichnen, Möglichkeiten der Materialdarsteliung nachzudenken. Für ihn gilt es nicht
mehr, Kunstmittel zu finden und anzuwenden, für ihn gilt es allein, hinzusehen und
abzubilden.
Die getreue Wiedergabe der durch die Reduktion gewonnenen Welt ruft im
Beschauer den Eindruck einer gegenständlich geformten Welt hervor. Diese Tat-
sache ist zwar für den Psychologen außerordentlich wichtig, da sie es erlaubt, die
objektiven Bestandteile der Erscheinung von ihren subjektiven zu trennen, die
Scheidung des sichtbaren Stoffs von seiner Formung durchzuführen — für die kfinst.
lerische Methode besagt sie aber gar nichts. Dem Impressionisten ist es eine Art
Nebenerfolg, daß seine Welt im Beschauer den Eindruck der gegenständlichen
Welt hervorruft. Nun kann man mit gutem Grund daran zweifeln, daß unter den
geistigen Verhältnissen des Jahres 1860 der Impressionismus aufgekommen wäre,
wenn die impressionistische Malweise nicht, wie zufällig, das Werkzeug gewesen
wäre, die Welt am besten, wahrhaftigsten, genauesten darzustellen. Man denke sich
einmal, das Reduktionsbild wäre so beschaffen, daß es gegenständlicher Formung
widerstrebte. Es würde sich auch jetzt nicht als unbedingt wirklichkeitsfremd geben,
sondern es erschiene als seltsamer, schimmernder, farbiger Abglanz der Wirklichkeit.
Die seelische Verfassung der letzten Generation war aber nicht der Art, daß sie sich
malender Weise mit einem bloßen Abglanz begnügt hätte. Hingegen könnte man
sich vorstellen, daß man heute diesen Reflex der Welt, mit vollem Bewußtsein seiner
Wirklichkeitsferne, malenswert fände. Die Umkehrung der Darstellungsziele wäre
entscheidend für die künstlerischen Intentionen für die Methode wäre sie gleich-
gühig. Das Verfahren dieser Phänomenalisten unterschiede sich durch nichts von
dem Verfahren der Impressionisten.
Die Impressionisten waren Fanatiker des Sehens, und mau wird ihnen zuge-
stehen, daß ihre Technik des Sehens einen Höhepunkt und ein äußerstes Ergebnis
bedeutet; sie haben tatsächlich den sichtbaren Kern in der Erscheinung freigelegt.
Ihr letztes Beweismittel lautete stets: »Da die Malerei die Kunst des Sichtbaren ist,
darf sie auch nur malen, was wirklich sichtbar ist, das wirklich Sichtbare ist aber
stets malenswert.«; Dieses Argument ist nun nicht so selbstverständlich, wie es sich
gibt. Dahinter steckt ein starker Dogmatismus, eine ganz bestimmte Auffassung des
Kunsthaften, die durchaus der Begründung bedürfte.
a
Besprechungen.
lugo Münsterberg, Oruiidzüge der Psychologie. 2. Aufl. Leipzig,
Verlag von J. A. Bartli, 1918. gr. 8». XXVIII u. 564 S.
Es ist in dieser Zeitschrift bereits der Verdienste Münsterbergs um die Ästhetik
gedacht worden. Wenn ich auf das inzwischen erschienene Buch unsere Leser be-
sonders aufmerksam mache, so geschieht es, weil sie darin eine (von mir verfaßte)
Lebensschilderung und Kennzeichnung nebst einer Zusammenstellung der Haupt-
schriften finden und weil der Hinweis auf das Vorhandensein der Biographie sowie
des Schriftenverzeichnisses erwünscht sein mag. Vor allem aber sei das Buch hier
wegen des Abschnittes über Psychologie und Ästhetik genannt. Es ist, obwohl vor
zwanzig Jahren geschrieben, frisch und eigenartig. Die Grundfrage der Ästhetik
lautet nach Münsterberg: wie sollen wir die Welt auffassen, damit das Einzelne für
sich allein steht und nicht über sich hinausführt? Dies nämlich ist der Kern des
ästhetischen Seins. »Die Natur ist schön, wenn sie aufhört, im Sinne der Wissen-
schaft überhaupt Natur zu sein, wenn alle Zusammenhänge grundsätzlich fortfallen.«
Ähnlich in der Kunst : bei einer Bildsäule dürfen wir nicht an die Farben des wirk-
lichen Menschen, bei einem Liebesgedicht nicht an den Namen der Geliebten denken
usw. Aus dem so angedeuteten Sachverhalt ergeben sich zunächst Aufgaben des
Inhalts: wie ist unser Wille, das Einzelne in der Welt aufzufassen, von fremden
Subjektakten abhängig ? und alsdann die normativ-ästhetischen Probleme : wie sollen
wir das Gegebene aus dem Zusammenhang herauslösen und umarbeiten, damit wir
es schlechthin als Einzelnes auffassen können? Mit beiden Problemgruppen wird
nirgends die Welt des Willens und der Werte verlassen; ^sie können daher auch
keine einzige Frage einschließen, die sich durch eine physische oder psychologische
Kausaluntersuchung beantworten ließe«.
Daneben aber stehen viele für den Ästhetiker wichtige sozialpsychologische (der
vorher genannten ersten Fragegruppe beigeordnete) Untersuchungen und ferner in-
dividualpsychologische Forschungen, die der normativen Ästhetik entsprechen. Dort
handelt es sich um die ethnologischen Anfänge der Kunst, um Wandlungen des
Geschmacks und Ausprägung von Stilen, um rassenbiologische, ökonomische, soziale
und technische Verhältnisse aller Art; hier eröffnet sich das weite Gebiet der psycho-
logischen Experimentalforschung. Münsterberg selbst hat sie gefördert, indem er
verwickelte Formprobleme dem künstlichen Versuch zugänglich machte, worüber
Ziehens Nachruf auf Münsterberg (in unserer Zeitschrift) nachgelesen werden mag.
Das vorliegende Buch enthält keine Einzelheiten neben der soeben kurz wiederge-
gebenen Gliederung. Aber die Gliederung selber und der sie beherrschende Ge-
sichtspunkt verdienen bereits unsere volle Aufmerksamkeit.
Berlin. Max Dessoir.
Harald Hoff ding, Humor als Lebensgc f üh I (Der gro ße H unior). Aus
dem Dänischen übersetzt von Heinrich Goebel. Leipzig, Teubner 1918. V
u. 205 S.
Q6 BESPRECHUNGEN.
»Das Seelenleben besteht in und unter einer beständigen Arbeit, ein Chaos zu-
sammenzufassen und zu ordnen« (S. 35). Nicht jedes seelische Chaos wird zur
Harmonie; zwei Möglichkeiten gibt es im besonderen, wie Einzelgefühle zu einer
Harmonie Icommen können: Verschmelzung und Organisation (S. 15), und durch
solche Organisation entsteht das, was Höffding den großen Humor nennt. Als Text,
den das Buch zu entwickeln suche, zitiert (S. 141) Höffding eine Stelle einer früheren
Abhandlung (Der menschliche Gedanke) : »Es gibt einen Standpunkt, auf dem durch
die Lebensmischung von Tragödie und Komödie, von Sieg und Niederlage, eine
Orundstimmung gewonnen ist, die zugleich den Charakter des Ernstes hat — durch
das Große, das erlebt ist, und den Schmerz, den es oft gekostet hat — und der
Ironie jedem Versuch gegenüber, in Bildern ausdrücken zu wollen, was in seiner
Fülle und durch seine Gegensätze jede Form sprengt, die man festzulegen versucht
Die Lebensanschauung oder das Lebensgefühl, das so entsteht, hält an der Über-
zeugung von einer großen Einheit im Dasein fest, sowohl in bezug auf die Werte
als auf alle anderen Gegenstände und Elemente, und es kann sich daher ebensowohl
den Schickungen des Lebens scherzend gegenüberstellen, weil sie gegenüber jener
Überzeugung machtlos sind, wie auch den Versuchen, das Unsagbare zu sagen.
Der Scherz bekommt jedoch den Charakter der Wehmut, weil beständig ein Wider-
spruch darin gefühlt wird, daß das Große so oft mit dem Kleinen verknüpft ist, und
darin, daß es nicht glückt, ein abschließendes Wort über den Kern des Lebens und
die Bedingungen des Lebens zu finden. Hinter der Ironie und der Wehmut wird
eine große Resignation liegen, bald mehr praktisch, bald mehr kontemplativ — bald
bitter, bald mutig « Das ist ein weiter Rahmen, und so können wir nicht wider-
sprechen, wenn in ihn als die ausgesprochensten Vertreter des großen Humors
Sokrates und Shakespeare gestellt werden (S. 170). Bald nach der eben angeführten
Stelle heißt es weiter (S. 142): »Daß der große Humor so, wie er hier beschrieben
ist, an sich der höchste Lebensstandpunkt wäre, kann . . . nicht behauptet werden.
Das große praktische Streben einerseits, das tragische Leiden andererseits können
beide höhere Lebensstandpunkte sein als der große Humor.« Dies ist sicher richtig,
denn es ist eben der große Humor durch eine milde Resignation wesentlich ge-
kennzeichnet, und Leidenschaft ist höher, d. h. menschlich produktiver, als Verzicht.
Im Einzelnen enthält das Buch eine Fülle feiner und geistvoller Bemerkungen, vor-
getragen in einer liebenswürdigen, viel mehr werbenden als lehrhaften Sprache, die
der Übersetzer offenbar gut verdeutscht hat.
S. 148 steht etwas sehr Nachdenkliches: »Ich glaube, daß das Entstehen jedes
Oesamtgefühls eine Gefahr mit sich bringen kann, indem seine Elemente sich so
verbinden, daß sie nicht mehr einzeln für sich ausgelöst werden. Die Klangfarbe
der Verschmelzung oder das Gesetz der Organisation entscheidet jetzt, in welcher
Weise man auf ein neues Erleben reagiert.« In der Tat ist dies für schwache
Charaktere die Gefahr von zuviel Psychologie, daß sie anfangen, nach dem psycho-
logischen Schema zu handeln: ich bin, folglich muß ich — statt nach dem
ethischen es ist, folglich soll ich.
Berlin-Pankow, Christoph Schwantke.
Leonhard Nelson, Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik.
Erster Band: Kritik der praktischen Vernunft. Leipzig, Veit ü. Co.,
1917. XXXIV u. 710 S.
Wir wollen versuchen, Methode und Ergebnisse des Buches durch Daneben-
stellen gegenteiliger Methodik scharf zu kennzeichnen: Alles Philosophieren besteht
zuerst darin, nach der Voraussetzung für jedes von uns geformte Urteil usw. zu
i
BESPRECHUNGEN. 97
fragen, an die Antwort dieselbe Frage zu stellen und das Verfahren solange zu
wiederholen, bis solches lineare Aufsteigen seine Grenze findet. Nach der Ansicht
von Herrn Nelson endet das Verfahren notwendig bei letzten Erkenntnissen, d i e
an sich gewili sind und deren Entdeckung und Analyse eine wesentlich psycho-
logische Betrachtung erfordert. Nach unserer Ansicht endet es bei letzten Ergeb-
nissen, die deshalb gelten, weil sie in einem Systemzusammenhange stehen mit allen
letzten Voraussetzungen geistigen Tätigseins und das ganze System gilt; die Ent-
deckung dieses Systemzusammenhanges und damit der Oültigkeitsbeweis einer alt
Grundsatz behaupteten Erkenntnis fordert dann ein logisches Verfahren. Für
Herrn Nelson sind (S. 25) die geometrischen Grundsätze unmittelbar einleuchtende
Wahrheiten, die als solche keines Beweises bedürfen. »Es genügt, die Begriffe zu
konstruieren, um zu erkennen, daß ihren Gegenständen die ihnen in den Axiomen
zugeschriebenen Eigenschaften zukommen.« Nach unserer Ansicht gelten sie, weil
sie sich als notwendige Verfahrensweisen beweisen lassen, um die Forderung einer
objektiven Erfahrung zu erfüllen. Die Anschaulichkeit erklärt sich dann als Einge-
schliffensein dieser Operationen durch die Anwendung; weil wir so oft Stellen-
setzungen vorgenommen haben, haben wir die Anschauung des Punktes, weil wir
so oft Richtungen festlegten, die Anschauung der Geraden; aber das durch zwei
Setzungen eindeutig festgelegte Richtungsbestimmen ist ein durch den System-
zusammenhang aller Voraussetzungen der Erfahrung logisch gefordertes Verfahren.
Die Votaussetzungen der Erfahrung stehen in Systemzusammenhang mit den Mög-
lichkeiten des Zwecksetzens und Handelns, denn der Sinn der Erfahrung ist, Anlaß
zum Handeln zu sein, Möglichkeien des Handelns sind notwendige Voraussetzungen
der Erfahrungsgewinnung usw. So schließt sich von jeder Erkenntnis aus der ganze
Ring. Man kann bildlich sagen: die Linien des Zurückfragens nach Voraussetzungen
führrn nach Herrn Nelson zu Punkten, die je absolut festliegen, nach der unseren
zu solchen eines in sich stabilen Ringes.
Man kann logisch verschiedene solche Ringsysteme bauen — das des Idealis-
mus, des Realismus, der transzendenten Dogmatik; die Wahl des einen läßt sich
nicht durch eine dem Ringe angehörende Erkenntnis entscheiden, auch nicht durch
eine Erkenntnis außerhalb, weil diese ja einem übergeordneten Ringe angehören
müßte; sondern die Entscheidung für das System des Idealismus erfolgt durch den
Nachweis, daß wir uns berei's dafür entschieden haben durch unser Handeln nach
den Gesichtspunkten : es soll objektive Wissenschaft — es soll objektives Recht geben.
Für die Ethik liegt der Unterschied des Nelsonschen Ansatzes absoluter Einzel-
punkte und des unseren eines in sich stabilen Ringes darin, daß aus dem ersten
ein Einschränkungsprinzip unseres Willens herfließt, die Forderung der Rücksicht
auf die Interessen anderer, aus dem zweiten dagegen folg^ aus der Forderung der
Ringgeschlossenheit ein Schöpfungsprinzip der Zielsetzungen, das Prinzip des Pro-
dukiivseins für die ins Unendliche laufende Reihe des Menschheitsschaffens, ein
Prinzip, das höher ist, als alle Individualin'.eressen.
S. 45: »Die Aufgabe der Zurückführung der ethischen Erkenntnis auf logisch
höhere Prinzipien erscheint als unabweislich, solange man überhaupt für jede Er-
kenntnis eine Begründung fordert.« S. 48: »Nennen wir eine Erkenntnis, die an
und für sich gewiß ist, unmittelbar, jede andere dagegen mittelbar, so können
wir sagen, daß nur die mittelbaren Erkenntnisse einer Begründung bedürfen.«
S. 50: »Es zeigt sich . . ., daß ein Beweis nur für solche Urteile möglich und not-
wendig ist, deren Gründe ihrerseits wieder Urteile sind, und daß daher die obersten,
zur Möglichkeit jedes Beweises schon vorausgesetzten Prämissen nicht durch Auf-
weisung einer ihnen zugrunde liegenden unmittelbaren Erkenntnis begründet werden
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenscliaft. XtV. 7
98 BESPRECHUNGEN.
können.«: S. 52 : ^Nnr wenn es eine unmittelbare ... rationale, ethische
Erkenntnis gibt, auf die sich die ethischen Urteile zurückführen lassen, ist eine
wissenschaftliche Begründung der Ethik möglich.« S. 55: »Die unmittelbare ethische
Erkenntnis ist... eine ursprünglich dunkle Erkenntnis. (Die Aufzeigung
dieser Erkenntnis heißt Deduktion.) S. 59: »Das Verfahren der Deduktion wird . . .
psychologischer Natur sein müssen.« S. 82: >Man nennt eine Handlung, sofern
sie schlechthin geboten ist, Pflicht. Eine Handlung ist . . . nur dann moralisch,
wenn durch sie die Pflicht erfüllt wird.« S. 129: »Der Inhalt des Sittengesetzes
kann . . . nicht darin bestehen, daß uns die Realisierung irgendwelcher positiver
Zwecke aufgegeben wäre, sondern nur in einer Regel der Beschränkung unserer
positiven Zwecke.« S. 129: »Die Bedingung, auf die die Pflicht unsere Willkür
einschränkt, ist . . . die Rücksicht auf die Interessen anderer.« S. 188: »Das Sitten-
gesetz ist formal : Man mag es anstellen, wie man will, man wird aus ihm nie durch
bloße logische Schlüsse herausbringen, wie wir wirklich handeln sollen.« S. 221 :
»Das Sittengesetz wird also nur das eine sein können: Handle so, daß du die
Gleichheit der Personen wahrst oder kurz: Handle gerecht.« S. 250;
»Das allgemeine Interesse, das der Bewertung unserer einzelnen Interessen zugrunde
liegt, ist... das objektive Interesse am Wert unseres Lebens über-
hau pt.^
Also das Wollen und das positive Werten kommt uns aus unserem Leben
überhaupt, und die Moral gibt das Prinzip, dieses unser Lebenswollen durch
die Rücksicht auf andere einzuschränken. Herr Nelson bezeichnet das ganze Be-
tätigungsfeld dieses Lebenswillen als ästhetisches Gebiet, mithin sind, da die
Moral nur Unwertfestslellungen leistet, alle positiven Werte ästhetischer Art.
S. 271: »In der hier exponierten Ansicht, wonach das ästhetisch wertvolle Handeln
nicht Pflicht ist, liegt keineswegs eine Herabsetzung der ästhetischen Wertung; man
kann vielmehr dem ästhetischen Wert des Handelns in der Ethik gar keinen höheren
Platz einräumen, als es durch diese Ansicht geschieht. Denn weder Moralität noch
Rechtlichkeit können nach der entwickelten Lehre einer Handlung einen positiven
Wert geben, da sie vielmehr für sich die bloße Abwesenheit eines Unwerts be-
deuten. Der einzige positive Wert, den Handlungen überhaupt haben können, ist
hiernach der ästhetische.« Diese Erweiterung, die nicht nur das Erleben des
Schönen in Natur und Kunst sondern auch das schöne Handeln dem Begriff unter-
stellt, gibt die Möglichkeit, von einem Ideal des Handelns zu sprechen; dies aber
läßt sich wieder nicht als definierte Forderung formulieren, sondern es fließt aus
einem Gefühl für die Schönheit des Lebens. S. 411: »Ein Ideal bezeichnet einen
objektiven positiven Wert, den zu verwirklichen aber dennoch nicht durch einen
kategorischen Imperativ geboten ist. . . . Nun hat uns die Exposition dieser Begriffe
zu dem Ergebnis geführt, daß sich das Ideal durch die Anforderung der Schön-
heit des Lebens bestimmt und daß also der Begriff des Ideais seinen Ursprung
in einem ästhetischen Wertungsprinzip haben muß.« Dazu ist erforderlich, das
Leben der »Herrschaft des vernünftig bestimmten Willens«^ (S. 453) zu unterwerfen.
Wenn man diese Ethik auf eine kurze Formel bringen will, so kann man viel-
leicht sagen: Lebe dich nach dem gefühlsmäßig in dir liegenden Schönheitsideal,
geleitet durch Vernunft, dich beschränkend durch die Rücksicht auf andere. Wir
glauben, daß diese individualistische Ethik unbrauchbar ist, die Arbeitsgemeinschaft
der Menschen nach überindividualistischen Zielen zu begründen und für sie immer
bessere Zielsetzungen zu schaffen. Man kann noch folgenden Einwand machen:
der Ichbegriff ergibt sich im hier besprochenen System als doppelt definiert, einmal
als Schauplatzbegriff des ^Lebenst, dessen Betätigungen einem Prüfungsverfahren
I
BESPRECHUNGEN.
99
nach richtig oder falsch nicht unferh'egen, und ferner als Subjel<tsbegriff, dessen
Schöpfungen so geprüft werden müssen. Wir sehen darin einen Widerspruch. Man
kann vielleicht ein Ringsystem aufbauen mit dem Begriff des sich triebhaft leben-
den Lebens, und man kann sicher das des Idealismus aufbauen mit dem Begriff
des frei schaffenden Ich, eine Mischform beider halten wir nicht für durchführbar.
Von weiteren Untersuchungen wird man zu hören erwarten dürfen, wie sich
das Gebiet des Ästhetischen im alten Sinne innerhalb dessen im neuen Sinne ab-
grenzt und was über das so abgegrenzte aus den gemachten Voraussetzungen folgt,
im vorliegenden Buch ist darüber Entscheidendes nicht gesagt.
Berlin-Pankow.
Christoph Schwantke.
Schriftenverzeichnis für 1918').
Erste Hälfte.
I. Ästhetik.
1. Geschichte und Allgemeines.
Simmel, O., Die historische Formung. Logos. Bd. 7. Heft 2. S. 113—152.
Simmel, G., Vom Wesen des historischen Verstehens. Geschichtliche Abende
im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Heft 5. 31 S. Berlin, iVlittler.
95 Pfg.
Joel, K., Jakob Burckhardt als Geschichtsphilosoph. 159 S. 8°. Basel, Helbing u.
Lichtenhahn. 4.50 M.
Simon, K., Profanbaukunst und Dichtung um 1200 in Deutschland. Zeitschrift für
den deutschen Unterricht. 32. Jahrg. Heft 1. 2. S. 1—14.
Schlosser, J. v., Die Kunsttheorie der ersten Hälfte des Cinquecento. 76 S.
Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Klasse.
184. Bd. 2. Abh. gr. 8». Wien, Hödler. 2 M.
Christoffel, U., Der schriftliche Nachlaß des Anton Raphael Mengs. Ein Bei-
trag zur Erklärung des Kunstempfindens im späteren 18. Jahrhundert. 144 S. mit
8 Tafeln, gr. 8°. Basel, Schwabe. 4.50 M.
Linke, P. F., Grundfragen der Wahrnehmungslehre. Untersuchung über die Be-
deutung der Gegenstandstheorie und Phänomenologie für die experimentelle
Psychologie. XXXV, 383 S. gr. 8«. München, Reinhardt geb. 15 M.
2. Prinzipien und Kategorien.
Laurila, K. S., Estetiikan Peruskysymyksiä, Ensi Nidos. (Grundfragen der Ästhetik,
Erster Band.) Verlag Werner Söderström, G. m. b. H. gr. 8°. 543 S. 12.50 M.
Bolle, iVl., Sur la Duree, La Liberte et Autres »Intuitions«. Mercure de France.
Tome CXXV, S. 385-410.
Simmel, G, Die Gesetzmäßigkeit im Kunstwerk. Logos. Bd. 7. Heft 3. S. 213-223.
Frischeisen-Köhler, M., Über das ästhetische Urteil bei Herbart. Vierteljahrs-
schrift für philosophische Pädagogik 1. Jahrg. Heft 3. S. 197-203.
Lukäcs, G. V., Die Subjekt-Objektbeziehung in der Ästhetik. Logos. Bd. 7. Heft 1.
S. 1-39.
Dvoi'äk, M., Idealismus und Realismus in der gotischen Skulptur und iWalerei
Historische Zeitschrift. 3. Folge. Bd. 23.
Dyroff, A., Über Ideen in Bildern. Zeitschrift für christliche Kunst. Jahrg. 31.
Heft 5. 6. S. 41-47.
Breuker, F., Lied und Bild. Eine vergleichende Studie über Hauffs und Haugs
Morgenrot. Zeitschrift für den deutschen Unterricht. 32. Jahrg. Heft 3. S. 108
bis 115.
') Es ist diesmal versucht worden, an Stelle der alphabetischen Anordnung
innerhalb der Gruppen eine sachlich begründete Folge eintreten zu lassen.
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918. lOJ
Meyer, K. A., Leitmotive in der Dichtkunst. Eigenton und Assoziativ. Bayreutiier
Blätter. 1.— 3. Stück. S. 27—50. 4.-8. Stück. S. 104-130.
Müller-Freienfels, R., Die nationale Eigenart der deutschen Verssprache. Orenz-
boten. Jahrg. 77. Heft 12. S. 326—332.
Schultze, K., Etwas vom Tragischen. Eine Skizze. Zeitschrift für den deutschen
Unterricht. Jahrg. 32. Heft 1. 2. S. 14-33.
Zornhoff, H. E, Gedanken über G. Meyrink und die metaphysische Dichtung.
25 S. kl. 8". Leipzig, Xenienverlag. 50 Pf.
Ostwald, W., Die Farbenlehre. In 5 Büchern. I.Buch: Malhetische Farbenlehre.
Mit 33 Figuren im Text. XI u. 129 S. 8». Leipzig, Verlag Unesma. Papp-
band 6 50 M.
Ostwald, W., Die Harmonie der Farben. Mit 122 Figuren im Text. VI u. 48 8.
8^ Leipzig, Verlag Unesma. 2 M.
Ostwald, W., Goethe, Schopenhauer und die Farbenlehre. VI u. 145 S. gr, 8*.
Leipzig, Verlag Unesma. Pappband 6.60 M.
3. Kunst und Natur.
Sehne, A., Kunst, Natur und Technik. Innendekoration. XXIX. Jahrg. Aprilheft.
S. 107-110.
4. Ästhetischer Eindruck.
Oldenberg, H., Die vedischen Worte für »schön« und ^Schönheit« und das
vedische Schönheitsgefühl. Nachrichten von der kgl. Gesellschaft der Wiss. zu
Göttingen. Philol.-hist. Klasse. 1. Heft, S. 35-71.
Henning, R., Lektüre- Vorstellungsbilder und ihre Entstehung. Zeitschrift für
Psychologie. Bd. 79. S. 228—256.
Hoeßlin, J. K., Das Gesetz der spontanen Nachahmung. Archiv für die gesamte
Psychologie. Bd. 38.
Sterzinger, O., Die Bestandstücke des poetischen Bildes unter dem Gesichts-
punkte seiner Schöpfung. Archiv für die gesamte Psychologie. Bd. 37. Heft 4.
S. 363-401.
Zimmermann, E., Verschiedenheit künstlerischen Empfindens. Innendekoration.
S. 137—143.
II. Allgemeine Kunstwissenschaft.
1. Das künstlerische Schaffen.
Cohn, W., Die Kunst aller Zeiten und Völker. Ostasiatische Zeitschrift. Jahrg. 6.
Heft 1. 2. S. 100-110.
Klein-Diepold, R., Zur Psychologie des künstlerischen Schaffens. Rheinlande.
Jahrg. 18. Heft 1. 2. S. 33—39.
Gissing, G., Über das dichterische Schaffen. Archiv für das Studium der neueren
Sprachen und Literaturen. Bd. 137.
Nütgens, H., Das geistige Schaffen des Malers. Zeitschrift für christliche Kunst.
Jahrg. 31. Heft 2. S 11-19.
K u h I m a n n , C. , Über Ursprung und Entwicklung des Dubslav-Charakters in
Th. Fontanes Roman »Der ^Stechlin«. Zeitschrift für den deutschen Unterricht.
Heft 6. S. 219-231.
Conrad, O., Leid und Kunst bei Michelangelo. Monatsschrift der Comenius-
gesellschaft. Heft 2. S. 23-32.
Leitzmann, A., Beethoven und Bettina. Mit Benützung ungedruckten Materials.
Deutsche Revue. Jahrg. 43. Februarheft S. 109—119.
102 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918.
Schwarz, H., Erinnerungen an meinen Bruder Ignaz Brüll. Brahms und Oold-
mark. Deutsche Revue. Jahrg. 43. S. 146—157, 239—249.
Schäfer, W., Lebensabriß. Deutsche Rundschau. Jahrg. 44. Heft 4. S. 79— 97.
Groeper, R., Emil Oött und seine Zeit. Die Tai Jahrg. 10. Heft 1. S. 36-49.
Wiener, O., Mit Detlev von Liliencron durch Prag. 64 S. gr. 8». Frankfurt a. M.,
Lüstenöder. 1.50 M.
Heimann, M., Alfred Kerr. Neue Rundschau. Jahrg. 29. Heft 1. S. 117—124
2. Anfänge der Kunst.
Werner, H., Die melodische Erfindung im frühen Kindesalter. Sitzungsberichte
der Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Klasse Bd. 182. Abh. 4.
3. Tonkunst und Bühnenkunst.
Mehlis, O., Der synthetische Charakter der Musik. Logos. Bd. 7. Heft 2. S. 158
bis 169.
Oüldenstein, O., Modulationslehre. IV, 43 u. 39 S. 8°. Stuttgart, Grüninger.
kartoniert 2.50 M.
Hohn, W., Der Kontrapunkt Palästrinas und seiner Zeitgenossen. Eine Kontra-
punktlehre mit praktischen Aufgaben. 124 S. Anhang: Notenbeigabe. 81 S. kl. 8°.
Aus der Sammlung: Kirchenmusik, herausgegeben von Weinmann. Bd. 17. Regens-
burg, Pustet. 1.20 M. u. 2 M.
Möllendorff, W., Musik mit Viertelstönen. Erfahrungen am bichromatischen
Harmonium. 159 S. 8". Leipzig, Leukart. 1.50 M.
Rossat, A., La Chanson Populaire dans la Suisse Romande. VIII, 219 S.
Rossat, A., Les Chansons Populaires Recueillies dans la Suisse Romande. Bd. 1.
160 S.
(Beide: Schriften der schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde — Publi-
cations populaires. Bd. 13 u. 14. Lex. 9*. Basel.)
Hackmann, H., Die Wiedergeburt der Tanz- und Qesangskunst aus dem Geiste
der Natur. 86 S. 8». Jena, Diederichs. 2.50 M.
Morsmann, H., Deutsche Musik. Allgemeine Musikzeitung. Jahrg. 45, Nr. 21, 22.
S. 250-256. Nr. 23. S. 291—292.
Niemann, W., Revolution und Schreckensoper. Gedanken über Cherubinis
»Wasserträger«. Allgemeine Musikzeitung. Jahrg. 45. Nr. 11. S. 115 — 116.
Bekker, P., Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler. 61 S. 8". Berlin, Schuster
und Löffler. 2 M.
Holtzmann, R, Gustav Mahlers erste Sinfonie. Deutscher Wille. Jahrg. 31,
Heft 11. S. 113-117.
Droescher, G., Herders Verhältnis zur Musik. Allgemeine Musikzeitung. Jahrg. 45.
Nr. 21, 22. S. 243-250.
Liebich, O., Richard Wagner und Grillparzer. Bayreuther Blätter. Jahrg. 41.
• 4.-8. Stück. S. 179—186.
O r i e ß e r , L., Richard Wagners Tristan und Isolde. Ein Interpretationsversuch.
292 S. gr. 8«. Wien, Harbauer. 6 M.
Saitschik, R, Wotan und Brünhilde. (Die Geburt der Seele.) 113 S. 8". München,
Beck kartoniert 4 M.
Sternfeld, R., Motivwurzeln der Meistersinger-Musik. Allgemeine Musikzeitung.
Jahrg. 45. Nr. 25. S. 308—310.
Heindl, M., Die Esoterik in Wagners »Tannhäuser.. (Mitgeteilt durch die Rosen-
kreuzer-Oesellschaft in Deutschland. Übersetzt von Arminius.) 20 S. Prana-
d
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918. 103
B Bibliothek. Vorträge über praktischen Okkultismus. 8". Heft 6. Leipzig, Theo-
^^ sophisches Verlagshaus.
Qrunsky, K., iVl. Reger als kirchlicher Tondichter. Christliches Kunstblatt. Jahrg. 60.
INr. 4. S. 100-105.
Poppen, H., Max Reger. Q3 S. mit einem Bildnis. Breitkopf und Härteis Musik-
bücher. 70 Pf.
B e h r e n d , W., Niels W. Oade. 87 S. mit einem Bildnis. Breitkopf und Härteis
Musikbücherei. 8». 1 iVI.
Hausdorf f, O., Das Werk August Halms. Rheinlande. Jahrg. 18. Heft 3. 4.
S. 69-72.
Stork, K., Der Fall Korngold. Thürmer. Jahrg. 20. Heft 7. S. 431— 433.
Tiersot, J., Le Centcnaire de Oounod. Revue de Paris. Jahrg. 25. Nr. 12. S. 763
bis 794.
Prod'homme, J. O., Une Familie d'Artistes Parisiens: Les Oounod. Revue de Paris.
Jahrg. 25. Nr. 12. S 736-762.
Hartog, W. Q., Ouilbert de Pixerecourt, sa vie, son melodrame, sa technique et
son influence. Paris, Champion, vol. 1. 264 p.
Brahms, J., Briefwechsel. Bd. 13. Leipzig, Engelmann. Brahms im Briefwechsel
mit Th. W. Engelmann. Mit einer Einleitung von Jul. Röntgen und 2 Bildnissen.
182 S.
Vus den Papieren eines deutschen Musikers. Allgemeine Musikzeitung. Jahrg. 45.
Nr. 21. 22. S. 256— 260. Fortsetzungen folgen.
Verzeichnis der im Jahre 1917 erschienenen Musikalien, auch musikalischer Schriften
und Abbildungen mit Anzeige der Verleger und Preise. In alphabetischer Ord-
nung nebst systematisch geordneter Übersicht und einem Titel- und Textregister.
Jahrg. 66. II, 198 S. Lex. 8". Leipzig, Hofmeister. 24 M.
Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1917. Herausgegeben von R. Schwarz.
Jahrg. 24. XII, 111 S. Lex. 8». Leipzig, Peters.
Falkenfeld, H., Vom Sinn der Schauspielkunst. Eine Untersuchung an der Kunst
Max Pallenbergs. Mit 4 Bildern von Charlotte Behrend. 151 S. 8". Charlotten-
burg, Lehmann. 5.50 M.
Endemann, H., Rampenlicht und Schattenseiten. 9 Aufsatze über Schauspielkunst
und Regieführung. Ul, VIII, 70 S. 8». Charlottenburg, Vita. 1,50 M.
Bataille, H., Ecrits sur le Theätre. Paris. Edition O. Ores. 572 p.
See, E., Le Theätre des Autres. Critiques dramatiques. (2« serie.) Paris, Ollen-
dorf f. 331 p.
Herald, H., Bild und Bühnenbild. Das neue Deutschland. Heft 4. S. 129. 130. .
Heine, C, Der Episodenstil. Die lit. Gesellschaft. 4. Jahrg. Heft 4. S. 115-124.
Frickenhaus, A., Die altgriechische Bühne. Mit einer Beilage von E. Schwartz.
Mit 29 Abbildungen und 3 Tafeln. VIII, 131 a Heft 31 der Schriften der wissen-
schaftlichen Gesellschaft in Straßburg.
Blanche, J. E., Les Spectacles de la Societe Shakespeare. Mercure de France.
Tome CXXV. S. 619-638.
W e i c h e r t , M., Jakob Gordin und das jüdische Theater. Der Jude. Jahrg. 3.
Heft 1. S. 27-32. Heft 2. S. 88-96. Heft 3. S. 130-139. Heft 4. S. 180-191.
Epstein, M., Max Reinhardt. 318 S. 8". Berlin, Winkelmann und Söhne. 8 M.
Marcus, CD., Reinhardts Strindberg-Darstellung. Das neue Deutschland. Heft 2.
S. 56-58.
Cysotdt, G., Reinhardt und die Schauspieler. Das neue Deutschland. Monats-
104 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918.
Schrift für Theater und Literatur, herausgegeben vom Deutschen Theater, Berlin.
Jahrg. 1. Heft 3. O^hrg. 4 der Blätter des Deutschen Theaters.) S. 92.
Pander, O., Der Tanz als Ausdrucksl<unst. Das Landhaus. 3. Jahrg. Heft 6. S. 89
bis 95.
Stern, E., Die Ballette des Deutschen Theaters. 12 farbige Original-Lithographien.
Text von Oskar Bie. (8 S.) 32 x 49 cm. Prospero-Drucke, Nr. 4. Berlin, E. Reiß.
Halbpergamentband 160 M.
Beiträge zur Literatur- und Theatergeschichte. Ludwig Geiger zum 70. Geburtstag.
Herausgegeben von der Gesellschaft für Theatergeschichte Berlin. XIl, 486 S.
gr. 8°. Berlin, Behr. gebunden 15 M.
4. Wortkunst.
Kohler, P., La Literature Personelle. 26 S. 8». Bern, Franke.
Schulenburg, W. v., Ein neues Porträt Petrarcas. Eine Studie über die Wechsel-
wirkung zwischen Literatur und bildender Kunst zu Beginn der Renaissance.
61 S. mit 4 Tafeln. Lex. 8». Bern, Franke. 10 M.
Trautmann, H., Das visuelle und akustische Moment im mittelhochdeutschen
Volksepos. VIII, 123 S. 8". Göttingen, Vandenhoek und Rupprecht. Diss.
Brecht, W., Klassisches Altertum und neueste Dichtung. Vortrag. 22 S. Wien,
Fromme. 70 Pf.
Gerber, H., Mittelalterliches und Modernes in den Dichtungen Walthers von der
Vogelweide. Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Jahrg. 32. Heft 3. 8. 96
bis 108. Heft 4. S. 146-161.
Pauls, E, Romantik und Neuromantik. Zeitschrift für den deutschen Unterricht.
Heft 4. 5, S. 129-146.
Cassirer, E., Hölderlin und der deutsche Idealismus. Logos. Bd. 7. Heft 3. S. 262
bis 282.
Puls, A., Kritische und erläuternde Beiträge zu deutschen Dichtern. Zeitschrift
für den deutschen Unterricht. Heft 4. 5. S. 161-168.
Meiler, E., Der Revolutionismus in der russischen Dichtung. Nord und Süd.
Jahrg. 42. Februar-Heft. S. 191—199.
E d s c h m i d , K., Expressionismus in der Dichtung. Neue Rundschau. Jahrg. 29.
Heft 3. S. 359-379.
Döblin, A, Von der Freiheit eines Dichtermenschen. Neue Rundschau. Jahrg. 29.
Heft 6. S. 843-850.
Bartels, A, Lessing und die Juden. Eine Untersuchung. III, 380 S. gr. 8». Dres-
den, Koch. 10 M.
Marcuse, A., Die Tat im Drama. Das neue Deutschland. Heft 6. S. 179—181.
Wilamowitz-Moellendorff, T. v.. Die dramatische Technik des Sophokles. Aus
dem Nachlaß. Herausgegeben von E. Kapp. Mit einem Beitrag von Ulrich
v. Wilamowitz-Moellendorff. IX, 379 S. Mit einem Bildnis. Heft 22 der Philo-
logischen Untersuchungen, herausgegeben von Kießling. gr. 8". Berlin, Weid-
mann. 16 M.
Ernst, P., Die Trachinierinnen. Die Rheinlande. Heft 1. 2. S. 20— 28.
Bethe, E., Medea-Probleme. Berichte über die Verhandl. der kgh sächs. Ges. der
Wissenschaften zu Leipzig. 70. Bd. Heft 1. 22 S. Teubner. 1 M.
Jahrbuch der Shakespeare-Gesellschaft. Im Auftrag des Vorstandes herausgegeben
von Alois Brandl und Max Förster. Jahrg. 54. XXXIII, 201 S. gr. 8». Berlin,
Reimer. 12 M.
Robertson, J. M., Shakespeare and Chapmann. London. Fischer, 1917. 8". 302 p.
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918. 105
Chambrun, L, Deux Pieces de Shakespeare. Revue de Paris. Jahrg. 25. Heft 7.
S. 625-650.
Marcus, CD., Sirindbergs Dramatik. Mit Abbildungen (auf Tafeln) nach Svend
Gade, E. Stern und Pasetti. 480 S. 8". München, Müller. 8 M.
Braun, O., Strindbergs Oeschichlsphilosophie. Logos. Bd. 7. Heft 2. S. 153
bis 157.
Seh naß, F., Drei Mörike-Balladen, ästhetisch erläutert unter dem methodischen
Gesichtspunkt einer induktiven Oruppenanalyse. Schaffende Arbeit und Kunst
in der Schule. Jahrg. 6. Heft 1. 2. S. 14-22; 45—59.
Heiß, H., Wege der französischen Lyrik seit 100 Jahren. Zeitschrift für franzö-
sischen und englischen Unterricht. Bd. 17. Heft 2. S. 98—125.
Arbelet, H., L'Hisloire de la Peinture en Italic et les Plagiats de Stendhal. Paris
Galman-Levy. IV et 536 p.
Baudelaire, Ch., Les Fleurs du Mal. Avec une £tude sur la vie et les Oeuvres
de Baudelaire, par C. Vergniol. Paris. LIX et 320 p.
Egger, M., Chateaubriand Inedit. Nouvelles Letlres. Paris, H. Ledere. 52p.
Brömse, H., Kampf im altdeutschen Lied. Nord und Süd. Jahrg. 42. Februar-
Heft. S. 199-204.
Loerke, O., Neue Lyrik. Neue Rundschau. Jahrg. 29. Heft 2. S. 267— 274.
Schumann, W., Zu Franz Werfeis Lyrik. Deutscher Wille. Jahrg. 31. Heft 11.
S. 107-112.
Behrens, O., Cari Wagenfeld, ein plattdeutscher Dichter. Norddeutsche Monats-
hefte. 4. Jahrg. Nr. 12. S. 457— 461,
Delius, R. v., Hölderlins Gedichtfragmente. Die lit. Gesellschaft. 4. Jahrg. Heft 6.
S. 188-194.
Merck, H., Ein Weg zu Jean Paul. Die lit Gesellschaft. 4. Jahrg. Heft 6 S. 199— 204.
Everth, E., Der Ketzer von Soana. Die Gegenwart. 47. Jahrg. Heft 11/12. S. 86-89.
Jarintzov, N., Russian Poets and Poems. Vol. 1. Classics. Oxford, Blackwell,
1917. 8». XXXIX and 318 p.
Persky, S., La vie et l'Oeuvre de Dostoievsky. Avec un portrait. Paris, Payot.
Aronstein, Ph., George Merediths Romankunst. Die neueren Sprachen. Bd. 26.
Heft 1. 2. S. 14-32.
Wandrey, C, Theodor Fontanes »Effi Briest«. Deutsche Rundschau. Bd. 44.
Heft 5. S. 209-227.
Schwartz, E., Zur Entstehung des Hias. V, 40 S. Schriften der wissenschaft-
lichen Gesellschaft in Straßburg. Heft 34. Lex. 8». 3 M.
Wächter, K., Kleists Michael Kohlhaas, ein Beitrag zu seiner Entstehungsge-
schichte. VIII, 92 S. Forschungen zur neuen Literaturgeschichte, herausgegeben
von Fr. Munker. Heft 52. Weimar, Dunker. 5 M.
Seh üb ri ng, P., Dante. Die Hilfe. Nr. 26. S. 299-302.
Scherer, W., Von Goethe und seinen Trabanten. Für die deutsche Bibliothek
herausgegeben von A. Eggers. 281 S. Deutsche Bibliothek. Bd. 114. kl. 8».
Beriin. 2 M.
Goethe und Lavater. Zeugnisse ihrer Freundschaft. 98 S. Schweizer Bibliothek.
Zürich, Rascher. 2 M.
Ehrenberg, H., Goethes Testament am Faust ermessen. Logos. Bd. 7. Heft 2.
§. 170—181.
Hartwig, Heine und die Engländer. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für
Kultur- und Geistesleben. Neue Folge. Bd. 10. Heft 1. S. 1-16.
Keller, G., Jeremias Gottheit. Aufsätze. Herausgegeben von E. KorrodL 68 S.
106 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918.
Ermatinger, E., Gottfried Kellers Leben, Briefe und Tagebücher auf Grund der
Biographie J. Baechtolds dargestellt und herausgegeben. Bd. 1. Gottfried Kellers
Leben. Mit einem Bildnis. 3. Auflage. XII, 677 S. gr. 8». Stuttgart, Cotta. 17 M.
Kempf, J. K., Heinrich Hansjakob. Sein Leben, Wirken und Dichten. Mit 9 Bil-
dern. 44 S. 8». Stuttgart. 4.80 M.
Hoffmann, K. E., Jakob Burckhardt als Dichter. Ein Vortrag. 56 S. kl. 8°. Basel,
Helbing und Lichtenhahn. 2.25 M.
Frings, Th., Über die neuere flämische Literatur. Zwei Vorträge. 79 S. kl. 8".
Marburg, Elwerths. 1 .50 M.
5. Raumkunst.
Scheibe, W., Bauliche Ideen und die Wege zu ihrer Gestaltung in neuerer Zeit.
1 1 S. mit Abbildungen. 8°. Leipzig, Leineweber. 75 Pf.
Zetzsche, C, Erweiterungs- oder Neubau. Beispiele aus dem ländlichen Kirchen-
bau. 111. Die Kirche. Bd. 15. Heft 2. 3. S. 10—19.
Huysmans, J. K., Geheimnisse der Gotik. Drei Kirchen und drei Primitive. Über-
tragen von St. Strizek. Mit 24 Bilderbeilagen auf Tafeln. 202 S. Lex. 8". Mün-
chen, Müller. 8 M.
Patzak, B., Die Jesuitenbauten in Breslau und ihre Architekten. Ein Beitrag zur
Geschichte des Barokstils in Deutschland. Mit 40 Lichtdrucktafeln. XIX, 348 S.
Studien zur deutschen Kunstgeschichte. Heitz, Straßburg. Heft 204. 35 M.
Obser, K., Beiträge zur Baugeschichte des Klosters Frauenalb, insbesondere im
Zeitalter des Barock. Mit 4 Lichtdrucktafeln und 2 Plänen. 60 S. 8». Karls-
ruhe, Braun. 3 M.
iJrinkmann, A. E., Barockskulptur. Entwicklungsgeschichte der Skulptur in den
romanischen und germanischen Ländern seit Michelangelo bis zu Beginn des
18. Jahrhunderts. Heft 1—4. Handbuch der Kunstwissenschaft. Lex. 8". Neu-
babelsberg, Akademischer Veriag. VIII, 96 S. mit Abbildungen und 4 Tafeln.
Jede Lieferung 2.50 M.
Das Bürgerhaus in der Schweiz. La Maison Bourgeoise dans la Suisse. Heraus-
gegeben vom Schweizer Ingenieur- und Architektenverein. Bd. 6. 32 x 24 cm.
Zürich. Orell Füßli. Das Bürgerhaus im Kanton Schaffhausen. LVIll S. mit Ab-
bildungen und 109 S. 20 M.
Burg, E., Cambrai. Mit 47 Tafeln und 1 Plan. X, 205 S. 3.50 M.
Rauch, Gh., Douai. Kultur- und kunstgeschichtliche Studien. Mit 63 Tafeln.
X, 76 S. 3 M.
Pescatore, A., Der Meister der bemalten Kreuzigungreliefs. Ein Beitrag zur Ge-
schichte der niederländischen Plastik im 15. Jahrhundert. Mit 7 Lichtdrucktafeln.
VII, 135 S. Studien zur deutschen Kunstgeschichte. Straßburg, Heitz. Heft 208.
10 m:
Kutter, P., Der Einfluß des kirchlichen Bestattungswesens (Totenmesse) auf die
ältere Grabmalkunst. Die christliche Kunst. Jahrg. 14. Heft 9. 10. S. 202-222.
6. Bildkunst.
Zimmermann, M. G., Winkelmann. Der Klassizismus und die märkische Kunst
Bayreuther Blätter. Stück 4—8. S. 149-175.
Deri, M., Idealismus und Expressionismus. Das neue Deutschland. Heft 4. S. 95
bis 98.
Deri, M., Expressionismus in der Malerei. Das neue Deutschland. Heft 6. S. 174
bis 177.
I
SCHRIFTENVERZEICHNIS KÜR 1918.
107
Heise, CO., Norddeutsche Malerei. Studien zu ihrer - Entwicklungsgeschichte im
15. Jahrhundert von Köln bis Hamburg. V, 192 S. mit 100 Tafein. Lex. 8°.
Leipzig, K. Wolff. 32 M.
Beriten, ii. v. d., und Mayer, A. L., Die Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts
in Oberitalien. Heft 1. Handbuch der Kunstwissenschaft. Lex. 8". Akad. Verl.
Jede Lieferung 2.50 M.
Dürers Zeichnungen. Mit einer Einl. Herausgegeben von Willibald Franke. 112S.
Comenius-Bücher. Bd. 4. 4 M.
Albrecht Dürer. Oewählt und eingeleitet von H. W. Singer. Mit 80 Abbildungen,
Briefen und Auszügen aus den Tagebüchern und Schriften des Künstlers. 106 S.
München, H. Schmidt. 3 M.
Pauli, O, Die Dürerliteratur der letzten drei Jahre. Repertorium für Kunstwissen-
schaft. Bd. 41. Neue Folge. Bd. 6. Heft 1. 2. S. 1—34.
Waetzoldt, W., Deutsche Malerei seit 1870. Mit 53 Abbildungen. VII, 94 S. und
36 S. Abbildungen. Wissenschaft und Bildung. Bd. 144. Leipzig, Quelle & Meyer.
Osell, P., Auguste Rodin Revue de Paris. Jahrg. 25. Nr. 2. S. 400-417.
Neues von Spitzweg. Oedichte und Briefe. Mit 42 Kupferdruckbildern (auf Tafeln)
und Zeichnungen. (73 S.) 8". München, Delphin- Verlag. 3.50 M.
Wich mann. Fr., Erinnerungen an F. Hodler. 76 S.
Trog, H., Ferdinand Hodler. Erinnerung an die Hodler-Ausstellung im Züricher
Kunsthaus. Mit 16 Tafeln. 51 S. 8». Zürich, Rascher. 3.80 M.
Loosli, CA., Ferdinand Hodler. Beiträge zur Erkenntnis seiner Persönlichkeit
und seines Schaffens. 1. Lieferung. (19 Tafeln mit VIII, 9 S. Text.) 56,6x42,5 cm.
Zürich, Rascher. 35 M.
0 raber, H., Jüngere Schweizer Künstler. Bd. 1. Mit 30 Tafeln. 41 S. Lex. 8«.
Basel, Schwabe. 9 M.
Vogel, J., Otto Oreiners graphische Arbeiten in Lithographie, Stich und Radie-
rung. Wissenschaftliches Verzeichnis. Mit 40 Tafeln. 120 S. Lex. 8". Dresden,
Arnold. 55 M.
Pelka, O., Ludwig Richter. Aus dem Leben eines deutschen Malers. 52 S. 8°.
Beriin, Furche-Veriag. 1.60 M.
Veröffentlichung der graphischen Gesellschaft. Berlin, Bruno Cassirer. Der Meister
von 1515. Nachbildungen seiner Kupferstiche. 36 Tafeln, Herausgegeben von
Paul Kristeller. 8 S. 39 x 28,5 cm. (Nur für Mitglieder.)
Drucke der Maree-Oesellschaft. Herausgegeben von J. Meier-Oraefe. 2. u. 3. Druck.
München, Piper.
Cezannes Aquarelle. 10 farbige Tafeln ip Passepartout. 53 X 43 cm. Mit
einer Vorrede von J. Meier-Oraefe. 15 S. 350 M.
Shakespeare -Visionen. Eine Huldigung deutscher Künstler: Radierungen,
Steindrucke, Holzschnitte. 32 Blatt in Passepartout. 54 x 45 cm. Vorrede von
O. Hauptmann. 13 S. 250 M.
Honore Daumier: Holzschnitte: 1833—1870. Herausgegeben von O.Fuchs. Mit
122 Illustrationen. 220 S. München, Langen. 25 M.
Zeichnungen aus dem Besitz der Nationalgalerie. Herausgegeben von Ludwig Justi.
(Amtl. Veröffentl. der Königlichen National-Oalerie zu Beriin.) 6. und 7. Liefe-
rung. Je 10, zum Teil farbige Tafeln und 10 Blätter Erklärungen. 47 x 35,5 cm.
Beriin, Bard.
Jahrbuch der Königlich preußischen Kunstsammlungen. Herausgegeben von
W. Bode etc. Bd. 39. 4 Hefte. 35,5 x 24,5 cm. Beriin, Orote. 40 M.
Ooethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer. Herausgegeben von M. Hecker. Schriften
108 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918,
der Goethe-Gesellschaft. Bd. 32. (Juli 1788-1797.) Xll, 458 S. (Nur für Mit-
glieder.)
Eugene Delacroix: Briefe I. 1813—1846. Deutsch von W.Stein. 212 S. Mit
einem Bildnis, gr. 8". 9 M.
Alfred, E. F., Zehn Gedichte zu Gemälden Feuerbachs. 15 S. 8°. Berlin, Schoen-
feld und Sohn. 65 Pf.
Jahrbuch des deutschen Werkbundes 1916/17. Kriegsgräber im Felde und daheim.
63 S. mit 164 S. Abbildung, gr. 8°. München, Bruckmann. 4M.
Berken, E. Fthr.v., Siegel. Mit 152 Abbildungen. 189 S. 8 M.
Schottmüller, F., Bronze-Statuetten und Geräte. Mit 123 Abbildungen im Text.
166 S. 8 M. — Beide aus der: Bibliothek für Kunst- und Antiquitätensammler.
Bd. 11 und 12. Berlin, Schmidt & Co.
Rosenberg, M., Geschichte der Goldschmiedekunst auf technischer Grundlage.
Abteilung III. Granulation, IX, 158 S. mit 284 S. 35,5 x 26 cm. Frankfurt a. M.,
Keller. 112 M.
Pelka, O, Die Meister der Bemsteinkunst. Mit 6 Abbildungen auf 4 Tafeln. 60 S.
Lex. 8". Leipzig, Hiersemann. 4 M.
Esc her, K., Die Miniaturen in den Basler Bibliotheken, Museen und Archiven,
) mit Unterstützung der Universitäts- Bibliothek, der öffentlichen Kunstsammlungen
und der Jakob Burckhardt- Stiftung herausgegeben. XI, 278 S. Mit 47 Abbil-
dungen und 82 Tafeln. 36 X 27 cm. Basel, Kober. 185 M.
Li 11, G., Nymphenburger Porzellan. Kunst und Handwerk. 2. Vierteljahrheft,
S, 27-33.
Pelka, O., Deutsche Hausmöbel bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. In 143 Ab-
bildungen, 2. Auflage. 114 S. Voigtländers Quellenbücher. Bd. 8.
7. Geistige und soziale Funktion der Kunst.
Hart, ]., Kunst und Kritik. Das Landhaus. 3. Jahrg. Heft 3, S. 44— 47,
Fritz Schumacher: Die Reform der kunsttechnischen Erziehung. Leipzig, Quelle
und Meyer, 1918.
Eggers, P., Grundlagen einer neuen deutschen Kunst. Betrachtungen eines
Malers. Die Tat. Jahrg 10. Heft 3, S. 192-2>)2.
Scheffler, K., Der Beruf des Architekten. Vortrag. 16 S. 8». Zürich, Rascher.
1.20 M. S.-A. aus der Schweizer Bauzeitung. Bd. 71.
Behrens, P., Die Aussichten der deutschen Qualitätsindustrie. Innendekoration.
Januar-Februar-Heft. S. 19-24,
Schmidt, K., Vom künstlerischen Handwerk in Deutschland. Innendekoration.
Aprilheft. S. 112-119,
Bode, W., Der Kunsthandel und die Kunstauktionen in Deutschland während des
Krieges, Deutscher Wille. Jahrg, 31. Heft 8, S. 33—36.
>25 Jahre Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst«, Die christliche Kunst
Jahrg. 14, Heft 4, 5, S. 77—135.
Waldmann, E., Der Mäzen, Neue Rundschau. Jahrg. 29. Heft 6. S. 792-815.
Süßmilch, H., Die lateinische Vagantenpoesie des 12. und 13. Jahrhunderts als
Kulturerscheinung. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Re-
naissance. Bd. 25. Herausgegeben von W. Goetz. gr. 8". Leipzig, Teubner.
X, 104 S, 4.80 M,
F ! o e r k e , H., Die Moden der italienischen Renaissance. (Mitarbeiter R, Heyne.)
112 S. mit 132 Tafeln. München, .Müller. 25 .M.
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918.
109
Oerkrath, E., Das dramatische Meisterwerk des Protestantismus. (Hamlet.) 75 8.
Berlin, Hutten-Verlag. 2 M.
Wüst, P., Conrad Ferdinand Meyer in französisrhem Lichte. 30 5. Mitteilungen
der literarhistorischen Gesellschaft Bonn. Jahrg. 11. Heft 1.
Toth, K., »Jean Christophe« und die deutsche Kultur. Deutsche Rundschau 44.
Heft 4. S. 57-78.
Gaiffe, F., L'Ame de la Pologne d'aprfes son Th^ätre. Mercure de France.
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Zickel, R., Gustav Meyrink, ein Zeitphantom. Christliche Welt. Jahrg. 32. Nr. 1
S. 8-13.
Hirsch, G., Ästhetik und Pädagogik. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte neu-
zeitlicher pädagogischer Strömungen. Die deutsche Schule. Jahrg. 22. Heft 6. 7.
S. 209-216. S. 241 249.
Franfois, K. v., Ästhetische Lebensgestaltung einst und jetzt. Bayreuther Blätter.
Jahrg. 41. Stück 1—3. S. 60—69.
Diesendrunk, W,, Erziehung zur Musik. Die Tat. Jahrg. 9. Heft 11. S. 942—950.
O ö h I e r , G., Zum 70. Geburtstage H. Kretzschmars. Türmer. Jahrg. 20. Heft 10.
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Pfordten, O. v. d.. Ausländerei in der Musik. Allgemeine Musikzeitung. Jahr-
gang 45. Nr. 1. S. 3-6.
Stork, K., Kunst und Herrenhaus. Türmer. Jahrg. 20. Heft 11. S 625-630.
Schlösser, R., Vom rumänischen Reclam. Grenzboten. |ahrg. 77. Nr. 1. S. 16—26.
Nötzold, E., Wie ich die Kriegsschundliteratur bekämpfe. Schaffende Arbeit.
Jahrg. 6. Heft 3. S 81— 88.
H r u d i I , P., Steirische Volkskunde und Volkskunst Österreichische Rundschau.
Bd. 54. Heft 3. S. 130—134.
8. Neue Zeitschriften.
Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus. Im Auftrage der deutschen
philosophischen Gesellschaft und unter Mitwirkung von Br. Bauch heraus-
gegeben von A. Hoffmann und H. Engert. Bd. 1. 4 Hefte. 8». Heft 1 44 S.
Erfurt, Keyser. 6.50 M. Einzelheft 2.50 M.
Drucke der Wahlverwandten. Veröffentlichungen bedeutsamer Werke der Original-
Graphik in Verbindung mit gleichwertigen Schöpfungen zeitgenössischer leben-
der Schriftsteller. Gegründet und geleitet von E. Grüner. Bd. 1—3. Leipzig,
Meißner.
Vorlesungen an Universitäten deutscher Sprache.
Winter-Halbjahr 1918/1919.
I,
Berlin: Dessoir, Übungen zur Ästhe-
tik; 2stündig.
Fleischer, Musikinstrumehtenkunde;
2stündig.
Fleischer, Hauptstreitfragen der
musikalischen Ästhetik; tstündig.
Wulff, Die Kunst des Kindes; 2stün-
dig.
Johannes Wolf, Lektüre mittelalter-
licher Musiktheoretiker; l'/sstündig.
Bonn: Bombe, Die Aufgaben der Bau-
kunst, Bildhauerkunst und Malerei;
2stündig.
Giemen, Das Technische in Malerei
und Plastik; 1 stündig.
Dy rof f , Dante und seine Weltanschau-
ung; Istündig.
Schiedermair, Orundzüge der Har-
monielehre; Istündig.
Breslau: Kühnemann, Goethes Faust
als Ausdruck seiner Weltanschauung;
2stündig.
Schneider, Musikalische Satzlehre ;
Istündig.
Erlangen : S c h m i d t , Theorie der Musik ;
2stündig.
Frankfurt: Cornelius, Kunstwissen-
schaftliche Übungen (Einführung in
das Studium des menschlichen Kör-
pers) mit Dr. Fück; 2stündig.
Müller, Museumskunde; 2stündig.
Freiburg i. Br.: Paufler, Literarisch-
ästhetische Übungen an Lafontaines
Fabeln; 2stündig.
Gießen: Kinkel, Ästhetik; Istündig.
Strecker, Die Weltanschauungen
unserer großen Dichter von Schiller
bis zur Gegenwart; Istündig.
Rauch, Kunstwissenschaftliches Semi-
nar: Lionardos trattato della pittura
und Klingers »Malerei und Dichtung- .
Kalbfleisch, Aristoteles' Poetik ;
2stündig.
Kalbfleisch, Seminar für klassische
Philologie: Horaz' ars poetica.- •
Trautmann, Übungen in Elemenlar-
theorie und Harmonielehre für An-
fänger; Istündig.
Göttingen: Reitzenstein, Horaz' ars
poetica; 2stündig.
Weißenfels, Ausgewählte Kapitel
der Poetik; Istündig.
Weißenfels, Seminar: Lessings Hani-
burgische Dramaturgie; 2stündig.
Greifswald: Zingel, Musiktheorie für
Anfänger: Harmonielehre; Istün-
dig.
Halle: Ziehen, Grundlagen der Ästhe-
tik; Istündig.
Ziehen, Experimentell-psychologische
Übungen zur Ästhetik; 2stündig.
W a e t z o I d t , Geschichte der deut-
.schen Kunstgeschichtsschreibung ;
Istündig.
Heidelberg: Wolfrum, Harmonie-
lehre; 2stündig.
Jena: Nohl, Einführung in die Ge-
schichte der Ästhetik; Istündig.
Dinger, Fr. Schillers Welt- und
Kunstanschauung; Istündig.
Dinger, Dramaturgisches Privatsemi-
nar: Schillers Dramen und drama-
tische Fragmente; 2stündig.
Stein, Die musikalischen Formen in
ihrer geschichtlichen Entwicklung;
2stündig.
J
VORLESUNGEN AN UNIVERSITÄTEN DEUTSCHER SPRACHE. 1 { }
Kiel : D e u ß e ii , Psychologie und System
der Philosophie (3. Teil: Ästhetik);
4stündig.
Deußen, Über Goethes philosophi-
sche Gedichte; 1 stündig.
Wolff, Poetik, Rhetorik, Stilistik und
Metrik; 3stündig.
Königsberg: Fiebach, Elementar-
theorie der Musik; 2stündig.
Leipzig: Volkelt, Schiller als Philo-
soph; 1 stündig.
Volkelt, Ästhetik der Komik und des
Humors; Istündig.
Schmarsow, Kunstwissenschaft und
Kulturphilosophie in ihrem gegen-
seitigen Verhältnis; Istündig.
Schmarsow, Ästhetik der Malerei;
4stündig.
Prüfer, Richard Wagner im Zusam-
menhang mit der Kunst und Welt-
anschauung des 18. und 19. Jahrhun-
derts; 2stündig.
Prüfer, Musikwissenschaftliche Übun-
gen: Ausgewählte Kapitel aus Scho-
penhauers Hauptwerk »Die Welt als
Wille und Vorstellung«, zur Hundert-
jahrfeier seiner Entstehung (1818);
Wagners Schrift »Beethoven« und
P. Deußen »Die Elemente der Meta-
physik«.
Marburg: Hamann, Ästhetik; 2stün-
dig.
Jenner, Harmonielehre für Anfänger
und Fortgeschrittene; je Istündig.
MUnclien: Crusius, Formenlehre der
antiken Dichtung (Metrik und Poetik);
4stündig.
Wölfflin, Übungen: Methodik der
Autorschaftsbestimmung; 2stündig.
Sa ndb erger. Musiktheoretische Kurse
(gemeinsam mit Hofkapellmeister
Prill); 2stündig.
Kutscher, Allgemeine Theaterge-
schichte von der Renaissance bis
zur Gegenwart; mit Lichtbildern; i
2stündig.
Kutscher, Übungen in praktischer i
Theaterkritik nach dem Spielplan
unserer Bühnen; 2stündig.
Strich, Übungen zum Problem der
Form in der Dichtung (Fortsetzung) ;
1 '/sstündig.
MOnster: Braun, Die Anschauung voir
Welt und Leben in der modernen
Kunst (von Ibsen bis zu den Ex-
pressionisten) ; 2stündig.
Schwering, Naturalismus, Symbolis-
mus und Heimatkunst; 2stündig.
Schwering, Stilistik; Istündig.
Vorlesungen über Zeitungswesen:
darunter:
Plenge, Die Presse im Oesellschafts-
leben der Gegenwart;
Schwering, Presse und Literatur;
Hoff mann, Presse und Wissen-
schaft;
Ehrenberg, Presse und bildende
Kunst.
Rostock: Utitz, Das Schaffen des
Künstlers; 2stündig.
Strasburg: Schultz, Wesen und Ziele
deutscher Dichtung der Gegenwart ;
Istündig.
Tübingen: Spitta, Kritische Vorträge
über Goethes Faust; 2stündig.
von Lange, Die Ästhetik der Gegen-
wart; 2stündig.
Watzinger, Probleme der Form in
der antiken Plastik; Istündig.
Volbach, Das Kunstwerk Richard
Wagners und der deutsche Gedanke ;
Istündig.
Volbach, Harmonielehre; Istündig.
Volbach, Die Kunst der Sprache mit
praktischen Übungen; Istündig.
Wörzburg: Marbe, Experimentelle
Übungen zur Einführung in die
Psychologie, Pädagogik und Ästhetik
(gemeinsam mit Professor Peters);
Sstündig.
Marbe, Anleitung zu wissenschaft-
lichen (auch pädagogischen und
ästhetischen Arbeiten); 48stündig.
Peters, Experimentelle Übungen zur
Einführung in die Psychologie, Päd-
agogik und Ästhetik; mit Professor
Marbe; Sstündig.
Knapp, Vom Impressionismus zum
Kubismus; 2stündig.
112 VORLESUNGEN AN UNIVERSITÄTEN DEUTSCHER SPRACHE.
11.
Czernowitz:
Grazt Mesk, Aristoteles Poetik, 2stün-
dig.
Innsbruck:
Prag: Riet seh. Die Tonsprache beim
deutschen Lied; 1 ständig.
Daninger, iWusikästhetik; Istündig.
1
Basel: Stroux, Rhetorik der Griechen
und Römer; 4stündig.
Bern : H ä b e r 1 i n , Einführung in die
Kulturpsychologie (Religion und
Kunst); Istündig.
K u r t h , JVlusikalische Formenlehre ;
Istündig.
Schneider, Einführung in die Grund-
begriffe der Musiktheorie; 3stün-
dig.
Wien: Strzygowski, Bildende Kunst
und weltliche Macht, 2stündig.
Adler, Musikalische Stilperioden ;
Istündig.
HL
K u r t h , Übungen in musikalischer
Stilkritik; Istündig.
Zürich: Eleutheropulos, Kunst und
Künstler; 2stündig.
Ehrenfcld, Deutsche Stilistik; Istün-
dig.
1
11^
IV.
Erkenntnis und Poesie.
Von
Theodor A. Meyer.
Die Poesie ist eine geistige Kunst, ihr Darstellungsmittel, die Sprache,
ein geistiges Mittel, und deshalb hat in ihr auch das Geistigste, was
im Haupt des Menschen entspringt, Kenntnisse und Wahrheiten aller
Art, eine breite Stätte. Man sagt zwar, die Poesie bewege sich wie
alle Kunst im Konkreten und Anschaulichen, im Individuellen und
Sinnlich-Gegebenen, die Erkenntnis aber sei abstrakt, unsinnlich, allge-
mein, sie könne deshalb in die Poesie nur eingehen, soweit sie sich
aus dem Abstrakten und Übersinnlichen ins Sinnliche und Anschau-
liche umsetzen lasse; indes straft jedes Blatt einer größeren Dichtung
oder jeder Sammlung von Gedichten diese Behauptung Lügen. Epos,
Roman und Drama sind seit den ältesten Zeiten voll von allgemeinen
Gedanken, von Erörterungen über alle Fragen des Lebens, von Be-
obachtungen über Menschen und Seelenleben, von Sentenzen über Gott
und Welt. Der Lyriker spricht seine Weltanschauung, seine religiösen,
sittlichen und künstlerischen Grundsätze in Hymnen und Liedern aus.
Er läßt in Sprüchen und Gnomen das Licht seiner Erkenntnis auf-
leuchten. Aber mögen diese dichterischen Erkenntnisse mitunter wohl
auch in sinnliche Bilder gekleidet sein, das macht noch lange nicht,
daß dadurch die in ihnen enthaltene Wahrheit konkret und sinnlich
wird, und zahlreiche Wahrheiten verschmähen den Reiz des sinnlichen
Bildes, ohne darum des poetischen Wertes bar zu sein. Solange die
Wahrheiten in der Form allgemeiner Gedanken ausgesprochen werden,
lassen sie sich überhaupt nicht versinnlichen; das widerstreitet ihrem
Wesen und Begriff.
Die viel angeführten Schillersentenzen, »Was ist die Mehrheit, Mehr-
heit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen«
und »Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt < sind im Mangel
jeglicher sinnlicher Färbung der Worte nicht allzu verschieden von
den wissenschaftlichen Erkenntnissen: »Zwei mal zwei ist vier« und
»Die Römer sind das größte Eroberungsvolk der alten Geschichte«.
Und doch sind die beiden letzten Sätze bare Prosa, die jede Möglich-
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV. S
114 THEODOR A. MEYER.
keit der poetischen Auffassung ausschließt, während die beiden ersten
sogar Volipoesie sind, falls man sie in dem Zusammenhang betrachtet,
in dem sie von Schiller gebracht sind. Was begründet den Unter-
schied? Die beiden Prosasätze haben nichts als ihren Erkenntnisinhalt,
sie sprechen eine wissenschaftliche Wahrheit aus und wollen nach
dieser gewürdigt werden, die beiden Schillersentenzen tragen neben
dem Erkenntnisinhalt noch einen Lebensinhalt in sich und an diesem
hängt ihre ästhetische Bedeutung.
Den Satz über den Unsinn der Mehrheit schleudert Sapieha dem
polnischen Reichstag in dem drängenden Augenblick entgegen, da dieser
fast einstimmig den Krieg mit Rußland zugunsten des Demetrius be-
schließt. Diesem Beschluß will er entgegentreten und er tut es mit
dem Gedanken vom Unsinn der Mehrheit. Dieser Gedanke erwächst
ihm unmittelbar aus der Lage, in der er sich befindet. Er wird ihm
durch die Gefahr der Situation eingegeben und steht im Dienst seines
WoUens. Er verleiht ihm den Mut zu handeln, wie er handelt, und
sich mit der überwiegenden Mehrheit des Reichstags in Widerspruch
zu setzen. Sapieha fühlt sich auf Grund seiner Erkenntnis im Recht,
der Mehrheit zu trotzen, er fühlt seinen Widerstand als vernünftig und
möchte auch die andern vom Recht und der Vernunft seiner Stellung-
nahme überzeugen. So wird ihm der Gedanke zum Kampfmittel gegen
die Mehrheit, mit der er ringt; daneben charakterisiert er ihn als einen
Mann von starkem aristokratischem Selbstgefühl. Dasselbe Verhältnis
nehmen wir beim Ausspruch Teils wahr; auch sein Wort entspringt
aus der Situation, motiviert die Bitte Teils an Ruodi, den Baumgartner
über den sturmgepeitschten See zu setzen und ist zugleich der Aus-
druck seiner eigenen hochherzigen aufopferungsfähigen Hilfsbereit-
schaft.
Daneben hat der zweite Satz noch eines vor dem ersten voraus,
was man nicht übersehen darf. Der Gedanke vom Unsinn der Mehr-
heit hat in sich selbst nichts Ästhetisches. Er wird lebendig erst als
Ausspruch einer Persönlichkeit, deren Willen und Charakter er sichtbar
macht. Dagegen trägt der Gedanke: der brave Mann denkt an sich
selbst zuletzt, ein Ästhetisches schon in sich selbst. Er birgt es in
der Tatsache, von der er berichtet. Er redet von der Kraft des
Menschen, die Selbstsucht im Dienst des Nächsten zu überwinden
und diese Kraft wird als erhaben, also als ästhetisch empfunden. Zu
der Lebendigkeit, die er gewinnt, sofern er als Ausspruch einer Per-
sönlichkeit betrachtet wird, kommt also die weitere hinzu, daß er eine
Aussage enthält über eine Lebensbetätigung, die als erhaben in sich
selbst ästhetisch ist. Indes wird das Fehlen des ästhetischen Eigen-
werts im ersten Satz nicht als Mangel empfunden, beide Gedanken
ERKENNTNIS UND POESIE.
115
I
sind von höchster Lebendigkeit; sie sind lebendig in ihrem Heraus-
wachsen aus einer drängenden Situation, lebendig als Motive des
Willens, als zweckmäßig gewählte Mittel des Handelns und lebendig
als Offenbarungen des Ckarakters und des Gefühls der beiden Per-
sonen, und der eine von ihnen redet dazu noch von einer Erhabenheit,
zu der sich der Wille des Braven erhebt. Sie sind Lebensprodukte
und Lebensbekundungen, und diese Lebendigkeit ist es, was sie vor
den beiden wissenschaftlichen Sätzen voraushaben; diesen fehlt alles
Persönliche, sie verraten uns nichts von der Situation oder der Indivi-
dualität dessen, der sie gebildet, sie reden nicht von lebendig sich
betätigenden Kräften, sie sind darum reine Prosa; denn Poesie oder
wenigstens einen Anhauch von Poesie gewahren wir immer nur da, wo
ein eigenartiges Leben an Gedanken oder Erscheinungen sichtbar wird.
Ein Schimmer von Poesie glänzt auch schon da auf, wo wir einen
Gedanken auch nur vor uns entstehen und aus seinen Voraussetzungen
und Gründen erwachsen sehen, auch wenn er im übrigen ganz ohne
Leben ist und nichts zu sein beansprucht als kalte, wissenschaftliche
Erkenntnis. Der Reiz von Lessings wissenschaftlicher Prosa rührt neben
anderem auch daher, daß er uns so oft nicht fertige Ergebnisse seines
Denkens vorlegt, sondern uns einen Blick tun läßt in den Prozeß, in
dem seine Denkerphantasie den Gedanken erzeugt. Indem wir es
miterleben, wie der Gedanke in ihm aufsteigt, werden wir von der
Kraft des beweglichen Geistes berührt, der sich in seinem Denken
betätigt. Mitten in der an sich kalten, toten Wissenschaftlichkeit seiner
Untersuchungen berührt uns ein Hauch seiner Persönlichkeit; das er-
wärmt selbst die kalten Schemen seiner wissenschaftlichen Gedanken
mit einem leichten Anflug von Leben.
Bis zur vollen Lebendigkeit und mithin auch zur vollen Poesie
gelangt man aber mit dem Werden und Entstehenlassen des Gedankens
nicht; erst wenn er als Lebensoffenbarung empfunden wird, vor allem,
wenn uns aus ihm ein Bild persönlichen Seins entgegenstrahlt, erhebt
er sich in die Höhe der eigentlichen Poesie; denn ästhetisch ist, was
nichts als Bild sein will, Bild einer Lebensbetätigung oder eines Lebens-
zustandes oder Bild einer Persönlichkeit, eines Charakters. Die Viel-
seitigkeit aller der möglichen Lebensinhalte, die der Gedanke in sich
bergen kann, ist ungeheuer und nicht leicht zu erschöpfen. Was vermag
nicht die Erkenntnis an Gefühlen zu erzeugen und an Seelenzuständen
und Charaktereigenschaften auszudrücken! Sie erfüllt die Seele mit
Freude und Schmerz, mit Begeisterung und Erhebung, mit Mut und
Kraft, mit Trost und Ergebenheit, mit Stolz und Trotz, mit Wehmut
und Rührung. Aus ihr vermag fromme Gottergebenheit und freier
Weltsinn, geistige Vornehmheit und ideale Erhebung über die Welt,
116 THEODOR A. MEYER.
der hohe Adel einer edlen, sittlichen Natur, warme Vaterlandsliebe und
glühender Freiheitssinn zu sprechen. Sie verrät bald Selbstgefühl, Keck-
heit und Übermut, bald Bescheidenheit und Demut, sie legt Zeugnis
ab von tiefem Welterfassen, überlegener Weisheit und Besonnenheit,
von Reife oder jugendlicher Keckheit, von Strenge und Milde des Ur-
teils; sie bekundet sichere, psychologische Beobachtung und feinen,
ästhetischen Sinn; sie kennzeichnet ihren Schöpfer als einen Mann von
erhabenem oder anmutigem, sinnigem oder schalkhaftem Denken
als eine Persönlichkeit von sprühendem Humor, von scharfer oder
launiger Satire. Jeder neue Gedanke charakterisiert den, der ihn ge-
dacht hat, in anderer, immer neuer Weise, und offenbart andere, lebendige
Seiten seines Fühlens, seiner Gesinnung, seines seelischen und geistigen
Charakters.
Es ist der Irrtum einer verkehrten ästhetischen Theorie, zu meinen,
das Gefühl sei in der Poesie der einzig wertvolle ästhetische Inhalt
und Epigramme und Gnomen werden poetisch wertvoll durch einen
Funken von Gefühl, der auch in diesen halb didaktischen Gattungen
noch aufsprühe. Allerdings ist in der Gedankenpoesie das Gefühl
vielfach mitbeteiligt und hebt, wo es den Gedanken stärker durchglüht,
am sichersten in die poetische Sphäre empor. Gefühle für den Wert
einer Wahrheit, einer religiösen, sittlichen oder politischen Erkenntnis
spielen in ihr eine hervorragende Rolle. Aber weder verleiht das Ge-
fühl ausschließlich die poetischen Rechte, noch sind die Gefühle gegen-
über anderen Kräften des Seelenlebens immer im Übergewicht. Warum
sollte sich auch die dichterische Persönlichkeit in ihrer poetischen Selbst-
darstellung auf die Offenbarung ihres Fühlens allein einschränken?
Auch die Eigentümlichkeiten unseres Intellekts, die doch nicht gefühliger
Natur sind, wie Tiefe oder Sinnigkeit des Denkens, gereifte Welt-
erfahrung, Klugheit und Sicherheit der Beobachtung, glückliche Kombi-
nationsgabe, das Blitzen und Sprühen des Gedankens und die nicht-
gefühligen Seiten des Willens, wie Energie oder Sanftmütigkeit des
Wollens, Vornehmheit oder Verschlagenheit der Gesinnung sind der
poetischen Wirkung sicher.
Welches Gefühl vermöchte man in dem hübschen Spruch Goethes
zu entdecken:
Tausend Fliegen hatt' ich am Abend erschlagen.
Doch weckte mich eine beim frühesten Tagen.
Ich kann nicht einmal den Ausdruck eines leisen Unbehagens in
Goethes Worten finden, wohl aber freut es uns, einer Persönlichkeit zu
begegnen, der eine sinnige Beobachtungsgabe, kluge Welterfahrung,
glückliche Bildhaftigkeit und Leichtigkeit und Grazie in Denken und
Sprache eigen ist. In Schillers berühmtem Epigramm:
t
I
ERKENNTNIS UND POESIE. 117
Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein?
wird man wohl einen ieiciiten Anflug von Verachtung und Spott gegen-
über den sekundären Geistern erkennen, die sich für Dichter ausgeben,
während doch nur die Sprache für sie dichtet. Aber was an dem
Epigramm eigentlich entzückt, ist der klare Einblick eines feinfühligen
Beobachters in die Schwäche des Halbdichters und die knappe, glück-
liche, echt epigrammatische Formulierung des Gedankens. Viele Epi-
gramme gefallen als Geistesblitze, die aufleuchten und im Aufleuchten
erhellen, und warum sollte das Blitzen des Geistes, das Licht verbreitet,
nicht schön sein; eignet doch jeglicher Kraft der Seele und des Geistes
Schönheit, weil sie als Lebensfülle empfunden wird. Deshalb zeichnet
sich Tiefe des Erkennens durch besondere Schönheit aus. Sie be-
zaubert durch die Erhabenheit der geistigen Kraft, die sich in ihr be-
kundet; umgekehrt mißfällt Trivialität und Gewöhnlichkeit des Denkens
auch ästhetisch, weil die Ärmlichkeit der Denkkraft, die sie verrät, un-
schön ist, wie jeder Mangel an Kraft, wie jede Lebensschwäche.
Erkenntnis wird teils um ihrer selbst willen gesucht, teils wegen
ihrer den Willen bestimmenden Kraft, wegen ihrer Einwirkung auf
unsere Gesinnung, wir nehmen an ihr bald ein rein intellektuelles, bald
ein praktisches Interesse. Beide Arten des Interesses sind außer-
ästhetisch und von dem Wahrheitswert des Gedankens abhängig. Der
Intellekt hat es allein mit der Frage nach der Wahrheit des Gedankens
zu tun. Wir fühlen uns befriedigt, von jedem Gedanken, der uns als
wahr einleuchtet oder wenigstens unsere Erkenntnis der Wahrheit
fördert. Unsere Gesinnung kann nur durch Grundsätze und Erkennt-
nisse geweckt und gestärkt werden, von deren Wahrheit wir überzeugt
sind. Die ästhetische Betrachtung dagegen geht allein auf den Lebens-
inhalt des Gedankens. Bei ihr handelt es sich nicht um seine Wahr-
heit oder höchstens indirekt um sie, sondern um das Leben, das der
Gedanke in sich trägt oder das er als Äußerung einer Persönlichkeit be-
kundet. Die Würdigung des Gedankens nach dem Wahrheitswert und
nach dem Lebenswert geht also nach verschiedenen Richtungen, und
da der poetische Gedanke beides in sich birgt, einen Erkenntnisinhalt
und einen Lebensinhalt, so erhebt sich die Frage, wie die beiden
Wertungsweisen sich zueinander verhalten, ob die erste die Voraus-
setzung der zweiten ist oder nicht, ob sie sich also gegenseitig fördern
oder hemmen.
Die Antwort erlaubt kein rundes Ja oder Nein. Zunächst wird
man die Erfahrung machen, daß stärkeres intellektuelles oder praktisches
Interesse die ästhetische Auffassung in den Hintergrund schiebt, sie
erschwert und sie bisweilen selbst für den Augenblick ausschaltet.
118 THEODOR A. MEYER^
Die ästhetische Auffassung muß es büßen, wenn sich der Intelleict
durch eine Dichtungsstelle angeregt oder der Wille geweckt und ge-
kräftigt fühlt. Jeder Roman, der sich tiefer auf philosophische, religiöse,
ästhetische oder politische Fragen einläßt, mag das bestätigen. Sobald
uns irgend ein Gedanke eine geistige Bereicherung bereitet, oder unsere
Gesinnung befeuert, fällt es schwer, seine Beziehung auf Situation oder
redende Persönlichkeit festzuhalten und zu empfinden, was der Ge-
danke in der Situation bedeutet und welchen Ertrag er für den Charakter,
das Fühlen und Wollen des Redenden abwirft. Ich ertappe mich oft
dabei, daß ich ganze Gespräche, die mich nach ihrer Erkenntnisseite
fesseln oder meinen Willen ins Spiel ziehen, gelesen habe, ohne über-
haupt oder ohne schärfer bemerkt zu haben, was sie für das Seelen-
leben der redenden Figuren besagen wollen. Das intellektuelle oder
praktische Interesse ist allzu lebhaft geweckt und deshalb ausschließ-
h'ch oder fast ausschließlich tätig. Zweifellos besteht also eine Spannung
des intellektuellen und des praktischen gegen das ästhetische Interesse.
Der ästhetischen Betrachtung sind keine Grenzen gezogen. Sie
ist nicht auf das Künstlerische allein beschränkt, sie kann überall da
geübt werden, wo persönliches Leben sichtbar wird, selbst wenn sich
dieses Leben in ganz unkünstlerischer Form darbietet. Je mehr religiöse
und philosophische Erkenntnisse und allerlei sonstige Lebensweisheit
nicht aus dem Verstand allein geboren sind, sondern durch Erlebnis,
Gemütsverfassung und Charakter des Denkers bedingt erscheinen, desto
mehr sind sie, auch wo sie in ein rein wissenschaftliches Gewand
gehüllt sind, der ästhetischen Betrachtung zugänglich. Schopenhauers
Philosophie trägt ausschließlich wissenschaftliches Gepräge, sie will
sich vor dem Verstand rechtfertigen und in streng logischer Anordnung
Satz um Satz beweisen und eines aus dem andern ableiten. Gleichwohl
stammt sie so tief aus Schopenhauers persönlichem Sein, sie fließt so
unmittelbar aus seiner Seele, die verekelt an dem wilden Begehren des
Willens und an der Nichtigkeit seiner Befriedigung Ruhe und Frieden
im Abschwören des Begehrens sucht, daß sie auch als Ausdruck per-
sönlichen Lebens angeschaut und genossen werden kann. Trotz ihrer
ganz wissenschaftlichen Fassung zeigt sich in ihr ein scharf geprägtes
Bild einer lebensvollen Persönlichkeit.
Mit Nietzsches Philosophie steht es nicht anders, sie fließt ganz
aus der Sehnsucht eines Kranken, vielfach Gehemmten, der aus Krank-
heit nach Gesundheit, aus gehemmtem Leben nach ungehemmtem
leidenschaftlich verlangt, und dieser persönliche Untergrund seines Phi-
losophierens schaut aus allen seinen philosophischen Lehren hervor und
setzt den ästhetischen Kopf instand, sie als Ausdruck einer machtvollen,
lebendigen Persönlichkeit zu werten.
I
II
I
ERKENNTNIS UND POESIE. HQ
' Um aber in dieser Weise ästhetisch ihrer froh werden zu können,
bedarf es keiner Entscheidung über den Wahrheitswert ihrer Lehren
oder auch nur eines Achtens auf das Fördernde, was sie für die Er-
kenntnis haben. Handelt es sich doch nicht um die Frage, ob ihre
Lehre richtig ist oder Keime des Richtigen enthält, sondern ob sie aus
einer mächtigen Persönlichkeit und aus einem starken, tiefen Erleben
der Welt kommt. Die intellektuelle Beurteilung ist dabei nur insoweit
aufgerufen, als sie im Verein mit unserem Lebensverständnis zu be-
sagen vermag, daß eine solche Weltbetrachtung denkbar ist bei einer
tiefen Natur, daß eine so beschaffene Natur zu einer solchen Welt-
betrachtung gelangen muß und daß diese also aus solchem Mund ver-
ständlich und begreiflich ist. Nur ein Fanatiker verbohrt sich in die
Einseitigkeit, zu meinen, alle Lebensauffassungen, die sich nicht mit
der seinigen decken, seien Ausgeburten eines oberflächlichen Denkens
und eines dürftigen Erlebens. Daher denn auch die ästhetische Natur
die beiden Philosophen mit der gleichen Feinschmeckerei zu genießen
vermag, obwohl sie philosophisch Antipoden voneinander sind und
es schlechthin ausgeschlossen ist, beiden zugleich Wahrheit zuzu-
erkennen. Weil für die ästhetische Auffassung philosophischer Ge-
danken die intellektuelle Entscheidung entbehrt werden kann, deshalb
flüchten sich mit Vorliebe in diese Auffassung alle diejenigen, die sich
aus Bequemlichkeit um die Wahrheitsfrage gerne drücken möchten.
Die ästhetische Auffassung philosophisch-religiöser Theorien ist das
Kennzeichen einer skeptischen Zeit, der es an Mut fehlt, zu den höchsten
Fragen des Lebens Stellung zu nehmen. Sie widerspricht dem
Zweck der Philosophie und der Absicht des Philosophen. Der
Philosoph will Zustimmung zur Wahrheit seiner Gedanken oder er
will wenigstens mit seiner Lehre Bausteine zur Bildung der Wahrheit
liefern. Der ästhetische Genießer dagegen läßt sich mit dem Inhalt
einer Philosophie nur soweit ein, als sie ihm das Bild einer tief im
Leben und seiner Gegensätze wurzelnden Persönlichkeit zu liefern ver-
mag; mit dem ästhetischen Genuß kauft er sich die Mühe der Wahr-
heitsforschung ab.
Aber diese am unrechten Ort geübte ästhetische Betrachtung ist
charakteristisch für die Natur der ästhetischen Betrachtung überhaupt
Der intellektuelle und der ästhetische Mensch unterscheiden sich da
in einem wesentlichen Punkt. Dem Intellektuellen ist nur wertvoll,
was seine Erkenntnis fördert, ihm ist es um Wahrheit, um nichts als
Wahrheit zu tun, und er lehnt ab, was ihr widerspricht oder sie nicht
fördert. Der Ästhetische ist liberal. Er freut sich an der Verschieden-
heit der Auffassungen ; er genießt die Mannigfaltigkeit der Standpunkte
als ebensoviel Zeugnisse für die Fülle der Möglichkeiten, sich der
120 THEODOR A. MEYER.
Welt im Erleben und in der theoretischen Deutung des Erlebnisses
zu bemächtigen und sieht im Philosophen lediglich die typische Per-
sönlichkeit, in Schopenhauer den Typus des grämlichen Lebensver-
neiners, in Nietzsche den des trunkenen Lebensbejahers. In der eigent-
lichen Philosophie ist diese Betrachtungsweise ein ärmliches Surrogat
für die Auffassung, auf die die Philosophie angelegt ist, für die Auf-
fassung unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit. Auf dem eigentlich
ästhetischen Gebiet, im Reich der Poesie liegt die Sache anders, da
entspricht sie zumeist der Natur der Sache. Den Ansichten, die von
den Dichterfiguren geäußert werden, stehen wir gewöhnlich nicht anders
gegenüber als unter Ausscheidung der Wahrheitsfrage. Wir haben
keinen Grund, zu den von ihnen ausgesprochenen Überzeugungen Stel-
lung zu nehmen. Wir wissen, diese Ansichten sind Mittel der Lebens-
schilderung, sie wollen nicht als Erkenntnisse genommen sein.
Man kann es vollständig dahingestellt sein lassen, ob die Behaup-
tung Sapiehas vom Unsinn der Mehrheit sich an den Tatsachen der
Weltgeschichte bestätigt oder nicht. Sie gibt auch ohne das alles ab,
was in ihr an Leben beschlossen liegt. Was der Intellekt zum Verständ-
nis der Stelle zu leisten hat, ist nur, daß er sich in den Dienst unserer
Lebenserfahrung begibt und geführt von ihr urteilt, daß ein Mann in
solcher Lebenslage und von solchem Charakter die Dinge so ansehen
kann; der Intellekt braucht nicht selbständig tätig zu sein, sondern
nur als Hilfskraft für das ästhetische Verständnis. In dem Gedicht
Rastlose Liebe sucht Goethe der schmerzlichen Überseligkeit der Liebe
zu entrinnen, aber er vermag es nicht und er bescheidet sich bei dem
Gedanken, »Krone des Lebens, Glück ohne Ruh, Liebe, bist du«. Wer
möchte so prosaisch sein sich die Frage vorzulegen, ob dieses Urteil
vor dem das Ganze des Lebens überblickenden Verstand recht behält
Genug, daß es aus der Lage des lyrischen Subjekts restlos verständ-
lich ist und seine Seelenverfassung mit voller Klarheit vor Augen führt,
den Verzicht auf die Flucht vor der Liebe und das Sichgefangengeben
in ihr im Gedanken, daß auch eine durch ihre eigene Überfülle quälende
Liebe Glück und Krone des Lebens ist. Solche Worte beanspruchen
nicht die Zustimmung zu ihrer objektiven Wahrheit, sondern nur die
Anerkennung ihrer subjektiven Berechtigung. Sie wollen ganz Lebens-
ausdruck sein, ohne konkurrierenden intellektuellen Wert. Hört man
die Verse des Harfnerliedes:
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein,
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden,
SO wird sich die Mehrzahl der Hörer nicht abmühen, mit sich darüber
I
ERKENNTNIS UND POESIE. 121
ins reine zu kommen, ob diese tragische Weifauffassung der Weisheit
letzter Schluß ist; handelt es sich doch um die psychologische, nicht
die philosophische Wahrheit, um das Recht, nicht einer Erkenntnis,
sondern einer Stimmung, in die der Mensch durch erschütternde Er-
fahrungen sich gegenüber dem Leben gedrängt sieht. Auch wäre es
abgeschmackt, wenn man die Grundsätze des Goetheschen Prometheus
als Blasphemien ablehnte und über sie in religiöse Entrüstung geraten
würde. Die Wahrheitsfrage wird von ihnen nicht gestellt, auch wollen
sie unsere Gesinnung nicht beeinflussen, allzu deutlich ist ihnen der
Stempel der Selbstdarstellung einer der Welt und den sie beherr-
schenden Mächten titanenhaft trotzenden Persönlichkeit aufgeprägt.
Wer Schopenhauers oder Nietzsches Philosophie rein ästhetisch
genießt, der tut es im Widerspruch zu der Form ihrer Darstellung,
die auf intellektuelle Würdigung angelegt ist, die dem Verstand be-
weisen, nicht aber ein Persönlichkeitsbild schaffen möchte. Wo die
ästhetische Auffassung berechtigt sein soll, da muß sie durch die Form
der Darstellung verlangt sein und da ist erstes Erfordernis, daß die
Erkenntnis in einer Fassung gegeben ist, die rein und allein bedingt
ist durch die Absicht der Lebensdarstellung. Wir müssen unter dem
Eindruck stehen, daß die seelischen Kräfte in der Persönlichkeit so
drängend waren, daß sie sich äußern mußten, daß also nicht die Ab-
sicht der Belehrung die Worte des Dichters hervorgerufen hat, sondern
das Bedürfnis der Entladung. Alles muß also an ihr ausgeschieden
sein, was nicht der Lebensdarstellung dient, sie muß als nichts er-
scheinen, denn als Entäußerung des Lebens in die Form der Er-
kenntnis. Wo ist eine solche Darstellung am ehesten sichergestellt?
Doch wohl da, wo der Gedanke aus Situation und Charakter erwächst
und in der Situation beschlossen bleibt. Da ist der unmittelbare Zwang
wirksam, sie als Auswirkung der das Gemüt erfüllenden Situation und
des Charakters zu verstehen, der in die Situation gestellt ist, sie also
als Entladung des Lebens In Erkenntnis aufzufassen, wie sich an anderen
Stellen das Leben in die sinnliche Geste oder in Reflexionen über die
in der Situation liegenden Verhältnisse, in Entschlüsse oder in Taten
entäußert. Dann wird durch den Zusammenhang deutlich gemacht,
daß die Erkenntnis nicht für den Intellekt, sondern für das Lebens-
verständnis bestimmt ist. Sapiehas Wort kommt aus einer drängenden
Situation, es entstammt den Zwecken und Absichten des Sapieha, es
will also nicht beurteilt sein nach seinem Wahrheitswert. Goethes
Bekenntnis von der Liebe als der Krone des Lebens, ist Abschluß, ist
letztes Glied in einem Seelenprozeß. Ob der, der nicht in einer solchen
Lage ist, auch so urteilt, liegt jenseits dessen, was das Gedicht will.
Im Harfnerlied und im Prometheus entspringt der Gedanke nicht aus.
122 THEODOR A. MEYER.
einer konkreten, fest'umrissenen Situation, und doch fühlt man auch
hier die zeitliche Bedingtheit des Gedankens durch. Das Bekenntnis
des Harfners von der Tragik des Schicksalslaufs bekommt den Stempel
des aus dem Moment Geborenen durch den Anfang: »Wer nie sein
Brot mit Tränen aß« usw. Seine schwermütige Reflexion stammt aus
einem Augenblick, wo ihm der dunkle Gang seines Lebens besonders
schwer auf der Seele liegt. Über dem ganzen Prometheus schwebt
der Eindruck, daß Prometheus nicht eine bleibende, sich ihrer allge-
meinen dauernden Gültigkeit bewußte Gesinnung ausspricht, sondern
daß er aus dem Augenblick eines mächtig geschwellten Selbstgefühls
heraus redet, und diesen Eindruck bestätigt der Schluß des Gedichts
mit den Worten: »Hier sitze ich, forme Menschen nach meinem Bild,
ein Geschlecht, das mir gleich sei«. Goethes Beherzigung (»Feiger Ge-
danken bängliches Schwanken c) kann als zeitloser Ausdruck eines
kecken Lebensmutes gefaßt werden; aber wieviel lebendiger wird das
kleine Gedicht, wenn man es sich, was es nahelegt, aus einer Situation
gesprochen denkt, in der der Dichter sich aus weiblichem Zagen und
bänglichem Klagen aufrafft zum Trotz gegen sein Elend. Während es
in der zeitlosen Auffassung als Mahnung zum Lebensmute erscheint
und einen leichten Anflug von Lehrhaftigkeit erhält, wird es beim Ver-
ständnis aus einer vorausgesetzten Situation heraus zur reinen Lyrik,
zum Bild eines Seelenvorgangs, ohne praktische Abzweckung.
Selbst ganze Lebensanschauungen werden reiner Lebensausdruck,
sobald wir ihre Entstehung aus Situation und Charakter der sie be-
kennenden Personen miterleben. Nirgends tritt das großartiger zutage
als an Wagners Tristan und Isolde und an Gerhard Hauptmanns Ketzer
von Soana. Die aussichtslose Liebe Tristans und Isoldens weckt in
dem Liebespaar eine unüberwindliche Sehnsucht nach dem Tode, der
sie aus einem unerträglich gewordenen Leben befreien soll. Mit der
ganzen Glut ihrer unbezwinglichen Leidenschaft sehnen sie sich nach
der Nacht des Todes, die ihnen allein volle Vereinigung verheißt. Da
die beiden so geartet sind, daß Liebe einzig ihre Seelen füllt und die
Welt ausmacht, in der sie allein leben, so wird ihnen die Abneigung
gegen das Licht und die Sehnsucht nach der Nacht des Todes zu dem
einzigen Maßstab, an dem sie das Sein bemessen. Nur im Tod ver-
mögen sie die Vollendung ihrer Liebe zu erkennen, sie sehen in der
Todesnacht das wahre Sein, während ihnen im Licht des Tages nichts
vergönnt ist als eine trügerische, aller Werte bare Scheinexistenz. So
wachsen ihnen Liebe und Todessehnsucht mit Notwendigkeit zur Welt-
anschauung aus und solange wir im Bann ihrer Liebesgefühle sind,
sind wir auch im Bann der Liebesnacht, in der für sie allein alle wahren
Werte des Seins beschlossen liegen, gleichviel ob wir diese Anschauung
ERKENNTNIS UND POESIE. 123
teilen oder nicht; denn sie entwickelt sich bei ihnen organisch aus
Liebe und Lage und ist deshalb auch in erster Linie Zeugnis für ihren
Seelenzustand, Zeugnis für die Übergewalt einer weltverachtenden Liebe.
Im Ketzer von Soana erleben wir es mit, wie die ekstatische Welt-
verneinung und seelische Liebesmystik des katholischen Priesters Fran-
cesco unter dem Zwang seiner Naturanlage, einer berückenden Leiden-
schaft und einer erhabenen, in aller Lebensfülle prangenden Natur in
eine ebenso ekstatische Weltbejahung, in jubelnde, sinnlich-orgiastische
Alliebe umschlägt. Auch da nimmt uns die Notwendigkeit dieser Ent-
wicklung gefangen. Die Weltanschauung der orgiastischen Lebens-
bejahung wird auch uns zum Erlebnis und die Frage, wie wir uns als
intellektuelle Wesen zu ihr stellen, tritt kaum an uns heran. Wir sind
poetisch in ihr gefangen, solange uns der Zauber der Dichtung umfängt.
Also: das Hervorgehen des Gedankens aus Situation und Charakter
schafft unbedingt den Zwang zur ästhetischen Auffassung und ge-
währleistet die rein poetische Beschaffenheit des Gedankens. Aber
nicht immer ist der Dichter in der Lage, nicht immer ist er gewillt,
die Erkenntnis aus Situation und Charakter herzuleiten. In der Natur
der Erkenntnis liegt vielmehr das Dauernde als das Vorübergehende,
die Gültigkeit für alle Zeiten als die Gültigkeit für eine Situation allein.
Der Dichter hat das Bedürfnis, den dauernden Wert, den er im Ge-
danken beschlossen glaubt, die immer wiederkehrende Wirkung, die
er aufs Gemüt ausübt, die immer gleiche Kraft, mit der sich in ihm
die Persönlichkeit des ihn Denkenden und Gestaltenden darstellt, zur
Geltung zu bringen. Auch verzichtet kein Dichter auf das Recht, Er-
kenntnisse, von deren Wahrheit er durchdrungen ist, die die tragende
Kraft seiner Gesinnung geworden sind, auszusprechen. Der Dichter
möchte eben mit Hilfe der Erkenntnis bald Bilder von Gemütszuständen
und Gestalten schaffen, bald durch sie den Geist bereichern und den
Willen festigen. Er macht mit Absicht den Schritt aus der reinen
Poesie heraus, wenn es ihm darum zu tun ist, religiöse, sittliche, künst-
lerische und politische Ansichten und Lebenserfahrungen aller Art an
den Mann zu bringen und gibt dieser Halbpoesie nur so viel von Ge-
müts- und Persönlichkeitswerten mit, daß die poetische Form gerecht-
fertigt ist. Das Poetische muß sich auf die zweite Stelle zurückziehen;
kein Dichter, der nicht auch die halbpoetische Gattung der Gnome
und des Epigramms gepflegt hätte oder im Roman dem Lehrhaften
eine breite Stelle gegönnt hätte, wenn es nur zu gleicher Zeit be-
zeichnend ist für die Charaktere oder für die geistige Atmosphäre, von
der die Figuren des Romans umfangen sind.
Gibt der Dichter Erkenntnisse, losgelöst von einer individuellen
Situation, so ist er vielmehr auf die Verwendung von poetischen Mitteln
124 THEODOR A. MEYER.
angewiesen, als wenn die Erkenntnis im Rahmen und im Zwang einer
drängenden Situation auftaucht. »Das Leben, das hat seine Erneuerung«,
sagt Rebel<ka in Ibsens Rosmershoim zu Rosmer, als dieser infolge
der erschütternden Geständnisse Rebekkas am Leben verzweifelt. Dieser
Satz von vollständig prosaischem Zuschnitt ist in der Situation, in der
er ausgesprochen wird, Vollpoesie. Er berichtet uns von der bangen
Sorge der Rebekka um Rosmers Seelenzustand, er berichtet von ihrem
Willen, Rosmer aufzurichten und seine Gedanken von Beatens Tod
abzulenken, von ihrer Hoffnung auf das Erwachen eines neuen Lebens
in ihm, und zugleich zündet der Gedanke in Rosmers Seele: er könnte
weiterleben, erwidert er, wenn er den Glauben an Rebekka wieder-
gewänne. Es fehlt also dem Gedanken auch nicht an wirkender Kraft.
Aber was wäre der Gedanke ohne die Situation, in der er uns ent-
gegentritt? Nichts weiter als nackte Prosa und wie müßte er umge-
staltet werden, um auch nur einen Schimmer von Poesie zu erhalten?
Es müßte ihm erst die poetische Farbe gegeben werden, durch die
Mittel, die der Poesie für solche Zwecke zur Verfügung stehen. Poetische
Farbe aber gewinnt der Gedanke vor allem durch die metrische Form.
Sie besagt, daß der Dichter aus erregter Seele spricht, aus einer Seele,
der die Selbstoffenbarung Bedürfnis ist. Zur metrischen Form kommt
dann die sprachliche hinzu, die Gewähltheit des Ausdrucks, die Um-
setzung des Abstrakten in das unmittelbarer Gegebene, die Verwendung
empfindungsmächtiger Wörter und Bilder, die Fassung der Erkenntnis
als Selbstaufmunterung, als Anrede, als Mahnung, als Warnung, als
wohlmeinender Rat. All das bezeugt uns, daß der bildende Geist am
Werk ist und daß die Erkenntnis dem Dichter nicht reine Verstandes-
sache ist. Es besteht kein Zweifel, daß auch auf diesem Weg Ge-
dichte entstehen können, die nicht als Belehrung oder als Weckrufe
zu einer bestimmten Gesinnung, sondern ganz rein als Bilder von
Seelenzuständen und Persönlichkeiten empfunden und mithin rein äs-
thetisch hingenommen werden. Das wird in erster Linie vom Dichter
und von der fühlbaren Absicht abhängen, die er mit dem Gedicht hat.
Merkt man es seinen Versen an, daß er nichts im Auge hat als ein
Lebensbild zu entwerfen, so folgt ihm der unbefangene Hörer willig.
Aber auch hier werden den Eindruck der reinen Poesie Erkennt-
nisse am ehesten hervorrufen, die entweder so allgemein anerkannt
sind, die so selbstverständlich sind, daß sie kein intellektuelles Interesse
in Anspruch zu nehmen vermögen oder die so ausgesprochen sub-
jektives Gepräge tragen, daß sie unmöglich als objektive Gültigkeit
beanspruchende Wahrheiten gefaßt werden können. Der Gedanke, daß
der Tod nichts Lebendes verschont, vermag unsern Verstand nicht zu
reizen, um so freier werden wir, den Schmerz rein ästhetisch zu werten,
I
II
II
ERKENNTNIS UND POESIE. 125
mit dem diese allen geläufige, allen selbstverständliche Erkenntnis das
Herz des Dichters bedrückt. Aus Schillers herrlicher Nänie ist jede
Spur des Lehrhaften getilgt. Sie stellt uns das Bild einer Seele vor
Augen, die sich krümmt unter dem Schmerz über den unerbittlichen
Tod des Schönen und sich über diesen Schmerz erhebt in dem Ge-
danken an die Klage aller Edlen, die dem Untergang des Schönen folgt.
Hölderlins Schicksalslied macht, obwohl es sich ganz in allgemeinen
Gedanken, in Gedanken über die Götter und über den Menschen be-
wegt, auch nicht einmal den Eindruck der Gedankenlyrik, so ganz herr-
liches Stimmungsbild ist es, und zwar deshalb, weil keiner seiner Ge-
danken objektive Gültigkeit beansprucht. Der Gedanke von der seligen
Fülle und Harmonie des Götterlebens ist ein Sehnsuchtstraum des vom
Geschick umgeworfenen Menschen und was als das bejammernswerte
Los des Menschen hingestellt wird, »von Stufe zu Stufe jahrelang ins
Ungewisse hinabzusinken«, ist die Klage eines vom Geschick Zer-
tretenden, nicht die Erkenntnis eines Denkers.
Es ist oben bemerkt, daß die Philosophie der Todesnacht in Tristan
und Isolde und die Weltanschauung der orgiastischen Lebenslust im
Ketzer von Soana aus der Situation erwachsen und deshalb ins Voll-
poetische erhoben seien. Doch waltet zwischen beiden ein beachtens-
werter Unterschied. Die Philosophie in Tristan ist mit einer Betonung
vorgetragen, die sie über die subjektive Überzeugung der handelnden
Personen hinaushebt ins allgemein Gültige. Die Weisheit des Ketzers
von Soana bleibt dagegen ohne solche Betonung. Man kann sich auch
nicht gut denken, daß Gerhart Hauptmann sich unbedingt hinter die
Weisheit seines Helden stellt. Auf diese Weise erhält sie den Charakter
eines trunkenen Hymnus auf die seelische Lebensfülle des natürlichen
Lebens, der das Gefühl des Lesers aufruft, mit einzuklingen in diesen
Lobgesang. Der mitgerissene Leser steht unter dem Bann der Echt-
heit des Gefühls. Er begreift, daß man so denken kann, aber er fühlt
sich nicht herausgefordert, anzuerkennen, daß man so denken muß.
Deshalb ist auch der Vorwurf, den man gegen Gerhart Hauptmann
ausgesprochen hat, er suche in einer Zeit der schweren Bedrängnis
des deutschen Volks es zu gewinnen für eine Weltanschauung des
tatenlosen Versinkens ins vegetative Leben der Natur, unberechtigt und
sinnlos.
Im Sinn der poetischen Auffassung wirkt es dann, wenn der Ge-
danke in sich selbst ästhetischen Charakter hat. Stellt uns der Dichter
die Mächte, die nach seiner Überzeugung Natur und Menschenleben
beherrschen, als lebendige Kräfte dar, deren Leben er als erhaben oder
anmutig empfindet oder fühlt er die Gesinnung, die er verkündet, in
ihrer Erhabenheit und Schönheit, so leitet er damit selbst zur ästhefi-
126 THEODOR A. MEYER.
sehen Betrachtung seiner Gedanken an. Er macht sie zum Objekt des
ästhetischen Genusses und schiebt sie damit aus der Sphäre des in-
tellektuellen in die des ästhetischen Interesses. In vorbildlicher Weise
ist das in Goethes hochgestimmter Hymne »Das Göttliche« geschehen.
Goethe stellt uns zuerst die Natur als eine Macht dar, die in ihrer
gefühllosen Gleichgültigkeit gegen Gut und Böse, gegen Menschen-
wohl und Menschenwehe über alle Menschenmaßstäbe erhaben ist und
läßt uns dann die Fähigkeit des Menschen, das Unmögliche zu ver-
mögen, zu unterscheiden und zu wählen und zu richten, als ein Er-
habenes empfinden, das die Erhabenheit der nicht unterscheidenden
Natur überbietet und das Göttliche am Menschen ausmacht.
Denselben Charakter zeigt die Gedankenlyrik Schillers. Schiller
berauscht sich an der Erhabenheit der Wahrheiten und der Gesinnungen,
die er verkündet. Er sucht die Leser hineinzuziehen in den Rausch
des Erhabenheitsgefühls, den er in seinen Versen ausströmt. Durch
solche Dichtungen ist der Leser nicht so sehr aufgerufen zur theoreti-
schen oder sittlichen Billigung der verkündeten Wahrheiten, als aufge-
fordert, diese Begeisterung mitzuempfinden als ein Stück eines ebenso
echt menschlichen Fühlens, wie es etwa die Trauer um die verlorene
Geliebte ist.
In solchen Gedichten wird also der Eindruck der Vollpoesie, der
beabsichtigt ist, auch erreicht. Andere Erzeugnisse der Lyrik dagegen
tragen es offen zur Schau, daß sie eintreten wollen für Wahrheiten,
die dem Dichter am Herzen liegen und daß sie die Leser für diese
gewinnen wollen. Sie beanspruchen nicht mehr als Halbpoesie zu
sein, wenn sie auch in der Wärme und in der Großzügigkeit, mit der
die Gedanken vorgetragen werden, noch poetische Elemente genug
haben, um nicht zur langweiligen nüchternen Lehrprosa herunterzu-
sinken. Schillers Gedicht »An Goethe, da er den Mahomed von Voltaire
auf die Bühne brachte«, sei für diese Art von Lehrhaftigkeit als kenn-
zeichnendes Beispiel genannt. Bei der Mehrzahl der Epigramme und
Gnomen vollends verspürt man es, daß der Reiz, der den Dichter zur
Aussprache seiner Gedanken getrieben, im Wahrheitswert liegt, den er
ihnen zumißt, deshalb wird bei der Lektüre die Erkenntnisfreude und
die Gesinnungswirkung an erste Stelle treten und der ästhetische Genuß
an der in der Erkenntnis und Gesinnung sich offenbarenden Persön-
lichkeit nur als Begleiterscheinung mitspielen.
Durchgängig hat sich ergeben, daß die ästhetische Auffassung
des Gedankens überall da besonders sichergestellt ist, wo der Wahr-
heitswert des Gedankens nicht ins Gewicht fällt. Aber erledigt ist
damit die Frage vom Verhältnis zwischen Wahrheitswert und Lebens-
wert des Gedankens nicht. Das geht schon aus dem Gesagten hervor.
I
ERKENNTNIS UND POESIE. 127
Wir haben gesehen, daß der Tiefe des Gedani<ens eine besondere äs-
thetische Bedeutung zukommt. Nun ist wohl der Eindruck der Tiefe
nicht unbedingt gebunden an das Urteil über die Wahrheit des Ge-
dankens. Das Verhalten so vieler ästhetischer Naturen zur Philosophie
eines Schopenhauers oder Nietzsches hat uns das gezeigt. Aber muß
uns nicht eine Persönlichkeit tiefer erscheinen, die zu den letzten Er-
kenntnissen vorgedrungen und die innersten Gründe des Seins auf-
gedeckt zu haben scheint, als eine solche, von der wir nur urteilen,
daß ihre Auffassung, ob zwar die Wahrheit derselben zweifelhaft sein
mag, doch aus einer tief im Leben wurzelnden, mächtigen Seele kommt?
Dem, der im Tristan Wagners das Mysterium des Seins gelöst sieht,
muß dieses Werk als die Offenbarung eines unsäglich hohen Geistes
scheinen, ganz anders als dem, der ohne zur Wahrheitsfrage Stellung
zu nehmen, darin nichts genießt als die großzügige, berauschende
Philosophie der hoffnungslosen Liebe. Das Miteinklingen in die Be-
geisterung des Dichters für die erhabenen Wahrheiten und Gesinnungen,
die ihm die Seele schwellen, ist auch dann möglich, wenn wir seine
Überzeugungen nicht voll zu teilen vermögen. Wir können uns von
ihm hineinreißen lassen in seine Begeisterung, falls wir ihr nur mensch-
liche Größe und Berechtigung zuzuerkennen vermögen. Aber er-
leichtert wird uns das Mitfühlen, wenn seine Überzeugung unsere
Zustimmung erlangt, und unmöglich wird es uns gemacht, wenn wir
sie ablehnen als hohlen Phrasenschwulst.
Nicht anders steht es mit dem eigentlichen Ideengehalt von Dramen
und Romanen. Man kann zur rücksichtslosen Wahrheitsbegeisterung,
die Ibsen zu seiner Gesellschaftskritik in den Stützen der Gesellschaft
und den Gespenstern treibt, in verschiedenster Weise Stellung nehmen.
Man kann ihre Berechtigung dahingestellt sein lassen und sich an ihr
freuen als an dem Ausfluß eines hohen, seinem Ideal bedingungslos
hingegebenen Geistes. Aber ist das nicht ein schwächliches Verhalten,
so schwächlich als der rein ästhetische Genuß eines philosophischen
Systems? Fordert Ibsen nicht selbst die Stellungnahme zur Frage der
bedingungslosen Wahrhaftigkeit heraus, die er vertritt? Nimmt man
aber Stellung, so ist es für den ästhetischen Wert von Ibsens Dramen
nicht gleichgültig, ob sie zustimmend oder ablehnend ausfällt. Der Zu-
stimmende wird in diesen Dramen eine Persönlichkeit am Werk sehen,
die mit scharfem Blick die Gesellschaftsschäden durchschaut und tapferen
Sinns das heilende Messer legt an eiternde Geschwüre. Der Ablehnende
wird der Überzeugungstreue und der sittlichen Tapferkeit Ibsens die
Schönheit nicht absprechen, aber sie wird ihm beeinträchtigt werden
durch den Eindruck, daß ein einseitiger Wahrheitsfanatismus dem
Dichter den Blick für die Bedingtheiten der Gesellschaft und der in
128 THEODOR A. MEYER.
ihr wirksamen Kräfte getrübt hat. Das Urteil über die Wahrheit ge-
winnt eben sofort Bedeutung für die ästhetische Wertung. In jenem
Ibsen waltet eine viel höhere Kraft der Oeistigkeit als in diesem und
mit der höheren Kraft auch die höhere Schönheit; denn Kraft ist
Schönheit.
In der lehrhaften Dichtung hängt der ästhetische Wert vollends
an der Wahrheitsfrage. Ein guter Teil des ästhetischen Reizes beruht
in ihr auf dem sicheren Erfassen der Wirklichkeit, auf dem klaren Blick
und dem treffenden Urteil des Dichters gegenüber den Erscheinungen
des Lebens und der Kunst. Der ästhetische Wert von Schillers Epi-
gramm über die Halbdichter und die in ihnen dichtende Sprache fällt
für den fast ganz dahin, der Schillers Urteil die Berechtigung abspricht.
Verkennung der Wirklichkeit bekundet eine geistige Schwäche, die wie
alle Lebensschwäche unschön ist.
Es ergibt sich also die Tatsache, daß ästhetische Werte vorhanden
sind, die nicht unter Ausschaltung der Wahrheitsfrage zu erfassen sind,
sondern nur nach ihrer Lösung. Gleichwohl bleibt es dabei, daß
wenigstens zunächst das intellektuelle und praktische Interesse, das
wir an den Ideen des Dichters nehmen, die ästhetische Auffassung in
den Hintergrund schiebt. Bei Dichtungen, die vom Dichter lehrhaft
gemeint sind, ist das ohne Bedenken, da entspricht es der Absicht
des Dichters. Anders bei den Werken hoher Kunst, die über die Linie
der Bildhaftigkeit nirgends hinausgehen. Man kommt über einen eigen-
tümlichen Zirkel nicht hinaus; die Anerkennung der Wahrheit von
Gedanken und Grundsätzen steigert den ästhetischen Genuß und doch
drängt sie zunächst einmal über das Ästhetische hinaus. Wem ein
Dichtungswerk die Lösung tiefer Lebensfragen bringt, wer sich von
ihm in seinem Gewissen gepackt und in seiner Gesinnung bestärkt
fühlt, der sieht sich im ersten Augenblick wenigstens von der rein
ästhetischen Betrachtung abgezogen. Die ästhetische Auffassung bleibt
nur rein und unverfälscht, wenn der Intellekt über die Rolle einer be-
scheidenen Hilfskraft nicht hinauswächst und die praktische Wirkung
ausgeschaltet wird. Aber was hindert daran, daß nicht nach der Über-
wältigung des Bewußtseins durch außerästhetische Gesichtspunkte die
ästhetische Einstellung wiederkehrt und schließlich das Feld behauptet?
und nur darauf kommt es an. Wem Tristan oder Parsifal zum ersten-
mal die Pforten einer höheren Weisheit entriegelt, den wird der Hell-
blick der philosophischen Betrachtung oder die Kraft der religiösen
Erbauung mit solcher Gewalt treffen, daß die ästhetische Betrachtung
darüber zu kurz kommt und verkümmert. Aber wenn er sich all-
mählich an die Wahrheit, die er hier enthüllt sich entgegentreten sieht,
gewöhnt hat, dann wird er mehr und mehr sich imstande fühlen, auch
I
ERKENNTNIS UND POESIE.
129
die geniale Kraft der Persönlichkeit zu empfinden und zu genießen,
die mit solcher Tiefe das innerste Wesen der Welt erschaut und ge-
staltet hat. Dann wird das Intellektuelle zurücktreten und die Diener-
rolle einnehmen, die ihm für den ästhetischen Genuß allein zukommt.
Es wird nur noch Gradmesser sein für die Lebenshöhe einer Persön-
lichkeit, die einen solchen Tiefblick der Erkenntnis getan hat.
Und ähnlich wird es auch bei den vielen Beobachtungen aus Leben
und Kunst sein, denen wir allenthalben in den großen Werken der
Dichtkunst begegnen. Im ersten Augenblick überrascht der Gedanken-
inhalt, sobald aber die Überraschung geschwunden ist, wird der Blick
frei für die Persönlichkeit, die aus ihnen aufleuchtet, und die Freude
an der Wahrheit der Beobachtung wird übertönt von der Freude an
der Geisteskraft der Persönlichkeit, von der die Sicherheit ihrer Wirk-
lichkeitsbeobachtung Zeugnis ablegt. Die Befriedigung über die Wahr-
heit des Gesagten wandelt sich in das Wohlgefallen an der (geistigen)
Schönheit des Redenden. Das aber ist das eigentliche Charakteristikum
der Erkenntnis in der Poesie: sie erreicht ihren ästhetischen Höhe-
punkt, wo der Dichter zum vates, zum Seher wird. Aber eben damit
droht sie die Grenze des Ästhetischen zu überschreiten, und nur eine
energische Konzentration des Blicks auf die Lebenshöhe der Persön-
lichkeit, die sich in der Erkenntnis bekundet, vermag den Leser wieder
zurückzurufen zur bildhaften Betrachtung, die das Wesen des Ästheti-
schen ausmacht.
Zcitichr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV.
V.
Zur Methodik
der musikalischen Geschichtschreibung.
Von
Hans Joachim Moser.
Die Musikhistoriker (wie die Kunstwissenschaftler wohl überhaupt)
folgen heute überwiegend der Anschauungs-, Forschungs- und Dar-
stellungsweise der modernen Naturwissenschaft, d. h. sie suchen den
noch täglich stark wachsenden Erfahrungsstoff bis in die feinsten Ver-
äderungen auf ein umfassendes Bestimmungssystem zu verteilen und
dieses unter dem allbeherrschenden Gesichtspunkt des Entwicklungs-
gedankens zu begreifen. Also gewissermaßen eine Arbeitsweise teils
nach Linne, teils nach Darwin. So vorzüglich die Übertragung
beider Methoden auf unsere Disziplin an sich paßt, so birgt sie doch
in ihrer heute fast ausschließlichen Anwendung Gefahren, auf die im
folgenden aufmerksam gemacht werden soll. Dabei wird sich hoffent-
lich genug positiver Gewinn ergeben, um auch gelegentliche Kritik zu
entschuldigen und zu weiterer Arbeit anzuregen.
Die übliche Rubrizierungstechnik zeitigt meines Erachtens vor allem
zweierlei bedenkliche Begleiterscheinungen. Einmal bleibt man leicht
beim Beschreiben des äußerlichen Tatbestandes, der Registrierung for-
maler Dinge stehen, statt mit der Feinfühligkeit des Ästhetikers bis ins
Lebensmark des zu behandelnden Kunstwerks vorzudringen. Für diese
seelischen Unterscheidungen ist eben in solchem, rein morphologisch
gedachten Schema schwer Platz zu finden '). So wird leicht als Selbst-
zweck angesehen, was immer nur Vorarbeit zu dem eigentlichen Ziel
sein sollte: dem Begreifen des Kunstwerks als Lebensäußerung, ja als
Seelenträger. Der zweite mögliche Nachteil, dem manchmal gerade
besonders fleißige, stoffreiche Arbeiten anheimfallen, liegt darin, daß
vorwiegend unterschieden, getrennt, auseinanderseziert wird, statt lieber
im Einzelfall vor allem das Allgemeine, Gemeinsame, Einende aufzu-
zeigen, dessen Nachweis in weit höherem Maße bereichern und unter-
richten würde. So steht man schließlich verwirrt vor einer schwer
') Mit Recht spricht Geoffroy de St. Hilaire vom >bloß Akzessorischen« der Form.
I
I
ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 131
Übersehbaren, fast amorphen Anhäufung ungefähr gleichgeordneter
Zellen, statt sich in einem hochgegliederten Organismus rasch zurecht
zu finden, wo Wichtiges wichtig. Nebensächliches nebensächlich heißen
darf. Diese Verkennung des Wissenschaftszweckes wurzelt gleicher-
maßen in dem heutigen Drang, überall Individuen anzuerkennen, auch
dort, wo es sich meist bloß um Typenvertreter handelt, in dem bienen-
mäßigen Ehrgeiz nach Vollständigkeit und in dem Mangel an archi-
tektonischer Kraft zu vereinfachender Ideenbildung. Statt der geschil-
derten, naturkundlichen Diagnostik brauchen wir einen tüchtigen Zu-
schuß vom Tiefschauen jenes Goethe, der es als seine Hauptaufgabe
bezeichnete, in den Dingen das Bindende, Bleibende zu erkennen, oder
wie Plato sagt, die Dinge zu Einheiten zusammenzuschauen.
Der musikgeschichtliche Darwinismus ist dem übertriebenen Linn6-
ismus im Prinzip insofern nahe verwandt, als er an die Stelle eines
schier unendlichen Nebeneinanders ein fast endloses Nacheinander
setzt. Mit Maßen gehandhabt, ist er an sich selbstverständlich ebenso
berechtigt wie die erstgenannte Methode. Aber wie es im Begriff aller
»Geschichte« liegt ^), verführt er unschwer dazu, selbst unbezweifelbares
»Sein« in »Werden« aufzulösen und dem Auge damit die letzten Fest-
punkte zu rauben, an denen sich noch das Zeitmaß der geistigen
Bewegungen ablesen läßt. Diese Gefahr scheint mir neuerdings beson-
ders in Sachen der Tonpsychologie zu drohen, wo z. B. ungefähr alle
zu historischer Zeit in der europäischen Musikgeschichte auftretenden
musiktheoretischen Verschiedenheiten gern als geschichtliche Wand-
lungen im Empfinden ein und derselben, in sich ziemlich gleichartigen
Gesamtrasse aufgefaßt werden. Weit eher dürfte es sich um ein
bleibendes Nebeneinander mehrerer fast unwandelbarer psychologischer
Völkeranlagen handeln, deren jede nur zu anderer Zeit in den Vorder-
grund der musikalischen Ereignisse gezogen worden ist. Und das
bedeutet doch etwas fundamental Anderes! Wenn mir kürzlich ein
Tonpsychologe allen Ernstes versicherte, die von ihm experimentell
festgestellte Vorliebe der Japaner für Sekundenzusammenklänge stelle
ein »früheres Entwicklungssfadium des Konsonanzhörens« dar, so ist
das doch eine seltsame Ausgeburt der ewigen Evolutionsidee; —
beziehe ich mein Mehl nacheinander von verschiedenen Mühlen, so
kann ich doch nicht seine wechselnde Beschaffenheit auf eine »Ent-
wicklung« der Mühlengattung zurückführen, sondern höchstens auf die
Verschiedenartigkeit der einzelnen Mühlen untereinander! Psycholo-
gische Funktionen wandeln sich nicht so rasch wie zeitgeschichtliche
') Goethe sagt mit Recht, allzuvieles Fragen nach den Ursachen sei gefähr-
lich, man solle sich lieber an die Erscheinungen als gegebene Tatsachen halten.
132 HANS JOACHIM MOSER.
Moden, die europäische Musikgeschichte in ihrer größten Vereinfachung
ist nicht so sehr die Entwicklungsgeschichte des Harmonieempfindens,
als vielmehr der Kampf einer von vornherein horizontal und einer
a priori vertikal hörenden Rasse um die Hegemonie. Wenn allmählich
der Sieg sich immer mehr auf die Seite der letzteren Musikauffassung
unter teilweiser Aufsaugung der Gegenpartei geneigt hat, so zeigt sich
das Bild einer Entwicklung höchstens in der von beiden derweil durch-
gearbeiteten Materie *). Auch hier wäre es von erheblichem Vorteil,
wollte man weniger betonen, was die Zeiten unterscheidet, sie zu
Epochen auseinandertrennt, sondern wenn man auch dasjenige scharf
beleuchtete, was durchgängig, über die Wandlungen der Jahrhunderte
hinweg, Gemeinbesitz der Tonsprachen geblieben ist und bleiben mußte,
weil es im unwandelbaren Untergrund der seelischen Anlagen ver-
ankert lag.
Dies gesuchte Gemeinsame nach verschiedenster Blickrichtung
finden wir in dem, was man als »Stil« bezeichnet. Doch hüte man
sich, den Begriff so obenhin zu verstehen, als beträfe er bloß die leicht
greifbaren Äußerlichkeiten, Schnörkel, Manieren bestimmter Zeiten und
Gegenden. Wird man auch nie den eigentlichen Kern und Inhalt als
»Stil« miteinbegreifen dürfen, so umfaßt er doch gegenüber dem Einzel-
fall die gesamte Haltung, Prägung, Äußerungsart einer künstlerisch-
schöpferischen Stelle und bildet damit einen integrierenden Bestandteil
ihres Wesens. Daß übrigens Form und Inhalt hier wie in aller Kunst
sich gegenseitig auf das Engste durchdringen, sich also nicht streng
scheiden lassen, werden wir noch mehrfach bestätigt sehen ^).
Je nachdem nun als die genannte schöpferische Instanz ein Volks-
tum, ein Zeitalter, eine Persönlichkeit oder eine Werkgattung betrachtet
wird, legen sich gleich feinen Staubteilchen vier Stilarten distanzierend
über den Kern des Kunstwerks, den rein zu erschauen das Ziel aller
kunstwissenschaftlichen Bemühung sein muß: Volksstil, Zeitstil,
Persönlichkeitsstil und Werkstil. Die Betrachtung dieser an-
scheinend ziemlich elementaren Begriffe in ihrem gegenseitigen Ver-
hältnis wird unsere volle Aufmerksamkeit beanspruchen, da sie uns
helfen soll, das einzelne Kunstwerk vierfach mit den erwünschten
großen Gemeinsamkeiten zu verklammern.
Der musikalische V o 1 k s s t i 1 (auch zum R a s s e n s t i 1 erweiterbar)
begreift in sich das allen Volksgenossen (ziemlich gleichgültig welcher
') Vgl. auch die bedeutsame Auseinandersetzung von Curt Sachs (Archiv für
Musikwissenschaft I, S. 5), wie man das Problem des Streichbogens aus einer ethno-
logischen zu einer chronologischen Angelegenheit verzerrt hat.
2) Schiller erklärt es einmal geradezu als die Aufgabe des Künstlers, Inhalt
In Form umzuwandeln.
ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 133
Zeit) gemeinsame, sie von den Angehörigen eines fremden Volkstums
scheidende tonl<ünstIerische Empfinden, ihre besondere Anlage, Musik
zu hören und zu gestalten. Die verschiedenen Volksstile bedeuten ein
räumliches Nebeneinander paralleler Fasern, das quer zum Ablauf der
Zeiten geht.
Der musikalische Zeifstil wiederum umfaßt die für alle Ange-
hörigen einer gewissen Epoche fast ohne völkische Begrenzung charak-
teristischen Eigenheiten der Ausdrucksgebung, des Musikverständnisses.
Das Nacheinander der verschiedenen Zeitstile kreuzt rechtwinklig die
Stränge der musikalischen Nationalbegabungen. Veranschaulichen wir
uns diesen Sachverhalt mit Hilfe eines ebenen Koordinatennetzes, in
dessen Achsenkreuz wir selber als Deutsche des beginnenden 20. Jahr-
hunderts stehen (siehe folgende Seite).
In den verschiedenen Koordinatenschnittpunkten oder -Vierecken
stehen die schöpferischen Einzelpersönlichkeiten je nach der Zeit und
dem Volkstum, denen sie angehören. Selbstverständlich sind sie nicht
restlos als deren einfache Produkte in zwei Multiplikanden zerlegbar —
die Persönlichkeit ist, so stark Raum und Zeit sie auch beeinflussen
mögen, etwas in sich absolut Neues, Einzigartiges, Unteilbares. Wir
sind jedoch gezwungen, sie unter den Anschauungsformen von Raum
und Zeit zu sehen, sie also in diesen auch gehörig einzuordnen, mit
denen sie bis in die inneren Bezirke ihres Wesens hinein vielfältig
verzahnt und verwachsen ist.
Man verlange übrigens von obigem Koordinatennetz nicht mehr
als es leisten kann. Die wirklichen Gefühlsabstände zwischen uns
und den dort verzeichneten Meistern könnte es nur in dem Fall liefern,
daß es gelänge, die einzelnen Nationen genau nach dem Grad ihrer
Gefühlsverwandtschaft mit uns auf der Abszissenachse einzutragen,
und daß die zeitstilistischen Unterschiede von Jahrhundert zu Jahr-
hundert zurück immer gleichblieben. Beides ist nicht der Fall. Oben-
drein vermag die geniale Persönlichkeit alle Abstände, die Zeit- und
Volksstile schaffen, regelwidrig zu überspringen. Die Schöpferkraft
eines Shakespeare, Isaac, Lionardo tritt uns oft erstaunlich »modern«
gegenüber, und auch der hochbegnadete, reproduzierende Interpret
vermag entsprechend in entgegengesetzter Richtung fernstliegende
Denkmäler intuitiv sich nahe zu bringen. Unsere Figur sollte nur
ungefähr andeuten, welch verschieden mächtige Schichten zeitlicher und
völkischer Stilabstände wir durchdringen müssen, um der historischen
oder landfremden Schöpferpersönlichkeit unmittelbar gegenübertreten,
sie naiv genießen zu können.
Streng genommen ist ja nur der Autor selbst das ideale Publi-
kum; wie Schumann an Mendelssohn schreibt (12. November 1845):
134
HANS JOACHIM MOSER.
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ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 135
»So wie der Komponist kennt und versteht doch niemand sein Werk.«
Aber jeder Kunstgenuß müßte einzig auf den Schöpfer beschränkt
bleiben, wenn uns nicht das Phänomen der Einfühlung gestattete, auch
noch den nicht völlig konformen, bloß ähnlichen Empfindungsorganis-
mus zu verstehen. Diese Einfühlung wird zu einer Gefühlsumstellung
von erheblichen Ausmaßen, wenn die Objekte des Kunstgenusses (und
Genießender muß auch der Kunstgelehrte über alles Wissen hinaus
stets bleiben!) durch starke stilistische Schranken von uns abrücken.
Hier ergeben sich schließlich auch Grenzen der Umstellungsfähigkeit;
ein Bild wird uns am besten zur Veranschaulichung helfen.
Der fremde Volks- und Zeitstil gleicht einer leicht gefärbten Fenster-
scheibe, durch die man in einen Garten schaut. Solange man dabei
durch weißes Glas zu blicken glaubt, müssen die Tönungen der Land-
schaft stutzig machen. Erkennt man jedoch als Ursache die Färbung
des Glases, so zieht man sogleich instinktiv die aus diesem Umstand
entspringenden besonderen Wirkungen ab und kann sich recht wohl
eine Vorstellung vom wahren Eindruck des Gartens jenseits des bunten
Glases machen i). Geht die Einbildungskraft eines Kunstgenießers nicht
weiter, kann sie über die platte Feststellung des realen Sinneneindrucks
nicht hinaus, so lasse er getrost die Hände von der Beschäftigung mit
historischen und landfremden Künstlerpersönlichkeiten; er würde ihnen
nur die eigene Beschränktheit in die Schuhe schieben. Versteigt sich
jedoch die Färbung der bunten Scheibe bis ins Giftgrüne, ins Knall-
rote, tritt womöglich noch ein verzerrender Schliff hinzu, so wird alle
Anschmiegsamkeit der Vorstellungsgabe nicht mehr gestatten, unter
Ausschaltung des störenden Mediums das dahinterliegende Bild im
wahren Licht und wahrer Form zu sehen. Ohne Gleichnis gesprochen:
einem derartig abstrusen Zeit- oder Volksstil gegenüber versagt, allem
Wissen unbeschadet, die aufbauende Kraft der Phantasie, und wir
dürfen als Kunstästhetiker getrost resignieren.
Wie eng in naiveren Zeiten die Grenzen der Oefühlsdehnbarkeit
sind, beweisen z.B. verhängnisvoll die lange wörtlich geglaubten
Worte des Tinctoris, erst seit etwa fünfzig Jahren (also rund seit 1450)
komponiere man genießbare Musik; für die ästhetische Hartmäuligkeit
eines ganzen Volkstums könnte man das vielfache Unverständnis
der römischen Zeugen für die Musikalität der Germanen nennen, für
die Unbiegsamkeit der Einzelpersönlichkeit etwa Tschaikowskis Be-
hauptung, Brahms hätte keine Melodie, Hugo Wolfs Verständnis-
') Bedeutsam ist das Geständnis Hugo Riemanns (Folkloristische Tonalitäts-
studien I, S. VI), er habe sich schließlich in die fremde Pentatonik so hineingedacht,
daß ihm jetzt gelegentliche Verstöße gegen deren Geist in keltischen Denkmälern
bereits als solche gefühlsmäßig auffielen.
136 HANS JOACHIM MOSER.
losigkeit für Brahms, dessen Blindheit für Brückner usw. Andere
Personen (z. B. Liszt), Völker (z. B. die Juden), Zeiten (Romantik) sind
wieder durch eine erstaunliche Weite der ästhetischen Umstellungs-
und Einfühlungsgabe ausgezeichnet.
Der Begriff des Persönlichkeitsstils ist an sich leicht zu fassen
— er betrifft die Charakteristika der künstlerischen Handschrift, sozu-
sagen die Physiologie der einzelnen Künstlerschaft, die jenseits von
räumlichen und zeitlichen Gemeinsamkeiten alle Äußerungen der schöpfe-
rischen Monade als zu dieser gehörig erkennen läßt. Wenn man ein
unbekanntes Tonwerk, gleichgültig welcher Gattung und welchen
Inhalts, erstmals hört und nach wenigen Takten unwillkürlich sagt:
»Das ist Bach, das ist Schubert, das ist Brahms«, so empfindet man
eben deutlich den betreffenden Persönlichkeitsstil, der zwar während
eines langen Schöpferlebens erst allmählich zum vollen Durchbruch
gelangen kann — man denke an Wagner — , an sich aber eigent-
lichen Veränderungen nur in geringem Maß zu unterliegen pflegt.
Denn was man als Jugend-, Reife- und Altersstil eines Meisters zu
unterscheiden pflegt, geht zum guten Teil besser auf Rechnung der
wechselnden Zeitstile; man denke an Schein, dessen Schaffen halb
noch dem polyphonen, halb schon dem Oeneralbaßzeitalter angehört,
denke an Beethoven, dessen Lebenszeit vom galanten Zeitalter über
Directoire und Empire bis in die Hochromantik reicht. Wie die physio-
logischen Anlagen des Schaffenden seinen persönlichen Stil bis ins
einzelne beeinflussen können, ist ja aus der Malerei bekannt — man
erinnere sich der Theorien, die Orecos Perspektive, Rembrandts Kolorit
auf die besondere Beschaffenheit ihrer Augen zurückführen, man halte
sich an das Wort des jungen Joachim zum jungen Brahms ^) (Heidel-
berg, Juni 1856): »Dein Ohr ist so an rauhe Harmonie gewöhnt, von
so polyphoner Textur, daß du selten die Stimmen im gegenseitigen
Zusammenstoß allein erwägst — weil sich bei dir gleich das Gehörige,
Ergänzende dazugesellt.«
Sicher spiegeln sich diese verschiedenen persönlichen Hörstile
besonders stark in der Instrumentationstechnik der einzelnen Meister,
wenn auch dabei die Zeitstile ein Wort mitgesprochen haben '-). Klingt
uns z. B. das Orchesterkolorit eines Brahms im Vergleich zum Weber-
schen oder Wagnerschen oft fahl, herb, säuerlich, so ist das (von
jugendlichen Ungeschicklichkeiten natürlich abgesehen) kein Mangel
■) Briefwechsel zwischen Brahms und Joachim, herausgegeb. von Andr. Moser
(Deutsche Brahmsgesellschaft, 1908, 2. Bde.).
ä) Welche Barbarei bedeutet daher das Unterfangen, Beethovens Symphonien
für modernes Orchester uminstrumenliert herauszugeben! Man denke sich Raffaels
Qemälde von Lovis Corinth »auf modern« neugemalt!
ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 137
an Können, wie vielleicht teilweise bei R. Schumanns Tüpfeltechnik,
sondern ein Merkmal seines spezifischen Oehörssinnes, das wir als
Kennzeichen seines persönlichen Dunstkreises ohne Kritik hinzunehmen
haben ').
Sehr verschieden hat sich der Persönlichkeitsstil jeweils zum
Zeitstil und Volksstil verhalten; hier machen sich die Probleme des
Individualismus und der Originalität geltend. Im allgemeinen tritt der
Persönlichkeitsstil erst dann in unser Bewußtsein, wenn er sich zu
Zeit- und Volksstil in Gegensatz stellt. Gelegentlich kann er einen
ganzen Zeit- oder Volksstil sogar in sich aufsaugen: sprechen wir vom
Bach-, vom Mozartstii, so fassen wir gleich die meisten Zeit-
genossen des betreffenden Meisters mit ein; wir reden von Bizetstil
und meinen »spanisch«, von Griegkolorit und meinen »skandinavisch«.
Je größer der zeitliche und völkische Abstand zwischen uns und
der stilistischen Persönlichkeit wird, desto mehr verschwindet der in
Wahrheit vielleicht stark ausgeprägte Unterschied zwischen ihr und
ihrem zeitlichem bzw. nationalen Stilhintergrund für unser Auge; das
ist allgemeines perspektivisches Gesetz. Vergleicht man heute z. B. die
Opern Glucks und Piccinis, so ist ihr gemeinsamer Zeitstil für uns
so hervorstechend, daß die Differenz der Persönlichkeitsstile (ihre ab-
weichenden Theorien waren ja nur letzter Ausfluß dieser Verschie-
denheiten) kaum mehr merklich ist und wir uns erstaunt fragen, worüber
sich die Pariser vor 150 Jahren eigentlich in den Haaren gelegen
haben. Im übrigen ist es durchaus nicht, wie heute so gern behauptet
und gefordert wird, ein Hauptmerkmal wahrer Begabung, daß die
schaffende Persönlichkeit sich durch Eigenart des Stils möglichst weit-
ab von Zeit- und Volksgenossenschaft stellen solle.
Die exzentrische Originalität des Persönlichkeitsduktus ist als
natürlich erwachsenes Phänomen nur gewissen Zeit- und Volksstilen
eigen gewesen, z. B. der italienischen Spätrenaissance, der deutschen
Romantik, während andere Epochen, die man mit Recht als klassische
bezeichnet '), einen Persönlichkeitsstil gezeitigt haben, der seine Vollen-
dung gerade in der Ausprägung des Allgemeingültigen, die Kulturwelt
') So hat es mich stets geärgert, wenn selbst ein Freund des Meisters,
E. Rudorff, behauptete, die Haydnvariationen seien eins der schlechtest instrumen-
tierten Stüci(e, die er kenne. Ein anderes ist es, wenn Brahms nach Anhörung
eines neuen Orchesterweri«es auf den Rat sachverständiger Freunde noch mancherlei
an der Instrumentation änderte: das reale Klangbild widersprach denn eben dem
vorgestellten, und praktische Erwägungen (Verdeckung eines Soloinstruments usw.)
nachten sich geltend. In seinen Fassungen von letzter Hand jedoch haben wir
^bedingt den Willen des Meisters zu ehren.
') Vgl. meinen Aufsatz »Die Romantik und ihr Widerspiel« im »Roten Tag«
v4n 1. August 1916.
138 HANS JOACHIM MOSER.
Einigenden , gesehen hat '). Freilich haben die bildenden Künste es
leichter, derartig überzeitliche, übervölkische, überpersönliche Mensch-
heitswerte zu stabilieren, als die Kunst der Töne. Denn Malerei und
Plastik finden, sie seien so expressionistisch gerichtet wie sie wollen,
einen kommensurablen Festpunkt für alle Völker, Zeiten und Indivi-
dualitäten in dem Vorbild einer außermenschlich existierenden Natur —
die Musik jedoch bildet mittels eines nur innermenschlich erdachten
Materials reiner Töne einzig innermenschliche Natur (Affekte) nach,
kann also weiteste Gültigkeit nur haben, soweit ihr Material und ihr
Ideal noch in ungefähr gleicher Bedeutung verstanden wird, d. h. nur
innerhalb enger Rassengrenzen. So wird schon von Natur der Stil
schöpferischer Musikpersönlichkeiten dem Individualismus, der Origi-
nalität besonders stark zuneigen. Trotzdem ist es kein Tadel, son-
dern nur die einsichtsvolle Feststellung eines Tatbestandes, wenn
Brahms einmal im Hinblick auf die Wiener Klassiker ungefähr sagt*):
»Wenn man solche Partitur mittendrin aufschlägt, kann man manch-
mal ein Dutzend Seiten lang im Zweifel sein, ob sie von Haydn oder
Mozart oder Beethoven ist.« Oder wenn Schumann (31. Mai 184Q) an
Liszt schreibt: ». . . Alle verschiedenen Kunstepochen haben dasselbe
aufzuweisen, und Bach, Händel, Gluck, später Mozart, Haydn, Beet-
hoven sehen sich an hundert Stellen zum Verwechseln ähnlich (doch
nehme ich die letzten Werke Beethovens aus, obgleich sie wieder auf
Bach deuten). Ganz original ist keiner.«
Ob, wieweit und in welcher Beziehung eine Persönlichkeit zu
ihrer räumlichen und zeitlichen Konstellation in Übereinstimmung oder
Widerspruch steht, macht eben bereits einen Teil ihres Persönlichkeits-
stils aus. Haydn z. B. war als Gesamterscheinung gewiß ein genialer,
echt produktiver Geist, aber Originalität der stilistischen Haltung einem
Mozart, Wanhall, Dittersdorf, Kozeluch gegenüber wird man ihm nur
in begrenztem Maße zubilligen können — wie wäre es sonst möglich,
') Vgl. Goethe an Mannlich (6. August 1804): »Die besten Meister, in ihren
glücklichsten Augenblicken, nähern sich der höchsten Kunst, wo die Individualität
verschwindet und das, was durchaus recht ist, hervorgebracht wird.c Wie er 1795
auch einmal an Schiller schreibt: daß ihre Arbeiten verwechselt würden, sei ihm
sehr recht, denn es beweise, daß sie beide über die persönliche »Manier« zum
»allgemein Outen« fortzuschreiten im Begriff ständen. Vgl. auch »Wilhelm Meisters
Wanderjahre« 2. Buch, 8. Kap. (Chamberlain, Goethe S. 654): »Das Halbvermögen
wünscht an die Stelle des gottgegebenen Ganzen seine beschränkte Besonderhei*
zu setzen unter dem Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbständig»
keit, wogegen gerade das Genie, das angeborene Talent den willigsten Gehorsan
leistet.« Goethe betrachtet den »Respekt vor dem, was man konventionell nennm
könnte,« als ein Symptom echt genialer Anlage.
') Die Fundstelle ist mir leider nicht zur Hand.
ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 139
daß ein so hoher Prozentsatz untergeschobener Werke ihm jetzt*)
erst und fast nur aus Gründen des Handschriftenbefundes, nicht der
Stiiistii<, aberkannt werden muß? Umgekehrt gibt mancher herzlich un-
bedeutende Kauz sich durch seine stilistische Schrullenhaftigkeit gerade-
zu penetrant kund.
Endlich der Werkstil, dessen Linien sich mit denen des Per-
sönlichkeitsstils ähnlich einschlagartig verflechten, wie diejenigen von
Volks- und Zeitstil untereinander. Leicht dürfte man statt dessen auch
von Oattungsstil sprechen, wenn dieser Name nicht zu einseitig die
formale Seite betonte, die allerdings hier wie bei den anderen Stilen die
überwiegende ist. In gewissem Sinne darf man den Werkstil ebenso
eine schöpferische Instanz (nicht nur eine »geschaffene«) nennen,
wie Volks-, Zeit- und Persönlichkeitsstil, da die durch ihn erhobenen,
eigenwilligen Forderungen nicht bloß negativ der phantasievollen Erfin-
dung entgegentreten, sondern diese auch höchst produktiv fördern
und anregen können. Schreibt jemand ein Violinkonzert, eine komische
Oper, so sitzen diese Gattungen sozusagen wie gestaltgewordene
Freunde mit am Schreibtisch und helfen dem Meister bei seinem Werk.
Der Werkstil umfaßt in erster Linie die musikalischen Gattungstypen
(man spricht von Opern-, Kammermusik-, Lied-, Symphonie-, Oratorien-
stil) und stellt damit zum Teil eine ähnliche Spezialisierung des Zeit-
stils dar, wie der Persönlichkeitsstil eine solche des Volksstils. Denn
wenn die meisten Gattungen musikalischer Werke innerhalb Europas
fast keine völkischen Grenzen kennen, so unterliegen sie der Begren-
zung durch die Zeitläufte in umso stärkerem Maße. Man betrachte
z. B. die Geschichte des Liedes als Gesamterscheinung — an der
Schwelle der Epochen wird sie jedesmal zur Geschichte einer neuen
Gattung, des monodischen, des chorischen, des Klavier-Liedes. Oder
man denke an das Oratorium, das vor dem Wirken der Philippiner
Mitte des 16. Jahrhunderts keinen ähnlichen Vorgänger kennt und im
heutigen Chorwerk mit Orchester schon einen durchaus wesens-
ungleichen Nachfolger gefunden hat.
Zum Werkstil dürfte auch der Stil der verschiedenen Besetzungen
zu rechnen sein, als die akustischen Besonderheiten des Solo-,
Ensemble- und Orchesterstils, die auf die Gestaltung des Gedanken-
inhalts, auf die dynamischen und großrhythmischen Ausmaße, das
Kolorit usw. von erheblichem Einfluß sind und wieder jedesmal eine
verbindende Brücke zu entsprechenden Werken anderer Persönlichkeiten,
Zeiten, Völker schlagen. In engem Zusammenhange hiermit stehen
') Man vgl. z. B. den Symphoniekatalog der neuen kritischen Gesamtausgabe
von Haydns Werken.
140 HANS JOACHIM MOSER.
die stilistischen Bestimmungen, die aus dem Wesen des ausführenden
Organs hervorgehen — die Unterschiede zwischen dem Voi<alstii und
dem Instrumentaistii in ihren verschiedenen Unterarten nach Stimm-
und Instrumentengattungen, sowie in ihrer mannigfaltigen Vermischung.
Wenn Brahms z.B. eine Klarinettensonate schreibt, so formen sich
aus seiner Kenntnis und instinktiven Durchschauung dieses Instru-
mentencharakters gewisse stilistische Eigenheiten quer zum allgemeinen
Duktus seiner persönlichen Handschrift, die man nirgends in seinem
Horntrio, seinen Klavierkonzerten, seinen Violinsonaten, wohl aber
in der Klarinettenliteratur Mozarts, Webers, Spohrs, Schumanns, Regers
wiederfinden wird.
Endlich beobachten wir im Schaffen mancher Meister noch inner-
halb einer einzelnen Gattung bedeutsame Stildifferenzen. Nimmt man
sich z. B. Wagner vor und isoliert von seinem Gesamtoeuvre die
Chor- und Orchesterwerke, so findet man innerhalb seiner musik-
dramatischen Produktion während weniger Jahrzehnte mehrere aus-
geprägte Stile nebeneinander: einen Lohengrin-, Tristan-, Meistersinger-,
Parsifalstil. Man vergegenwärtige sich als Beleg jene Stelle aus dem
dritten Aufzug der »Meistersinger«, wo Hans Sachs von König Marke
spricht: welch fremde, schwüle Welt scheint da mit den chromatischen
Tristanklängen plötzlich in die kraftstrotzende, taghelle Diatonik der
Meistersingermusik herein! Oder man erinnere sich des Figarozitats
bei Don Giovannis letztem Gastmahl — das sind nicht bloß thematische,
sondern weit mehr stilistische Szenenwechsel. Ähnliche Unterschiede
der Werkstile beobachtet man bei eingehenderer Vertrautheit auch
zwischen Bachs Matthäus- und Johannispassion, zwischen Glucks
Orpheus, Alceste und Iphigenie, zwischen Beethovens einzelnen Sym-
phonien. Selbstverständlich sind das Dinge, die nur innerhalb der
Spannweite einer sehr umfassenden Persönlichkeit Raum finden können.
Man nähert sich hier der Zone, wo Stilistik überhaupt ihre Grenzen
findet, weil sie sich in lauter Einzelfälle auflöst. Zudem macht hier
bereits der inhaltliche Vorwurf' von innen her sein Formgesetz weit
stärker geltend, als es von außen her aller Stilzwang vermöchte.
Wollen wir versuchen, Persönlichkeits- und Werkstil mit Zeit- und
Volksstil verbunden zu graphischer Darstellung zu bringen, so müssen
wir von den Koordinaten der Ebene zu denen des Raumes übergehen ;
es bereitet sogar Schwierigkeit, alle vier Kategorien bloß in den drei
Dimensionen des Körperlichen unterzubringen. Zugleich ergibt sich
die Nötigung, gegenüber der »Produktion« als Zusammenfassung der
einzelnen Werkstile die kritische Tätigkeit des Geschichtsschreibers
durch die dazwischen geschobenen Schichten der »Reproduktion«,
des »ästhetischen Genusses« und der »objektiven Sachschilderung« in
ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 141
eine besondere Ebene zu verlegen, um den wahren Abstand zwi-
schen den Stilen beider Tätigkeiten einigermaßen zur Anschauung zu
bringen. Um die Deutiichl<eit zu erhöhen, werde in nachstehender
Figur nur ein Icleiner Ausschnitt aus dem Räume gegeben: aus den
Koordinatenebenen des Zeitstils greifen wir die Jahre 1700, 1800 und
IQOO heraus, aus denen des Volksstils die Deutschen, Franzosen und
Italiener, von den in diesem Raumteil stehenden Personen sei Beet-
laoo
hoven im Schnittpunkt des deutschen Nationalstils mit dem Zeitstil
von 1800 betrachtet. Insofern seine Schaffenszeit von etwa 1790 bis
1827 reicht und sowohl von französischem wie von italienischem Volks-
stil einiges in sich aufgenommen hat, dürfte man statt der hier gewählten
linearen Vereinfachung eine Säulengestalt für ihn ansetzen, die nun
schichtweise von den Ebenen der einzelnen Werkstiie geschnitten wird.
Dort schneiden nun die wagerechten Koordinatenfelder des virtuosen
Konzertstils, des Ouvertüren-, Symphonie-, Lied-, Kirchenmusik-, Ora-
torien-, Opern- und Kammermusikstils die Einzelfälle der Beethoven-
142 HANS JOACHIM MOSER.
sehen Ouvertüren, seiner neun Symphonien, der Geliertschen Lieder,
der Missa solemnis, des Christus am Ölberg, des Fidelio, der sechzehn
Streichquartette und der Kiaviersonaten heraus.
Wieder muß hierbei daran erinnert werden, daß die Einzeiwerke
nicht restlos Ergebnisse dieser sich in ihnen schneidenden Stile sind,
sondern durch diese nur ihre Stellung im Erscheinungsraum erhalten,
und daß es nicht möglich ist, für den in der Figur noch speziell
hervorgehobenen Abstand zwischen dem Kritiker und etwa dem »Fide-
lio« ein wirkliches Streckenmaß zu geben. Dazu müßte, die früheren
Prämissen aus der Ebene wieder vorausgesetzt, auch noch die persön-
liche Distanz zwischen der Persönlichkeit des Betrachters und den
einzelnen Werkstilen graduell bestimmbar sein. In der Tat spielt dieser
Abstand eine Rolle, denn für den ästhetischen Genuß ist es ebenso
wichtig wie bei der Durchdringung der zeit-, volks- und persönlich-
keitsstilistischen Trennungsschichten, ob und wieweit der kritische
Betrachter den einzelnen Gattungs- usw. Stilen (etwa durch eigenes
Schaffen) in persönlichem Vertrauensverhältnis oder grundsätzlicher
Fremdheit gegenübersteht. Auch hier ist vom idealen Kunstwissen-
schaftler größte Umstellungsfähigkeit zu verlangen, auch hier kann eine
einzelne geniale Leistung über die fremdartigsten Werkstile hinweg
unmittelbar verwandt auf uns wirken. Man denke etwa an den uns
heute absolut gleichgültigen Werkstil der instrumentalen Estampiden
des Mittelalters, an den fremden Zeitstil der Troubadourepoche und an
den fremden Volksstil der Proven^alen — darum wirkt das Liedchen
»Kalenda maya« des uns sonst kaum etwas bedeutenden Reimbault de
Vaqueiras (Ende des 12. Jahrhunderts) auf uns trotzdem jung und morgen-
schön wie Werners Heidenröslein, denn es ist von klassischer Allge-
meingültigkeit über Zeit-, Volks-, Persönlichkeits- und Werkstil hinweg.
Betrachtet man ein einzelnes Werk als der Reihe nach in die vier
Verklammerungen der geschilderten Stilarten verhaftet, so ergibt sich
zugleich eine wertvolle, vielfach neuartige Disposition für die Analyse —
eine Art von musikwissenschaftlicher »Chri«, freilich ohne den öden
Schematismus einer solchen. Zum Exempel:
ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 143
Euryanthe.
Volksstil
Das speziell Deutsche
an dem Werk.
Zeitstilistisch:
Das speziell Roman-
tische an dem Werk.
Werkstilistik:
Das spezifisch E u r y a n-
then hafte als Schattie-
rung der rom.-heroischen
Operngattung.
Persönlichkeits-
stilistisch:
Das speziell Web er-
sehe an dem Werk.
Man kann die vier behandelten Stilkategorien auch als eine induk-
tive Reihe betrachten, die vom Allgemeinen zum immer Spezielleren
fortschreitet. Dann ergeben sich Volks- und Zeitstil als die weiteren,
Persönlichkeits- und Werkstil als die engeren Begriffe. Volks- und
Persönlichkeitsstil beruhen mehr auf eingeborener Naturanlage, Zeit- und
Werkstil mehr auf Konvention ; die ersten beiden sind mehr von innen
heraus entstanden, die beiden letzten durch mancherlei kulturgeschicht-
liche Einflüsse von außen her zustandegekommen. Selbstverständlich
werden im künstlerischen Schaffen Natur oder Konvention niemals rein
für sich allein auftreten, stets wird eine Mischung beider vorliegen,
wie sie sich überhaupt gegenseitig bedingen und ineinander übergehen.
Eine von beiden Komponenten wird nur jeweils überwiegen; in wel-
chem Verhältnis man aber die Mischung beider annehmen will, kommt
letzten Endes auf die persönliche Stellung jedes einzelnen zum Problem
der Willensfreiheit an — das ist nicht mehr Erkenntnis-, sondern Ge-
fühls-, Temperaments-, Glaubenssache. Hier das Schema:
144
HANS JOACHIM MOSER.
Überwiegend Naturanlage
Überwiegend Konvention
Persönlichkeits-
~^ Stil
Im Bewußtsein des Dgl. bei zeitge- Dgl. bei gefühls- Dgl. bei gefühls-
Betrachters ausge- nössischen verwandten verwandten
schaltet bei volks- Werken oder Per- Persönlich- Werkgattungen.
genössischen sönlichkeiten. keiten.
Werken oder Per-
sönlichkeiten.
Mustert man als Abschluß unserer Betrachtungen die wichtigsten
musikgeschichtiichen Veröffentlichungen des letzten halben Jahrhun-
derts unter den behandelten Gesichtspunkten, so ergibt sich etwa
folgende Bestandaufnahme: zahlreich und vortrefflich sind die Gat-
tungsgeschichten vorhanden, die dem Wesen des Werkstils unter
dem weiteren Gesichtspunkt des Zeitstils nachgehen, die Persönlich-
keitsstile dabei nur kreuzen können und die Volksstile meist achtlos
beiseite lassen. Ebenso sind wir gut mit Biographien versorgt,
welche die Persönlichkeitsstile im Rahmen des Zeitstils untersuchen,
dabei ihrerseits die Werkstile rechtwinklig schneiden und ebenfalls
dem Volksstil nur ausnahmsweise Beachtung schenken. Des weiteren
besitzen wir allgemeine Musikgeschichten oder Teile von sol-
chen, die den Höhepunkten des musikalischen Schaffens, längs der
Zeitstile, quer durch die Volks- und Werkstile nachgehen, also in
unserem dreidimensionalen Koordinatensystem komplizierten räumlichen
Kurven folgen, die sich bald flächig, ja körperlich erweitern, bald in
mehrere Stränge teilen, unter Umständen sogar auf eine Strecke hin
lückenhaft aussetzen können, wenn für gewisse Zeiten, Völker, Gat-
tungen keine Persönlichkeiten bzw. Werke vom gewünschten, der
Darstellungsart genügenden Rang vorliegen sollten.
Was uns dagegen so gut wie ganz fehlt, sind einmal rein zeit-
stilistische Schnitte (in unserer Figur also in frontaler Ebene,
quer durch die Flächen der Volks- und Werkstile), d. h. Darstellungen,
die, ohne auf das entwicklungsgeschichtliche Werden der nationalen
und Gattungsbesonderheiten einzugehen, etwa mit den Augen eines
Burney, eines Reichardt die Musikwelt Mitteleuropas zum Beispiel im
Jahre 1440, 1520, 1660 oder 1735 nach der sozialen, der produktiven,
der ausübenden, der theoretisierenden Seite vor uns aufbauen würden.
Zustandsschilderungen also, die in dieser freiwillig zweidimensionalen
Beschränkung die bestehenden Verhältnisse und Leistungsgrade umso
ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 145
plastischer darstellen könnten, was zweifellos bedeutsame neue Ge-
sichtspunkte und Erkenntnisse gewährleisten würde. Freilich verlangt
eine solche Aufgabe ein hohes Maß von anschauender Vorstellungs-
gabe 1).
Ein zweites, ebenso wichtiges Desiderat wären Schnitte längs
der einzelnen Nationalstile, also Geschichten etwa der deutschen,
der französischen, italienischen, holländischen, spanischen, slawischen
Musik. Diese dürften nun aber nicht als bloße Ausschnitte aus allge-
meinen Musikgeschichten oder Erweiterungen der bereits zahlreich vor-
handenen musikalischen Stadt- und Landschaftsgeschichten in der bis-
herigen Weise alle in dem betreffenden Gebiet geschaffenen oder auf-
geführten Werke behandeln. Sondern sie müßten die plastische Heraus-
arbeitung des einzelnen Nationalstils, also den völkischen Gesichts-
punkt, stets zum Leitgedanken der Darstellung machen; freilich hätten
sich die betreffenden Geschichtsschreiber vor der leicht drohenden
Gefahr des künstlerischen Chauvinismus zu hüten. Letzten Endes müßte
aus einer Reihe solcher Werke das Material für eine »vergleichende
Geschichte der musikalischen Kulturvölker« herausspringen. Hierzu
ist aber noch so gut wie nichts vorgearbeitet. Ich selbst versuche zur-
zeit, durch eine auf zwei Bände berechnete »Geschichte der deutschen
Musik« mein geringes Teil zur allmählichen Ausfüllung dieser Lücke
beizutragen.
Vielleicht fühlen einzelne Fachgenossen sich durch die vorstehenden
Ausführungen angeregt, mit weiteren musikalischen Zeit- oder Volks-
geschichten zur Organisation der erforderlichen Arbeitsleistung mit-
zuhelfen.
') Ein derartiger, freilich halb belletristischer Versuch, auf Deutschland be-
schränkt, wird gegenwärtig von mir unter dem Titel »Meister Urians musikalische
Denkwürdigkeiten« vorbereitet.
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. KunstwissenscluJt. XIV. 10
VI.
Heinrich Theodor Rötschers Theorie
der Schauspielkunst.
Von
Robert Klein.
Heinrich Theodor Rötscher wurde am 20. September 1802 zu
Mittenwalde im Brandenburgischen geboren. Er besuchte das König-
h'che Gymnasium zu Berlin und ließ sich 1821 an der Berliner Uni-
versität einschreiben, wo er besonders Boeckh und Hegel hörte. Zwei
Semester studierte er in Leipzig. Er promovierte im August 1825 mit
einem philologisch-philosophischen Werk über Aristophanes. Die Fort-
setzung dieses Buches diente ihm als Habilitationsschrift. Vom Sommer
1826 bis Februar 1830 hielt er Vorlesungen an der Universität in Berlin,
dann wurde er Professor am Gymnasium in Bromberg, wo er 15 Jahre
tätig war. 1845 folgte er einem Ruf als Theaterkritiker an die Haude-
und Spenersche Zeitung nach Berlin und schrieb für dieses Blatt bis
1863 die Theaterbesprechungen. Ein Schlaganfall setzte dann seinem
weiteren regelmäßigen Wirken ein Ende. Er starb am 8. April 1871.
Rötscher gehörte zur Gruppe jener Gelehrten, in denen das Be-
dürfnis lebendig war, entgegen dem Subjektivismus romantischer Kritik
objektive Maßstäbe an das Kunstwerk heranzutragen. Diese Bewegung
entstand etwa um 1828 und hatte besonders Gans, Rosenkranz und
Hotho zu ihren Vertretern. Aus ihr heraus erwuchsen die Jahrbücher
für wissenschaftliche Kritik, zu deren eifrigen Mitarbeitern Rötscher
zählt. Das damals besonders ausgeprägte Streben nach Systematik
läßt es verständlich erscheinen, daß auch der Vorwurf der Schauspiel-
kunst als Gegenstand geordneter und philosophischer Darstellung lockte,
und so ließ Rötscher, Theaterfreund von frühester Jugend auf und
aufgewachsen im theaterhungrigen Berlin in der Zeit von 1841 bis 1846,
ein dreibändiges Werk erscheinen über die Kunst der dramatischen
Darstellung. Das Buch war nicht als Lehrbuch der künstlerischen
Technik gedacht, sondern es war Selbstzweck. Es zeichnet sich durch
umfassende Disposition und wirkliches Kunstverständnis aus. Es ist
in der dialektischen Methode geschrieben und weist alle Vorzüge
und Nachteile dieser Darstellungsform auf. Es bringt Wahrheiten, die
HEINRICH THEODOR RUTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 147
uns heute als Gemeinplätze geläufig sind, in so geistvollem Zusammen-
hang, daß sie uns neu und eigenartig erscheinen, aber es ermüdet auch
durch die schleppende Dreiteilung und ewige Wiederholung dialektischer
Formalistik. Es ist immerhin das umfassendste und theoretisch grund-
legende Buch über die Schauspielkunst geblieben. Anregungen konnte
Rötscher besonders aus Engels Ideen zu einer Mimik empfangen, ebenso
von Tieck, Schlegel und aus gelegentlichen Bemerkungen Solgers.
Bedeutender als in diesem Buch ist Rötscher in seinen Abhand-
lungen über die Kunst der Einzelanalyse, in denen er sich zur Auf-
gabe macht, zu zeigen, inwiefern die Idee eines Kunstwerkes sich zur
Form entläßt. Nichts ist irrtümlicher, als die vorerwähnte Schule von
Rosenkranz, Gans, Hotho usw. die Inhaltsästhetiker zu nennen. Rötschers
ganzes Bestreben besteht darin, aus dem Formalen das ästhetische Ver-
gnügen zu erklären. Die Freude an der Kunst wird zurückgeführt
auf die Übereinstimmung von Inhalt und Form, und in der Aufzeigung
dieser Architektur ist Rötscher wirklich Meister. Wenn Hebbel schreibt.
Rötscher stehe darin einzig da, und wenn Bamberger meint, er habe
Genie zur Kritik, so ist das nicht übertrieben. Die Abhandlungen über
Hamlet, Romeo und Julia, die Wahlverwandtschaften usw. ließt man
auch heute noch mit größtem Genuß und reichem Gewinn. Angeregt
war Rötscher zur Einzelanalyse von Solger. Der Ausbau und die Ver-
vollkommnung der »Dekomposition« ist durchaus sein Verdienst. —
Im Philosophischen kommt Rötscher von Hegel her, den er rückhaltslos
verehrt und von dessen Unfehlbarkeit er überzeugt ist. Selbst im
Stilistischen läßt sich eine starke Abhängigkeit Rötschers von Hegel
wahrnehmen. Einen Beweis hierfür liefert wohl schon die folgende
Darstellung, in der ich, um ein möglichst objektives Bild zu geben,
zumeist Rötscher selbst zu Wort kommen lasse.
Zum Schluß der Betrachtung habe ich noch die Gesichtspunkte
von Rötschers praktischer Kritik zusammengestellt i).
') Eine systematische Zusammenstellung der ästhetischen Qrundansichten Röt^
Sehers wird demnächst im Archiv für Philosophie erscheinen.
Nachstehend sind die Hauptwerke Rötschers aufgeführt. Einfachheitshalber
habe ich im Text stets die in der letzten Spalte gewählte Abkürzung zitiert.
Aristophanes und sein Zeitalter 1827 I
Abhandlungen zur Philosophie der Kunst. . 1837,38,40,42,47 II:A.B.C.D.E.
Über Byrons Manfred 1844 III
Die Kunst der dramatischen Darstellung . . 1841,44,46 IV:A. B. C
Seydeimanns Leben und Wirken 1845 V
Jahrbücher für dramatische Kunst 1847,48,49 VI : A. B. C.
Kritiken und dramaturgische Abhandlungen . 1859 VII
Shakespeare 1864 VIII
Dramaturgische Blätter 1865 • IX: 1, 2, 3, 4
Dramaturgische und ästhetische Abhandlungen 1867 X
■(48 ROBERT KLEIN.
I. Die Schauspielkunst
a) Allgemeiner Teil.
a) Der Schauspieler im Verhältnis zum Publikum, zum Dilettanten und
zur Kritik.
Die Kunst der dramatischen Darstellung hat die künstlerische Ver-
wirklichung des Dramas zu ihrem Zweck. Die Schauspielkunst übt
Wirkungen aus, welche an Stärke und Erschütterungen die aller anderen
Künste hinter sich zurücklassen.
Das Material unserer Kunst ist die ganze Persönlichkeit des
Menschen. Diese zufällige Individualität muß zum Instrument für die
Kunst geformt und gebildet werden. In dieser Verstellung und Mas-
kierung, sowie in dem Auftreten vor einer schaulustigen Menge liegt
auch der Grund der Verachtung für den Schauspieler. Diese irrtüm-
liche Mißachtung besteht in der Verkennung der Tatsachen, daß der
Mime sich nicht zu einem endlichen, vielmehr zu einem idealen Zwecke
verstellt. Wenn die Menge schaulustig ist, dann ist der Vorwurf ihr
zu machen, nicht dem Künstler. Da nun jeder Mensch von Haus aus
reden kann und auch die Gebärde hat, und da ferner die Schauspiel-
kunst, die ihre Entstehung dem Nachahmungstriebe verdankt, an-
scheinend keine besonderen Schwierigkeiten bietet, so macht sich be-
sonders in ihr der Dilettantismus breit. Gerade weil hier die empfangene
Wirkung so überaus stark ist, möchte man gleich reproduzieren ^). Ist
ja doch dies das Wesen des Dilettantismus, daß er fast niemals sich
in den vollen Besitz der Technik seiner Kunst setzt. Der Dilettant
wird sich vorzugsweise in der Ausübung derjenigen Künste heimisch
fühlen, in denen er ohne große Anstrengung schon etwas erreichen
kann und Erfolge zu erringen vermag. Die schwierigsten Teile der
Technik wird er vernachlässigen, weil sie ihm den Genuß erschweren.
Denn der Dilettant will in der Kunst sich selbst zum Genuß bringen,
während der Künstler in der Ausübung seiner Kunst sich befriedigt.
Daher sich der Dilettant auf die Einzelheiten beschränken wird, die
ihm gerade zusagen, die Totalität aber außer acht läßt. Ihm ist die
Entwicklung dramatischer Charaktere . . . 1869 XI
Theater und dramatische Poesie. Aufsatz im
Staatslexikon von Rotteck und Weicker . 1843 St. L.
Aufsätze in den Jahrbüchern für wissenschaft-
liche Kritik 1827—1844
Kritiken in der Haude- und Spenerschen Zeitung 1845 — 1863.
■) IV: A: 3-12.
HEINRICH THEODER RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. ]49
Kunst slets nur Mittel für seine Erholung und zu seinem Vergnügen.
Es ist natürlich, daß der Dilettantismus sich in denjenigen Künsten
besonders hervortut, in denen, bei einer selbst nur mäßigen Technik,
schon eine Befriedigung der Eitelkeit möglich ist, so in der Musik,
der lyrischen Poesie und der Schauspielkunst. Während es dem wirk-
lichen Künstler vor allem um die Wahrheit zu tun ist, welche er, wäre
sie auch bitter, vernehmen will, geizt der Dilettant vor allem nach Lob
und sieht in der Entziehung desselben nur Neid und Mißgunst. Dem
wirklichen Künstler sind seine Schöpfungen Notwendigkeiten, dem
Dilettanten seine Produktionen mehr Zufälligkeiten, die auch ebenso
hätten unterbleiben können. Der Künstler duldet für seine Kunst und
verliert niemals den Mut, für sie zu wirken, der Dilettant wird durch
Schwierigkeiten nur abgeschreckt und resigniert zuletzt. Der tiefere
Grund hierfür liegt darin, »daß der wahre Künstler ein Geschöpf von
Gottes Gnaden ist, der Dilettant aber sich niemals zur vollen Gött-
lichkeit aufschwingt< *).
Schließlich ist noch zu sagen, daß der Dilettant, um sich ein ge-
wisses Relief zu geben, und sich dem Künstler gleichzustellen, auch
in seinen Urteilen über die Leistungen anderer strenger sein wird als
der Künstler, denn ihm fehlt vor allem die Keuschheit des Künstlers
und die Demut vor der Idee.
Dem wahren Schauspieler tut also, wie jedem anderen Künstler,
vor allem eine systematische Vorbildung not. Jede Kunst, wie wir
wissen, ist eine Durchdringung des Allgemeinen und Individuellen;
die Schauspielkunst eine Durchdringung der Schönheit und Wahrheit.
Treten diese beiden Elemente gesondert auf, so ist dies der Kunstleistung
nachteilig. Es folgt daraus eine dreifache Stellung des Schauspielers
zum dramatischen Charakter:
1. Darstellung und Vollendung des dramatischen Charakters
decken sich.
2. Wo die ideale Seite überwiegt, läßt der Schauspieler nach
dem Individuellen gravitieren und ergänzt.
3. Je mehr hingegen ein Charakter nach der Seite der Naturwahr-
heit gravitiert, desto mehr hat der darstellende Künstler ihm Idealität
zu verleihen.
Zu erwähnen wäre noch der skizzierte Charakter, für den z. B.
Oranien und Alba im Egmont genannt werden können. Hier muß
der Schauspieler auf die ganze Ausführung besondere Sorgfalt ver-
legen, um uns ebenfalls das Bild eines in sich fertigen und runden
Menschen zu liefern«),
') X:57{f.
') IV:D:55.
150 ROBERT KLEIN.
Was das tatsächliche Alter des Mimen betrifft, so ist Haupt-
forderung, daß er uns die Illusion des Darzustellenden verschafft.
Wenn er nur, wo er jung zu sein hat, jugendlich aussieht, so ist
gleichgültig, wie alt er in Wahrheit ist. Dies gilt auch bei den Fran-
zosen, während der Deutsche verkehrterweise Natur mit Kunst ver-
wechselt.
Wenn der wahre Künstler, der oft von der Mitwelt mißverstanden
wird, auf die Anerkennung der Nachwelt hoffen kann, so ist dem
Schauspieler dieser Trost versagt; er ist ganz an die Gegenwart
gewiesen. Bei ihm ersetzt gewissermaßen die Intensität des augen-
blicklichen Siegs über das Gemüt die ihm fehlende Extensität in der
Zeit. Daraus erklärt und rechtfertigt sich auch der Beifall; verdammens-
würdig ist die Gunstbuhlerei.
Soweit das Verhältnis des Schauspielers zum Publikum. Einen
kurzen Blick wollen wir werfen auf seine Beziehungen zur Kritik. Zwar
ist die Theaterkritik heruntergekommen und der Schauspieler hört nicht
auf sie; sie muß aber gehoben werden. Es ist der Instinkt des Künstlers,
beim Kritiker ein entwickelteres Bewußtsein, eine tiefere Einsicht
in die Geheimnisse seiner Kunst vorauszusetzen, welche bei dem mit
einer gewissen Naturnotwendigkeit Schaffenden nie in so zusammen-
hängender Weise lebendig sein kann. Der Künstler will also an dem
wahren Kritiker sein natürliches Korrektiv haben. Er ist für ihn der
lebendige Kanon ^).
ß) Die Bildung des wahren Schauspielers.
Die äußeren Vorbedingungen für den Schauspieler sind ein wohl-
gestalteter Körper und ein normales Gesicht. Ein mißgebildeter Körper
könnte höchstens in Ausnahmefällen zu komischer Wirkung Ver-
wendung finden. Ein niedrig-sinnliches Gesicht ist eine fast unüber-
windbare Schranke, während umgekehrt von der Natur dem Darsteller
außerordentliche Vorteile verliehen sein können. Leider bleibt gerade,
wo sie sich einfinden, der Geist häufig aus. Hinderlich ferner sind
der gemeine Ton und der Dialekt; des letzteren bedient sich der Lokal-
komiker. Auch hier kann zum Vorteil des Schauspielers die Natur
ihm ein schönes Organ mitgegeben haben, das aber auch der Bildung
bedarf.
Die Entwicklungsstufe nun des darstellenden Künstlers ist natür-
lich ganz verschieden und stellt sich ihm mehr oder weniger bewußt
dar. Der Wissenschaft ist dies gleich. Sie erkennt die durch den
Begriff mit Notwendigkeit gesetzten Stufen.
') IV:A: 18—49.
HEINRICH THEODOR RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 151
1. Der Standpunkt der unmittelbaren Empfindung. Der Darsteller
wird in seiner Empfindung durch einen dichterischen Charakter be-
rührt. Dabei bleibt er stehen. Nicht er hat den Affekt, sondern der
Affekt hat ihn. Er steigert lediglich seine Empfindungen, und da er
sich nur stellenweise begeistern kann, so vermag er nicht, einen
Charakter zu schaffen. Der Schauspieler ist hier Lyriker, mehr Dekla-
mator als Darsteller, und er bleibt im abstrakt Allgemeinen '). Romeo,
Mortimer, Don Carlos, alle sind sie einander gleich. Frauen stehen
zwar ihrer Organisation nach dem Empfinden, überhaupt dem Instinkt-
lichen näher. Auch werden sie von Übertreibungen durch angeborenen
Takt zurückgehalten. Trotzdem erweist sich auch hier dieser Stand-
punkt der unmittelbaren Empfindung als unzulänglich. Beharrt ein
Schauspieler auf dieser Stufe, so geht es ihm später, wenn die jugend-
liche Begeisterung verflogen ist, schlecht. Bestenfalls wird er Routinier.
Mechanismus tritt an Stelle des Organismus.
2. Der Standpunkt der Reflexion. Hier erst befindet sich der Dar-
steller auf dem Boden der Kunst. Er will nicht sich geben, sondern
einen Charakter. Er betrachtet sich objektiv, und er lernt die Technik.
Allerdings droht hier die Gefahr, daß er auf der Stufe des Denkens
mit seiner Gestaltung stehen bleibt und sie nicht zur Phantasiegestalt
aufhebt. Etwas Absichtliches bewundern wir; das Denken ist be-
friedigt, aber nicht das Empfinden ^). Wir sprechen vom verständigen
Schauspieler; dieser ist wie ein korrekter Übersetzer^). Vom ver-
ständigen Schauspieler unterscheidet sich der geniale Darsteller.
3. Der Standpunkt des künstlerischen Schaffens und die ver-
schiedenen Richtungen desselben. Hier durchdringt sich Wahrheit
und Schönheit zugleich; es ist die höhere Eintracht der beiden ersten
Stufen, es ist die zur Natur zurückgekehrte Kunst und die zur Kunst
erhobene Natur. Der Künstler muß sich der Begeisterung hingeben
und doch dabei besonnen sein. Auf dieser höchsten Stufe unter-
scheiden wir wiederum zwei Arten der Darstellungsform. Einmal solche
Künstler, die besonders eine intuitive Anschauung haben; oft ist der
Wirkungskreis beschränkt auf dämonische und komisch-phantastische
Charaktere. Repräsentanten dafür sind: Fleck und Ludwig Devrient.
Bei Frauen herrscht auch auf dieser Stufe die Empfindung vor, ohne
daß sie sich des ganzen Umfangs ihrer Vermittlung zwischen Empfin-
dung und Reflexion bewußt sind. Eine zweite Klasse genialer Schau-
spieler kommt mehr von der Reflexion her, häufig aus dem Grund,
weil die Mittel von Haus aus nicht übermäßig sind. Wie die ersten
■) IV: A:4g-60. I1:E:189.
^) IV: A: 60 ff.
») IV:B:51.
152 ROBERT KLEIN.
in ihrer Darstellung mehr nach der Idealität neigen, so kommen die
zweiten leicht durch die Fülle des Details dazu, die Wahrheit der
Natur über die Realität zu setzen. So Iffland und Seydelmann.
Am hervorragendsten erfüllten die Forderungen der Schauspiel-
kunst wohl Oarrick und Schröder. Man kann sagen; bei diesen genialen
Darstellern spielt der Instinkt die gleiche Rolle, wie sie der genialen Kon-
zeption beim Dichter zukommt'). Jeder wahrhaft große Künstler
ist originell. Die Darstellungsweise nämlich ein und und derselben
Rolle kann verschieden sein. Jeder bildet den Charakter trotz aller
Objektivität von seinem Standpunkt aus und hebt neue Beziehungen
hervor. Die Naturmittel und die geistige Verwandtschaft, die der
Künstler jeweils an die Rolle heranbringt, entscheiden über die Dar-
stellungsweise. Wenn nun der originelle Schauspieler auch nicht genial
sein muß, so ist er immer doch interessant, während wir langweilig
einen Darsteller nennen, dessen Auffassung uns gar keine neuen Seiten
zeigt, der auf der gewohnten Heerstraße marschiert^).
Von der Originalität unterscheidet sich die Manier. In ihr drängt
sich die Persönlichkeit des Darstellers hervor; wir werden an den
Unterschied des Darstellers und des Dargestellten gemahnt. Auf ihrem
höchsten Gipfel ist die Manier Virtuosentum. Der ist ein Virtuose,
der nur sich selbst und nicht die Sache will, der, statt sich zum Mittel
der Kunst zu machen, die Kunst sich zum Mittel macht. Jeder große
Virtuose war ursprünglich zu einem wahren Künstler veranlagt. Er
ist ausgeartet. Der Virtuose ist eine ganz moderne Erscheinung und
bedient sich der Reklame in jeder Form'). .;
b) Besonderer Teil.
o) Die Tonbildung.
Der Schauspieler muß dialektfrei sprechen, weil man sonst an seine
Persönlichkeit erinnert wird. Die Vokale und die Diphthonge müssen
rein ausgesprochen werden, um nicht gemein oder komisch zu wirken.
Der Vokal ist der Träger der Empfindung, der Konsonant der Re-
präsentant der Reflexion. Der Laut hat eine symbolische Bedeutsam-
keit, die durchscheinen muß. Der Ton muß moduliert werden, und
es unterscheidet den Künstler vom Laien, daß ersterer die Modulation
des Tones völlig beherrscht. Näher unterscheiden wir erstens Höhe
und Tiefe. Nie darf man den Eindruck haben, daß im Ton das Äußerste
gegeben ist.
') IX:2:54.
») X: 53-55.
») VlI:241-246 und IV:B:94, 101.
HEINRICH THEODOR RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 153
Zweitens: das Portament ist die Fälligkeit getragener Betonung.
Gleichwohl darf der Ton bei Anwendung des Portaments (Iphigenie,
Natürliche Tochter) nicht schleppend und monoton werden, was na-
mentlich von ungebührender Betonung der Nebensilben herrührt. Gräß-
lich ist das Tremolieren.
Vom Portament, das seinen Träger am Vokal hat, unterscheidet
sich die Volubilität, deren Träger vornehmlich der Konsonant ist.
Die Volubilität ist die Fähigkeit, rasch zu reden, und findet besonders
im Konversationston ihre Anwendung.
Drittens ist noch zu beachten Stärke und Schwäche des Tones.
Weiter das Atemholen. Es darf bei der Darstellung nicht hörbar
werden, weil man an die physische Organisation des Schauspielers
erinnert wird').
Fortschreitend zur Betonung der Worte haben wir zu differenzieren
zwischen dem logischen und dem symbolischen Akzent. Der
logische Akzent betrifft die verschiedenen Verknüpfungen und Ab-
hängigkeiten der Sätze untereinander, Einschiebungen, die Paren-
these usw. Der symbolische Akzent versucht das Wesen der Dinge
zu versinnlichen. Er will uns gleichsam durch den Ton die An-
schauung der Dinge vergegenwärtigen. Die Worte, verbunden, ergeben
den Rhythmus. Der Rhythmus der Prosa ist die Periode. Der
Rhythmus der Poesie darf nicht forciert werden. Da der Rhythmus
abhängt von den jeweiligen Situationen, so wird er beispielsweise im
Lustspiel nicht so sehr betont wie im Schauspiel, und auch hier, inner-
halb des Dramas, gibt es Unterschiede, über die aber keine abstrakte
Regel, sondern nur der künstlerische Takt zu entscheiden vermag.
Orest muß den Vers gewichtiger behandeln als Pylades. Da gerade
durch Verse und insbesondere durch Reime die Deklamation sehr be-
günstigt wird, so hat man hier doppelt vorsichtig zu sein. Nichts
nämlich ist unkünstlerischer als ein Darsteller, der mit seinem Organ
kokettiert.
Die echte Charakterdarstellung fragt vor allem nach der Wahrheit,
und ordnet diesem Ziel selbst die Schönheit unter'"^).
Weiter ist zu berücksichtigen das Tempo, wobei man die drei
Momente der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit zu erwägen hat.
Erstens: die Tragödie fordert ein langsameres Tempo als die Ko-
mödie; die spanische Tragödie wieder muß rascher gesprochen werden
als die Shakespeares. Das Tempo individualisiert sich zweitens nach
dem Charakter der besonderen Figuren. Drittens endlich ist das Tempo
') IV: B: 105—158.
') X : 56 und 63.
154 ROBERT KLEIN.
bedingt durch die Stimmungsmomente eines und desselben Charakters,
wobei wir besonders an Affekt und Reflexion denken. Tritt der Affekt bild-
lich objektiviert auf, so verlangsamt sich naturgemäß das Tempo. Unter-
brochen wird das Tempo durch Pausen, deren wir drei unterscheiden:
1. Die grammatische Pause. Der Verstand allein hat sie ge-
schaffen, der Verstand kann sie daher auch allein kontrollieren. Während
man dieser Pause noch gar keine künstlerische Bedeutung beimessen
kann, so darf man sie wohl der rhetorischen Pause zuerkennen.
2. Die rhetorischen Pausen sind wesentlich vorbereitend. Sie werden
daher in der Regel da eintreten, wo sich eine Reflexion oder ein Ge-
danke als Ergebnis einer vorausgegangenen Erzählung darstellt. Hier
macht die rhetorische Pause die Zuhörer aufmerksam und kündet den
nachfolgenden Gedanken an. Endlich die ethische Pause, die bei
plötzlichem Schicksalswechsel sich einstellt. Sie drückt uns das Ringen
des erschütterten Gemütes aus, das Wort zu finden; sie ist recht eigent-
lich dazu bestimmt, uns die Arbeit des Gemütes desjenigen, der vor
Erschütterung gleichsam sprachlos geworden ist, zu versinnlichen ^).
Wir gehen über zum epischen, lyrischen und dramatischen
Vortrag.
Epischer und lyrischer Vortrag sind Vorstudium zum dramatischen.
Der epische Vortrag vollzieht sich ohne Selbstentäußerung; der Vor-
tragende ist immer Rhapsode, Erzähler: er verleugnet nie seine Indi-
vidualität. Im Vortrag ist zu unterscheiden das antike und das ro-
mantische Epos. Das erstere, objektiviertere, fordert große, sinnliche
Ruhe im Ton. Im romantischen Epos herrscht Innerlichkeit und Glut
der Empfindung.
Beim lyrischen Vortrag verschmilzt das Ich des Vortragenden
mit dem des Gedichts.
Der Fortgang vom epischen und lyrischen Vortrag zum dramafi-
schen ist ein qualitativer Sprung. Er verlangt nämlich die Selbst-
entäußerung. Es ist ferner des epischen Vortrags innerhalb des Dramas
zu gedenken, welcher in der Form der Berichte und Erzählungen er-
scheint. Der Darsteller muß erwägen, wo und unter welchen Verhält-
nissen er erzählt. Er wird anders reden vor dem König, als vor seinen
Freunden. Auch muß er in Betracht ziehen, inwieweit er selbst an
dem Inhalt der Erzählung beteiligt ist. Ferner darf der Schauspieler
nicht so reden, daß man die Empfindung hat, es stehe schon zu Anfang
alles fertig vor seiner Seele. So muß man beispielsweise der Erzählung
Nathans anmerken, daß sie improvisiert ist^).
') X : 64 f .
») IX, 2, 58 und IV, A, 159-220.
HEINRICH THEODOR RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 155
ß) Die körperliche Beredsamkeit.
Der Körper muß in seiner Erscheinung den Charakter der Seele
an sich tragen. Die ganz unwillkürlichen Gebärden, wie Erröten, Er-
blassen usw. fallen außerhalb der Schauspielkunst, dagegen gehört in
ihr Gebiet die Gebärde, welche Ausdruck ist eines bestimmten, vor-
bedachten Zwecks. Beim Schauspieler muß die Gebärde bedeutsam
und charakteristisch sein. Sie wird bedingt durch den jeweiligen
Charakter. Wie man das machen muß, läßt sich nicht lehren; es bleibt
dem künstlerischen Instinkt überlassen. Den Ausdruck der Anmut
wird man darstellen als das Gleichgewicht des Sittlichen und Er-
zieherischen. Besonders die Frau wird ihn sich zu eigen machen
müssen. Die edle Gebärde gibt uns den Eindruck eines sittlichen,
selbstbewußten Charakters. Dieser Adel der Bewegung charakterisiert
vornehmlich Männer.
In der Gebärde ist des weiteren zu beobachten die andeutende
und die malende Gebärde, letztere besonders in unteren Ständen ge-
bräuchlich. Das Spiel der Gebärde wirkt stetig fort; nie setzt es aus.
Kein Affekt darf in der Gebärde unvorbereitet auftreten. Zusammen-
gesetzte Affekte, z. B. Wehmut, als die Mischung aus Schmerz und
Lust, müssen sich einheitlich abspiegeln ').
Wir gehen nun über zur Betrachtung von Gebärde und Wort in
ihrer Durchdringung.
7) Gebärde und Wort in ihrer Durchdringung.
Hier bedenken wir zunächst die Lebensalter, das Temperament
und die Nationalität.
Wo die Handlungen sich wesentlich aus dem Lebensalter erklären
und ergeben, da muß das Alter auch in der Darstellung betont werden.
Das Temperament kommt für das Drama wenig in Betracht. Also
spielt es auch in der Darstellung eine untergeordnete Rolle. Wo das
Pathos auf einer bestimmten Volksindividualität beruht, oder wo das
Allgemeinmenschliche zurücktritt hinter nationaler Eigentümlichkeit, da
muß auch der Schauspieler die Nationalität deutlich machen. Dies ist
besonders im spanischen Drama notwendig. Im Lustspiel kann sich
zwecks komischer Wirkung der spezifisch nationale Charakter viel
stärker hervortun als im Trauerspiel.
Was die Darstellung der »anthropologischen« Zustände der emp-
findenden Seele anbelangt, so ist für den Schauspieler folgendes zu
erwähnen : Soll das Traumleben auf der Bühne erscheinen, so gibt es
zwei Möglichkeiten. Entweder liegt der Darsteller wirklich im Traum,
') IV:A:221-265.
156 ROBERT KLEIN.
dann muß in der Sprache, die zum Teil des logischen Akzents er-
mangeln soll, dadurch das Ausschalten des bewußten Willens ausge-
drückt werden. Oder der Traum wird erinnert, dann muß etwas
Dunkles, fast Geisterhaftes in der Stimme sein, wie bei Wallenstein
oder dem Herzog von Clarence. In der Ahnung muß die umdüsterte
Stimmung zu ihrem Recht kommen, wie auch die Vision, bei der
namentlich die Darstellung ihres Werdens schwierig ist, einen geister-
haften Grundton zeigen soll. Für die Wiedergabe des Wahnsinns kann
gar nichts gelernt werden; hier ist alles Intuition.
Der Todesarten gibt es mehrere auf der Bühne, wobei uns der
Schauspieler stets den in irgendeiner Form siegenden Geist kenntlich
zu machen hat. Man kann an Altersschwäche sterben wie Götz, oder
durch Selbstmord wie Romeo, Gräfin Terzky, Emilia, Othello, oder
durch fremde Hand wie Hamlet •).
Wir wenden uns zu den psychologischen Zuständen des prakti-
schen Geistes. Die Schadenfreude hat etwas Satanisches, und darf
das in der Versinnlichung nicht verleugnen. Gegenüber Hochgestellten
muß Achtung, auch in den Gefühlsäußerungen, gewahrt werden.
Demgegenüber steht die Kunst der Repräsentation. Die ganze
Majestät Cäsars muß uns aus seiner Haltung entgegenleuchten. Die
Verachtung darf nicht mit Leidenschaft dargestellt werden, wie der
Haß. Das Gehaßte ist in meiner Vorstellung eine Macht, die ich zu
vernichten trachte, während das Verachtete ein in meinem Bewußtsein
bereits Vernichtetes ist. Die Heuchelei muß sich bei aller an-
scheinenden Wahrheit doch zeitweilig durch einen Blick, einen Laut
als Lüge offenbaren. Plump darf sie aber nie sein, damit uns die
Getäuschten nicht als Idioten erscheinen.
Die Liebe muß mit Feuer gespielt werden, weil man im geliebten
Objekt die ganze Welt vereint sieht. Der Groll ist der lang zurück-
gehaltene Haß. Er muß wie eine Eruption wirken. Dahin auch ge-
hört der Zorn, der komische sowohl als der großartige Zorn').
Alle diese Momente vereinigen sich zur Charakterdarstellung.
S) Die Charakterdarstellung.
Den Beginn im Schaffensprozeß der Charakterdarstellung macht
die Auffassung (Totalanschauung) des Charakters. Die ideale Auf-
fassung eines Charakters besteht in der Fähigkeit, eine Individualität
als Repräsentanten einer Idee anzuschauen und festzuhalten. Auch im
Negativen, so beispielsweise bei Richard III., Jago, ist noch das Positive
zu gestalten.
') lV:A:265-307.
'') IV : A : 307— 342.
HEINRICH THEODOR RUTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. I57
Das Maß der Kraft, das innerlich Angeschaute zur sinnlichen
Realität zu entäußern, ist der Gradmesser des schauspielerischen Genies.
Die Charaktermaske hat nicht, wie das Gesicht der Wirklichkeit
zufällig zu sein, sondern bedeutungsvoll. Um die historische Maske
der jeweils darzustellenden Person braucht sich der Künstler nicht
sonderlich zu kümmern; wenn uns nur der Charakter der dich-
terischen Gestalt gleich entgegenleuchtet.
Die Art und Weise, wie das römische Gewand getragen werden
muß, die geschickte Handhabung griechischer Tracht, läßt sich nicht
erlernen, sondern kann nur Eingebung der Phantasie sein. Jedenfalls
soll die Drapierung stets Mittel bleiben und nicht Zweck werden. Die
Kleidung kann einen symbolischen Sinn haben, auch muß die
Haltung charakteristisch sein.
Jeder Charakter hat einen Grundton, den er beibehalten muß.
Maske, Kostüm, Haltung und Grundton stellen ein festes Bild des
Charakters vor uns hin. Nun muß er sich entwickeln, was in der
Durchführung geschieht. In ihr müssen besonders die Übergänge, die
Wendepunkte, betont werden.
Nicht vernachlässigen darf man das stumme Spiel. Hier gedenken
wir des Zuhörens, das sich vom Ausdruck der Gleichgühigkeit bis
zur fieberhaften Aufregung des Gemüts erstreckt ^).
Neben dem Grundton ist zu berücksichtigen der ethische Ak-
zent. Er offenbart den individuellen Gemütsausdruck des Charakters.
Der Grundton erscheint wie die Architektur, aus dem sich der ethische
Akzent in mannigfachen Gruppen abhebt. Ob das Parzenlied aus
Goethes Iphigenie, losgelöst vom Drama, allein vorgetragen wird, oder
von Iphigenie im Schauspiel, dies ist ein großer Unterschied: im ersten
Fall bleibt der ethische Akzent weg.
So haben wir nach allen Seiten hin die Leistung und Aufgaben
des Schauspielers erörtert, und es bleibt nur zu betonen, daß er sich
nie als Selbstzweck, sondern stets als im Dienste des Ganzen und
der Kunst stehend zu betrachten hat. Es kommt wesentlich auf das
Ensemble an.
s) Die Staatsschule.
Wie wir nun hier das Wesen und die Hauptmomente der Schau-
spielkunst geschildert haben, so bildet diese Darstellung die Grundlage
für den Unterricht in einer Schule, die zur systematischen Bildung der
Schauspieler errichtet werden muß. Der Staat selbst hat die Ver-
pflichtung, diese Kunst mündig zu sprechen, indem er ihre Bildung
') X:66.
158 ROBERT KLEIN.
nicht mehr der bloßen Willkür überläßt, sondern für einen systemati-
schen Unterricht sorgt ').
Das Bedürfnis einer Schauspielschule erklärt sich aus der gesell-
schaftlich veränderten Stellung der Schauspieler. Sie sind jetzt frei
geworden, aber mit diesem Fortschritt ist auch die alles ergreifende
Reflexion in sie eingedrungen. »Was sie in gesellschaftlicher Be-
ziehung, von dem Standpunkt der Zivilisation aus betrachtet, gewonnen
haben, haben sie auf der anderen Seite an künstlerischer Anregung
und Freiheit der Empfindung eingebüßt« ^).
Man muß daher aus ihrer Schwäche eine Stärke ziehen und sie
gründlich bilden. Neben dem Einzelunterricht nach den vorhin er-
örterten Prinzipien ist vor allem auf die Erziehung zum Ensemble zu
sehen. An der Spitze der Schule steht der Direktor, ein gebildeter
Mann, der den wissenschaftlichen Unterricht erteilt, kein Schauspieler,
da dieser selten didaktische Talente und Übung hat. Es sollen ungefähr
zwanzig Schüler aufgenommen werden ; der Staat hat einen jährlichen
Zuschuß von 4000 — 5000 Talern zu geben ■').
Wir betrachten nun noch die Umwelt, in der der Schauspieler
seine Kunst zur Darstellung bringt: die Inszenierung und die Bühne.
c) Die Inszenierung.
a) Die Leseprobe und der Dramaturg.
Der Dramaturg hat Leseproben abzuhalten. Er muß zuerst das
ganze Werk vorlesen und hat dann das Verhältnis der Rollen zur Idee
des Ganzen zu entwickeln^).
ß) Der Regisseur.
Der wahrhaft gute Regisseur ist selten. Seine Aufgabe ist, das
dramatische Werk aus dem Gebiete der Phantasie in die szenische
Wirklichkeit zu übersetzen. Um dies zu vermögen, muß der Regisseur
zunächst ein Bild des gesamten Kunstwerks in seinem Geiste tragen.
Nur wenn er das ganze Werk gründlich kennt, kann er ihm zu Nutzen
gereichen, indem er den Darstellern künstlerische Winke gibt. Ein
Regisseur, der sich darauf beschränkt, den Darstellern zu sagen, ob
sie von links oder von rechts kommen, ist durchaus unfähig. Er darf
auch nicht zum Schulmeister herabsinken, indem er auf kleinlichen
Dingen herumreitet. Hat er die wahre Kenntnis des Werkes, so wird
') I1:D:1X.
'-) II :E: 132 f. und VI : B : I.
») VI : B : XII.
*) IV :A.
HEINRICH THEODOR RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 15g
er die Schauspieler überzeugen. Er wird ihnen zeigen, daß er in das
Ganze des Weri<s tiefer eingedrungen ist als sie, die Darsteller der
einzelnen Rollen; er wird nicht nötig haben, durch ein Machtwort, seine
Autorität und seine Stellung wirken zu wollen, sondern er wird das
Ensemble überzeugen, daß alle seine Anordnungen der in der Natur
der Sache liegenden Notwendigkeit entspringen.
Wollte man dies die theoretische Aufgabe des Regisseurs nennen,
so ist noch zu sagen, daß er in der Praxis ein durchaus sittlicher Mann
zu sein hat, dem es nur um die Verwirklichung künstlerischer Interessen
zu tun ist, und dem vor dieser Rücksicht alle anderen weichen müssen.
Sein Handeln muß ganz frei sein von allen nur persönlichen Motiven ').
1f) Szenerie und Kostüme.
Sobald irgend ein Teil des Dramas durch die Pracht der dekora-
tiven Inszenierung einen ganz unverhältnismäßigen Anteil erweckt, so
ist dies ein Übel und ein Nachteil für das Dichtwerk selbst, denn es
wird stets dadurch das Mittel zum Zweck verkehrt. Die Inszenierung
eines klassischen Werks kann nie einen anderen Sinn haben als den,
die Illusion der Poesie zu fördern; sie darf nie für sich selbständig
wirken wollen. Zuletzt bleibt die Inszenierung eben doch Beiwerk.
Die Devise sei: »würdig, aber nicht prächtig, anständig und poetisch,
aber nicht luxuriös« -).
Ebenso darf das Kostüm nie Zweck werden, sondern hat immer
Mittel zu bleiben. Eine gewisse Symbolik kann bei Wahl der Farben
hinsichtlich der Kostüme künstlerisch verwendet werden. Genaue und
pedantische Strenge im historischen Drama ist lächerlich. Man hat
mit Geschmack auf eine malerische Tracht zu sehen. So könnte Emilia
Galotti gut in der Tracht der heutigen Zeit (1841) gespielt werden").
d) Bühnenleiter und Publikum.
Das Drama gelangt zur Aufführung vor dem Publikum. Das Ur-
teil des Publikums ist nicht maßgebend für den Wert des Stückes.
Oft findet eine Mache Beifall, und das wahre Kunstwerk wird ver-
kannt. Das Publikum ist eine vielköpfige Masse, ohne sonderliches
Urteil und ohne große Gedanken. Jedoch es kann erzogen, sein Ge-
schmack geläutert werden. Man muß das Zutrauen haben, daß der
Sinn für das Gute und Vortreffliche nicht erstorben ist, daß er nur
erweckt werden muß. Es ist ziemlich leicht, den Geschmack zu ver-
') X : 16-19.
») X:13ft.
«) IV:A:369.
160 ROBERT KLEIN.
derben, aber schwer, ihn zu einer künstlerischen Höhe zu steigern.
Man muß trachten, eine imposante Majorität im Publikum zu erziehen,
die den guten Geschmack vertritt und das Unwürdige verwirft '). Diese
Erziehung des Publikums hat der Bühnenvorstand zu besorgen, ebenso
wie die Kritik dazu beisteuert. Es ist dies eine hohe Aufgabe, denn
die Wirkung der Bühne auf das Publikum darf nicht unterschätzt
werden. Der Vorstand hat in erster Linie die künstlerischen Interessen
zu wahren, und darf den Forderungen des Publikums nur dann nach-
geben, wenn sie sich mit jenen decken. Hat irgend eine Novität an
einer anderen Bühne Erfolg, ist sie aber nach der Ansicht des Bühnen-
leiters künstlerisch minderwertig, so ist es sogar seine Pflicht, sich der
Aufführung mit allen Kräften zu widersetzen. Umgekehrt hat er sich
da für ein Werk zu verwenden, wo er wirklich kraftvolles Talent er-
kennt. Freilich ist dazu nötig, daß der Bühnenvorstand ein Mann von
wahrhaft feinem, ästhetischem Bewußtsein ist. Neben den Novitäten
muß er für ein klassisches Stammrepertoire sorgen, das als Orundbau
der Bühne betrachtet werden muß. Wahrhaft schöpferisch kann er
sich zeigen in der Besetzung der Stücke. Die richtige Verwendung
der ihm zur Verfügung stehenden Kräfte ist eine Kunst '^).
e) Das Nationaltheater.
»Das Theater ist ein großer Faktor in dem Welt- und Völkerleben,
ein mächtiges Element für die Kultur der Massen, und in seiner höchsten
Bedeutung ein großes, sittliches Institut« ^). Das Theater hat einen
außerordentlichen Einfluß auf das Volk. Aber der Staat ist sich dessen
offenbar noch nicht bewußt geworden. Das Theater erscheint heute
»als ein zur Belustigung und Ergötzung vom Staate zugelassenes In-
stitut; oder, wie die Hoftheater, zur Erheiterung eines mehr oder minder
kunstsinnigen Fürsten von demselben unterstützt« *). Ja, in gewisser
Rücksicht ist das Theater ganz willkommen, indem der Sinn nämlich,
durch den augenblicklichen Genuß, den es der Menge bietet, oft von
den ernsten Fragen der Gegenwart abgezogen und verflüchtigt wird,
»selbst ein unschätzbares Mittel, finstere Wolken von der Stirn des
Volkes zu verscheuchen, und düstere, schwere Träume der Freiheit
hinwegzugaukeln«. Das Theater soll aber aus dem Dienst des Fürsten
als Privatperson in den Dienst des Staats, der der freie, vernünftige
Organismus ist, übergehen, und es soll an der Verwirklichung des
großen Zwecks echter Humanität mitarbeiten. Für die Zukunft des
') IX: 2: 56.
2) X : 8 ff.
3) St. L. : 395 und II : E : 54.
*) St. L.: 397.
HEINRICH THEODOR RUTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 161
deutschen Dramas ist das Beste zu hoffen. »Es wird einer nationalen
Entwici<lung entgegenreifen. Aus demselben Geist, aus dem Deutsch-
land sich seiner politischen Trägheit entreißen wird, werden auch die
Dichter auferstehen.«
Das Theater, hörten wir oben, soll nicht das bringen, was die
Menge etwa begehrt, sondern was sie begehren sollte. Aber dies ist
nur zu erreichen, wenn die Bühne sich auf ihre eigenen Füße stellen
darf, und sich der Nation gegenüber für die Verwaltung der idealen
Güter verantwortlich fühlt. Die Bedingung dazu ist, daß das Theater
auch nach oben, d. h. von den unmittelbaren Einflüssen des Hofes
unabhängig wird. Die Leitung der Bühne soll nicht mehr Hofcharge
sein; sie soll direkt unter das Ministerium des Kultus, gleich der
Akademie der Künste, gestellt werden. Blickt man auf die Entwicklung
des Theaters, so steht der Gewinn des Nationaltheaters zu hoffen. Aus
dem Wandertheater wurde das seßhafte Hoftheater. Aber wie die
Schauspieler frei geworden sind, so muß auch das Hoftheater frei werden.
»Wie das Hoftheater der absoluten Monarchie, so entspricht das National-
theater dem freien Staat« ^).
II. Die Einzelanalyse.
a) Einleitung.
Alle diese hier geschilderten Forderungen, die im Grunde sämt-
lich »aus dem Wesen der Idee resultieren«, sind nun in Gemeinschaft
mit andern Orts dargestellten theoretischen Forderungen bei der Beur-
teilung eines Kunstwerks in Anwendung zu bringen. Dabei kommt
es der Philosophie der Kunst darauf an, die Begeisterung, mit welcher
edle Naturen und dichterisch empfindende Gemüter im Genuß der Kunst-
werke schwelgen, zu rechtfertigen und als des freien Geistes würdig
ins Bewußtsein zu heben. Aus dieser Tätigkeit wird ein großer Ge-
winn hervorgehen, nämlich nicht nur ein direkter, indem das jeweils
vorliegende Kunstwerk erklärt wird, sondern auch ein indirekter, indem
die hier gewonnenen Gesetze sich auch auf andere Werke der Kunst
projizieren. Hier wollen wir nun näher darauf eingehen, was das
Wesen der Einzelanalyse ist.
»Sie soll die großen Kunstwerke in ihrer inneren Vernünftigkeit,
ihrer Einheit von Gedanken und Darstellung begreifen« -).
Zunächst muß man den Gedanken des Ganzen ausfindig machen.
Es ist uns zuvörderst bei jedem Kunstwerk um die Auffassung
') St. L. : 395-407.
') II:A:1V.
Zeitschr. {. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 11
162 ROBERT KLEIN.
der Idee und ihrer Momente zu tun. Daraus wird sich die Art der
Gestaltung und der ganzen Komposition als eine aus der Idee er-
wachsende schöne Organisation ergeben. Ein Kunstwerk ist in sich
umso vollendeter, je mehr sich die ursprüngliche Konzeption desselben,
wenn man sie von ihrer Gestaltung für einen Augenblick ablöst, auf
einfache, aus der Natur des Grundgedankens mit Notwendig-
keit folgende Begriffsbestimmungen zurückführen läßt. Je weniger
zufällige Züge sich in einem Werke befinden, desto vollendeter ist es ').
Um nun zunächst den Gedanken des Ganzen, die Idee ausfindig
zu machen, wird vorerst die Form des Kunstwerks zerbrochen. Der
Bau wird dekomponiert. Es erhebt sich nämlich die Frage, »warum
die dichtende Phantasie gerade in dieser Form sich entäußert hat,
warum sie gerade diese und keine andere Gestalt angenommen hat«.
Da muß man das Allgemeine der konkreten Idee in ihrer Besonderung
nachweisen, und die von der dichtenden Phantasie erzeugte Gestaltung
derselben als in sich vernünftig begreifen und auf diesem Weg das
ganze Kunstwerk dem Gedanken unterwerfen ^). Diese Untersuchung
eines Werkes stellt sich in vier Phasen dar.
Zuerst handelt es sich um die Entwicklung der Idee. Hier wird,
sozusagen metaphysisch, der Gedanke in seiner Notwendigkeit verfolgt
und entwickelt. Sodann wird zweitens die Komposition des Kunst-
werkes betrachtet. »Die Komposition eines großen Kunstwerks ent-
wickeln heißt: das, was der Künstler cjurch die intellektuelle Anschauung
aus seiner Genialität hervorgebracht hat, als in sich vernünftig organi-
siert nachweisen, mithin der oft unbewußt wirkenden und schaffenden
Macht der göttlichen Vernunft im dichtenden Genius nachgehen und
sie allseits ins Bewußtsein fassen.« In diesem Abschnitt werden die
Personen als Träger des Gedankens nachgewiesen. Es wird gezeigt,
warum dies gerade da steht und jenes gerade dort, die Personen
werden in ihrer gegenseitigen Proportion abgeschätzt.
Drittens wird die dramatische Entfaltung des Werkes dargestellt.
Dies heißt »die Komposition eines Dramas in seiner Gliederung über-
schauen«. Die Tragödie wird aktweise durchgegangen, die Not-
wendigkeit der Entwicklung und die Logik der Aktschlüsse aufge-
zeigt. Endlich muß man viertens die Charaktere schildern, womit
man ihre besondere Beziehung zur Kunst der dramatischen Darstellung
verbinden kann. Dieser letzte Abschnitt beschäftigt sich vorwiegend
mit dem psychologischen Werdegang der einzelnen Personen und gibt
Winke für die Darstellung-).
■) II:D:3f.
2) II : A : 18-22.
■) II:D:l-97 und 109-182.
HEINRICH THEODOR RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 163
b) Einwände und Ausschaltungen.
Gegen diese Methode der Untersuchung nun, sagt Rötscher, könnten
vielleicht folgende Einwände erhoben werden :
1. Der Standpunkt der subjektiven Empfindung.
Es wird der unaussprechliche Zauber jeder Dichtung gestört, die
eigentliche Wurzel des Ganzen wird sich doch immer dem Gedanken
entziehen; man stellt sich daher auf die subjektive Empfindung ein
und benutzt sie als Maßstab. Die Folge dieser Beurteilung nach dem
Empfinden ist grundloses Entzücken und Tadeln. Dieser Standpunkt
bedient sich abstrakter, fertig zum Kunstwerk hinzugebrachter Vor-
stellungen, welche die Gründe für das steilenweise Lob, wie für den
Tadel abgeben. Hieraus rühren mancherlei Mißverständnisse her, wie
die Ablehnung Antonios im Tasso, die Verdammung der Wahlverwandt-
schaften usw. Die Quelle dieser falschen Beurteilung sitzt in dem »ab-
strakten Verstand, der das der individuellen Empfindung unmittelbar
Zusagende zu rechtfertigen unternimmt und auf diese Weise sich nur
mehr und mehr von der Erkenntnis der Totalität entfernt« ').
2. Die psychologische Methode.
Eine zweite Betrachtungsweise macht sich die lebendige Indivi-
dualität überhaupt in ihrem ganzen Lebensprozeß zum Gegenstand
ihres Anschauens und Forschens. Zur Erkenntnis des ganzen Kunst-
werks reicht jedoch auch diese Methode nicht. Sie wurde von Tieck,
A. W. Schlegel ausgeübt. Es fehlt hier jedoch die Einsicht in den
inneren Zusammenhang der einzelnen Individualitäten untereinander.
Sie kann nicht >die absolute Bestimmung des Einzelnen zum Ganzen
aufdecken; schließt auch der psychologische Standpunkt die innere
Welt des Individuums auf, so findet er doch nicht den Ring, wodurch
dieselbe mit den übrigen Welten zusammenhängt, und durch welche
sie wieder das Gesetz ihrer Bewegung empfängt«. Die psychologische
Methode kann daher nur als Moment in der wissenschaftlichen Be-
mächtigung des Kunstwerks bezeichnet werden ^).
3. Die philosophische Methode.
Philosophisches Denken und künstlerische Tätigkeit haben die
absolute Einheit und Durchdringung der Entgegengesetzten zu ihrem
Ziel. Denken und Dichten sind Strahlen ein und derselben Sonne.
Dem Einwand, ob sich der Dichter denn das, was der philosophische
Interpret entwickelt, wirklich bei seinem Werk gedacht habe, wird mit
•) II:A:30-4'2.
■) II:A:43-47.
164 ROBERT KLEIN.
der Antwort begegnet, daß die Phantasie sich stets zur konkreten Ge-
stalt und zum angeschauten Bild entäußert. Eben die Form, die der
Dichter halb unbewußt fand und gestaltete, bringt der geistesverwandte
Philosoph ins Bewußtsein. Der Gedanke findet sich im Kunstwerk
wieder, weil er dort seine Wesenheit und seinen ganzen Prozeß der
Vermittlung Entgegengesetzter verkörpert anschaut, weil er dort das
Unendliche, welches sich selbst Bestimmtheit und Grenze setzt, versinn-
iicht sieht. Der Denker übernimmt die Aufgabe, die »verkörperte Idee
in den verklärenden Leib seiner Gedanken zu metamorphosieren«. Erst
auf diesem Standpunkt kann von einer wahrhaften Kritik die Rede sein^).
c) Die wahre Methode.
Der Kritiker muß die Kenntnis der Idee haben, woraus die Kenntnis
der Kunstgattungen resultiert, und womit er das Einzelobjekt mißt
nach den Forderungen der Gattung. Was wir vorher ausführten, war
im Grund nichts anderes, als eine nähere Erklärung der Idee, die wir
ja kennen mußten, um mit ihren Maßstäben uns vertraut zu machen.
Es ist eine weitere Aufgabe dieser echten Methode, das rein Zeitliche
von dem wahrhaft Allgemeinen und Gehaltvollen zu scheiden. Man
könnte geradezu das Gesetz aufstellen: die Qualität (der Wert) eines
Kunstwerks ist direkt proportional der Quantität seines allgemeinen
(zeitlosen) Gehalts.
Es ergibt sich nun ein dreifaches Verhältnis dieser Kritik zum
Kunstwerk.
Erstens : Werke, die ganz auf die Zeit gestellt sind und nichts von
der zeitlosen Idee enthalten, werden negiert und verdammt
Zweitens: Im zweiten Stadium muß die Kritik das Positive im
Negativen herausheben. Hierher gehören Werke, die wesentlich mit
der Idee und ihrer absoluten Forderung zusammenhängen, die aber
doch auch negative, teils einer bestimmten Zeit angehörende, teils aus
der Schranke des einzelnen Subjekts stammende Seiten darbieten. Die
Kritik wird ferner das Kunstwerk als Moment der historischen Ent-
wicklung begreifen. »Die absolute Kritik erscheint als die Dialektik
des weltgeschichtlichen Fortschritts.« »Ein höherer Gesichtspunkt kann
niemals gedacht und aufgefunden werden, als der angedeutete, indem
er das einzelne Werk, sozusagen sab specle aeterni betrachtet.« »Die
Kritik überläßt hier die Nachweisung der negativen Seiten der ob-
jektivsten Macht, der geschichtlichen Entwicklung, und verzichtet so
ganz auf ihr subjektives Tun und Betrachten, da sie nur das, was sich
im Verlaufe ergeben hat, ergreift und innerlich verknüpft« ^). Man
') II : A : 48—58.
') 11 :A: 59-66.
HEINRICH THEOCOR RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 165
könnte, sagt Rötscher, ihm hier einwenden, jedes Drama sei ja ein
geschichtliches Entwicl<iungsmoment, und als solches doch wohl not-
wendig, und also auch anzuerkennen? Dem ist aber nicht so. Es
kommt wesentlich darauf an, daß die Forderungen der Zeit durch das
Kunstwerk befriedigt werden, daß es die Kunst gefördert und weiter-
gebracht hat.
Die Kunstwerke aber, die hinter ihrer Zeit zurückgeblieben sind,
werden eben vom Kunstkritiker, der ja die Kenntnis der Zeitgeschichte
und ihrer Forderungen hat, abgewiesen.
Wird also auch dieser Einwand von Rötscher beseitigt, so glaube
ich, abweichend von der bisher beobachteten Regel, lediglich eine Dar-
stellung der ästhetischen Ansichten Rötschers zu geben, hier meiner-
seits einen Einwand erheben zu müssen; dies geschieht nicht, um
eine Kritik des Systems zu üben, was gar nicht zur Aufgabe gehört;
nur um eine Antwort Rötschers vorzubereiten, die bei ihm nicht an
der gehörigen Stelle steht und nicht klar genug herausgearbeitet ist.
Wenn er nämlich seine Art der Kritik für die höchste erklärt, und
wenn er ihren Triumph namentlich darin sieht, daß sich alles im Kunst-
werk aus sich selbst erklärt, so muß man doch fragen, was das denn
eigentlich heißt?
Es werden ja doch auch nur Normen aus dem Kunstwerk heraus-
gelesen, die man herauslesen will, und es wäre schließlich keine
Kunst mehr, Kunstkritiker zu sein, wenn man alles aus dem Kunstwerk
zu seiner Erklärung von selber herauslesen könnte. Es wird eben die
Kenntnis der Idee doch vorausgesetzt, und ihr werden die Normen
entnommen. Diese Tat, die spezielle Struktur eines Kunstwerks auf-
zuzeigen, muß als schöpferische Leistung des Kritikers betrachtet
werden; nicht jeder sogar, der die Kenntnis der Idee hat, könnte da-
nach die innere Logik eines Kunstwerks nachweisen. Dies hat Rötscher
gefühlt, und daher kommt es — und deshalb wollte ich es hier heraus-
heben—, daß er überall betont, Kunstverstand gehöre notwendig
zu diesem Geschäft. Darauf muß ausdrücklich aufmerksam gemacht
werden, daß Rötscher überall das Künstlerische in der Kritik hervor-
hebt. Dichterischer Sinn, heißt es (II:A:16), ist zu aller Kunst-
beschäftigung unerläßliche Bedingung, oder (VI : B : 203), >in der Kunst-
betrachtung reicht nun einmal nicht die Dialektik aus, es gehört dazu
durchaus die künstlerische, auf Wahlverwandtschaft beruhende An-
schauung, welche ein Kunstwerk durchlebt und es darum auch durch
den Gedanken wiedergebären kann«. Ebenso 11:A:72, ferner
IV : A : 47 usw. usw.
Drittens: Endlich bieten sich der kritischen Betrachtung Kunst-
werke dar, die sich als ewige Offenbarungen der göttlichen Ideen kund-
166 ROBERT KLEIN.
geben. Hier erscheint die Kritii< als die schlechthin anerkennende und
ihre Anerkennung rechtfertigende Kunst. Diesen Werken gegenüber
verwandelt die Kritik ihre vergleichende Tätigkeit in begreifende Ein-
sicht. Hier waltet demutsvolle Hingebung an das Werk ^).
So sehen wir, wie Rötscher die Idee als Maßstab der Kritik auf-
faßt, als einen Maßstab, der mit künstlerischem Takt bei Beurteilung
des Kunstwerkes in Anwendung gebracht werden muß. Wir schilderten
näher das Wesen dieses Maßstabes, die Entfaltung der Idee.
Nachdem wir so das dargestellt haben, was man theoretische Kritik
nennen könnte, wenden wir uns zur praktischen Kritik, der Anwendung
dieser Formen auf das einzelne Kunstwerk. Schließlich ist der beste
Kritiker die Zeit, und nichts könnte ein vorzüglicherer Prüfstein für
die Güte einer Kritik sein, als wenn wir auch heute noch die Urteile
billigen, die sie vor siebzig Jahren gefällt hat.
III. Die Kritik.
Die Kritik, die auf der geschilderten Grundlage ruht, nennt sich
wissenschaftliche Kritik. Denn die Erforschung und Kenntnis
der Idee, welche ihre Grundlage ist, gehört der Wissenschaft an. Jede
andere Kritik ist Raisonnement auf gut Glück. Diese Kritik aber hat
den allein richtigen Maßstab. Ihre Aufgabe hat sie gelöst, wenn sie
die Vernünftigkeit im Bau des Kunstwerks nachgewiesen, und somit
den Grund unseres Wohlgefallens uns erklärt hat. Hüten muß sie
sich dabei allerdings »vor der Sucht, zu konstruieren, die so leicht die
Kunstbetrachtung lächerlich macht« ^). Mathematisch können wir frei-
lich im Kunstwerk nichts beweisen, wie im Grunde gar keine künst-
lerische Anschauung, denn es gibt in aller Poesie einen Punkt, der
über alle Reflexion hinausragt und nur für die dichtende Anschauung
selbst wirkt ^).
Eine ungebildete Empfindung ist unfähig, ein Werk des Geistes
in sich aufzunehmen. »Es gibt in aller Kunstbetrachtung einen Punkt,
wo dieselbe geradezu apodiktisch werden muß, wo nämlich das Be-
weisen der Vernunft und Notwendigkeit einer Komposition aufhört.
Die Kritik kann nachweisen, inwiefern die von einem Dichter aufge-
faßte Idee poetisch oder nicht poetisch ist, ob sie dem Kreise der Poesie
angehört, dem sie der Dichter zugeteilt hat, d. h. also: ob sie lyrisch,
episch oder dramatisch ist; die Kritik kann nachweisen, inwiefern der
■) I1:A:69— 72.
«) VI : B : 204.
') VII : 95 und II : E : 36.
HEINRICH THEODOR RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 167
Bau des Ganzen dieser Grundidee entspricht, das Einzelne sich dem
Ganzen einordnet, inwiefern namentlich in einem Drama jede Gestalt
für sich ihr eigentümliches Lebensprinzip darsteiU. Die Kritik l<ann
hier das zarteste Nervengefiecht auffassen, l<ann die geheimsten Ab-
sichten des Dichters zur Anschauung bringen und die geringsten
Lebensstörungen nachweisen. Aber sie kann die letzten Spitzen des
individuellen Lebens nicht in ihrer Notwendigkeit beweisen, sie kann
hier nur an das künstlerische Bewußtsein appellieren. Will jemand
es unternehmen, einem anderen die Notwendigkeit der Sprech- und
Denkweise irgendeiner Shakespeareschen Figur nachzuweisen?« i).
Wenn Rötscher, wie wir im vorhergehenden Abschnitt hörten, sagt,
es gäbe eine Gruppe vollendeter Kunstwerke, denen gegenüber das
Geschäft des Kritikers anbetende Erklärung und demutsvolle Hingabe
sei, so muß man fragen, wie man denn wisse, welche Werke zu dieser
Gruppe gehören? Ist der Weg so, daß ein Werk, das, mit dem Maßstab
der Idee gemessen, diesem vollauf genügt, dann jener Gruppe zuge-
rechnet wird? Wie vertrüge sich damit der Satz, der sich bei Rötscher
findet: »Bei Shakespeare muß man eindringen, von der Voraussetzung
seiner Größe ausgehend« ^).
Wer setzte die Größe? Hier ist offenbar ein dunkler Punkt, der
nur dann ein wenig geklärt werden könnte, wenn auch seine Be-
gründung in das Reich jener dichterischen Anschauung verwiesen wird,
die als zur Kritik nötig bezeichnet wurde.
Die hier geschilderte Aufgabe der Kritik betrifft die Einzelanalyse.
Praktisch hat sie Rötscher an zahlreichen Werken ausgeübt, am aus-
führlichsten an Lear, Romeo und Julia, Kaufmann von Venedig, Wahl-
verwandtschaften, Faust 11.
Die Kritik soll ferner, von der Beurteilung des Kunstwerks abge-
sehen, den Geschmack der Massen läutern, ohne dabei allerdings ihre
Tiefe einzubüßen. Gerade im Übergang der Wissenschaft zum Leben,
den zu befördern die eigentliche Aufgabe der Zeit ist (1845), werden
Auswüchse gezeitigt. Unlautere Elemente mischen sich unter die Kritik
des Dramas und verflachen und verseichen sie. Ihnen gegenüber
muß die wissenschaftliche Kritik ihre Würde stets bewahren. Sie ist
ruhig, vornehm und leidenschaftslos. Auch aus den Andeutungen, auf
welche sie sich — namentlich in den politischen Zeitschriften — zu
beschränken hat, soll noch die Wurzel der Erkenntnis hindurchscheinen.
Das Zutrauen der Darsteller und Dichter soll sie gewinnen, ohne sich
ihnen schmeichelnd zu nähern, indem sie vielmehr den Gedanken eine
') VI:B:151.
') VIII: 5.
168 ROBERT KLEIN.
solche sittliche Würde einhaucht, daß sie auch die gerichteten Personen
noch zur Achtung vor der Macht der Idee zwingt. Wenn sich gleich
neben diesen Satz, in dem Achtung der Idee gefordert wird, in der Ab-
handlung, die Rötscher über die Kritik schrieb, die Forderung findet:
die Kritik hat keinen fertigen Maßstab an die Erscheinung zu legen
und sie in das Prokrustesbett eines abstrakten Begriffs zu zwängen,
so können wir ihn vor dem Vorwurf der Unklarheit oder Phrase nur
dadurch retten, daß wir das Wort abstrakt, wie es im Hegeischen Sinn
verstanden wurde, dreimal unterstreichen.
In täglicher Ausübung der praktischen Kritik nun fällt eine Menge
von theoretischen Äußerungen, die man unmöglich alle aufzählen kann.
Es sind vor allem kritische Bemerkungen über die Schauspieler, deren
hier zu gedenken wäre. Die Werke selbst werden stets an der Idee
gemessen.
a) Kritik der Schauspieler.
Beachtenswert scheint mir die stete Betonung Rötschers, er werte
die Künstler nach der Höhe ihres Rufes. So heißt es: »Die Künstlerin
scheint uns durch das Maß ihrer inneren und äußeren Begabung von
der vollendeten Versinnlichung einer Gestalt, wie die der Julia, getrennt
zu sein — wie sich von selbst versteht, die Leistung des Fräulein
Seebach nach dem höchsten Maßstab gemessen, welchen die Künst-
lerin nach ihrem Ruf für sich beanspruchen darf« ^). Ein andermal er-
klärt er direkt: Die Aufgabe der Kritik wächst mit der Größe des künst-
lerischen Rufs, über welchen dieselbe zu Gericht sitzt -).
Stets wird die Darstellung zum Schluß der Kritik erwähnt. Häufig
wird auf den Ton, auf die Deklamation, auf das Tempo der Darsteller
näher eingegangen. Gelegentlich wird das Prinzip ausgesprochen, nie-
mals über einen Künstler nach einer ersten Rolle ein definitives Urteil
abzugeben ^). Scharf wird getadelt, wo ein Schauspieler sich aus dem
Ensemble hervordrängt. Hier fallen Ausdrücke wie: Virtuose, Komö-
diantenkünste usw. Stets wird bedacht, was des Stückes und was des
Schauspielers ist. Rolle und Darsteller werden streng getrennt, und
es wird darnach gefragt, ob der Darsteller hinter der Rolle zurückblieb
oder ob er mehr aus ihr machte als sie vom Dichter aus ist. So heißt
es: Die Rachel »ergänzt, überflügelt den Dichter« *).
Wie Rötscher auf die Darstellung einen direkten Einfluß hatte,
dafür will ich für viele nur eip Beispiel geben: am 26. Mai 1846 forderte
er den Schauspieler Franz, der den Geist in Hamlet gab, auf, nicht
') VII : 97 f.
•) II:E:174.
») Sp.-Ztg. : 27. April 1860.
') VII : S. 3.
HEINRICH THEODOR RÖTSCHERS THEORIE DER SCHAUSPIELKUNST. 169
mit geisterhafter, hohler Stimme zu sprechen, sondern mit Würde.
Am 31. Oktober 1846 kann er zu seiner Freude feststellen, daß Franz
seinem Rat gefolgt ist ').
b) Kritik der Inszenierung.
Gleich der Beurteilung des Schauspielers werden auch hier die
im theoretischen Teil aufgestellten Forderungen in Anwendung ge-
bracht. Es ist oft vom Tempo im ganzen die Rede, oft vom Ton,
auf den das Ganze gestimmt war, wobei dann untersucht wird, ob er
zu schnell, zu langsam oder adäquat war. 1I:E:134 verlangt er für
Othello einen großartigen Stil.
Einmal heißt es: »Die Länge der Zwischenakte, die wohl durch
den Umzug der Sabine nötig sein mochte, tut bei solchen, auf ein
rasches Ineinandergreifen berechneten Stücken der Wirkung immer Ein-
trag. Vielleicht ließen sich die Pausen zum Vorteil des Ganzen doch
noch etwas kürzen« -). Auch in II : E : 14 wird darauf hingewiesen, daß
der Szenenwechsel die Illusion stört. Ein andermal wird allzu große
Dunkelheit, die auf der Bühne herrschte, getadelt ^). Auch für das
äußere Bild ist Rötscher sehr empfänglich. Gelegentlich der Neu-
einstudierung des Hamlet bemerkt er tadelnd: »Fortinbras im Hamlet
erscheint als höherer Polizeibeamter, um den Tatbestand der Leichen
zu konstatieren« '').
Für die direkte Wirkung Rötschers auf die Inszenierung der Ber-
liner Bühne will ich zwei Belege anführen. VII: 184 schreibt er: »Zu
rühmen haben wir noch an der neuen Inszenierung des Schauspiels
durch Herrn Düringer, daß die Einrichtungen in den Schlachtszenen
so getroffen waren, daß dabei vorzugsweise die Phantasie des Zu-
schauers angeregt wurde. Dadurch, daß diese Kämpfe mehr nur an-
gedeutet, als wirklich vor unseren Augen ausgeführt wurden, daß man
also auf eine sinnliche Illusion derselben verzichtete, enthob man sie
zugleich der Lächerlichkeit, der sie zum Opfer fallen müssen. Wir haben
stets bei diesen Massenkämpfen auf die Erhebung derselben in das
Reich der Phantasie gedrungen«, und
VII: 188 f.: »Ferner erinnern wir an die große Szene zwischen
Hamlet und der Mutter, wo endlich, worauf wir immer bestanden
haben, die kleinlichen Medaillenbilder den lebensgroßen Bildern, wie
sie Shakespeare offenbar fordert, gewichen sind.«
') II:E:151.
») Sp.-Ztg.: 6. Juli 1846.
') Sp.-Ztg.: 21. Februar 1860.
*) VII : 187.
170 ROBERT KLEIN.
c) Kritik des Publikums.
Schließlich wollen wir noch betrachten, wie Rötschers Kritik sich
zum Publikum stellte. Es fehlt nicht an solchen Stellen, wo er mit
Genugtuung konstatiert, daß sein Urteil mit dem des Publikums zu-
sammenfalle, nicht an Hinweisen, das Publikum werde ihm hoffent-
lich zustimmen. Doch da, wo er anderer Meinung war, konnte er ihr
auch kräftig Ausdruck verleihen, wofür folgende Stelle zeugen möge:
»Der wilde Hervorruf des Herrn Hendrichs, dem der zweite Pistolen-
schuß des Hervorrufs des Herrn Hoppe gleich nach dem ersten Akt,
ohne allen vernünftigen Grund, folgte, beweist, daß wir auf dem aller-
besten Wege sind, im Theater den Beifall der Parteien und Koterien
gegen den freien Beifall des gebildeten Sinns einzutauschen. Die Kritik
hat das Recht und die Pflicht, solche Ungemessenheit als das zu be-
zeichnen, was sie ist ! Hoffentlich haben die Künstler, welche solchen
Beifall erfahren, Freiheit genug, dadurch mißtrauisch gegen sich selbst
zu werden i).«
Es heißt allerdings, die Psyche des Schauspielers von einem allzu
idealen Standpunkt betrachten, wollte man ernsthaft glauben, es gäbe
irgend eine Form des Beifalls, die ihm nicht wohltue.
Aber das Beispiel ist bezeichnend für die hohe und edle Auf-
fassung, mit der Rötscher alle künstlerischen Fragen anpackte. Es
haftet ihm stets etwas Philosophisches an, und wie es nicht leicht ist,
aus seinen Schauspielkritiken das für die einzelnen Künstler Charak-
teristische herauszulesen, so kann auch der Einzelanalyse der Vorwurf
einer gewissen Unlebendigkeit nicht erspart bleiben. Sie zeigt wohl
vorzüglich die Architektur eines Kunstwerks, aber es fehlt ihr an
Differenzierungsmitteln, an Handhaben, mittels derer sie die Wesens-
verschiedenheit Goethes von Shakespeare beispielshalber darlegen könnte.
Hier hat sie ihre Grenzen.
Immerhin hat in ihrem Rahmen Rötscher so viel Wertvolles geleistet,
daß man ihn neben Bulthaupt ruhig den größten Dramaturgen des
IQ. Jahrhunderts nennen kann.
') Sp. Ztg. 10. Juli 1846 und vgl. auch II:E:98.
Bemerkungen.
Rhythmus in menschlichen Raumgebilden.
Von
August Schmarsow.
Oskar Walzel hat unter dem Titel »Wechselseitige Erhellung der Künste« ver-
sucht, einen Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe zu liefern '). Er
berichtet an erster Steile über meine seit langen Jahren geübte und so auch auf
Schüler übertragene Methode, die Innenräume mittelalterlicher Bauwerke, besonders
der Kirchen des Abendlandes, auf ihre rhythmischejQliederung zu untersuchen und
dadurch zum Verständnis des schöpferischen Wesens der Architektur wie zur Er-
klärung des ästhetischen Erlebnisses in solchen Raumgestaltungen hinzuwirken. Leider
muß ich, erst spät auf das Büchlein aufmerksam gemacht, sogleich anfangs erkennen,
wie fern dem Literarhistoriker diese anschaulichen Dinge liegen, nach denen er gierig
greift. Und dabei laufen ihm Verwechslungen und Irrtümer an so ausschlaggeben-
den Stellen unter, daß ich Einspruch dagegen erhebe, solches Zeug überhaupt
unter meinem Namen zu verbreiten.
Da steht zu lesen: »Schmarsow scheidet drei Oestaltungsprinzipien : Propor-
tionalität, Symmetrie und Rhythmus.« iVlit Verlaub: dies tat Gottfried Semper, der
große Architekt, dessen Lehre ich psychologisch weiterzubilden gestrebt habe. Falsch
ist auch der Zusatz: »in ausdrücklicher Wendung gegen Riegi«. Doch das ist
kaum von Belang im Vergleich mit dem folgenden Wortlaut: »Der Proportionalität
weist er die erste Dimension zu, die Breite (sie!), der Symmetrie die zweite,
die Länge (!), — dem Rhythmus die dritte, die Tiefe.« Uns andern ist die
erste Dimension die Höhe, die zweite die Breite. Wenn jedoch auch Walzel die
Tiefe als dritte Dimension anerkennt, so ist ihm die Länge wohl in die vierte Dimen-
sion geraten. Daß aber nicht etwa ein Druck- oder Schreibfehler vorliegt, über
den der Verfasser des Vortrags auch bei der Korrektur hinweg gelesen hätte, ohne
sich etwas dabei zu denken, das bezeugt drei Seiten weiter die gleich lustige An-
gabe: »S. billigt transitorische Bewegung doch auch der ersten Dimension zu, der
von ihm die Symmetrie zugewiesen wird, und der zweiten, in der er Proportionalität
ansiedelt.« SolHe mich danach nicht schon der Setzer für einen unverbesserlichen
Rekruten gehalten haben, der mit derselben Hartnäckigkeit auch Rechts und Links
verwechseln werde? Aber es ist Walzel allein, der sich so etwas leistet. Und ob-
wohl er nun weiß, daß ich die Möglichkeit sukzessiver Auffassung auch in der
ersten und zweiten Dimension ausdrücklich anerkannt habe, dichtet er mir die neue
Behauptung an, ich nehme den Rhythmus ausschließlich für die dritte Dimension
In Anspruch, nur Bewegung nach der Tiefe erfülle nach meiner Ansicht die strengen
Bedingungen dieses Gestaltungsprinzips! Er selbst erwähnt meine Bezeichnung
') Philosophische Vorträge, veröffentlicht von der Kantgesellschaft Nr. 15,
Berlin 1917.
172 BEMERKUNGEN.
der Höhe als »Wachstumsachse«, die ich im Anschluß an O. Semper stets dort an-
wende, wo es sich um den Aufstieg von unten nach oben handelt, d. h. nicht um das
Höhenlot, das von oben auf die Basis gefällt, also dem Gesetz der Schwere, des Falles
gemäß aufgefaßt wird. Er weiß, daß ich in der zweiten Dimension dagegen mit Sem-
per die Symmetrie walten lasse, in der wir das Prinzip des ruhigen Ebenmaßes, des
Gleichgewichts im Stillstand erkennen; aber er weiß auch, daß ich hier, im Unterschied
von Semper oder in experimentell-psychologischer Ergänzung, die transitorische Auf-
fassung bei Anwendung des Mittellotes auf die Wagrechte vor uns hervorgehoben
habe, d. h. die Abmessung von dem Schnittpunkt in der Mitte nach beiden Enden
oder umgekehrt von dem Endpunkt links und rechts nach der Mitte zurück. Dies
sukzessive Verfahren habe ich im Unterschied von dem simultanen, dem Festhalten
der Symmetrie, mit Entfaltung oder Diremtion bezeichnet, der wieder Responsion
oder Zusammentritt von außen nach innen gegenübersteht. Nehmen wir als Objekt,
auf das wir diese Möglichkeiten übertragen, etwa die eine Wand eines Zimmers an,
so stellen wir uns dabei ihrer Mitte gegenüber auf und verharren auf diesem Stand-
punkt. Sowie wir aber die beiden Hälften nicht allein mit dem Augenmaß als
gleich hinnehmen, sondern wirklich nachmessen wollen, so ergibt sich, wie jeder
weiß, eine neue Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, unser Verhalten abzuändern,
Entweder treten wir an die Wand heran, beginnen an einem Ende und messen sie,
daran entlang schreitend, bis ans andere Ende durch, d. h. wir geben unseren festen
Standpunkt auf, vertauschen ihn mit dem verschiebbaren — an der Wand, an dem
Tisch, an der Bank vorbei — , und das Objekt bleibt immer seitlich von uns stehen.
Oder, wir vollführen diesen Wechsel, wenn wir nicht selbst in Ortsbewegung über-
gehen wollen, doch wenigstens mit unserem Augenpaar, setzen links mit dem Fixier-
punkt ein und verfolgen die gerade Linie durch, ihrer ganzen Ausdehnung entlang.
Dies ist der Vorgang, durch den sich die Breite in die Länge verwandelt. Am
selben Objekt die nämliche Dimension? fragt Walzel, und denkt, ich spiele nur mut-
willig mit den Wörtern unserer Muttersprache. Nein, ich weiß, daß sie nicht nur
für uns dichtet, sondern auch für uns denkt; es gilt nur zu erwerben, was wir in
ihr ererben. Die Länge ist, sowie wir sie in transitorischer Bewegung vollziehen,
nicht die zweite Dimension, sondern sie ist die dritte Dimension geworden, die
Richtungsachse unserer Bewegung durch den Raum. Machen wir die
Probe nur in einem Zimmer, wo wir Breite und Länge ohne Mühe unterscheiden,
also einem mit rechteckigem Grundriß, wo die beiden kleinen Seiten den beiden
größeren klar gegenüberstehen. Wir nennen jene die kurzen oder die Schmalseiten,
diese, eben die längeren, die Langseiten. Und zwischen diesen überlegenen Parallelen
entlang geht die Hauptachse des Zimmers, das wir deshalb als oblong bezeichnen,
gegenüber solchen Formen, in denen die Größe der Seiten voneinander nicht so
merklich abweicht. Nun mache man doch die Gegenprobe mit einem quadratischen
Grundriß: wo ist da die Länge, wo die Breite? Oder mit einem kreisrunden, wo
ist da die Tiefe unter all den gleichen Durchmessern, nach denen wir die Breite
bestimmen? Ist sie im letzteren Falle nicht vielmehr zuerst ein Radius, nein jeder,
den wir von dem Zentrum aus, in das wir uns selbst versetzen, gegen die peripherische
Umfassungsmauer zu, als Ortsbewegung oder als Blickrichtung erproben? — und im
Quadrat: ist die Tiefe der kürzeste Weg gegen die Mitte einer Wand, oder der längste
in der Diagonale gegen jede der Ecken zu? Es sind keine sophistischen Klügeleien,
sondern ganz konkrete Fälle des Raumeriebens, um die es sich handelt. Wer aber
die drei Dimensionen noch nicht unterscheiden kann, der vermag auch hier aller-
dings nicht deutlich zu erfassen und festzuhalten, welche Verschiedenheiten der
Auseinandersetzung des menschlichen Subjekts mit seinem umgebenden Raum sich
BEMERKUNGEN. 173
dabei ergeben. Es gibt Büchermenschen, die solche anschaulichen Dinge, auch
mustergültig in sprachliche Form gebracht, überhaupt nicht lesen können, sondern
immer darüber hinwegträumen. Es gibt gewiegte Literaten, denen solche Kost sehr
bald zuviel wird, die sich deshalb darüber ärgern. So wollen auch wir lieber ver-
suchen, nicht alles, was zusammengehört, hier auf einmal zu erledigen, sondern zum
Teil auf andere Gelegenheit versparen. Aber im Anschluß an das kreisrunde Ge-
mach, das uns als letztes Beispiel diente, sei hier noch die Frage nach der ersten
Dimension berührt. Es ist die Höhe, die das menschliche Subjekt immer als eigene
Vertikalachse mit sich herumträgt, das Wahrzeichen seiner aufrechten Haltung,
seines Vorzugsrechtes, so daß von dieser Hauptachse unseres Koordinatensystems
ausgegangen wird, und daß wir sie deshalb die erste nennen. Suchen wir nun
unsere eigene Höhe einmal über sich selbst hinaus mit dem Blick zu verfolgen,
also als Bewegungsrichtung in der Verlängerung durchzuhalten, so wird uns auch
diese Dimension zur dritten, die vor uns liegt, wie wir vorher die Breite sich in
die Länge verwandeln sahen. Wer daran zweifelt, schaue nur zum gestirnten Himmel
empor, oder suche sich über die Entfernung des Mondes da droben Rechenschaft zu
geben, indem er von sich aus mit dem Blick in die Weite hinaufdringt. Und diese
Verwandlung der Höhe in die Tiefe da draußen kommt daher, daß unsere eigene
Ortsbewegung sich gewohnheitsmäßig immer nach vorwärts vollzieht, gerade vor
uns hin. Wir gehen nicht seitwärts wie die Taschenkrebse, noch aufwärts wie die
Luftbewohner. Und die Richtung, die wir einschlagen, um sie geradeswegs durch-
zuhalten, erhält durch den Willensimpuls die sicher fühlbare Vorherrschaft, die sich
ebenso auf die anderen Dimensionen überträgt, sowie wir unser Ich als vorwärts-
dringend, zielstrebig gerichtet, hantierend oder irgendwie sonst agierend hineinlegen,
also auch wenn wir nur sehen statt zu gehen. Das können wir uns schlagend durch
ein Experiment zum Bewußtsein bringen: treten wir in einen hohen, zylindrisch auf-
steigenden Turm ohne Fenster und ohne Geschoßteilung wie ohne Dach, so daß durch
den Zinnenkranz nur der Luftraum des Himmels hereinschaut; dann gibt es für
unser Augenpaar, je enger die Umfassungsmauern uns umschließen, keine Ge-
legenheit seine Sehweite zu betätigen und seinen Drang nach solcher Kraftübung
zu befriedigen, als allein nach der Höhe; die erste Dimension gewinnt vollständig
die Bedeutung der Richtungsachse, die Hegemonie über die beiden wagrechten,
von denen die vor uns liegende Tiefe sonst überall den Ton anzugeben pflegt. Wie
hier die Blickbahn nach oben die einzig ausführbare Bewegung in die Weite gewährt,
so bleibt auch für jede Erdenflucht der Sehnsucht eben die Höhe der einzige Aus-
weg, und ihr Gegenteil, die unterirdischen Räume, die sich zu unseren Füßen öffnen
mögen, oder als Unterwelt nur in unserer Phantasie existieren, erhalten den richtigen
Namen, die Tiefe, doch auch in einem ganz anderen Sinne als die Tiefe des irdischen
Schauplatzes vor uns, in den wir uns endlich durch die Tür hinausretten, durch die
wir hereingekommen waren. Wie lange hat der griechische Gegensatz des aviu und
•xätu) die ganze menschliche Weltanschauung bestimmt. Aber auch in unserer sinn-
lich-wahrnehmbaren Umwelt und Außenwelt bekommen die drei Ausdehnungen
einen mannigfaltigen Sinn, je nach der Beziehung zu uns. Und für die Architektur
als künstlerische Schöpfung habe ich schon 1896 in einer kleinen Schrift »über den
Wert der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde« darüber Auskunft zu geben
und dafür psychologisches Verständnis zu wecken gesucht (Berichte der Sächsischen
Gesellschaft der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, 48, 1). Daß solche Erträgnisse
anschaulichen Denkens nicht immer leicht auszudrücken sind, auch wenn man seine
Muttersprache so handhabt, wie ich, das wissen die besten Meister genau. Aber,
wenn man bei mir von einer »Schule^ spricht und »kraftvolle Durchführung unab-
174 BEMERKUNGEN.
hängiger Arbeitsmöglichkeiten« anerkennt, wie WaJzel (S. 11), so wird man sich
doch selber sagen, daß solche Wirksamkeit als Lehrer garnicht denkbar ist, es sei
denn — man habe das Zeug dazu. Als solcher will ich denn, nach achtunddreißig-
jähriger Tätigkeit an deutschen Universitäten, auch die Bedenken des literarischen
Kritikers geduldig prüfen und für den Leserkreis dieser Zeitschrift willig aufnehmen,
was er uns etwa zu bieten weiß ').
Vergleiche ich nun die Zitate aus Schiller, Schlegel und Herbart, die vor uns
aufgereiht werden, so finde ich mit Erstaunen, wie willkürlich sie herausgerissen,
ja wie hastig sie abgebissen sind, so daß Wertvollstes, das sich unmittelbar daneben
anbot, beiseite gelassen und so zur wirklichen Klärung der Fragen garnicht vor-
gedrungen ward. Ernst Meumann aber, den Walzel bald beiseite schiebt, wo wir
uns geflissentlich mit ihm verständigen wollen, bald umgekehrt gegen mich ausspielt,
wo der Psychologe die Sache zweifellos besser verstand als der Literaturforscher,
hat seinerzeit auch zu meinen Schülern gehört und sich später noch dazu bekannt,
wie er das Hauptprinzip seiner eigenen Ästhetik, das Ausgehen vom künstlerischen
Schaffen selbst, von mir übernommen. Es ist ein ehrliches Ringen der Geister, in
dem ich noch mit meinem letzten Buch »Kompositionsgesetze in der Kunst des
Mittelalters« über die früher erreichten Grundlagen hinausgegangen bin, zur Er-
gänzung und Vertiefung meiner damaligen Lehre. Wir wollten es alle nicht be-
quemer nehmen, wie Walzel es uns empfiehlt; und hatten nicht gegen Philosophen,
sondern gegen rückständige Architekten und oberflächliche Rationalisten zu kämpfen,
denen die psychologische Betrachtungsweise ebenso fremd oder gar verhaßt ist, wie
die ästhetische. Ich brauche nur an die Aufnahme zu erinnern, die meine Leipziger
Antrittsrede über das Wesen der architektonischen Schöpfung am 8. November 1893
bei diesen Herren der Tageskritik gefunden hat: eine Schande für sie selber!
»Seh il 1 er nannte in einem Briefe an Wilhelm Schlegel ■< — wird uns erzählt — »vom
10. Dezember 17Q5 den Rhythmus: das Beharrliche im Wechsel. Man
könnte behaupten, daß in dieser ganz allgemeinen und doch schlagenden Begriffs-
umschreibung kein Bezug auf ein zeitliches Nacheinander walte (?). Schiller meinte es
anders; er nennt gleichzeitig den Rhythmus: das Zeitmaß in seinen Bewe-
gungen.« (Ich will nicht beanstanden, ob dies letztere den Sinn genau wiedergibt.)
»Wilhelm Schlegel nahm die Begriffsbestimmung auf.<: (Ist das eine solche,
und keine bloße Wortumschreibung?) »Er verwertete sie in seinen Berliner Vor-
lesungen 1801/2 (S. 242 ff.); auch er gebraucht hier den Ausdruck Zeitmaß.« Da-
mit bricht Walzel seine, uns wenigstens noch wenig befriedigende Ernte ab, ob-
gleich dort gerade eine wirkliche Definition geboten wird. Warum? »Den Rhyth-
mus, erklärt Schlegel, könne man definieren: als eine solche Anordnung des Zeit-
erfüllenden, worin bemerkbare Verhältnisse stattfinden. Es gehört also zum Rhythmus
zweierlei: ein gemeinschaftliches Zeitmaß für die ganze Reihe von Sukzessionen,
und Abwechslung in der Dauer der einzelnen. Wo eins von beiden Stücken fehlt,
ist noch kein Rhythmus vorhanden. Im letzten Falle, bei Sukzessionen von in-
kommensurabel verschiedener Dauer, die ohne Regel aufeinander folgen, leuchtet
es von selbst ein. Aber auch das erste. Maß ohne Wechsel, — z. B. in gleichen
Zwischenräumen wiederholte Glockenschläge — , sind nur die Grundlage des Rhyth-
mus, noch nicht der Rhythmus selbst.« Das war doch wirklich ein Ertrag, der uns
fördert; doch ersichtlich beziehen sich beide Dichter zunächst auf Hörbares, als ihnen
auf dem Gebiet der Wortkunst oder der Musik Vertrautes. Indessen Schlegel findet
') Im vorhinein darf ich auf meinen Aufsatz »Raumgestaltung als Wesen der
architektonischen Schöpfung« Bd. IX dieser Zeitschrift 191 4, verweisen.
BEMERKUNGEN. 175
es doch notwendig, hervorzuheben, daß die Fähigkeit, den Rhythmus wahrzunehmen,
unleugbar an unsere Organisation gebunden sei; wir sind »dabei auf solche Grade
der Geschwindigkeit und Langsamkeit eingeschränkt, die mit dem fühlbaren Takt
der Bewegungen in unserem Körper in einem nahen Verhältnis stehen«. Und erst
nach dieser Rücksichtnahme auf die organischen Bewegungen, des Atems, des Herz-
schlags usw. (sogar bei Tieren) folgt das letzte Ergebnis: »Eine rhythmische Reihe
drückt also zuvörderst das äußere sinnliche Leben aus; das Zeitmaß ist der Puls-
schlag desselben, der Wechsel die freie Bewegung. Dann aber verknüpft das durch-
gehende, sich gleichbleibende Zeitmaß die Sukzessionen zur Einheit, es ist das Be-
harrliche im Wechsel.« Damit sind wir wieder bei Schillers Ausdruck angelangt;
aber es ist das Zeitmaß, nicht der Rhythmus, das Schlegel damit belegt. Und es
fehh tatsächlich noch etwas, das er selbst im Früheren vorbereitet hat. Er setzt
auch noch ein Anhängsel hinzu ; »wenn vom Hörbaren die Rede ist, gleichsam das
Bewußtsein der Tonfolge«. Was heißt das? Entweder die Erinnerung an die ge-
hörte oder die Erwartung der bevorstehenden Tonfolge, oder gar beides: also das
Bewußtsein der Regel und die Antizipation ihrer Erfüllung im weiteren Ablauf. Da
steckt in der Tat die Hauptsache. Sowie wir von der objektiven Beschreibung des
Rhythmus auf den Standpunkt des schöpferischen (oder genießenden) Subjekts über-
treten, offenbart sich erst das Geheimnis des Zusammenhangs mit unserer menschlichen
Organisation auf der einen und mit unserem Willensimpuls auf der anderen Seite.
Der Rhythmus ist die selbstgewählte Regel, das immer wiederholte Maß, nun aber
der freien Bewegungen, die wir uns vorschreiben. Er ist das Gesetz, das wir
in unseren Willen aufgenommen haben, wenn wir Rhythmisches hervor-
bringen, und erst auf Grund dieses seelischen Aktes erwächst das Gefühl der Frei-
heit unseres Tuns. Die Wahl vollzieht sich im Einklang mit unserer Organisations-
anlage, gleichwie die Reizmittel durch sie bedingt sind, nach Maßgabe unseres Tem-
peraments, aber nicht des ganz absonderlichen, einseitig individuellen, sondern des
einigermaßen gemeinsamen Erbes, des Einzelmenschen freilich, aber doch als sozialen
Wesens. Und diese Übereinstimmung mit sich selbst gewährt die Genugtuung der
stetigen Erfüllung, die wir als durchgehende Regel walten lassen, durch alle mög-
lichen Variationen hin, bis in Ausnahmen noch überwindbaren Widerspruchs. Ein
Gesetz aber, das unserer menschlichen Natur entspricht, und nicht nur uns allein,
sondern auch Unseresgleichen gemäß ist, bewirkt weiter das willige Entgegenkommen
des Verständnisses unserer Mitmenschen, bedingt die hinreißende Gewalt und An-
steckungskraft eines glücklich gefundenen Rhythmus, also die sozialisierende Energie,
die er in gewissem Umkreis unfehlbar ausübt. Erst diese genetische Erklärung
der Innervation, als des wesentlichen Bindeglieds, und der Einströmung des Willens-
impulses, in Form eines rhythmischen Motivs, ergibt das Entscheidende, das auch
über das Hörbare hinaus, für das Sichtbare und für alle Körperbewegungen über-
haupt gilt. Wollten wir mit Schiller den Rhythmus das Beharrliche im Wechsel
nennen, so müßten wir darunter die selbsterwählte Regel der spontanen Bewegungen
verstehen, die einerseits über das zugrunde gelegte Zeitmaß in seiner konventionellen
Gleichteilung hinausgeht, anderseits aber, durch alle Variationen und Modifikationen
sonst hindurch, immer erkennbar wiederholt wird.
Meint Walzel nach seinem unvollständigen Zitat, diese klassischen Zeugen
»hätten kaum in der bloßen Tatsache einer Reihe gleich großer, gleich weit von
einander abstehender Säulen die Bedingungen des Rhythmus erfüllt gesehen«, so
ist einmal diese Beschreibung des objektiven Bestandes in einer Basilika schon un-
zulänglich, weil z.B. die Bogenverbindung über ihnen hin nicht erwähnt wird;
anderseits aber bin ich überzeugt, mit Schlegel wäre auf Grund der »Organisation«
176 BEMERKUNGEN.
des Menschen und des nahen Verhältnisses der Reizmittel zum fühlbaren Takt
der Bewegungen in unserem Körper wohl eine Verständigung erreichbar, wo auch
wii das Hörbare ganz ausschalten, von dem die Dichter wie die Musiker gern allein
reden. Walzel selbst wendet mir ein : »Wohl wechselt auch da beharrlich die Säule
mit dem Zwischenraum, der sie von ihrer nächsten Nachbarin trennt. Aber ein zeit-
liches Nacheinander kommt in die Säulenreihe nur durch das betrachtende Auge,
das von Säule zu Säule weitergeht.« ja, wer von uns hat denn behauptet, die
Säulenreihe in der Basilika bewege sich tatsächlich selber im rhythmischen Schwünge?—
oder sie habe über Nacht etwa einen Reigen vollführt, der am Tage dann noch
nachzittere und uns in sich hineinziehe? Doch, Scherz beiseite: hier ist wieder,
wie so oft in der Ästhetik, allein das empfangende Subjekt berücksichtigt, nicht, wie
ich immer durchführe, vom schöpferischen Urheber ausgegangen. Wer hat denn
die Säulenreihe so hingesetzt, ihre Abstände bestimmt, die BewegungsHnie ihrer Ar-
kaden gezeichnet und gewollt ? Die Bewegung des betrachtenden Auges aber reicht
auch beim Besucher nicht aus. Walzel hat von meiner Zurückführung des Rhyth-
mus auf den Gang des Menschen — durch den Raum hin — gar keine Kenntnis
genommen. Für den rhythmischen Vollzug des Ganzen ist die Ortsbewegung durch
die Wandelbahn entlang ganz unerläßlich, und hier wirken die drei Dimensionen
ineinandergreifend zusammen bei jedem Schritt: die Höhe in den Säulen wie in
der Obermauer und den Fenstern des Lichtgadens bis an die Decke, die Breite im
Schaltraum und seinem Bogen, dessen Schwung schon ein Bindeglied mit der ersten
Dimension enthält, in den gleichen Abständen der Wandglieder darüber, wie in der
Kassettendecke oder der Wölbung. Blickbewegungen wirken nur deshalb, mit ihrem
Vollzug im Nacheinander, so unwiderstehlich auf unsere organische Anlage zu rhyth-
mischer Betätigung weiter, weil in ihnen der Konnex mit dem motorischen Apparat
des ganzen Körpers gegeben liegt, und weil sie genau so als Ausfluß unserer
Willensimpulse, unserer lebendigen Intentionen gefühlt werden, wie der Antrieb
des Vorwärtsschreitens in der Richtungsachse des umschließenden Raumgebildes.
Ich darf mich dafür sogar auf das Bekenntnis Goethes berufen, das Walzel selbst
herbeizieht. Dieser anschaulich Denkende »verweist ausdrücklich auf die verwandte
Wirkung, die sich beim Auf- und Abgehen im Petersdom ergebe«.' Beim
Durchwandern des Langhauses und der Kreuzarme von St. Peter hat Goethe in
Rom das Raumerlebnis sozusagen am eigenen Leibe so stark erfahren, daß es so
lange noch nachwirkt.
Ganz ähnlich wie bei Schlegel wird dann bei Herbart eine Hauptstelle unter-
schlagen, die notwendig dazu gehört. Was Walzel aus dem Lehrbuch der Ein-
leitung in die Philosophie herbeiholt, ist doch, wie er selbst sagt, »etwas ganz
Selbstverständliches« : — die Möglichkeit des Menschen zu simultaner und zu sukzes-
siver Auffassung. Nicht aber, daß wir überhaupt beide abwechselnd anzuwenden
imstande sind, ist für unsere Angelegenheit von Belang, sondern der Unterschied
des sinnlichen und geistigen Erlebnisses, der sich je nach der Vorherrschaft der
einen oder der anderen ergibt, ist das, worauf es für die Ästhetik ankommt. Und
damit hängen die weiteren Fragen zusammen, wie weit die Berechtigung der einen
oder der anderen, wie weit die Durchführung der räumlichen oder der zeitlichen
Anschauungsform in ihrer Ausschließlichkeit gehen könne oder gehen müsse. Wer
sich so lange und eindringlich mit Lessings Laokoon beschäftigt hat wie ich '), dem
sind diese Auseinandersetzungen zwischen den Künsten so geläufig wie das Abece
') Meinen »Erläuterungen zu Lessings Laokoon«, Leipzig 1Q07 ist ein Sachregister
zu meinen kunsttheoretischen Schriften beigegeben, in dem alle wichtigen Begriffe
BEMERKUNGEN. 177
oder das Einmaleins. Weshalb sollten wir das gerade aus Herbart holen, dessen
ästhetische Winke in jenem Lehrbuch nicht einmal ausreichend entwickelt sind? — Aber
weshalb verschweigt Walzel von dem wenigen, das sie bieten, gerade die Bemerkung
über Symmetrie und Rhythmus samt näherer Auskunft, die sich daran anschließt?
»Symmetrische Verhältnisse finden sich bei gleichen Zeiteinteilungen € [wirklich?
fragt heute gewiß mancher Leser erstaunt, auch in der Zeit, und gar zuerst und
ausschließlich genannt, wo wir sie lieber nur im Räume suchen] — »und beinahe in
allem, was Rhythmus, was Takt und Siibenmaß heißt«. »Der Rhythmus kommt
nicht selbständig vor; er verbindet sich mit sichtbaren Bewegungen, oder bei hör-
baren Gegenständen mit den Abwechslungen teils des stärkeren und schwächeren,
teils des höheren und tieferen Tons (iVlusiktons oder Vokaltons), teils eines mannig-
faltigen Geräusches (z. B. Konsonanten).« Lassen wir die Anwendung auf das Hör-
bare, Tonkunst und Wortkunst, beiseite, so scheint Herbart beim Sichtbaren nur
an die Körperbewegungen, etwa im Tanze, gedacht zu haben. Aber, daß sym-
metrische Verhältnisse auch im Rhythmus drinstecken sollen, wäre ein wertvoller
Fingerzeig, zumal wenn er etwa erklären soll, weshalb dieses Gestaltungsprinzip nicht
selbständig vorkomme. Erwartungsvoll lesen wir weiter: »Der wichtige Gegensatz
des Oben und Unten bringt keine Symmetrie, wohl aber Sukzession in die Auf-
fassung alles Architektonischen, aller Gestalten, der Pflanzen und Tiere.« Merk-
würdigerweise wird der JVlensch nicht erwähnt, und es fehlt die Auskunft, was sich
denn statt der Symmetrie vorfinde : die Antwort liegt gerade für uns Menschen in
unserem aufrechten Körperbau, im Vergleich des Oben und Unten mit unserer
eigenen Gestalt, nach denen wir Pflanzen und Tiere wohl auch beurteilen: die
Proportion, — statt des Gleichmaßes eben das Verhältnis ungleicher Teile. Da
sind wir wieder bei der »Wachstumsachse« ; aber Herbart scheint nur die suk-
zessive Aufnahme zu kennen, oder vergißt doch, daß nach solcher Vergleichung
asymmetrischer Abschnitte, von unten nach oben oder umgekehrt, sowie das Ver-
hältnis befriedigend gefunden wird, auch die simultane Zusammenfassung zur Ein-
heit erfolgt. Und dies feste stillstehende Verhältnis haben die Architekten ja meistens
im Auge, deren Lehre von harmonischen Proportionen sich bis zum Glauben an den
Goldenen Schnitt verstieg. Dann aber folgt bei Herbart noch eine letzte Beobachtung
sogar psychologischer Art: »Ursprünglich strebt der Blick nach oben und sucht in
der Spitze oder im Gewölbe die Vereinigung des Angeschauten zu erreichen.« Darin
läge ja eine Erklärung für das Erstgeburtsrecht der aufsteigenden Sukzession, und
das käme unserer Wachstumsachse zugute. Bei der Spitze denke man etwa an die
eines Obelisken, einer Pyramide, eines Glockenturms; beim Gewölbe an ein gotisches
Rippenkreuz mit hochsteigenden Kappen oder den Einblick in eine Kuppel, ver-
gleiche damit jedoch den Durchblick durch die Rundöffnung des Pantheons und
unser vorher empfohlenes Experiment in engem fensterlosem Turm ohne Dach.
Das Streben nach Vereinigung des Angeschauten ist eigentlich wieder ein Hinweis
auf das Bedürfnis nach simultanem Einheitsvollzug, wie wir es beim Prinzip der
Proportionalität anerkannt haben. Herbart hat hier seine Anregungen selbst nicht
zu Ende durchgedacht ').
Angesichts dieses Tatbestandes bei dem Philosophen und der Verwirrung, die
mit den Stellennachweisen versehen sind, so daß sich der Leser bequem an der
Hand dieses Hilfsmittels orientieren kann.
') Übrigens ist ja bekannt, daß die §§98 und 99 wie Abschnitte der folgen-
den erst Zusätze der vierten Auflage von 1837 sind, also aus demselben Jahre, in
dem Arnold Ruges Neue Vorschule der Ästhetik in Halle erschien.
Zeitsclir. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 12
1 78 BEMERKUNGEN.
bei Walze! selbst noch vorherrscht, bedeutet es doch wohl einen Fortschritt auch
über Gottfried Sempers Prolegomena zu seinem Buch über den »Stil in den tek-
tonischen und technischen Künsten« hinaus, wenn ich Symmetrie und Reihe
konsequent voneinander trenne, je nach der simultanen oder der sukzessiven Auf-
nahme. Behalten wir ebenso der Proportionalität das stillstehende Verhältnis der
Teile vor, wie dem Rhythmus die Lösung des festen Bestandes in fließendem
Vollzug, so hätten wir auf beiden Seiten zwei Oestaltungsprinzipien. Die einfache
Reihung entspricht dem durchgehenden sich gleichbleibenden Zeitmaß, bei Schlegel,
also im Sichtbaren der schlichten Einteilung, etwa eines Lineals mit Zentimetermaß,
oder der Skala eines Thermometers, die wir uns durch die gleichmäßigen Schläge eines
Metronoms, Einschnitt für Einschnitt, entstanden denken können. Sowie wir darauf
durch eine auffallende Farbe einen Abschnitt um den anderen solcher Maßeinteilung her-
vorheben, entsteht die alternierende Reihe. Und diese gehört bereits zu den rhyth-
mischen Reihen, ist einfachster Fall der Erfüllung von Schlegels doppeltem Erforder-
nis für das Zustandekommen des R. Die fortgesetzte Wiederholung der gleichbleibenden
Alternanz wird jedoch selber wieder zur einförmigen Regel. Erst ein drittes Element
bringt lebhafte Abwechslung durch Reizkontraste. Um so entschiedener, wenn dieser
neue Sinneseindruck die Kraft hat, seine beiden Nachbarn zu überbieten, sich als
Dominante aufzuwerfen zwischen dem symmetrischen Paar von Trabanten. So ent-
steht die gruppierende Zusammenfassung, durch weitere Subordination nach Inten-
sitätsgraden, durch Attraktion und Repulsion. Aber solch ein fühlbarer Stillstand
wird im Fortlauf der Reihe, dem sich die Gruppe als größerem Ganzen einfügt,
wieder aufgehoben; der Weitervollzug der durchgehenden Richtung löst auch solchen
symmetrisch-proportionalen Komplex in den Rhythmus auf. Der Rhythmus ist also
immer ein Prinzip der sukzessiven Auffassungsform, in dem solche Konzentrations-
motive um Anziehungspunkte nur wie retardierende Momente noch wirken können.
Die Funktion des Rhythmus ist gerade die Erlösung aus dem Beharren in die Be-
wegung des Lebens. Dort das Gesetz der Kristallisation, hier die Freiheit des
organischen Wachstums und Wandels, der Wechsel in den Bewegungen.
Walze! aber fragt mich am Schlüsse dieses Abschnittes: »Wozu also die um-
ständlichen Versuche, den Rhythmus nur für die dritte Dimension in Anspruch zu
nehmen?« Ich kann ihm nichts anderes antworten, als was überall bei mir zu
lesen war. Man muß sich nur das Vorzugsrecht klar machen, das die Richtungs-
achse unserer Betätigung immer unter den festliegenden Koordinaten genießt.
Die dritte Dimension, die von unserem eigenen Mittelpunkt im Körper vorwärts in
die Tiefe des Raumes dringt, ist als gewohnte Richtung unserer Ortsbewegung, alles
Hantierens und Eingreifens in die Außenwelt schon durch das Mitspiel der Willens-
intention unseres Ich ausgezeichnet. Der fühlbare Impuls gehört zum Erfolg, zum
Durchhalten der Richtung, ob wir die gerade Linie als kürzesten Weg zwischen
Ausgangs- und Zielpunkt nehmen, oder die Schlangenlinie, die Spiralwindungen, die
mannigfaltigsten Verschlingungen von Kurven aller Art. Der Richtungsverfolg
verwandelt schon die beiden Dimensionen einer Ebene in die dritte, die durch sie
mit ihrem lebendigen Zuge vereinheitlichend hindurchgeht und jede Konfiguration
des Bestandes in den Rhythmus der Bewegungen auflöst'). (Vgl. diese Zeit-
schrift IX, S. 95, Anm.)
') Neuerdings hat auch E. R. Baensch, Über die Wahrnehmung des Raumes,
1911 die Notwendigkeit des Willensimpulses für das Tiefensehen hervorgehoben,
aber den Konnex mit den Erlebnissen der Ortsbewegung im Gehen nicht genügend
erfaßt, geschweige denn aufgewiesen.
BEMERKUNGEN. 179
I
Nun aber hat Walzel es nicht allein für richtig erachtet, sondern — was mir er-
staunh'cher voricommt — auch für erlaubt gehalten, aus meinem Buche »Kom-
positionsgesetze in der Kunst des Mittelalters« einen ganzen gesperrt gedruckten
Absatz wörtlich abzuschreiben und, obgleich er durchaus nur kunstgeschichtlichen
Inhalts ist, meinen theoretischen Erörterungen über die Strophe voranzuschicken,
so daß der daraus sich ergebende Zusammenhang nun gewaltsam auf den Kopf
gestellt wird. Das geht denn doch durchaus nicht an! Gegen solch willkürliches
Umspringen mit meinem geistigen Eigentum muß ich um so entschiedener Ver-
wahrung einlegen, als dadurch meine Darlegung zur kunstwissenschaftlichen Ter-
minologie, die auf Allgemeingültigkeit abzielt, unter einen historisch bedingten Ge-
sichtspunkt gerückt wird, von dem sie nicht beeinflußt sein darf. Das ist also auch
ein Eingriff in das sinnvoll methodische Gefüge des Fachmannes. Die Anwendung
der vorbereiteten Grundbegriffe auf die konkreten Beispiele, d. h. die örtlich und
zeitlich bestimmten Denkmäler, soll erst im geschichtlichen Teil des Buches erfolgen,
dessen erster Halbband nur noch den Innenraum des romanischen Kirchenbaues
im Abendland enthält, während dessen zweite Hälfte erst den Innenrauni der Gotik
und dann den ganzen Außenbau beider Stile bringen muß. Das wird kein Sach-
verständiger anders erwarten und wird solche innere Notwendigkeit auch bei der
Kritik respektieren. Das ist hier nicht geschehen, und der so entstellte Bericht W.s
hat auch kundige Leser in die Irre geführt.
Der ganze Absatz, den Walzel seinen Hörern zum besten gibt, hat mit dem
Thema des Vortrags gar nichts zu schaffen : er ist eine interne Angelegenheit für
meine Fachgenossen. Was soll diese »Wiedergabe der wichtigsten Behauptung,
die der Kunsthistoriker verficht«, in einem Exercitium logicum des Literaturforschers,
der sich mit kunstgeschichtlichen Begriffen bereichern will? Der absichtlich im Druck
hervorgehobene Passus steht bei mir ausgerechnet ganz am Schluß der Grundlegung:
wie ein Eintrittsportal für den Durchgang in die Welt individueller Gestaltungen
der Geschichte. Jeder Satz ist ein Wegweiser. Und der erste führt sogar abseits,
nur kurz vorher Berührtes zusammenfassend, auf ein Gebiet, dem in meinem Buche
nicht weiter nachgegangen werden soll (S. 2). »Der streng geschlossene Strophen-
bau ist das entscheidende IVlerkmal des oströniischen Kirchenbaues,« nachdem, wie
jeder Kundige weiß, auch im Orient ursprünglich die Basilikenform verbreitet genug
gewesen war. Die Anwendung meiner Methode auf das »Neuland der Kunstge-
schichte«, das ich nicht aus eigener Anschauung kenne, habe ich damit erklärter-
maßen den anderen Fachgenossen überlassen, die sich der Erforschung jener Ge-
biete gewidmet haben. Ohne jeden Versuch, ihnen etwa meine Auslegung des
schöpferischen Vorgangs oder des genießenden Erlebnisses aufzudrängen, bleibt es
von vornherein ihrem Ermessen anheimgestellt, wie weit sie dies heuristische
Prinzip der rhythmischen Analyse verwerten zu können glauben oder nicht. Wie
kommt danach ein Literaturhistoriker dazu, solche Anwendung trotzdem herein-
zuzerren und sie zur Diskussion zu stellen, wo er vor Uneingeweihten spricht? —
Mein nächster Satz besagt: »Die immer erneute Durchführung der regelmäßigen
Reihe dagegen, das Gliederungsprinzip des Langhauses in seinem ursprünglichen
Wesen als Wandelbahn, entschied den mannigfaltigen Entwicklungsgang der Rhyth-
mik des Abendlandes, von den Anfängen der romanischen Basilika bis zur gotischen
Kathedrale.« Das ist also der Leitfaden für den Gang durch den zuweilen laby-
rinthisch verschlungenen Reichtum der auf uns gekommenen Denkmäler auf dem
Boden der westeuropäischen Kultur, mit denen allein ich mich beschäftigen will,
weil ihre Chronologie wenigstens einigermaßen gesichert, ihr Schicksal im Lauf der
Zeiten sorgfältiger durchforscht ist, als es anderswo bis dahin erreichbar gewesen.
180 BEMERKUNGEN.
Der Kundige weiß, wie viel Anläufe zu »Konzentrationsmotiven", nicht ausgemachten
Zentralanlagen allein, auch hier sich eingestellt haben. Davon braucht auf dem
Wegweiser nichts gesagt zu werden; solche Überraschungen für den Laien mögen
der Führung durch die Bauwerke selbst überlassen bleiben. Unvorbereitet wird
der Leser sich ihnen nicht gegenüber finden, wenn er den Abschnitt mit jenem
Schlagwort als Titel in meiner Grundlegung einmal beachtet hat. Wenn also Walzel
ein Bedeniten darin findet: ein Begriff der Verslehre sei nur für die erste Stufe be-
nutzt worden, warum nicht gleichfalls für die zweite? warum nicht auch hier »ein
eindeutiger metrischer Begriff« ? — so kann ich ihm nur antworten, daß solch ein
historischer Parallelismus mit der Verskunst an dieser Stelle noch gar nicht in meiner
Absicht lag '). Ich habe mich nicht anheischig gemacht, dem Literaturhistoriker
oder dem Ästhetiker der Poesie Belehrung darzubieten. Es ist sein Irrtum, diese
Arroganz bei mir vorauszusetzen. Sein Wunsch, der ihm eingibt, überall Analogien
zu suchen, hat ihn zu solcher Annahme verleitet. Seine Angabe (S. 17), meine
Studien wendeten die genauen Bestimmungen des Rhythmus, die von der Verslehre
herkämen, auf die Erforschung des Rhythmus in Bauwerken an, die Verslehre
gewähre mir die Möglichkeit, Schichten in der Entwicklung zu trennen, ist eine
falsche, und zwar in doppelter Beziehung. Einmal gebe ich eine ganz andere und
vielfach neue Begründung der Lehre vom Rhythmus überhaupt, indem ich dabei
auf den Gang des Menschen zurückgehe, und zweitens ist es nicht die Poetik, die
mir die Freilegung tiefgreifender Unterschiede zwischen Menschengenerationen und
Volkscharakteren im Sinne der differentiellen Psychologie ermöglicht, sondern es ist
die Rhythmik der Schrittbewegungen, der Tastbewegungen, der Blickbewegungen
mit allem, was sich bewußt oder unbewußt im künstlerischen Schaffen daran an-
schließt, d.h. ein Tatsachenkomplex, der uns in den erhaltenen Werken als Aus-
fluß der Ausdrucksbewegungen noch heute nachweisbar entgegentritt und im
ästhetischen Erlebnis durch alle Künste hin mit urkundlicher Treue sich offenbart,
von der Ornamentik angefangen, deren Prinzipien allen gemeinsam sind.
Deshalb fühle ich mich auch garnicht betroffen durch den Tadel, den der hier
einseitig auf Erhellung der bildenden Künste durch die Formen der Poetik erpichte
Kritiker gegen meinen letzten Satz vorbringt. Dieser lautet: »Die Abkehr' von dem
Bewegungsrhythmus als treibender Kraft der ganzen Raumkomposition (des mittel-
alterlichen Kirchengebäudes) zur Auflösung dieses Gestaltungsprinzips (d. h. des
Rhythmus), — zur Beruhigung, zum Stillstand der Schau, und damit zum Einraum,
bedeutet die Wendung zur Renaissance.«; Diese Charakteristik eines all-
mählichen Übergangs durch die sogenannte Spätgotik, die wir in unserem Lande
zutreffend als deutsche »Sondergotik-: bezeichnen mögen, gleichwie die italienische
im Trecento so heißen darf, — dieser letzte Wegweiser deutet über das MittelaUer
hinaus, dessen Kunstgesetzen meine Forschung diesmal allein gewidmet ist. Des-
halb wollen meine Winke hier nur andeuten, wie sich die weitere Entwicklung
dazu stellt, zumal da ich in anderen Schriften ausführlich genug davon gehandelt
habe. Walzel meint nun diese meine Aussage über Gotik und Renaissance dahin aus-
legen zu dürfen, sie involviere den »Gegensatz von Bewegtheit und Ruhe«. Dieser
Gegensatz aber läge auf ganz anderem Felde, als die gesamte Lehre vom Rhythmus
der Baukunst. »Bewegtheit« und »Beruhigung« seien Begriffe seelischen Verhaltens,
»rhythmische und arhythmische Bewegung sind mathematische Begriffe«. Darauf
muß ich erwidern: mathematische Begriffe gehören überhaupt nicht in die Ästhetik,
') Ich kann also durchaus nicht einräumen, was O. Wulff in der Dtsch. Lit.-
Zeitg. 1918, S. 1016, zugestehen will, und weise auch Strzygowskis Tadel zurück.
BEMERKUNGEN. 181
ebensowenig wie die Abstral<tionen der Physik, oder die mechanistischen Grund-
hypothesen der Naturwissenschaft. Dann aber kann ich schon die vorangeschickte
Interpretation nicht akzeptieren ; denn ich spreche zunächst von objektiven Er-
scheinungen im Bauwerke, die wir in der Kunstwissenschaft mit jenen Ausdrücken
zu benennen pflegen, die ich in aller Kürze auch hier gebraucht habe, wo ich mehr
nicht vorwegnehmen wollte. Mit dem letzten Teil des Satzes setzt die Wendung
zu den subjektiven Faktoren ein, deren Ausdruck wir in der Formensprache und
Raumgestaltung mit unseren vergleichenden Mitteln verstehen lernen: »zur Beruhi-
gung, zum Stillstand der Schau«. Walzels Einwand, von einem Stillstand der Schau
könne angesichts der Renaissancebauwerke (wohlgemerkt, ich spreche von der »Wen-
dung zur Renaissance« als einem bevorstehenden Stil, also noch immer von spät-
gotischen oder sondergotischen Innenräumen !) und dürfe keine Rede sein!! Wer
muß das wissen, der Kunsthistoriker von Fach, — oder der Literaturhistoriker, der
damit seine Finger an unsere Terminologie legt, die er selbst als überlegen preist.
Nun, dieser ganze künstlich vorbereitete Einwand beruht auf einem völligen Miß-
verständnis meiner freilich zurückhaltenden, aber eben deshalb sorgfältig erwogenen
Worte. Die historischen Symptome, die von der Raumkomposition der gotischen
Kathedrale als eines großen dreigliedrigen Ganzen, das durch den Richtungsgegen-
satz zwischen Chor und Langhaus im Zusammenstoß unter der Vierung und die
seitliche Ausladung der ebendort entspringenden Kreuzarme zustande kommt, all-
mählich zur Bevorzugung des Einraumes, etwa in einem Saalbau gar, hinüberführen,
diese Symptome der inneren Entwicklung sind natürlich nur einem Kenner der
Architekturgeschichte geläufig, der auch einigermaßen mit der Kirchengeschichte
einerseits und mit der psychologischen Raumästhetik vertraut ist. Ich weiß nicht,
wie weit ich dies in dem Urteil bei Walzel voraussetzen darf, oder vielmehr auf
fremde Quellen zurückführen muß. Sollte er sich etwa bei einem Vertreter der Bau-
kunst am Polytechnikum Rats erholt haben, wie ich nach der Praemunitio auf S. 17
unten ') und der Berufung auf mathematische Begriffe vermuten möchte, so ist das
sicher einer von jenen gewesen, die weder zur Ästhetik noch zur Psychologie irgend
welches Verhältnis haben, sondern auch unsere Philosophen der klassischen Blüte-
periode bei jeder Gelegenheit zu verhöhnen lieben. Ich spreche hier nicht zu solchen
Kritikern, sondern versuche nur den Lesern dieser Zeitschrift zu dienen.
Die Abkehr vom Bewegungsrhythmus als der treibenden Kraft in der Longi-
tudinalachse jener gotischen Kirchenbauten spricht sich in unverkennbaren Merk-
malen der Beruhigung aller Verhältnisse (vgl. oben »Proportion« zu Herbart), wie
im Zuwachs des Materialaufwandes der Bauglieder aus. Wir pflegen auch vom
»Tempo« in der Abfolge dieser Glieder zu reden, also von Verlangsamung hier,
wie bei der Hochgotik von Beschleunigung. Stellenweise begegnet schon die Ein-
schaltung größerer Flächen, breiteren Wandverschlusses, schwererer Massenformen.
Der entscheidende Schritt aber geschieht an einer bestimmten Stelle: nicht im Lang-
haus, der ursprünglichen Wandelbahn des gläubigen Kirchenbesuchers oder der
feieriichen Prozessionen an hohen Kirchenfesten, sondern er ergibt sich erst am
Ende dieser inneren Wallfahrtsstraße, eben unter der Vierung, angesichts des Zieles,
beim Einblick in das Presbyterium mit dem Hochaltar und auf die Kultushand-
lung der Geistlichen an dessen Stufen. Hier entscheidet sich das wachsende Über-
gewicht der optischen Eindrücke, zu dem das gotische Gesamtkunstwerk besonders
') Schon S. 13 macht sich W. zum Sprachrohr meiner erklärten Gegenfüßler
unter den Architekten, deren Urteil über meine Schriften zur Baukunst auch auf
die meiner Schüler ausgedehnt wird, als läge da Ansteckung vor!
182 BEMERKUNGEN.
durch seinen farbigen Idealraum im Lichtgaden die Augen und die Geister erzogen
hat. Beim Übergang von dem verschiebbaren zum festen Standpuni<te, eben zum
Stillstand der Schau, die den vor ihr liegenden unbetretbaren Raumteil nur optisch
und infolge dessen als Bild auffassen lernt, stellt sich der Umschwung ein, der
dann erst diese neue Errungenschaft in der »Geschichte des Sehens« (wie Wölfflin
sagen würde) auf die anderen möglichen Punkte ruhigen Verweilens überträgt.
Natürlich bleibt die dem Menschen freistehende Alternative simultaner oder suk-
zessiver Auffassung der Raum- und Körperformen bestehen. Beim Rückblick des
heimgesandten Kirchgängers nach der Messe, also durch das Schiff des Langhauses
bis zum westlichen Hauptportal hin, mag z. B. noch lange bei dem motorisch-
mimischen Typus die sukzessive Auffassung vorwalten, während der visuell-kontem-
plative Typus bereits zur Bildschau des perspektivischen Ganzen gelangt. Aber es
kommt anderseits auch auf die Eigenart eben dieser formalen Gestaltungen an,
ob sie mehr den Anreiz zur einen oder zur anderen Aufnahme durch das Augen-
paar wie das Körpergefühl überwiegen läßt. Da erzählen uns ja die quergeiegten
Rechtecke des Rippengewölbes, die Jochweiten in ihrer Aufeinanderfolge, bis zur
Rückkehr zu quadratischen, nun mit Sternbildungen, auch nur schematisch gezeich-
net nebeneinander gebracht, schon eine ganze Geschichte des Strophenbaues. Die
Abkehr von dem Nacheinander im rhythmischen Wechsel »bedeutet die Wendung
zur Renaissance« hinüber. Das ist mittlerweile eine anerkannte Tatsache der tiefer
schürfenden Kunstgeschichte. Die Beobachtungen differentieller Psychologie, die zu
solcher Erkenntnis führen, sind freilich noch intimere Angelegenheiten eines engen
Kreises von Fachgenossen, mit denen ich mich einig weiß, auch wenn die Mei-
nungen noch nicht übereinstimmen. Solange die Verwandlungen des Raumgebildes,
von denen hier die Rede ist, noch im Mittelalter spielen, gehen sie vielleicht den
Musikhistoriker vorerst noch näher an, noch unmittelbarer wenigstens als den Lite-
rarhistoriker, bei dem stets der poetische Vorstellungsinhalt und sein vielseitig mo-
tivierter Zusammenhang als bunte Phantasiewelt sich einschiebt. Wenn man weiß,
was die Kunstlehre des heiligen Augustin für die ganze Entwicklung der christlichen
Kunst im Abendland bedeutet, so begreift man, daß auch Architektur und Bildkom-
position immer von der zeitlichen Anschauungsform ausgehen, daß also die i^eihung
und der Rhythmus zu den wirksamsten Grundbegriffen für das Verständnis des
Mittelalters gehören, wie daß Ornamentik und Kleinkunst aller Art oft besseren
Aufschluß über die Sinnesart jener Zeiten gewähren, als die sogenannten Anfänge
des monumentalen Stiles, in deren Fragestellung schon ein Rest von Vorurteilen
klassischer Archäologie den freien Blick behindert. Ich weiß auch, wie weit der Geist
der Gotik noch in die italienische Renaissance hineinreicht, besonders im Quattro-
cento, und brauche nur an die Kompositionsgesetze der Reliefs eines Lorenzo
Ghiberti oder der Kirche Santo Spirito von Filippo di Ser Brunellesco zu erinnern,
um begreiflich zu machen, was ich meine.
Auch über der Tür meines Seminars steht so gut wie bei Pythagoras einst
oder Piaton geschrieben: M-riSei; äYeouixeTpvjxo« tlzizut, d. h. zu deutsch: Wer keinen
Raumsinn im Leibe hat, bleibe nur draußen! Wenn aber Walzel als Fachmann der
Literaturgeschichte wider mich aussagt, meine »Begriffsverwirrung« setze schon bei
der Erörterung der Strophe ein, dieser Begriff sei »nicht zu voller Klarheit heraus-
gearbeitet«, so frage ich, als ehemaliger Germanist und Mitschüler Erich Schmidts '),
') Vielleicht interessiert es die Kantgesellschaft, wenn ich mich daneben dank-
bar zur Philosophie bekenne, da ich im Seminar bei Ernst Laas in Straßburg
die Bekanntschaft von Hans Vaihinger und Paul Natorp gemacht habe, die sich
BEMERKUNGEN. 183
erstaunt nach der Begründung solchen Vorwurfs. Und was bekomme ich zu hören?
»Sichtlich meint S. antil<e reimlose Strophen. Daß sie von neueren gereimten
Strophen sich tief und grundsätzlich unterscheiden, brauche ich einem Forscher,
der so fein eine antike Strophe' künstlerisch zu erfassen weiß, kaum noch zu er-
läutern«. Freilich kaum! Aber die Ungewißheit, wie weit ich in meiner Erörterung
(S. 77—91) antike reimlose Strophen oder die gereimten des Mittelalters im Abend-
land meine, hat Walzet nur wieder sich selbst zu verdanken, nachdem er jenen
kunsthistorischen Orakelspruch am Schluß meiner Grundlegung herausriß und vor
die Behandlung der Strophe stellte, so daß, wie gesagt, erst durch diesen Willkürakt
die Unterordnung unter den historischen Gesichtspunkt verschuldet ward. An seiner
richtigen Stelle muß der Begriff der Strophe natürlich beide Möglichkeiten um-
fassen: ob reimlos oder gereimt, ob antik oder mittelalterlich, geschweige denn
modern, gilt da noch gleich viel, und die tiefgehenden Unterschiede bleiben noch
außer Betracht, je mehr es gilt das Gemeinsame hervorzukehren und festzuhalten.
Und da bin ich mir bewußt, diese Wesensbestimmung der Strophe gründlicher und
abschließender herausgearbeitet zu haben, als sie mir von Literarhistorikern geboten
ward. Mir scheint, Walzel hat sich überhaupt nicht danach umgesehen, sondern
nur, was sichtlich in die Augen sprang, herausgefischt: das einzige. vorgeführte
Schema. Nur als Beispiel für eine besonders geschlossene Einheit, wie sie mir
später für den Vergleich mit dem Strophenbau im Kirchenraum dienen soll, habe
ich zur Demonstration ad oculos die sogenannte alkäische Strophe gewählt, ohne
daß es mir auch hier darauf ankam, die ganz individuelle Erfindung dieses Griechen
etwa mit authentischer Genauigkeit festzuhalten. Über ihre ganz freie Zurecht-
machung für meinen Zweck und ihre anschauliche Übertragung in räumliche Ver-
hältnisse will ich an anderer Stelle noch einmal ausführlicher Rechenschaft geben.
Auch da mußte ich mich für ein Schema der Disposition im Räume entscheiden.
Hier sei nur darauf hingewiesen, daß schon die paarigen Glieder zu Anfang nach
Art der »Stollen« parallel zu einander aufgestellt worden, und daß die Schlußzeile
als »Abgesang« bezeichnet ist; mithin war die Analogie zwischen den einzelnen
Bestandteilen des antiken Vorbildes und denen viergliedriger Gefüge des Mittel-
alters genügend hervorgehoben, um erkennen zu lassen, daß da an beides zu denken
sei. — Bleibt nur die strittige Frage, wie dann die dritte Zeile betrachtet werden
müsse. Sie muß jedenfalls über die beiden ersten gleichlaufenden oder gleichstehen-
den Glieder hinausgehen, also den eigentlichen Körper des ganzen Komplexes bilden,
vielleicht mit der letzten Zeile zusammen wie Rumpf und Kopf, oder umgekehrt
wie Kopf und Schweif, den Hauptbestandteil ausmachen. Dann ist entweder diese
Mitte schon der eigentliche Kern, und dann sicher ein Aufschwung zur Höhe, oder
erst die vierte Zeile gibt die letzte Zuspitzung, die Pointe, zugleich mit dem Ab-
schluß. Zweifellos ist mehr als eine Möglichkeit vorhanden. Geflissentlich aber
bin ich Vergleichen mit deutschen Volksliedformen (zumal in moderner Nachahmung
bei Heinrich Heine) wie mit Sonetten und Canzonen aus dem Wege gegangen;
denn dazu wird sich die Gelegenheit später oft genug bieten, wo eben Gebilde
zeitgenössischer Metrik am Platze sind. Auch Walzel sieht ja ganz richtig ein,
ich bleibe »bei dem Allgemeinbegriff Strophe stehen«. Wenn er das Warum nicht
versteht, so verurteilt er mit dieser zutreffenden Bezeichnung meines Verfahrens
zugleich das seinige, darüber abzuurteilen.
Am Schluß holt er sich einen bescheidenen Wink, über die Vergleichbarkeit
vielleicht noch erinnern, welche damals unvergleichliche Schulung dort zu
holen war.
184 BEMERKUNGEN.
solches viergliedrigen Baues mit dem rhythmischen Biidungsgesetz einer Palmette,
aus der Anmerkung unter dem Strich in den Haupttext seines Vortrags herauf,
um sich daraus einen glänzenden Abgang als Redner aufzubauschen. VielleicW
schaut er sich doch einmal meine »Anfangsgründe jeder Ornamentik« (in dieser Zeit-
schrift V, 2, 3) an, um sich darauf zu besinnen, ob nicht auch solche »wechsel-
seitige Erhellung der Künste wissenschaftlicher Prüfung standhält«. Ich wundere
mich, daß dieser Kritiker keine Ahnung davon zu haben scheint, wie sehr die
Grundgesetze formaler Bildungen allen Künsten und nicht nur denen »höheren
Ranges« gemeinsam sind, und daß sich oft nur der Maßstab oder das Medium ver-
ändert, in denen durchgehende Prinzipien zur Erscheinung kommen '). Ein solcher
Neuling auf mir heimischem Boden findet den Mut, mir Unklarheit, ja einen ge-
fährlichen Hang zu Verdunkelungen vorzuwerfen. Ich habe kein Verlangen mehr
nach seinen »Erhellungen« der bildenden Künste.
Das soll uns indessen nicht abhalten, etwas Besseres zu tun, d. h. das Qe-
staltungsprinzip des Rhythmus in den Raumgebilden der Architektur noch
etwas weiter zu verfolgen, als durch die geschichtlichen Perioden, die bisher schon
berührt werden mußten. Unter der Überschrift »Die künstlerische Bewältigung des
Raumes« hat soeben ein glücklich erleuchteter Meister wie Fritz Schumacher den
Grundbegriff des Rhythmus in diesen Blättern wieder aufgenommen (XIII, 4). Er
fordert zunächst, in Randbemerkungen zu Wölfflins Terminologie von der Malerei
her, die Durchfühung der Gesichtspunkte bis zur städtebaulichen Aufgabe.
Das bringt wieder die große Dreiteilung der Baukunst ins Gedächtnis zurück, die
ich 18Q3 in meiner Leipziger Antrittsrede aufgestellt und für die schöpferische Tätig-
keit der Gegenwart verfochten, dann aber 1897 auch in Renaissance, Barock und
Rokoko an geschichtlichen Beispielen konsequent verfolgt habe. Erst der Innen-
raum, denn die Architektur ist vor allem Raumgestalterin ; dann der R a u m k ö r p e r,
die plastisch abgeschlossene Oesamtform, die in den allgemeinen, zunächst un-
bezeichneten Raum, auf die Erdoberfläche gesetzt wird; endlich die Auseinander-
setzung solches Baukörpers mit anderen in seiner Nachbarschaft, der weitere
Zusammenhang mit derUmwelt, in Straßenzügen und Platzanlagen, draußen
in freier Natur oder im Innern einer Stadt, eines Dorfes, einer Kolonie, genug die
Raumgestaltung im großen, die wir unter dem Kapitel »Städtebau« oder »Kultur-
stätten« des Regnum hominis begreifen.
Daß Wölfflin in seinen kunstgeschichtlichen Leitbegriffen bei der architek-
tonischen Schöpfung als Einzelgebilde stehen bleibt, das (meint Schumacher mit
Recht) versteht sich doch nicht etwa von selbst. »Wir sind heutzutage geneigt, als
einen der wichtigsten Gesichtspunkte zu betrachten, wie ein Werk der Baukunst
sich in das Gefüge seiner baulichen Umgebung einpaßt, oder — richtiger gesagt —
das Gefüge eines Bautenzusammenhanges erzeugt.« Es sei erlaubt, aus diesen Aus-
führungen was ich brauche wörtlich herauszuheben, damit es hier den Abschluß
bilde.
Vergegenwärtigen wir uns eine Stadtanlage mittelalterlichen Charakters, »die
durchweg auch die Anlage der Frührenaissance bleibt«, so wickelt sich die Wand
einer Straße oder eines Platzes für den entlangwandelnden Betrachter, künstlerisch
genommen, wie ein Bildstreifen ab, oder, wie ich meinerseits lieber sage, wie ein
>) Da müssen notwendig z. B. mit einem Dreiblatt die Terzine, mit einem
Vierblatt der Vierzeiler, mit einem fünfblättrigen Blumenkelch der fünfgliedrige Kom-
plex aus Tektonik und Poesie ebenso verglichen werden wie mit der statuarische«
Gruppe.
BEMERKUNGEN. IgS
Relieffries. Denn die wohlangelegte Straße kommt »diesem Prozeß der Ab-
wici<elung der Einzeleindrücke«, d. h, wie ich hinzufügen möchte: dem Ablesen
der Reihenfolge bei stetig verschiebbarem Standpunkt gemäß , — »durch leise
Krümmungen und Biegungen entgegen. Ähnlich ist es beim Platze«, — eben,
wenn wir uns den Menschen in bequemer Sehweite, eigentlich des Nahsehens, im
Entlangschreiten an den abschließenden Seiten des Platzes hin vorstellen, noch
nicht in weiterem Abstand, gegenüber dem Prospekt des Ganzen. »Noch ist der
Luftraum, den die Gebäude umschließen, als Raum nicht empfunden.« Das heißt
in Schumachers Sinne noch genauer bezeichnet: noch nicht als Bildraum, nicht als
optische Einheit gefühlt und ergriffen. »Das negative Gebilde, das die materiellen
Körper mit ihren Außenwänden umschließen, beginnt erst in der klassischen Zeit
[soll heißen: Hochrenaissance] gefühlt zu werden und wird erst in der Periode des
Barock der Angelpunkt des künstlerischen Empfindens.« In dieser Zeitepoche erst
wird der neue »Raumbegriff« gewonnen, ein Raumbegriff, der außerhalb der einzelnen
individuellen Schöpfung liegt [d. h. über den Einzelbau und eine Reihe oder Gruppe
von solchen hinausgreift] — ein Begriff, der die einzelne Leistung, wenn man will,
unfreier werden läßt, die Architektur von ihren größten Gesichtspunkten gesehen
aber erst völlig frei macht.« Das ist vortrefflich gesagt und schlagend in seiner
Bedeutung für den inneren Umschwung des Schaffens hingestellt. Es ist der Über-
gang zu dem, was wir im Sinne iVlichelangelos die Komposition im Großen ge-
nannt haben, oder im Sinne der malerisch gesonnenen Nachfolger als Wirkenszu-
sammenhang bezeichnen können.
»Die Baukunst setzt nicht mehr bloß Massen in die Unendlichkeit des Raumes
und fängt in deren Innern einzelne Stücke des Raumes wie in kleinen Kapseln
ein, — sie beginnt die Unendlichkeit des Raumes selber bewußt zu gestalten.« Das
klingt an die Tonart meines Schriftchens über das Wesen der architektonischen
Schöpfung an, und könnte, dorthin versetzt, die Brücke zwischen zwei Abschnitten
der oben erwähnten Disposition bilden. Und vollends: man darf, »wenn man die
Worte richtig auffaßt, sagen, daß aus einer zweidimensionalen Empfindung erst
jetzt eine dreidimensionale erwächst«. Freilich, wenn man die Worte recht ver-
stehen will ! denn das verstanden die tonangebenden Architekten und Kritiker der
Fachliteratur um 1893 noch nicht, oder wollten es aus dem Munde eines Univer-
sitätslehrers nicht hören. Sie hätten, mit ihrer Feindschaft gegen alle Philosophie,
damals in solcher Formulierung nur abstrakte Phrasen gefunden, und vielleicht stand
es noch 1905 nicht besser, als ich mit meinen Grundbegriffen der Kunstwissenschaft
für die Jahrhunderte des Übergangs vom Altertum zum Mittelalter herauskam.
Inzwischen erst hatte ich, in den Beiträgen zur Ästhetik der bildenden Künste, zur
Frage nach dem Malerischen auch allerlei im Gegensatz dazu vom Arckitektonischen
und Plastischen ausgesprochen, besonders aber in dem Buche über »Barock und
Rokoko«, das, wie gesagt auch die Renaissance als Ausgangspunkt der Entwicklung
hereinzieht und eine strenge Abgrenzung dieser Periode nach ihrem Wesen und
ihrer historischen Stelle zwischen Mittelalter und neuerer Zeit befürwortet. An der
Wirksamkeit des noch plastisch denkenden Michelangelo, als »Vater des Barock«,
wie nicht ich ihn getauft habe, und [Ider gegensätzlich gerichteten des malerisch
schauenden Bernini auf der anderen Seite, wurden die Unterschiede der künst-
lerischen Bewältigung des Raumes dargelegt. Dort war es der Außenkörper von
St. Peter, noch als Zentralbau, hier die Kolonnaden vor dem Langhaus des Carlo
Maderna, die mit ihren Armen den Platz samt seinen Springbrunnen und demj^Obe-
lisken in der Mitte umfangen, dann der Durchbruch des Straßenzuges bis an die
Engelsburg und die Brücke über den Tiber. Die Analyse anderer Plätze in Rom
186 BEMERKUNGEN.
schloß sich an: die oblonge Navona vor St. Agnese mit den Schmuckstücl<en in
der Hauptachse, doch so ausgerechnet auf Breitenschau angelegt, daß der Besucher
sich aus der Mittellinie in der Längsrichtung förmlich ausgesperrt findet und nur
in Querstreifen zwischen jenen Hindernissen freie Bewegung hat; dann die ebenso
länglich gestreckte Piazza vor Sta Maria in Campitelli, oder der bühnenhafte kleine
Vorplatz von St. Ignazio, die Theaterdekoration der Fontana Trevi, bis zur gewal-
tigen Treppenführung zur Kirche Sta Trinitä de' Monti hinauf. Weiterhin aber das
Erbe des römischen Barock in Frankreich und die Wandlung ins Rokoko zu Paris,
oder zum Anschluß an unsere deutschen Denkmäler, wie der Zwinger in Dresden,
und so manchen Ehrenschauplatz in Österreich ').
Mir war die Geschichte der Architektur immer eine Geschichte des Raum-
gefühls, wie ich nach zehnjähriger Lehrtätigkeit an deutschen Universitäten beim
Antritt des Ordinariats in Leipzig bekannte. Von der neuen »Eroberung des Raum-
gefühls« spricht nun auch Schumacher als dem entscheidenden Ereignis. Es tritt
ein, sobald es sich um künstlerische Momente handelt, die aus schöpferischen Ge-
staltungen des Grundrisses entfließen. Sei es, daß der Raum als Innenraum, sei
«s, daß er im städtebaulichen Sinne als Außenraum auftritt, — das Besondere be-
steht dann darin, daß der Betrachter mitten darinnen steht. Das ist der ausschlag-
gebende Gesichtspunkt auch für meine ganze Erklärung des schöpferischen Vor-
gangs selbst gewesen, bei dem der Raum wille des menschlichen Subjekts sozusagen
von ihm ausstrahlt, oder, — anders ausgedrückt: in Zwecktätigkeit und Ausdrucks-
bewegung zugleich sich die Emanation des Raumgebildes vollzieht. Und ebenso
muß der genießende Betrachter, wenn er die fertige Raumgestalt als Ganzes an
sich erieben will, sich wieder in den Mittelpunkt stellen oder auf der Mittelachse
des Grundrisses sich entlang bewegen, sei es auch nur in Gedanken. Ebenso schließ-
lich im Straßenzuge, in der Platzanlage unter freiem Himmel.
Dann »klingt als künstlerische Gewalt das bewußte oder unbewußte Gefühl
für den Rhythmus, der im gesamten Organismus des Raumes liegt, in ihm weiter.
Mag er diesen Rhythmus nun gleichzeitig optisch verfolgen können oder nicht,
er ist für ihn da, er lebt in ihm und ist aus jeder weiteren Teilwirkung der archi-
tektonischen Schöpfung nicht auszuschaUen«. Wie das zugeht, wo der Mensch nicht
optisch aufnimmt, also nichts Sichtbares erschaut, das vermag doch wohl nur
die Betätigung des eigenen Organismus sonst, im Gange und den Körperbewegungen
zu erklären. Aber ich will nicht fragen ; ich erkenne mit Freude und Genugtuung
nicht allein meine volle, überall verwertete Überzeugung, sondern auch meine Aus-
drucksweise in ihrer sprachlichen Form, ihrem rhythmischen Flusse wieder. Ich bin
dankbar für solch ein Bekenntnis, auch wo man meinen Namen nicht nennt.
Und endlich noch einmal die Gegenüberstellung der italienischen Frührenaissance
und des Barock in ihren prinzipiellen Unterschieden. «In der Frührenaissance, wo
die Wände des Innen- und Außenraumes sich noch in einzelne [Relief-] Bilder zer-
legen, bleiben die rhythmischen Eindrücke gedämpft gegenüber den optischen.«
Was heißt das anders, denn: — Abkehr von dem Bewegungsrhythmus als treibender
Kraft der gotischen Raumkoniposition ist schon da Voraussetzung, der Stillstand
der Schau hat seine Früchte gezeitigt? — »Je mehr das Gefühl für den Raum (als
Einheit!] wächst, und je mehr die Wand als Einzelgebilde in den Hintergrund tritt,
wächst auch wieder die Macht der rhythmischen Kräfte. Die große Tat des Barock
') Vgl. zu dem hier Gesagten auch A. E. Brinkmann, Die Baukunst des 17. und
18. Jahrhunderts, im Handbuch der Kunstwissenschaft, der den kulturgeschichtlichen
Zusammenhang doch nicht leugnen wird (vgl. S. 239 u. 326).
n
BEMERKUNGEN. 187
ist die volle Verschmelzung rhythmischer und optischer Wirkungen!« — Deshalb habe
ich immer von einem dynamischen Vollzuge solcher Oesamtanlagen des Barock
gesprochen, wie andererseits von einem Wiederaufbegehren des Innenlebens als
der treibenden Kraft des Schaffens. Da kommen die Grundbegriffe zu ihrem Recht,
die ich in >Barock und Rokoko« schon 1897 beigetragen hatte, sogar im Anschluß
an die »rhythmische Travee« Oeymüllers bei Bramante, und mit Hinweis auf die
Musik als Quelle vergleichender Begriffe, auf die Wirkung des »melodischen Rhyth-
mus«, statt mit der Harmonie der Verhältnisse im ruhigen Stillstand auszukommen
<a. a. O. S. 39-42).
Ich hoffe, daß wir eigentlichen Vertreter der Kunstwissenschaft so auch zur
vorurteilsfreien Verständigung gelangen werden. Schlägt einmal diese Stunde des
Einheitsbedürfnisses, dann haben wir nicht vergeblich nach stetiger Vertiefung ge-
rungen.
Methodologisches.
Von
Gerhart Rodenwaldt.
Sind Wölfflins »Grundbegriffe« eine kunstgeschichtliche, eine praktisch-methodo-
logische oder eine philosophische Untersuchung? Wären sie das erstere, so wäre
ein rein historischer Titel angebracht gewesen. Im zweiten Falle hätte die Über-
schrift zweckmäßiger gelautet »Kunstgeschichtliche Hilfsbegriffe«. Wenn sie das dritte
wären, hätten die Grundbegriffe vielleicht richtiger als kunstwissenschaftliche oder
kunstgeschichtsphilosophische bezeichnet werden müssen. Im ersteren Falle wären
sie eine kunsthistorische Interpretation des Wesens des Barock, im anderen ein Bei-
trag zur praktischen Methodik der kunstgeschichtlichen Forschung gewesen, der an
einem historischen Musterbeispiel geeignete Hilfsmittel zum Nachweise kunstge-
schichtlicher Entwicklung und ihrer Interpretation an die Hand gab; im letzten Falle
wäre das kunstgeschichtliche Beispiel nur Material zum Beweise begrifflich faßbarer
Gesetze oder Parallelerscheinungen der kunstgeschichtlichen Entwicklung gewesen.
Die reichlich einsetzende Kritik hat bereits nachgewiesen, daß dieses philosophische
Ziel nicht oder nur unvollkommen erreicht ist. Entkleiden wir aber die Kategorien
ihrer philosophischen Umhüllung, so bleibt ein Meisterwerk kunstgeschichtlicher
Interpretation übrig, und die Kategorien werden zugleich als Hilfsbegriffe, die je
nach Stoff und Thema vereinfacht, vermehrt und variiert werden können, ein nütz-
liches pädagogisches Vorbild bleiben. Diese Auffassung entspricht wohl allerdings
nicht der durch den Titel festgelegten Absicht des Verfassers, aber sie nimmt dem
Werk den Zwiespalt, den die leicht entfernbare philosophische Hülle hervorbringt.
Dazu muß der Begriff der Kunstgeschichte allerdings etwas weiter oder etwas
anders aufgefaßt werden, als es Wulff in seinen >Grundlinien und kritischen Er-
örterungen zur Prinzipienlehre der bildenden Kunst« tut '). Auch dieser Titel ist
nicht ganz sinnentsprechend, insofern als es sich um eine Prinzipienlehre nicht der
bildenden Kunst, sondern der Wissenschaft von der bildenden Kunst handelt. Auf
die Gefahr hin, die klare Systematik Wulffs zu verwirren und die Fragen zu kompli-
zieren, möchte ich auf einige methodologische Parallelfragen kurz hinweisen, die
vielleicht bei so allgemeinen grundlegenden Erörterungen Beachtung verdienten.
188 BEMERKUNGEN.
Wulff hebt (S. 103) hervor, daß die Grundlegung einer phänomenologischen
Theorie der bildenden Kunst bereits von der Kunstgeschichte in Angriff genommen
worden ist. Das ist eine historische Tatsache, aus der jedoch nicht ohne weiteres
Folgerungen für das begriffliche Verhältnis dieser Wissenschaft zu der geforderten
neuen Theorie gezogen werden können. Denn es müßte richtiger heißen, daß die
Kunsthistoriker — nicht die Kunsthistorie — sich dieser Aufgabe gewidmet haben;
ein Gelehrter kann sehr verschiedene Wissenschaften mit ganz verschiedenen Zweck-
setzungen in seiner Geistesarbeit vereinigen. Es erinnert dies an das in dem Streit
um die Begriffsbildung von Historie und Philologie zugunsten der Superiorität der
Philologie in der Altertumswissenschaft oder zugunsten der Identität der philo-
logischen und historischen Methode') mitunter gebrauchte Argument, daß die Philo-
logie — oder vielmehr auch hier richtiger die Philologen — tatsächlich die alte
Historie neben ihrer engeren Aufgabe betrieben hat. Es können eben einzelne Ver-
treter einer Wissenschaft oder sogar unter ihrem Einflüsse die Gesamtheit der Ver-
treter auf Gebiete übergreifen, deren Methode und Idee eine andere und mitunter
sogar eine entgegengesetzte ist '). Es muß danach zwischen begrifflicher Definition
und Abgrenzung einer Wissenschaft und ihrer geschichtlich gewordenen Eigenart
auf das sorgfältigste unterschieden werden.
Jede Kunst ist Objekt einer Reihe von Wissenschaften; man kann daher von
einer ganzen Reihe von Kunstwissenschaften sprechen. Auch die Philologie ist eine
solche. In ihr hat sich dank einer langen, in der Antike begründeten Entwicklung
die festeste Methodik ausgebildet. Ihr Ziel ist von Hause aus die Herstellung und
Interpretation der einzelnen literarischen Kunstwerke ; gemäß ihrer neueren Entwick-
lung umfaßt sie jedoch auch die Literaturgeschichte. Leider entsprechen die Namen
der Wissenschaften ihrer geschichtlichen Entstehung und erschweren dadurch vielfach
die Erkenntnis begrifflicher Übereinstimmung und Verschiedenheit. In dem Namen
der Philologie ist nur die eine Seite dieser Wissenschaft enthalten, allerdings gerade
diejenige, die sie von der Geschichte unterscheidet. Auch die Geschichte erfordert
die genaueste Herstellung der Quelle, aber diese Herstellungsarbeit ist lediglich eine
Vorarbeit, die im Dienste der geschichtlichen Verwertung des auf diese Weise her-
gerichteten Materials besteht. Je feiner die Methode der geschichtlichen Vorarbeit
wurde, desto vollständiger übernahm sie die Methode der älteren Wissenschaft der
Philologie. Soweit die Philologie Literaturgeschichte ist, geht ihre Methodik voll-
kommen der Historie parallel. Die Quellen, d. h. die einzelnen literarischen Gebilde
werden, soweit es die Zwecke der geschichtlichen Forschung erfordern, wieder herge-
stellt, um jener das Material zu liefern. Aber mit dieser Wiederherstellung trennen sich
die Wege der Literaturgeschichte und der eigentlichen Philologie. Für die letztere ist
die Herstellung des Kunstwerks nicht nur Mittel, sondern Selbstzweck; sie geht in der
Intensität und dem Umfang der Herstellung über das Bedürfnis der literaturgeschicht-
lichen Forschung hinaus und hat die Herstellung, Ergänzung und Interpretation des
einzelnen Kunstwerks als höchstes und letztes Ziel. Sie bedarf der Literaturgeschichte
als Hilfsmittel der Interpretation, wie die Literaturgeschichte ihrerseits auf der Her-
stellung und Interpretation fußt. So vereinigen sich unter dem geschichtlichen Namen
der Philologie zwei verschiedene wissenschaftliche Zwecksetzungen, von denen die
eine die spezifisch philologische, die andere die spezifisch historische Methode hat.
Beide Methoden sind jedoch, um Rickerts Terminologie zu wählen, rein individuali-
sierend und haben mit generalisierender Wissenschaft nichts zu tun. Nur in der
Art des Materials ist es begründet, daß in der klassischen Philologie die eigentlich
philologische Arbeit und in dieser wiederum die Herstellung der Texte gegenüber
der höheren Interpretation und gegenüber der Literaturgeschichte einen Verhältnis-
BEMERKUNGEN. 180
mäßig großen Raum einnimmt. Dadurch mag es auch verschuldet sein, daß in den
neueren Untersuchungen i<unstwissenschaftlicher Methodil< — mit Ausnahme von
Dessoir und Tietze*) — die Philologie l<aum beachtet worden ist.
Der Gegensatz von Historie und Philologie — zur begrifflichen Fassung des
Gegensatzes ist besser das Verhältnis von Literaturgeschichte und Philologie zu
wählen, weil das Verhältnis von Philologie, als Ganzes genommen, zur Historie sich
wiederum dadurch kompliziert, daß die Ergebnisse beider einander als Hilfswissen-
schaften dienen — ist kürzlich von W. W. Jäger'*) vorzüglich dargestellt worden.
Aber es ist von ihm ') meines Ermessens nicht scharf genug definiert worden, worin
letzten Endes die Berechtigung der Philologie, die Herstellung und Interpretation
ihrer Objekte über die Materialbeschaffung für die geschichtliche Verarbeitung hinaus
als Selbstzweck zu betrachten, besteht.
Dieses Recht schöpft sie aus der Tatsache, daß die von ihr behandelten Werke
der Literatur noch bestehende und wirkende Kunstwerke sind '). Die Geschichte
sucht die Erkenntnis der Gegenwart aus der Vergangenheit. Alles historisch Ge-
wesene steckt in der Gegenwart, ist aber auch von ihr aufgezehrt. Allein die Werke
der Kunst, mag es sich um Architektur, Plastik, Malerei, Musik, Literatur handeln,
führen ein lebendiges Dasein fort, das unabhängig von ihrer einstigen Bedeutung
als Glied der geschichtlichen Entwicklung ist und wirkt. Wie die Gesamtheit der
Gegenwart die Deutung aus der Vergangenheit verlangt, so jedes einzelne noch
bestehende Kunstwerk. In diesem Gegenwartswerte jedes Kunstwerks ist diejenige
wissenschaftliche Methode begründet, die in dem Sondergebiet der literarischen
Kunstwerke den historischen Namen der Philologie führt.
Geschichte und Interpretation, zwei geschwisterliche Figuren auf dem gemein-
samen Unterbau der sogenannten niederen philologischen Kritik, machen den eigent-
lichen Inhalt aller kunstgeschichtlichen Wissenschaften, der Philologie, der Archäologie,
der Musikgeschichte, der Kunstgeschichte usw. aus. Je nach der Art des Materials
nimmt die Vorarbeit der Herrichtung für die geschichtliche Bearbeitung und für die
Interpretation einen mehr oder minder großen Raum ein. Bei der Literatur des
19. Jahrhunderts z. B. ist diese Hilfsarbeit bei weitem einfacher als bei der griechi-
schen Literatur; desto mehr werden Kräfte für die Interpretation und historische Ver-
arbeitung frei. Besonders einleuchtend ist der Unterschied bei der Vergleichung
der neueren Kunstgeschichte mit der Geschichte der antiken Kunst. Die neuere
Kunstgeschichte fand ihr Material so gut erhalten vor und fand ein so vollständiges
Material vor, daß sie der Vorarbeit der Wiederherstellung der einzelnen Denkmäler
entraten konnte oder entraten zu können glaubte; erst in der letzten Zeit hat mit
der wachsenden Eindringlichkeit der Forschung auch die streng philologische Methode
für die Herrichtung der einzelnen Denkmäler ihren Einzug in die Kunstgeschichte
gehalten. So konnte die Kunstgeschichte sich der Erforschung der geschichtlichen
Entwicklung und der Interpretation der einzelnen Kunstwerke viel unmittelbarer
zuwenden, als die Archäologie. Bei dieser klafft zwischen der Entwicklung, wie sie
tatsächlich erfolgt ist, und den Ergebnissen der Erforschung der uns erhaltenen
Denkmäler eine gewaltige Kluft; daher muß das Erhahene bis zum letzten Tropfen
ausgepreßt und ausgenutzt werden und die Forschung auf Kleines und Kleinstes aus-
gedehnt werden, das eine mit reicherem Material versehene Wissenschaft zunächst
entbehren kann. Dies Schicksal teilt die Archäologie mit der Philologie, und daher
ist die Parallelität ihrer Methode zur philologischen Methode von jeher viel augen-
fälliger in Erscheinung getreten*). Diese durch die Beschaffenheit des Materials
hervorgerufenen Verschiebungen des Anteils der einzelnen methodischen Grund-
handlungen ändert aber nichts an der grundsätzlichen Übereinstimmung mit den
190 BEMERKUNGEN.
Wissenschaften, die sich mit der geschichtlichen Forschung der neueren Kunst und
der anderen Künste beschäftigen. Irreführend aber ist der Name »Kunstgeschichte«,
wenn man ihn begriffHch statt nur historisch deutet; denn er betont nur die eine
Hälfte der Aufgabe, wie es im umgekehrten Verhältnis die Philologie tut. Philologie,
Archäologie, Kunstgeschichte sind drei konventionelle, historisch erklärbare Namen
für Wissenschaften, die die gleiche Methode auf Kunstwerke, die beiden letzteren
sogar auf nur zeitlich verschiedenen Perioden angehörige Objekte der gleichen Kunst
anwenden. Geschichte der Kunstwerke und ihre Interpretation sind beide reine
Tatsachenforschung; beide ergänzen und unterstützen einander. Daher werden in
der wissenschaftlichen Darstellung beide vielfach miteinander verbunden, wenn auch
der eine oder der andere Zweck in jeder Untersuchung die Hauptsache bilden wird.
Im Sinne dieser, die Interpretation umfassenden Kunstgeschichte können Wölfflins
»Grundbegriffe«, wenn wir die philosophische Deckschicht entfernen, auch als
methodisch vorbildlich angesehen werden.
Auf Seite 122 ff. teilt Wulff die von ihm geforderte Gesamtwissenschaft der
bildenden Kunst in zwei Hauptrichtungen ein, von denen die eine als systematische
Kunstwissenschaft in die Ästhetik, die andere als Kunstgeschichte in die allgemeine
Kultur- und Geistesgeschichte einmündet. In dieser Konstruktion findet die philo-
logische Methode — in ihrem allgemeinen, die Wissenschaften aller Künste um-
fassenden Sinne — keinen Platz, während man von einer so allgemein gefaßten
Definition verlangen müßte, daß sie nicht nur für die Wissenschaft der bildenden
Kunst, sondern auch für die der anderen Künste zutrifft. Die Interpretation, die
die Erkenntnis des einzelnen künstlerischen Objektes als letztes Ziel hat, steht zwar
im Gegensatz zu den Gesetzeswissenschaften und gehört zu den reinen Tatsachen-
wissenschaften, geht aber nicht in den Begriff der allgemeinen Geschichte auf. Denn
eben die Methode der Interpretation ist nur auf künstlerische Gestaltungen, aller-
dings auf solche jeder Art, anwendbar und unterscheidet eben die Philologie von
der Historie.
Läßt sich nun diese Kunstgeschichte mit der systematischen Kunstwissenschaft
zu einer Gesamtwissenschaft vereinigen ? Keine historische Wissenschaft ist begriff-
lich von vornherein klar umgrenzt gewesen, sondern alle sind sie Individualitäten,
die wiederum selbst nur historisch erklärbar sind. Die historischen Wissenschaften
sind darin sehr anpassungsfähig. Sie benutzen andere Wissenschaften als Hilfs-
wissenschaften z. B. die Philologie die Sprachwissenschaft oder auch, als höhere
Interpretation, die Ästhetik und greifen andererseits auch auf andere Gebiete herüber.
Als Beispiel einer besonders komplex zusammengesetzten Wissenschaft nenne ich
die Archäologie. Als antike Kunstgeschichte ist sie klar umgrenzt und nur aus
ähnlichen praktischen Gesichtspunkten gegenüber der Kunstgeschichte als Sonder-
wissenschaft zu behandeln, wie die alte Geschichte gegenüber der Geschichte der
neueren Zeit"). Aber die Archäologie umfaßt auch die Erforschung aller sonstigen
Monumente, die außer der Literatur aus der Antike erhalten sind, auch wenn sie
nichts mit Kunst zu tun haben. Sie erforscht eine Inschrift, eine Ölpresse oder ein
medizinisches Instrument mit der gleichen Sorgfalt wie eine Statue oder ein Vasen-
bild. Sie dient damit der Philologie, der Kulturgeschichte, der politischen Geschichte,
der Religionsgeschichte usw. als Hilfswissenschaft und verrichtet die eigentlich all
diesen Sonderwissenschaften zufallenden Arbeiten. Wenn Conze daher als Objekt
der Archäologie »alle in räumliche Form hineingeschaffenen Menschengedanken«
bezeichnet hat, so bestimmt er damit allerdings den Umfang des Materials, eines
Materials jedoch, für das kein einheitlicher Begriff und keine einheitliche Methode
zu finden sind. Begrifflich ist daher das Wesen der Archäologie gar nicht als Ein-
BEMERKUNGEN. IQl
heit zu fassen '"). Ihre Zusammengesetztheit erklärt sich einerseits aus ihrer Ge-
schichte, die zu einem wesentlichen Teile von den sogenannten Antiquitäten aus-
ging, anderseits aus der Gewinnung und Bearbeitung des Materials, d. h. aus der
Methode der wissenschaftlichen Vorarbeit. Alle die Dinge, die die Archäologie für
andere Wissenschaften bearbeitet, werden im Zusammenhange mit Denkmälern der
antiken Kunst gefunden und können nur im Zusammenhange mit ihr beurteilt werden.
So wenig die Archäologie daher begrifflich als Einheit und Besonderheit erklärbar
ist, so sehr ist sie historisch und praktisch begreiflich und gerechtfertigt.
Wenn hier und auch bei anderen historischen Kunstwissenschaften eine Ver-
mischung mit anderen Gebieten stattfindet, so handelt es sich aber doch immer nur
um Verbindung mit wesensverwandten Gebieten, die sämtlich der Tatsachenforschung
bzw. der individualisierenden Wissenschaft angehören. Nirgends ist eine Kuppelung
mit Gesetzeswissenschaften vorhanden, denn die Gesetze der Sprachwissenschaft,
auf die Wulff mehrfach verweist, sind ganz anderer Art, als naturwissenschaftliche
Gesetze"). Das Verhältnis zwischen Ästhetik und systematischer Kunstwissenschaft
ist bei Wulff nicht ganz klar. Die systematische Kunstwissenschaft wird zwar der
Ästhetik als reinen Gesetzeswissenschaft gegenübergestellt, soll aber doch schließlich
in die Ästhetik einmünden. Ferner erhebt sich die Frage, ob denn überhaupt diese
systematische Kunstwissenschaft in sich eine geschlossene Einheit bildet. So weit
sie auf die Gesetzlichkeiten des Kunstschaffens in ihrer allgemeinen psychologischen
Begründung hinarbeitet, besteht meines Ermessens kein Grund, sie von der Ästhetik
und Allgemeinen Kunstwissenschaft — der letzteren in Dessoirs Sinne — zu trennen.
Sie soll aber auch auf die Ableitung der Gesetzlichkeiten der Kunstentwicklung hin-
arbeiten (S. 123), und es ist, wie auch Wulff zugibt, diese Gesetzlichkeit wiederum
nicht mit der Gesetzlichkeit der Naturgesetze zu verwechseln. Ist die Erforschung
dieser allgemeinen Phänomene der Kunstentwicklung, die unbestreitbar vorhanden
sind, nun Aufgabe der Kunstgeschichte oder der Ästhetik oder einer dritten Wissen-
schaft, die an einen vorhandenen allgemeinen Forschungskreis anzuschließen ist?
Es handelt sich hier um Phänomene wiederum verschiedener Art, die aber beide
sich auf den historischen Verlauf der Kunst beziehen. Einerseits sind es Begriffe,
wie Klassik oder Periodizität der Entwicklung, die sich mit der Frage der Wert-
beurteilung oder der Möglichkeit von historischen Gesetzen, sei es auch nur in der
eingeschränkten Form von Parallelen und Analogiebildungen beschäftigen, ander-
seits wissenschaftliche Hilfsbegriffe (Fiktionen) wie Ortsstil, Zeitstil, Kontamination,
Assimilation usw., die zur Methodik der Kunstgeschichte gehören. Beide Betrachtungs-
weisen sind rein philosophisch und können unter dem gemeinsamen Namen einer
Philosophie der Kunstgeschichte zusammengefaßt werden. Der Unterschied zwischen
dem Kunstwerk und dem rein historischen Vorgang, wie ihn Wulff auf S. 5 ff. aus-
gezeichnet darlegt, hat vielleicht zur Folge, daß die Philosophie der Kunstgeschichte
in der Feststellung von Parallelen und Allgemeinbegriffen, nicht von Gesetzen, weiter-
kommen kann, wie die Philosophie der Geschichte. Aber der Unterschied ist kein
wesentlicher, sondern nur ein gradueller, und man kann sagen, daß die Kunst-
geschichtsphilosophie sich zur Kunstgeschichte verhält wie die Geschichtsphilosophie
zur Geschichtsforschung''^).
Man könnte danach drei Gruppen von Kunstwissenschaften unterscheiden, Ästhetik
und allgemeine Kunstwissenschaft, Philosophie der Kunstgeschichte und Kunst-
geschichte (einschließlich der philologischen Interpretation). Diese Gruppen gelten
für die Geschichte aller Künste. Sie sind einander nicht gleichwertig. Die erste
würde alle generalisierende, die letzte alle individualisierende Wissenschaft der Künste
vereinigen, während die Philosophie der Kunstgeschichte die philosophische Selbst-
192 BEMERKUNGEN.
besinnung der Kunstgeschichte über Wesen und Formen ihrer wissenschaftlichen
Betrachtungsweise wäre.
Ist es nun wünschenswert, daß generalisierende und individualisierende Be-
trachtungsweise durch Herstellung eines gemeinsamen Oberbegriffs systematisch ver-
einigt werden?")
Wechselbeziehungen beider Wissenschaften tut es keinen Abbruch, wenn sie
begrifflich voneinander getrennt bleiben. Beide Arten der Betrachtung brauchen
einander als Hilfswissenschaft, die eine muß der anderen das Material liefern. Be-
sonders eng werden sich Philosophie der Kunstgeschichte — d. h. Wulffs syste-
matische Kunstwissenschaft mit Ausnahme derjenigen Teile, die der Ästhetik und
allgemeinen Kunstwissenschaft zugeteilt werden können — und Kunstgeschichte
berühren, da sie ständig der Nachprüfung durch die Gegenseite bedürfen. Es kann
aber nur im Interesse der praktischen Arbeit liegen, wenn sie in jedem Einzelfalle
sich der Zwecksetzung in der einen oder der anderen Richtung voll bewußt bleibt.
Mommsen hat in seinen Werken historische und juristisch-systematische Betrachtungs-
weise streng voneinander getrennt'*). Wulff (S. 107) unterschätzt offenbar die
Gefahr einer konstruierenden Geschichtsforschung; denn die Erfahrungen in der
Geschichtswissenschaft'''), in der Religionswissenschaft, deren methodologische
Fragen in mancher Beziehung den Prinzipienfragen auf dem Gebiete der Kunst-
wissenschaft verwandt sind, und in der Prähistorie lehren doch, wie verführerisch
der mächtige Einfluß der Gesetzeswissenschaften seine Schatten auf die Hand-
habung der Geschichtswissenschaft wirft und die erforderliche Klarheit ihrer Ziel-
setzung trübt '").
Der Wunsch nach Betonung der methodischen Gegensätzlichkeit soll nicht aus-
schließen, daß die Gelehrten einer Kunstwissenschaft auch auf die anderen Kunst-
wissenschaften übergreifen. Praktisch mag es richtig sein, daß in steigendem Maße
Kunsthistoriker sich mit Fragen der Ästhetik und namentlich der Philosophie der
Kunstgeschichte beschäftigen werden, weil mit der Detaillierung der kunstgeschicht-
lichen Forschung es Gelehrten anderer Gebiete immer schwerer wird, das Material
zu übersehen und für ihre Zwecke richtig einzuschätzen. Für diese ist es zweifellos
nötig, daß Wulffs Forderung nach Vertiefung der Zusammenhänge mit der Psycho-
logie verfolgt wird. Nur sollte man aus methodischen Gründen begrifflich daran
festhalten, daß in diesem Falle nicht die Kunsthistorie sich mit einer systematischen
Kunstwissenschaft zu einer neuen Kunstwissenschaft vereinigt, sondern daß der
Kunsthistoriker dann eben Ästhetik oder Kunstgeschichtsphilosophie treibt, was sich
sehr wohl miteinander vereinigen läßt, sofern beide Zwecke in Forschung und Dar-
stellung reinlich voneinander getrennt werden").
Ein begriffliches System der Kunstwissenschaften, das man aufstellen könnte,
würde sich nicht mit dem historischen Charakter und Umfang der einzelnen Dis-
ziplinen decken. Die historisch gewordenen Wissenschaften sind letzten Endes das
Werk der Gelehrten, und so wird die Entwicklung der Kunstgeschichte, ihre Be-
schränkung auf ihr engeres Gebiet oder ihre Ausdehnung auf andere Kunstwissen-
schaften, auch das Werk ihrer Forscher sein. Alle individualisierenden Wissen-
schaften enthalten generalisierende Elemente und umgekehrt '"). Aber die theoretische
Konstruktion einer einheitlichen Wissenschaft, die als Unterabteilungen zu gleichen
Teilen zwei methodisch in ihrem Zwecke entgegengesetzte Forschungsweisen ent-
hält, erregt Bedenken, sowohl theoretischer wie praktischer Art. Der so glücklich
eingeleitete Gedankenaustausch zwischen den verschiedenen Wissenschaften, die sich
mit Kunst befassen, wird um so fruchtbarer sein, je mehr sich jede Wissenschaft
ihrer spezifischen Eigenart bewußt bleibt.
BEMERKUNGEN. 193
Anmerkungen.
') Vgl. auch Wulffs Bemerkungen in Zeitschrift für Ästhetik IX, 1914, 556 ff.
') Vgl. z. B. Oercke in Qercke-Norden, Einleitung in die Altertumswissen-
schaft I, 35.
') Vgl. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode 5 und 6, S. 88.
*) Dessoir im Bericht des Kongresses für Ästhetik 1914, S. 52 f. und Tietze,
Die Methode der Kunstgeschichte, 124 ff.
s) Neue Jahrbücher für das klassische Altertum und für Pädagogik XIX, 1916, 81 ff.
') Wie von allen älteren Methodikern, die die Erkenntnis der Sprache, unab-
hängig von ihrer Gestaltung zum Kunstwerk, als Wesen der Philologie bezeichnet
haben (vgl. Bernheim a. a. O. S. 87 ff.). Dabei ist die Parallele der Kunstgeschichte
ebenso übersehen, wie von den Kunsthistorikern die der Philologie.
') Vgl. Eduard Meyer, Zur Theorie und Methodik der Geschichte (Kleine
Schriften), S. 56 f. - Tietze a. a. O. S. 125 f.
") Vgl. Bulle, Handbuch der Archäologie, Heft 1, S. 15.
') Vgl. hierzu Ed. Meyer a. a. O. S. 65.
'") Koepp, Archäologie I, S. 7.
' ') Zu der Sprachwissenschaft als rein historischen Wissenschaft vgl. Ed. Meyer
a. a. O. S. 5; über ihr Verhältnis zur Sprachphilosophie Oercke a. a. O. S. 109 f.
'") Vgl. Ed. Meyer, Geschichte des Altertums I, V (Anthropologie), S. 182 ff.
") Vgl. Tietze a.a.O. 6 ff.
■*) Wilcken, Archäolog. Anzeiger 1917, S. 170.
"") Dazu vgl. Ed. Meyers Polemik gegen Lamprechts Methode der Geschichts-
wissenschaft in dem oben erwähnten Aufsatz »Zur Theorie und Methodik der Ge-
schichte«. In der Kunstgeschichte wiederholt sich jetzt der gleiche Kampf um die
Methode, der in der Geschichtswissenschaft schon gegen Lamprecht entschieden sein
dürfte. Als Vertreter der konstruierenden Richtung vgl. außer Wulff z. B. A. Doren,
Kari Lamprechts Geschichtstheorie und die Kunstgeschichte (Zeitschr. f. Ästhetik XI,
1916, 353 ff.) und R. Hamann, Die Methode der Kunstgeschichte und die allgemeine
Kunstwissenschaft (Monatshefte für Kunstwissenschaft IX, 1916, 64 ff.).
'") Vgl. die in gewisser Hinsicht parallelen Bedenken Heidrichs gegen die
Problemgeschichte, Zeitschrift für Ästhetik VIII, 1913, 118 ff.
") Vor allem muß dagegen Einspruch erhoben werden, als ob durch die syste-
matische Kunstwissenschaft die Kunstgeschichte gewissermaßen auf ein höheres
Niveau gehoben würde, eine Ansicht, die mehr oder minder deutlich auch bei
Hamann und Wulff durchschimmert. Es kann auf Ed. Meyers Polemik gegen ent-
sprechende Prätentionen der konstruierenden Geschichtswissenschaft verwiesen werden
(Alte Geschichte 1, 1», 185).
") Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 235 ff. und 429 ff.
Zeilschr. f. Ästhetik ti. all(t. Kuiistwissenscliaft. XIV- 13
Besprechungen.
Friedrich Gundolf, Goethe. Berlin, Georg Bondi, 1917. gr. 8». 795 S.
Blicken wir zurück auf die Reihe von Vorgängen, durch welche Wert, Wesen
und Bedeutung der großen dichterischen Persönlichkeiten erfaßt und zu einer bil-
dungsgeschichtlichen Überlieferung verdichtet worden sind, so finden wir die frucht-
baren und entscheidenden Aufschlüsse, soweit sie überhaupt literarische Form an-
genommen haben, fast ausschließlich in gelegentlichen Äußerungen und Einzel-
urteilen niedergelegt, in Kundgebungen, die unter dem Eindruck der künstlerischen
und menschlichen Totalität, mit dem Blick auf das Ganze der schöpferischen Person,
den geschichtlichen oder gesetzlichen Zusammenhang des Geisteslebens entstanden
sein mögen, aber andern Ursprungs, anderer Anlage sind und andere Mittel ge-
brauchen als die auf dem Gebiete der historischen Wissenschaften erwachsenen
Formen der Biographie, deren große Beispiele mit diesen Leitbegriffen ihre Aufgabe
umschrieben haben. Zwischen urteilslosem Nachreden und peinlicher Beschränkung
auf das Selbsterforschte bestehen viele JVlöglichkeiten einer lebendigen Gesamtüber-
zeugung von nationaler Kunst und Art, sind verschiedene Grundlagen zu Gemein-
vorstellungen von der persönlichen Eigentümlichkeit der großen Vertreter des
nationalen und menschlichen Geistes gegeben. Es ist nicht gleichgültig, aus welchen
Kreisen heraus sie verbreitet werden und welche Form sie annehmen. Wie sie
auch heute noch die verschiedenen Schichten der Bildung beherrschen, sind sie
nicht durchgängig aus solidem, auch nicht aus reichem JWaterial erbaut. Trotzdem
ist es der Wissenschaft, der reichhaltige und durch sorgsam geprüfte Methoden als
zuverlässig verbürgte Stoffmassen zur Verfügung stehen, bisher nur in recht be-
scheidenem Umfang geglückt, auf die Gestaltung dieser Überzeugungen und Ideen
Einfluß zu gewinnen. Ihre Einwirkung brachte es kaum dahin, tatsächliche Korrek-
turen durchzusetzen. Die deutsche Bildung insbesondere ist gewohnt, von der
literarhistorischen Forschung um so weniger zu erwarten, je höhere Aufgaben diese
sich stellt.
Trotz diesen Erfahrungen und Neigungen unserer bildungsgeschichtlichen
Tradition, die allerdings durch so manche Unzulänglichkeit dieser Wissenschaft
neuen Anlaß zu bestärktem Verharren in dieser Gesinnung fand, deuten einige An-
zeichen auf einen Wandel der Lage hin, und es ist Sache der beteiligten Wissen-
schaft, diese Zeichen zu deuten.
Der Erwartung, von einem in größeren Dimensionen ausgeführten Bilde be-
deutender Persönlichkeiten nicht bloß eine Zusammenfassung und Weiterführung
tatsächlicher Feststellungen und Erkenntnisse, sondern eine von Grund auf neue
Auseinandersetzung mit den Erscheinungen und eine frische Anschauung zu er-
halten, kommt ein verhältnismäßig junges Bildungsbedürfnis zu Hilfe. Das Ver-
langen nach einem vertieften Verständnis des produktiven Menschen, das sich nicht
mit der Rechenschaft über die eigene Erfahrung und ebensowenig mit der rhapso-
dischen oder aphoristischen Mitteilung noch so lebhafter Eindrücke, noch so weit-
führender Einfälle zufriedengibt, ist ein Teil jener Kraft, die vom Fragment und
BESPRECHUNGEN. ]95
der Skizze zum ausgerundeten Gebilde strebt. Es ist jünger als die verschiedenen
Formen der Heldenverehrung, mit der es sich vereinigen, aber auch widerstreiten
kann, erst recht jünger als das Bedürfnis nach Übersicht von höher gelegenen Ge-
sichtspunkten, das durch geschichtliche Zusammenfassungen größerer Zeiträume
oder durch systematische Verarbeitung befriedigt zu werden pflegt, schließlich auch
jünger als die allgemeine Erweckung des Bewußtseins vom Werte der Individuah'tät
und der Trieb zur Versenkung in die menschliche Eigenart, der heute noch so oft
als wichtigstes Kennzeichen historischen Sinnes gilt. Es bedeutet nicht Verneinung
jener vielfältigen Reize, die dem Oelegenheitsbekenntnis und andern Zeugnissen
einer aus dem Augenblick geborenen Fühlungnahme mit großen Menschen und
Werken eigen sind, und hat mit pedantischen Forderungen nach Vollständigkeit
nichts zu schaffen, aber es setzt die Überzeugung voraus, daß Ursprüngiichkeit der
Anschauung und Konzentration der Betrachtung auch in den großen Formen des
wissenschaftlichen Schrifttums nicht verloren zu gehen brauchen.
Wenn die groß angelegte und durchgeführte Monographie für das moderne
Geistesleben überhaupt einige Bedeutung besitzt, so beruht diese nicht einmal so
sehr auf der Durchschlagskraft ihrer Muster, wie wir sie von der Hand eines Justi,
Dilthey, Haym, Erich Schmidt besitzen, — obwohl sie durch ihren Inhalt auf den
Stand der Kenntnis, das konkrete Urteil der Fachgenossen teils umwälzend teils
grundlegend gewirkt und die Arbeitsweise verschiedener Disziplinen entscheidend
beeinflußt haben — , wie auf der Tatsache, daß eine solche weit ausholende und
umfassende, tief in den Stoff eindringende und stets einen erhöhten Überblick
wahrende Behandlung ein neues, die moderne Bildung in ihren besten Strebungen
kennzeichnendes Gefühl für die Bedeutsamkeit ihres Gegenstandes und eine neue
Auffassung von den Erfordernissen und Möglichkeiten, diesem gerecht zu werden,
bezeugt.
Was für Lessing, Winckelmann, Herder und Schleiermacher erreicht und an
diesen offenbart worden ist, an der Gestalt zu vollenden, die unser Jahrhundert
überschattet und erhellt, auf die sich die wichtigsten geistesgeschichtlichen Dis-
ziplinen, alle Versuche einer Grundlegung der Ästhetik und der übrigen philoso-
phischen Wissenschaften zu berufen gewohnt sind, erscheint als eine bedeutsame
Kulturfrage, wird als höchste Bildungsaufgabe und wichtigste Bewährungsprobe der
beteiligten Wissenschaften und des ganzen Zeitalters begriffen.
Die Voraussetzungen für eine Darstellung Goethes, die eine selbständige allge-
meine Geltung sich verschaffende Ansicht seines Wesens zu entwickeln hat, haben
sich in unsern Tagen gegenüber früheren Generationen, die vor die gleiche Auf-
gabe gestellt waren, von Grund auf verändert. Wir stehen vor einem bereits ins
Unübersehbare vermehrten authentischen Material, dessen bisherige Verarbeitung
das Verständnis der Gesamtpersönlichkeit mehr zu verwirren als zu erhellen scheint.
Aber selbst wer über diese Schwierigkeiten — durch energische Ausscheidung
oder vollständige Aneignung — Herr geworden ist, hat noch nicht viel mehr als die
Anfangshindernisse beseitigt. So lange es eine Biographie, eine Künstlerpsychologie,
überhaupt geschichtliches Verständnis gibt, sind die Grundlagen der Betrachtung,
die Hilfsmittel der Erfassung, die Anhaltspunkte der Motivation, die Kategorien
und Maßstäbe mit größerer oder geringerer Naivität einem allgemeinen Erkenntnis-
stande entnommen worden, den eine waiter ausgreifende wissenschaftliche Richtung
repräsentiert, ohne daß damit das Wesentliche der individuellen Beziehung des
Darstellers zum Gegenstande gegeben ist. In der Geschichte des Goethebildes ist
der Gegensatz zwischen Naivität und gebildetem Bewußtsein, wie ihn Hegel auf-
gestellt hat, öder in neuerer Zeit die verschiedenen Lehren von den Typen der
196 BESPRECHUNGEN.
geistigen Organisation, des Weltverhältnisses, der Einstellung als Beispiele anzu-
führen für die Eingliederung individueller Beobachtungen und Erlebnisse durch
anderweitig bewährte Erkenntnismittel in einen faßbaren Zusammenhang frucht-
barer Vorstellungen.
Heute sind nun weit auseinander strebende Richtungen innerhalb der modernen
Geisteswissenschaften zu Fragestellungen gelangt, deren Beantwortung oder Fort-
führung mit einer Darstellung des größten deutschen Lebens zusammenfällt, und
die auf der andern Seite dem Betrachter Goethes den Ausblick auf biographische,
künstlerische, geschichtsphilosophische, pädagogische und darstellerische Probleme
eröffnen. Sofern sie allgemeine Ergebnisse zutage gefördert haben, durch welche
die in der Geistesgeschichte wirkenden Zusammenhänge und Bedingungen klar-
gestellt werden, erwächst daraus auch für den auf die individuelle Einzigkeit ein-
geschworenen Biographen die Verpflichtung, sich mit diesen Fragen auseinander-
zusetzen, zum mindesten sich der Konsequenzen einer grundsätzlichen Ablehnung
bewußt zu werden.
Unmittelbar nach Goethes Tode klagte Wilhelm v. Humboldt, es sei ihm und
seinem Kreise »bloß dadurch, daß er nicht mehr unter uns weilt, etwas in unsern
innersten Gedanken und Empfindungen und gerade in unserer erhebendsten Ver-
knüpfung genommen«. Inzwischen ist das geschichtliche Bild Goethes eine Macht
geworden, deren Wirkung sich nicht in der konkreten Aufnahme seiner dichterischen
und denkerischen Produktion erschöpft, die nicht nur unser geistiges Dasein be-
herrscht, sondern auch unsere positive Auffassung vom Gei.stigen überhaupt in einem
noch höheren Grade von Innerlichkeit und Ausschließlichkeit, als beim Dichterischen
der Fall ist, geformt hat.
Den Gehalt dieser »erhebenden Verknüpfung« aussprechen heißt nicht die Er-
scheinung Goethes als Anlaß zum Vorbringen angesammelter Beschwerden miß-
brauchen und die eigene Kulturkritik mit dem Namen Goethes decken. Aber so-
lange die Gestalt Goethes die bildungsgeschichtliche Bedeutsamkeit, die wir ihr zu-
erkennen, besitzen wird, solange wird auch der Darsteller dieser Gestalt notge-
drungen zum Richter seiner eigenen Zeit, zum Fortleiter der Hauptströme ihrer
Geistesarbeit. Wenn nicht mehr die Notwendigkeit gefühlt werden wird, bei dem
Aufbau des Goethebildes sich zu den Grundtatsachen unserer Bildung in ein zu-
gleich unmittelbares, zugleich kritisches Verhältnis zu setzen, dann wird man schon
in dieser Tatsache ein Symptom für eine gänzlich veränderte Stellung der Nation
zu Goethe erblicken dürfen.
Niemand wird behaupten, daß die Anforderungen an eine Darstellung Goethes,
wie sie sich aus der Erkenntnis der geschilderten Sachlage ergeben, aus dem Pro-
blemstande derjenigen wissenschaftlichen Disziplin heraus entwickelt werden können,
in deren Bereich die Bearbeitung des Hauptteils von Goethes Lebensäußerungen
fällt. Die literaturgeschichtliche Forschung ist nicht planlos verfahren. Sie hat
Arbeitsprogramme aufgestellt und teilweise auch verwirklicht, deren Weite auch
den kleineren und kleinlichen Teilbeiträgen etwas von der Würde ersetzte, die die
meisten an sich vermissen ließen, und für einen nicht gerade übelwollenden
Beobachter mußte es schon seit längerer Zeit erkennbar geworden sein, daß sich
aus der eindringlichen Arbeit ganzer Forschergenerationen eine noch ungestaltete
Goetheauffassung herausbildete, die sich über das Niveau der formulierten Äuße-
rungen beträchtlich erhebt. Wenn es trotz allen so oft ausgesprochenen Ver-
heißungen und Wünschen nicht gelungen ist, auf der Grundlage dieser Forschungen
und im Zusammenhange mit den theoretischen Interessen, die die Mehrzahl der
Literarhistoriker von Rang und Ruf beherrschen, ein groß angelegtes, die Fülle der
-i
BESPRECHUNGEN, 197
Einzelerkenntnisse zu sprechenden Linien verdichtendes, die Gesinnung des Zeit-
alters repräsentierendes Qoetheblld zu entwerfen, so darf diese Tatsache allein noch
nicht zu absprechender BeurteiUing verführen, wenn sie auch nicht bedeutungslos
für die Qesamteinschätzung ist. Selbst innerhalb der beteiligten Kreise ist das ge-
fühlt und vielfach ausgesprochen worden, und in Verbindung mit ähnlichen auf
andern Gebieten der Forschung gemachten Erfahrungen ist hieraus das Programm
einer synthetischen Literaturwissenschaft erwachsen, die Forderung einer stärkeren
Durchdringung des wissenschaftlichen Verfahrens mit »philosophischem Geist-, wo-
bei auf der einen Seite weniger an die Forschung als an die Darstellung gedacht
und anderseits unterlassen wurde, innerhalb des Kreisens und Kreuzens philo-
sophischer Richtungen eine bestimmte und bewußte Stellungnahme zu umschreiben.
Aber nicht diese Besinnungen haben Epoche in der jüngsten Geschichte des
Goetheverständnisses gemacht, sondern das fast gleichzeitige Erscheinen der Bücher
von Georg Simmel und H. St. Chamberlain. Beide suchen die Persönlichkeit
Goethes in Bildern zu erfassen, deren IVIotive durch die großen geistesgeschicht-
lichen Begriffe moderner Lebensdeutung bestimmt sind. Beide suchen das durch-
waltende Urphänomen des Goethischen Geistes und hinter diesem noch ein letztes
Personal-Allgemeines zu begreifen. Beide haben eine starke innere Wirkung aus-
geübt, und beide verhalten sich zu der von der Literaturgeschichte ausgehenden
Goetheforschung grundsätzlich ablehnend. Im übrigen erlaubt die Verschiedenheit
in der Form und Gesinnung keine nähere Zusammenstellung. Chamberlain ver-
fährt dogmatisch klassifizierend, Simmel ist sich bewußt, daß das Gesamtbild von
Goethes Individualität nicht unmittelbar ausgedrückt werden kann. Chamberlain
stellt Goethe als Vorbild hin, Simmel sucht, auch wo er von Goethes Normalität
spricht, den Sinn dieser Erscheinung zu deuten. Wissenschaftsgeschichtlich liegt
der Wert des Chamberlainschen Buches in der starken Betonung der naturwissen-
schaftlichen Erkenntnisleistung Goethes. Die Partien, in denen Goethes Dichtung
und Lebensanschauung, seine geschichtliche Gestalt und Wirkung behandelt werden,
fallen dagegen ab. Auf die Eigentümlichkeit des Gepräges angesehen, wirkt Cham-
berlains Grundauffassung wie seine darstellerische Art, zumal gegen Simmel ge-
halten, uninteressant, abgesehen von seiner menschlichen Unerfreulichkeit. Mit
Simmel tritt die Anteilnahme der deutschen Philosophie an Goethe, die eine reiche
und nicht unrühmliche Tradition hat, in eine neue Phase. Wenn Simmel die
Existenz Goethes zu begreifen sucht, so weist er dieser ebenso ihren Ort in seinem
geistigen Interessenzusammenhang an, wie er in seiner Aussprache über diese
Operation tiefer in den Grund der letzten geistigen Bedeutsamkeiten hinunterfaßt
Was hierbei zu Tage gefördert wird, muß vor allem als Teilerscheinung innerhalb
des Ganzen der Simmelschen Philosophie, die ihrerseits als eine würdige Repräsen-
tation des modernen Geistes aufzufassen ist, gewürdigt werden. Sollen die inhalt-
lichen Bestimmungen, die hier vorgetragen werden, in den Stufengang der Goethe-
erkenntnis eingeordnet werden, so entsteht leicht ein falscher Eindruck, der erst
berichtigt werden kann, wenn die Wirkungen der einzelnen, nicht als Hauptergeb-
nisse formulierbaren Ausführungen dieses Buches auf die Goethekundigen festzu-
stellen sind.
Daß Simmeis Goethebuch für die deutsche Bildung nicht den Brennpunkt des
Goetheverständnisses darstellt, liegt zum Teil in denselben allgemeinen Ursachen
begründet, die seine Gesamtphilosophie trotz starker und vielfältiger Wirkung und
Bedeutung nicht zu einer beherrschenden Macht werden lassen; aber auch in
seinem besonderen Verfahren. Simmel setzt das Ganze des Goethischen Lebens
und der Goethischen Kunst als Dasein und Erlebnis voraus und sucht diese in die
198 BESPRECHUNGEN.
ganze Weite der seelischen Bewegtheit, in die Höhe der Begrifflichiceit, in die Tiefe
der weitgeschichtlichen Gegensätze einzustellen. Die Schranke solcher Erörterungen
scheint mir weniger, wie Simmel will, durch die individuelle Bestimmtheit jenes
primären Erlebnisses gegeben zu sein, von dem die philosophischen Weiterführungen
genährt werden, als vielmehr in der Tatsache des Vorausgesetztseins. Die Inhalte
dieses »Erlebnisses« sind mächtig genug, um ihr Übergewicht gegen jede Weiter-
führung zu behaupten, sie müssen jeden Augenblick frisch beschworen werden
und lassen sich nicht »voraussetzen«. Außerdem ist das Wort »Erlebnis«, dessen
Sinn auf einen Einzelakt zielt, im Grunde schlecht geeignet, das konkrete Verhältnis
des Betrachters zu einer künstlerischen und menschlichen Totalität erschöpfend zu
bezeichnen.
Ein Werk, das eine ständig erfüllte Anschauung von Goethes Totalität bietet,
ohne die unmittelbare Beziehung zu den besonderen Lebenszuständen und den
hieraus geflossenen dichterischen und denkerischen Einzeläußerungen vermissen zu
lassen, besitzen wir nunmehr in Qundolfs »Goethe«. Das Kennzeichnende dieses
Buches ist die auf jeder Seite zum unverblaßten Ausdruck kommende Unmittelbar-
keit der Stellungnahme, bedingt durch ein starkes Gefühl des Dichterischen, ge-
hoben durch eine lebhafte Idee von Geistigkeit und naturhafter Menschlichkeit, ge-
lenkt durch vertiefte bildungsgeschichtliche Erfahrungen. Der Verfasser spricht als
Literarhistoriker, aber er sucht weder äußerlich noch innerlich engeren Anschluß
an die literarhistorische Goetheforschung, von deren Beruf er nicht eben hoch denkt.
Aber auch wer sich getroffen fühlt, wessen besondere Interessen hier nicht befriedigt
werden, wer mit Forderungen an das Buch herangeht, die dieses entweder nicht
befriedigen will oder kann, oder wer von einem andern Standpunkte aus kritische
Vorbehalte zu äußern gezwungen ist, wird das neue Buch Qundolfs als ein geistes-
geschichtliches Ereignis bezeichnen müssen, wichtig genug, um dieses dem gesamten
Verlauf der bisherigen Goethestudien gegenüberzustellen, um alle Erwartungen
wachzurufen, die sich an die Darstellung der stärksten geistigen Wirksamkeit für
ein Kulturbewußtsein knüpfen, das gegen exemplarische Persönlichkeiten nicht
gleichgültig ist und über die Bedeutung des Klassischen ins klare zu konimen
sucht. Es ist nicht wahrscheinlich, daß nach Gundolfs Buch in absehbarer Zeit
der Versuch gewagt werden wird, ein neues Qoethebild aufzustellen. Schon heute
ist das Buch als ein geschichtlicher Machtfaktor zu betrachten, der nicht bloß auf
die Goetheauffassung der nächsten Generationen bestimmend einwirken wird. Da-
mit ist auch für die Aussichten, die sich einer zustimmenden oder ablehnenden
Kritik, Einwänden oder Weiterführungen eröffnen, der Rahmen abgesteckt. Auf
der andern Seite hat die heutige Kritik, die sich ihrer Aufgabe bewußt bleibt, allen
Anlaß, die eine Gunst ihrer Situation auszunutzen: nämlich Verfahren und Erfolg
mit demjenigen Maß von natürlich gegebener Unbefangenheit zu würdigen, das
spätere, unter der Wirkung des Werkes aufgewachsene Beurteiler sich erst durch um-
ständliche Methodik erringen müssen.
Gegenüber einer Gewohnheit, die auch bei der Würdigung einer Leistung des
künstlerischen und geschichtlichen Verstehens die Frage nach dem Grunderlebnis
des Verfassers in den Vordergrund zu rücken liebt, muß betont werden, daß eine
solche Einstellung teils auf das Selbstverständliche, teils auf das Unausdrückbare
trifft, dagegen an Bedingungen, die für das Zustandekommen des Geleisteten
wesentlich sind, vorbeigeht. Außerdem gibt der Erlebnisbegriff, wie wir ihn in der
literarhistorischen und philosophischen Literatur angewendet finden, dem Divinato-
rischen zu wenig Raum — aber ganz hiervon abgesehen: selbst dem bekenntnis-
freudigsten Darsteller ist — bei einiger Selbstkritik — der wichtigste Zweck nicht
BESPRECHUNGEN. 199
die Kundgabe seiner Erlebnisse, sondern die Begründung einer, mit dem alten
Schlosser zu reden, »freien Ansicht« der Persöniichi<eit, der seine Darstellung gilt.
Mag er als Kritiker sich zu dem einzelnen Werk oder als Historiker zu einem
größeren Zusammenhang von Werken und andern Lebensäußerungen in Beziehung
setzen, die »freie Ansicht« ist nicht das zwangsläufig sich einstellende Resultat des
»reinen Erlebens« ; sondern es kommt zustande durch den Zutritt eines konstruk-
tiven Elements, und meist ist es gerade dieses, was die neu begründete Anschauung
wertvoll und bedeutsam macht. Schillers Oeburtstagsbrief vom 28. August 1794, die
Fragmente der jungen Romantiker, Wilhelm v. Humboldts Rezension des zweiten
römischen Aufenthalts und sein Nachruf im 18. Kunstvereinsbericht, die gelegent-
lichen Aussprüche Hegels und Schopenhauers — alle diese Zeugnisse einer starken
Anschauung und eines tiefen Erlebens von Goethes Wesen und Werk, die den
Grund zu unserer Oemeinüberzeugung gelegt haben, weisen solche konstruktiven
Züge auf, Synthesen des Erlebnisinhalts und der den Erlebenden eigentümlichen
geistesgeschichtlichen Tendenzen. Nicht bloß die von einem Systemgedanken be-
herrschten Philosophen von Hegel bis Simmel, auch Betrachter von der Art Viktor
Hehns und Herman Grimms haben ihr Goetheerlebnis in den Zusammenhang
ihrer bildungstheoretischen Interessen einzugliedern gestrebt, der eine als Kultur-
historiker der Formen des Menschenlebens, der andere als Typologe repräsentativer
Individualitäten, und jene berühmte Leistung Schillers, die Goethe selbst als das
Ziehen der Summe seiner Existenz bezeichnet und begrüßt hat, ist in Wirklichkeit
eine Einstellung dieser Summe als Posten in Schillers eigene Rechnung. Der Ein-
druck, den Schiller mit dieser Umschreibung des Goethischen Wesens, dieser For-
mulierung von Goethes Aufgabe auf diesen und die Anschauung der Nachwelt her-
vorgerufen hat, beruht mindestens ebensosehr wie auf den objektiv erfaßten
Wesenselementen auf der Anregungskraft der aus Schillers eigenem Kulturbewußt-
sein erwachsenen, die Bildungsinteressen mehrerer Generationen fesselnden Ge-
staltungselemente.
Wie Schiller das Dasein Goethes in dem Problem, »unter nordischem Himmel
ein Grieche zu werden,« gipfeln ließ, wie für die Romantiker der »Statthalter des
poetischen Geistes auf Erden«, wie für Viktor Hehn der Gestalter der Naturformen
des Menschenlebens« eine übergreifende Bedeutsamkeit gewann, die das objektiv
Erfaßte in einen erleuchtenden Zusammenhang setzte, durch welche die allgemeinen
Ideen von Kunst, Natur, Welt und Geschichte neugestaltet wurden, so ist es auch
Gundolf gelungen, in der Erscheinung Goethes einen bedeutenden Grundzug her-
vortreten zu lassen, der gleichzeitig den vielfältigen Einzelerfahrungen einen einheit-
lichen Sinn gibt, eine menschheitsgeschichtliche Perspektive öffnet und ein tieferes
Bildungsinteresse unserer Gegenwart berührt.
Es ist dies die Auffassung Goethes als des großen dichterischen Menschen,
dem es bestimmt war, in einer undichterischen Weltepoche zu leben, im bürger-
lichen Zeitalter, während es Shakespeare beschieden war, in einer Periode zu
wirken, groß, heroisch, ritteriich und gefähriich genug, um sich von der sittigen
Bürgerwelt als mythischer Hintergrund abzuheben.
In Shakespeare sieht Gundolf den letzten und einzigen Dichter, der schon und
noch innerhalb der modernen bürgerlichen Welt das heroische Pathos gerettet,
lebendig und leibhaft gezeigt hatte, nicht als rückblickende Romantik, sondern als
selbstverständliche gegenwärtige Haltung, nicht als pittoreske Theatergeste, sondern
als unmittelbare Sprache des Herzens. Wenn in Goethe das dichterische Leben
nicht als selbstverständliche Haltung, sondern als Konflikt der fühlenden Einzel-
natur mit einer versagenden Gesellschaft zum Ausdruck kommt, so ist dies nach
200 BESPRECHUNGEN.
Gundolfs Ansicht nicht weniger in der geschichtlichen Lage als in der individuellen
Organisation, für die genügend Selbstzeugnisse vorliegen, zu begründen. Damit
wäre jedoch nur eine Anlage umschrieben, wie sie zahllosen modernen Naturen
innerhalb und außerhalb des dichterischen Lebenskreises eignet. Das Entscheidende
ist der Ausweg, den Goethe gefunden hat, und es darf vielleicht als stärkste Leistung
des Gundolfschen Buches angesehen werden, daß er die Größe des Opfers, das
dieser Ausweg bedeutet, mit allen Konsequenzen zu begreifen sucht. Goethes
Leben, das mit dem Anspruch auf völlige Auswirkung seiner selbst um jeden Preis
bis zum heroischen oder tragischen Untergang anhebt, schließt mit dem Verzicht
zugunsten der begrenzten aber menschlich nutzbaren Auswirkung.
Die Feststellung dieses Verzichtes will nicht besagen, daß wir an Goethes
Werk und Leben etwas zu vermissen haben, sondern nur, daß es seiner
eigenen ursprünglichen Idee vom Erreichbaren, die einen Verzicht ausschloß,
nicht genügte.
Inhaltlich bestimmt wrird dieser Verzicht als Aufgeben des jugendlichen Titanen-
traumes, als Anerkennung der von Natur und Gesellschaft gesetzten Grenzen zum
Zwecke der Sicherung und Rettung der persönlichen Existenz. Daß er die tiefste,
den Gehalt des ganzen Daseins durchströmende innere tragische Erfahrung Goethes
bedeutet, sucht Qundolf an dem Abschluß des Faust und des Wilhelm Meister
klarzulegen und an dem Verhalten Goethes zu Persönlichkeiten wie Napoleon und
Byron. Dem dämonischen Kaiser und dem dämonischen Lord neidete Goethe >mit
einer Art erhabenen Neides« die Freiheit und den Zwang, die prometheisch-cäsa-
rische Bahn zu durchstürmen bis zum heroisch-tragischen Untergang. In ihnen be-
grüßte der Weimaraner Weltbetrachter, verwurzelt in einer bürgerlichen Welt, die
er überragte, Boten aus der Urheimat der Dichtung jenseits aller Bürgerwelt, die
ihre volle Freiheit mitten im modernen Dasein bewahren durften.
Diese Auffassung von der »Entsagung«, die das tatsächlich Vollbrachte als
durch das Opfer noch größerer Vollbringungen dem Schicksal abgekauft ansieht,
geht hinaus ebenso über die harmonisierende Lehre Simmeis, der die Resignation
in den positiven Sinn des Goethischen Lebens und dessen ursprünglich gesetzlichen
Plan hineingehören läßt, wie über den Einfall Chamberlains, in einer nicht näher
bestimmten Steigerung, die Goethe mit der Idee seiner selbst vorgenommen haben
soll, dessen wahre Größe zu bewundern. Hier handelt es sich wirklich, was
Simmel bestreitet, um eine vom Schicksal aufgedrängte Verkürzung der Lebens-
expansion, um einen dem Selbst abgerungenen Entschluß, nicht bis ans Ende zu
gehen, und es ist durchaus nicht unstatthaft, wenn Oundolf die Schatten Shake-
speares und Dantes anruft, die in die tragische Hölle eingedrungen sind, auch
ohne die Gewißheit, wieder heil herauszukommen.
Zu den Voraussetzungen einer Betrachtung, die in der Idee des Verzichtes den
Schlüssel zum Verständnis von Goethes dichterischer und menschlicher Entwicklung
findet, gehört — neben der Neigung, die Möglichkeit der reinen dichterischen
Existenz an eine bestimmte Kulturstufe zu binden — eine entschiedene Stellung-
nahme für das Dionysische und gegen das Apollinische, die sich der Diskussion
entzieht. Von ähnlichen Gesichtspunkten aus, auf Grund der gleichen Empfindungs-
weise ist schon öfter, bereits in den späteren Phasen der Romantik, im Zusammen-
hang mit der jungdeutschen Bewegung und dann unter der unmittelbaren Einwir-
kung Nietzsches der Versuch einer Auseinandersetzung mit Goethe unternommen
worden, wobei die Dichtung und Lebensanschauung des jungen Goethe ausschließ-
lich positiv bewertet, alles Spätere als Abfall, Erkalten oder Niedergang empfunden
wurde. Gundolf unterscheidet sich von diesen Wertungen trotz mancher Ähnlich-
BESPRECHUNGEN. 201
keit des Ausgangspunktes und vieler Berührungen in der Stellungnahme doch von
Grund auf durch eine abweichende Gesamthaltung. Ihm liegt nichts ferner als
die Gesamterscheinung herabdrücken zu wollen. Er bringt für die Wahlverwandt-
schaften nicht weniger Bewunderung auf als für den Urmeister. Wenn er nun dar-
legt, wie aus dem leidenschaftlich drängenden, dämonisch getriebenen und schöpfe-
risch strebenden der durch Tätigkeit, Schau, Forschung und Erfahrung sich bildende
Goethe entsteht und zur Erkenntnis der überpersönlichen Natur- und Schicksals-
gesetze fortgeht, wenn er die Wandlung als Ȁhritt vom geistig-sinnlichen Schauen
zum vernünftigen Begreifen« bezeichnet, als Fortschreiten vom Eindruck zur Gestalt
und von der Gestalt zum Gesetz, so hat er kaum nötig, sich dagegen zu verwahren,
den Ausdruck Fortschreiten irgendwie wertend gemeint zu haben, besonders ange-
sichts der Tatsache, daß damit die Entwicklung einer Dichternatur gekennzeichnet
werden soll. Vielmehr erwächst aus diesen ohne Emphase vorgebrachten Feststel-
lungen wie aus den ohne werfende Absicht gewählten charakterisierenden Bei-
wörtern doch der Eindruck, daß eigentlich nur der Lebenszustand und der Schaffens-
prozeß des jungen Goethe die Anschauungen, die Gundolf vom Dichterischen hat,
erfüllt, und daß der Greis nur in vereinzelten, an tragische Selbstzerstörung grenzen-
den Momenten zum wirklich dichterischen Dasein erglüht.
Es bedeutet immer eine Schwierigkeit für einen Biographen, wenn sein Held
in späteren Entwicklungsstadien keine Steigerung derjenigen Eigenschaften offen-
bart, auf denen seine ursprüngliche Sendung beruht, oder wenn er gar Wandlungen
anheimfällt, die ihm die persönliche Anteilnahme des Darstellers nicht mehr be-
wahren. Gundolfs Interesse für den reinen Dichtermenschen ist zu stark, als daß
auch die höchsten restlichen Lebensmomente der praktischen Weltweisheit, der
metaphysischen Erleuchtung, der Überlegenheit der Bildung, ja die ganze vollendete
JVlenschlichkeit des Olympiers ihn dafür entschädigen könnte, daß der lyrische
Durchbruch des unmittelbaren Lebens zur Sprache immer mehr zurücktritt. Es
handelt sich um Schwererwiegendes als um die allgemeine Erfahrung, daß die
Kundgebungen des Fertigen weniger reizen als die Zeugnisse des Werdenden, und
es ist interessant, von hier aus einen Blick auf Diltheys Auffassung zu werfen, der
eine ähnlich gegliederte Entwicklung statuiert, aber diese ganz verschieden be-
wertet. Dilthey sieht in der Festigung der bürgerlichen Ordnung ein günstiges
IVloment für die Persönlichkeitsentfaltung, er sieht in der Schicht von Nachdenken,
die sich immer breiter über die dichterische Existenz lagert, den mütterlichen Boden,
aus dem die große Dichtung erwächst, er bezieht Goethe in eine Epoche der
großen deutschen Dichtung ein und diese Epoche wieder in die große europäische
Geistesbewegung, durch welche die Autonomie der menschlichen Vernunft begründet
worden ist. Den Gegensatz dieser dichterischen Entwicklung zu der anderer
europäischer Völker, die das Zeitalter der Phantasie erfüllte und in die Anfänge
des wissenschaftlichen Zeitalters hineinreicht, verschweigt Dilthey durchaus nicht,
aber er ist weit entfernt, die deutsche Entwicklung deswegen auch in ihren rein
dichterischen Tendenzen geringer zu bewerten, wenn er auch hervorhebt, wieviel
schwieriger ihr Weg gewesen ist. So kann er in dem Aufhören des Titanismus
keine Beeinträchtigung der ursprünglichen Lebensenergien erblicken. Für ihn ist
der greise Goethe kein Verzichtender. Er sieht ihn leben im vollen Bewußtsein
seiner Persönlichkeit, die ihres Wertes ganz sicher geworden ist, in der Hingabe
an breite Lebenserfahrungen, die er mit Behagen genießt, im Umgang mit den
großen Menschen aller Zeiten, eine Vollendung im Wachsen und Ausweiten, nicht
in Entsagung und durch Opfer erkauft. Dilthey konnte auf der Grundlage dieser
Anschauungen mit einer gewissen Genugtuung die Dichtergabe als nur eine, wenn
202 BESPRECHUNGEN.
auch höchste Manifestation einer schaffenden Gewalt ansehen und sich des Zu-
sammenhanges von Leben, Bilden und Dichten erfreuen, dessen Grund für ihn im
wissenschaftlichen Studium liegt, dessen Ergebnis er als Wahrheit, reine Natürlich-
keit, unbefangene Auslegung unseres Daseins anspricht.
Es ist überflüssig und würde eher verdunkelnd als fördernd wirken, wenn man
die Ansicht Diltheys, die als eine gesteigerte Vertretung der wissenschaftlichen
Gemeinüberzeugung bezeichnet werden darf, oder die Gundolfs, die einer von
bedeutenden und sich ihres Gegensatzes zum antik-romanischen Wesen bewußten
Repräsentanten des deutschen Geistes angenommenen Haltung eine neue Wendung
gibt, auf ihre dokumentarische Richtigkeit untersuchen wollte. Die bloße Gegen-
überstellung genügt, Recht und Grenzen der von Oundolf vorgetragenen Auffassung
zu erweisen. Weiter wird aber hierdurch klar, daß es sich für Gundolf um mehr
handelt als bloß um die Lösung einer darstellerischen Aufgabe, wenn er die aus
dem Zusammenströmen dieser auch von ihm voll gewürdigten gesteigerten
Lebensmomente sich ergebende und in dem gesonderten Hervortreten jedes
einzelnen Lebensmomentes sich offenbarende Größe der Erscheinung faßbar zu
machen sucht.
Das Hinstreben zum Zentrum der Goethischen Persönlichkeit erfolgt hier nicht
unter Verzicht auf die Auseinandersetzung mit den einzelnen Werken. Vielmehr
wird Goethes Wesen und Bildungsgesetz, seine geschichtliche Größe und seine
überzeitliche Bedeutsamkeit begriffen mitten im Klarwerden über seine geistigen
Schöpfungen. Das Verstehen der dichterischen Gebilde steigert die Auffassung der
schöpferischen Individualität und empfängt seinerseits Halt, Richtung und Maßstab
aus dieser. Selbst in den Partien, wo ein Zurücktreten weniger der dichterischen
Kraft als des dichterischen Weltverhältnisses festgestellt wird, bleibt Gleichgewicht
und Zusammenhang zwischen der Erfassung der konkret vorliegenden Produkte
mit der Vergegenwärtigung des Seelenzustandes und des Lebensplanes gewahrt.
So fließt die Darstellung Gundolfs aus einem einheitlichen, sich ständig erneuern-
den Prozeß, der etwa bei Chamberlain völlig erstarrt und zerschnitzelt, bei Simmel
in erlebnishafte Voraussetzung und sinngebende Fortführung gespalten erscheint.
Diesem Verfahren dankt Gundolf die Möglichkeit, einen sicheren, kräftig betonten
Standpunkt jenem Problem gegenüber zu gewinnen, in welchem sich die all-
gemeinen Grundfragen des geschichtlichen Verständnisses und der künstlerischen
Auffassung begegnen und verwirren: der Frage, wie das Verhältnis, in dem
die dichterische Persönlichkeit und das dichterische Werk zueinander stehen, zu
fassen sei.
Die Entscheidung dieser Frage ist letzten Endes bestimmend für die Anlage,
Form und den Inhalt der ganzen Darstellung. Wer glaubt, es genüge, einen mehr
oder minder lebhaften und ausgestalteten Gesamteindruck der einzelnen Werke mit
einer tatsachengetreuen Verarbeitung des urkundlichen Materials über die empirischen
Lebensdaten zusammenzufügen, der wird in der absterbenden Form der herkömm-
lichen Dichterbiographie befangen bleiben. Gundolf sieht in Goethes Werken und
Taten Symbole des Goethischen Ichs, während für andere große Menschen ihr Zu-
stand, ihr ganzes Sein nur Sinn hatte als Träger ihrer Taten und Werke. Mehr als
irgend ein früherer Dichter ist Goethe selbst der Gegenstand seiner Sprachdenkmale,
weil er, sein Ich als Offenbarung des göttlichen Lebens empfindend, selbst die
Weihe dessen, was in seinem Innern Ereignis wurde, gespürt hat. Gundolf ver-
mag keinen Wesensunterschied zwischen Goethes Erlebnis und Goethes Produktion
anzuerkennen. Leben und Werk sind ihm Attribute einer Substanz. Das Werk ist
nicht Auslösung, Abbildung, Eriäuterung des Lebens, sondern Ausdruck, Gestalt,
I
BESPRECHUNGEN. 203
Form dieses Lebens selbst, das Werk gehört mit allen übrigen das Dasein und
Wirken ausmachenden Lebensakten ein und derselben Schicht an, ist nicht aus
diesen abzuleiten. Was man gemeinhin das Leben eines Künstlers nennt, ist
bereits von vornherein getaucht in seine Kunst, und keine Lebenstatsache kann für
sich isoliert betrachtet, ja nicht einmal wirklich erkannt werden.
Wenn nun hiernach Oundolf es als Aufgabe des Literarhistorikers ansieht,
jeden Lebensnioment Goethes als Stufe von Goethes gesamter Existenz zu be-
trachten und ihn als Ursache, Stoff oder Gehalt seines Schaffens zu erforschen, so
lenkt er damit zurück in jenen Kreis von Problemen, die wir als das Verhältnis
von Erlebnis und Dichtung zu bezeichnen gewohnt sind.
Schon Dilthey hat in seinem wissenschaftsgeschichtlich so folgenreichen Auf-
satze über Goethe und die dichterische Phantasie, der die wichtigste Formulierung
seiner Gedanken über diese Frage und damit zugleich die wichtigste Formulierung
dieses Problems überhaupt enthält, das Verfahren des Dichters, der ein persönliches
Erlebnis ausspricht, auf den Strukturzusammenhang zwischen dem Eriebnis und
dem Ausdruck des Erlebten begründet. Dabei hat er sich gegen eine Auslegung
des von ihm bestimmten Grundverhältnisses erklärt, die mit einem Beobachten der
inneren Vorgänge und dem Darstellen des Beobachteten rechnet. Tatsächlich hat
sich die bisherige Forschung, die sich an Dilthey anlehnte, teils in einer Richtung
bewegt, vor der dieser selbst gewarnl hatte, teils hat sie den fruchtbaren, wenn
auch in seiner Tragfähigkeit überschätzten Leitbegriff als Handswerkszeug für gröbere
Arbeiten abgenutzt. Vor allem wurde in der Annahme eines strengen Kausalver-
hältnisses viel Pedanterie, viel Spürsinn und wenig Takt entwickelt. Aber auch wo
wirklich vorwurfsfreie Leistungen der durch Dilthey geleiteten Literaturforschung
vorliegen, bietet der von Gundolf praktisch vertretene Standpunkt ihnen gegenüber
darin etwas grundsätzlich Neues, daß Oundolf es ablehnt, irgend einen Zusammen-
hang von Eriebtem und dichterisch Gestaltetem da zuzugeben oder für belangreich
zu halten, wo sich Analogien des Umrisses zwischen einer anekdotischen Über-
lieferung und dem Gepräge der Charaktere, Schicksale und selbst Episoden im
dichterischen Werke auffinden lassen. Entscheidend sind für ihn vielmehr bestimmte
Modifikationen der Färbung, des Klimas, der Gesinnung, der Gesamtauffassung,
die sich als Ergebnis eines bestimmten Seelenzustandes deuten lassen, den es
wiederum innerhalb des Goethischen Gesamtwesens einzuordnen und abzugrenzen
gilt. Dabei können die Voraussetzungen in einem einzelnen Vorfall liegen und zu
allgemeinen Ergebnissen führen, wie der Hinweis, daß Goethes Schuldbegriff durch
ein Grunderlebnis, seine Untreue an Friederike, geformt worden ist, und daß der
Begriff» der Schuld, wenn wir ihm in Goethes Werken begegnen, mit jenem
tragischen Gefühl gefärbt ist, das dem Dichter aus der Trennung von Friederike
erwuchs. Es kann aber auch ein verhältnismäßig einheitliches Ergebnis aus einer
Vielheit von erlebten Voraussetzungen zustande kommen, wie die Darlegungen
über Stimmung, Raum, Erlebnisart und Gesinnung als Entstehungsbedingungen
der Wahlverwandtschaften zeigen. Schließlich können auch Erlebnisfolge und Oe-
staltungsprozeß, bald fortlaufend, bald aussetzend, unterbrochen und aufgenommen,
sich zu dem denkwürdigen Zusammenhang von Lebensstufenfolge und Lebens-
werk erweitern, wie er bei der Arbeit am Wilhelm Meister und am Faust gleichnis-
haft zutage tritt.
Zur Erfassung und Klariegung solcher feingewirkter Fäden konnte ein starrer,
undifferenzierter Eriebnisbegriff nicht genügen. Bei dem Bestreben, diesen Begriff
durchzubilden, ist Oundolf zu einer wichtigen Unterscheidung zweier Erlebnistypen
gekommen : dem Gegensatz von Urerlebnis und Bildungserlebnis. Unter Ureriebnis
204 BESPRECHUNGEN.
versteht Oundolf Erschütterungen, denen der Mensch kraft seiner inneren Struktur
ausgesetzt ist, also vor allem aus dem Bereich der Erotik, aus dem vitalen Drang
zur Ausbreitung, zur Hingabe, zum Ausströmen seiner schöpferischen Fülle und
dem Willen zur Selbstbehauptung stammende Ereignisse. Als Bildungserlebnis
werden die geistig-geschichtlichen Einflüsse, schon geformte Anschauungen aus
Kunst, Wissenschaft, Religion vorgeführt. Der Nachweis, wie Goethes Urerlebnisse,
wenige an der Zahl, mit immer neuen Bildungserlebnissen gekreuzt, seine gesamte
Produktion bis ins hohe Alter beherrschen, umfaßt eigentlich alles Wesentliche,
was Oundolf über die Abfolge der Ooethischen Lebenszustände und die Reichweite
des Gestaltens zu sagen hat.
In der Zeit des Titanismus empfängt Goethes Bildung Farbe und Richtung von
den Urerlebnissen. Die großen heroischen Entwürfe erhielten ihren Stil aus der
Neuheit des Eindruckes, welchen der Zusammenprall mit der Wirklichkeit auf eine
große Seele üben mußte. Aber ein seltsames Schicksal hat die dramatischen Kon-
zeptionen, in denen Goethe sein titanisches Urerlebnis darstellen wollte, verwandelt
oder verstümmelt werden lassen. Schon im Götz ist das Bildungserlebnis über das
Urerlebnis Herr geworden. Die deutsche Vergangenheit sprach den Dichter stoff-
lich so sehr an, daß aus dem Heroendrama ein Milieudrama geworden ist. Je
mehr Goethe in die großen Bildungswelten hineinwuchs, deren Inhalt die moderne
Geistesgeschichte teils als gestaltetes Vorbild, teils als unmittelbar die Gesinnung
und Anschauung ergreifende Kraft bestimmt, um so stärker wird in Goethes Pro-
duktion und Dasein der Anteil des Bildungserlebnisses im Gegensatz zum Urerlebnis.
Bereits in der ersten Weimarer Zeit ist eine Abwendung von der unbedingten Aus-
sprache, wie sie die Grundkonflikte des jungen Genies erzwungen hatten, zu be-
merken. Die italienische Reise, von Oundolf als ein Glied in den Zusammenhang
der Bildungserlebnisse gestellt und dadurch eine Aufhellung ihres funktionellen
Sinnes erfahrend, bewirkt ein Anwachsen dieser Tendenz, die verursacht ist durch
die ständige Steigerung der Vertrautheit mit der ursprünglich schrofferes Zusammen-
prallen erzeugenden Umwelt. Aber das typische Schicksal Goethes haben wir -nun
darin zu erblicken, daß in allen großen Krisen seines Daseins auch weiterhin ein
Zusammenwirken, eine gegenseitige Durchdringung der äußeren und inneren Fak-
toren erfolgt. Ein starker Bildungseindruck, der bewältigt werden soll, begegnet
sich mit einer Leidenschaft, die eine entsprechende Bereitschaft herstellt. Die Frauen-
gestalten und Freundescharaktere, die in innere Beziehung zu seiner je-
weiligen seelischen Lage treten, geben der Masse seines Innern den Anstoß zur
Kristallisation.
Diese Gunst des Schicksals, daß Bildung und Leidenschaft, Lebensstufe und
Problemgruppe sich immer wieder entsprechen, hat Goethe in den Stand gesetzt,
bei aller Mannigfaltigkeit seiner Stoffe immer nur aus demselben Gehalt zu dichten;
»aus dem Verhältnis seines momentanen Selbst zum bewegten All«, und hier böte
sich die Gelegenheit einer Auseinandersetzung mit jenem Begriff des Gehalts, der
schon so oft aus der Ästhetik vertrieben, immer wieder und gerade neuerdings mit
verstärkter Macht sein Daseinsrecht behauptet, unter dem Gesichtspunkte der Be-
währung des eben dargestellten Goethischen Lebensgesetzes.
Eine solche Auseinandersetzung würde wichtige Selbstbekenntnisse und allge-
meine Betrachtungen Goethes verwerten können, und noch dazu den besonderen
Reiz bieten, von dem Mitgliede eines Kreises zu stammen, den man so oft des
einseitigen Formkultes geziehen, der allerdings den Wert der Form nach verschiedenen,
nicht bloß rein künstlerischen Richtungen hin betont hat, und dessen nächste, nach
außen am leichtesten erkennbare Wirkung auf die deutsche Bildung in einer ent-
BESPRECHUNGEN.
205
schiedenen Opposition gegen die mannigfaltigen formlösenden Tendenzen der Zeit
gesellen werden i<ann. Welche Bedeutung der Qelialt in Oundolfs Anschauungen
innehat, war schon aus seinem Buche über Shakespeare und den deutschen Geist
zu ersehen, in welchem die Erfassung der Form nur als das vorbereitende Stadium
für die Erfassung des Gehalts hingestellt wird. Das Goethebuch ist als Darstellung
einer mächtigen Individualität von vornherein noch In viel höherem Maße auf den
Gehalt gerichtet und offenbart zudem eine bedeutend vergrößerte Breite der Be-
rührung mit den Tatsachen des Lebens. Die Herausarbeitung des Gehalts erfolgt
nun allerdings teilweise im Zusammenhang mit der Feststellung, wie Urerlebnis
und Bildungserlebnis in die Dichtung eingegangen sind, aber Oundolf hat sich
nicht auf eine prinzipielle Klarstellung der Wertkategorie des Gehalts unter diesem
Gesichtspunkte eingelassen, vermutlich weil er die Voraussetzungen hinreichend
entwickelt zu haben glaubte. Daneben hat er aber die Wertfrage auf einem andern
Wege zu bestimmen gesucht, und zwar eigentlich unter Absehung von allen erlebnis-
haften, also irgendwie historisch bestimmbaren oder erschließbaren, der geschicht-
lichen Divination zugänglichen Zügen, mit Hilfe einer in den Bereich des objektiven
Wertes hinübergreifenden Kategorie. Wenn wir dabei bekennen müssen, daß er
gerade hier über ein subjektives Urteil nicht hinausgelangt, so soll das weder
gegen den Objektivismus im allgemeinen noch gegen das besondere Verfahren
Gundolfs etwas besagen, wenigstens nicht im Sinne eines Vorwurfes, kaum eines
Einwandes.
Die Ableitung eines Dichtwerkes aus dem Urerlebnis enthält zwar schon eine
Aussage über den dichterischen Gehalt, bietet aber noch keine Präzisierung der
Wertfrage. Das geschieht erst, wenn Gundolf der Goethischen Dichtung den
Charakter des »Kosmischen« zuspricht, als sinnlich-geistigen, von Sonderzwecken
und äußeren Ansprüchen unabhängigen Ausdrucks autonomen Lebens, als einer
Einheit von Natur, Seele und Schicksal. Hierin sieht Gundolf den durchgreifenden
Unterschied der Erscheinung Goethes, wie Shakespeares und der antiken Dichter
von aller »modernen europäischen dekorativ -psychologisch -naturalistisch -roman-
tischen Literatur von Calderon und Moliere bis zu Balzac, Ibsen und Dostojewskij«.
Der kosmische Schauer erhebt den Werther über das differenzierte Seelengemälde,
die theatralische Sendung über den besten und reichsten Bildungsroman und das
bunteste Gesellschaftsbild, die Braut von Korinth über die stärksten Balladen
Schillers. Diese Heraushebung Goethes aus der gesamten modernen Produktion
korrespondiert gewiß sehr gut mit der Führung der allgemeinsten Umrißiinie der
gesamten Darstellung, die sich auf dem Gegensatz zur bürgeriichen Kultur aufbaut,
aber wir stehen damit nicht mehr konstruktiven Elementen der Anschauung gegen-
über, deren Kraft und Recht in der Bewährung der Betrachtungsweise am Stoff
liegt, sondern subjektiven Aussagen über Erfahrungen des Aufnehmenden, die nicht
weiter gestaltet sind und deren Autorität ausschließlich in der Persönlichkeit des Ver-
fassers begründet ist. Damit ist ihre Bedeutung und ihre Wahrheit noch nicht
bestritten; es hat wenig Sinn, bei dieser Gelegenheit, wo es sich nicht um eine
Geschichte der modernen Literatur, sondern um die Geschichte des Goetheverständ-
nisses handelt, über eine allgemeine Verwahrung hinaus Beifall oder Widerspruch
geltend zu machen.
Nicht ausgesprochen, aber als selbstverständlich wird vorausgesetzt, daß von
den beiden wichtigen Substanzen des dichterischen Gebildes das Urerlebnis allein
eine Beziehung auf das Kosmische hat und da auftritt, wo der Rahmen der bürger-
lichen Welt gesprengt wird, während das Bildungseriebnis den Dichter nicht vor
so schwere Entscheidungen stellt. Schon in der Benennung der Sachverhalte liegt
206 BESPRECHUNGEN.
eine Wertung, die allerdings anfechtbar erscheint, wenn wir Shakespeare und Homer
unter den Bildungserlebnissen aufgeführt sehen. Die Frage drängt sich auf, ob das
Eindringen in die Welt dieser Dichter für Goethe nicht Erlebnisse mit sich brachte,
die so tief seine Existenz aufrührten wie so manche Begegnung, die nach Oundolfs
Meinung Anlaß eines Urerlebnisses wurde. Jedenfalls scheint der von Qundolf
konzipierte Begriff des Bildungserlebnisses auch für die tiefste geistige Fühlung-
nahme nur eine sekundäre Qualität zuzulassen, die der urtümlichen Stärke des Ver-
hältnisses Goethes zu Homer und Shakespeare nicht gerecht wird, so wenig wie
Kleists Kanterlebnis oder Hölderlins Berührung mit der griechischen Qeisteswelt
dadurch erschöpfend charakterisiert wird. Streng genommen ist vielleicht Kleists
Eindringen in die kritische Philosophie, wenn es überhaupt als Fühlungnahme mit
einer geistig-geschichtlichen Macht und nicht eher als ein Akt des Selbstdenkens
aufgefaßt werden darf, nicht ein Urerlebnis, sondern Mittel oder Gelegenheit zu
einem solchen Erlebnis gewesen ; aber Homer und Shakespeare als geistige
Wirklichkeiten treten nicht weniger machtvoll und den ganzen Menschen ergreifend
in das Dasein Goethes wie die lebendige Umwelt, und das Innewerden ihrer Art,
der ihnen zugehörigen Welt und das Aufnehmen der ihrem Dasein entströmenden
Kräfte ist als ein wenn auch anders gefärbtes Urerlebnis, wie Hölderlins Erlebnis
der griechischen Tragiker, wie die liebende oder feindliche Begegnung mit der
Kraft lebendiger Menschen anzusehen.
Die Abneigung gegen den nachgoethischen Alexandrinismus scheint Gundolf
dahin geführt zu haben, dem Verhältnis zu literarisch -geschichtlichen Persön-
lichkeiten den urtümlichen Charakter abzusprechen. Die entschiedene Stellung-
nahme gegen eine andere Richtung der modernen Literatur ist vielleicht der
Anlaß, daß Qundolf das Verhältnis des Dichters zum Stoff allzusehr in den Hinter-
grund schiebt und diese Frage für belanglos erklärt, wogegen nicht nur zahlreiche
Betrachtungen Goethes aus allen seinen Altersstufen angeführt werden könnten,
sondern auch direkte, auf bestimmte Stoffe und Vorgänge seines Dichtens bezüg-
liche Zeugnisse. Gundolf wendet sich gegen die Annahme, daß der junge Goethe
gedichtet habe, wie — nach des Verfassers Ansicht — moderne Dramatiker und
Romanschreiber »Heerschau halten über verschiedene Probleme und Stoffe und
dann das noch relativ Unbehandeltste davon behandeln oder ihm eine neue Seite
abzugewinnen suchen oder eine neue Mischung herstellen«. Gewiß entsteht so
niemals Dichtung. Aber auf Grund dieser Ablehnung übersieht Qundolf bei der
Behandlung der einzelnen Werke die Möglichkeit des naiven Ergriffenwerdens
durch den Reiz oder die Gewalt des Stoffes, oder er wertet dieses Ergriffensein so
gering, daß es ihm niemals als Beruhigungspunkt des Verstehens dienen kann,
oder er findet sich damit durch eine Unterordnung unter den Begriff des Bildungs-
erlebnisses ab. Der Stoff hat für ihn ausschließlich Bedeutung als Symbol der
Grundkonflikte des Dichters, und es gilt ihm, den Punkt auszuspüren, der für das
Erlebnis ein vollkommenes Gleichnis ist. Daher kommt es ihm bei der Betrachtung
der Werke so sehr darauf an, den Charakter der Beichte, des Selbstgerichts, der
Selbstdarstellung, die Projektion aus des Dichters eigenen Stimmungen aufzuzeigen,
daß der Nachweis der Einschmelzung des Ich oft mit dem Erweis der dichterischen
Relevanz zusammenfällt. Der Rest des Gestalteten wird als »konkretes Gestell«
abgetan. Nur gelegentlich der Sendung wird auf die agierenden Gestalten näher
eingegangen, weil dies das einzige Werk sei, in dem die Charaktere sich gegen-
über dem Bekenntnisgehalt verselbständigt hätten und die Menschenbeobachtung
schöpferisch geworden wäre. Weder beim Werther noch beim Faust, den Wahl-
verwandtschaften und Wanderjahren, nicht einmal beim Götz, Egmont, Hermann
BESPRECHUNGEN. 207
und Dorothea gibt üundolf eine primäre Freude am Bilden menschlicher Gestalten
zu. Wieweit bei der Darstellung dichterischer Charaktere Beobachtung mitwirkt,
wieweit künstlerische Werte auf sie zurückzuführen sind, und welchen Wert der
Dichter selbst auf diese Beobachtung legt, hat indessen nichts mit der Frage zu
tun, ob diese Gestalten eine Existenz führen, die von dem Bezüge auf das Erlebnis
des Dichters abgelöst ist. Eine solche Existenz, die nicht mehr ein Gleichnis für
die Konflikte der dichterischen Persönlichkeit ist und auch kaum erschöpft wird
durch die Auffassung symbolischer Repräsentation von Zeitaltern, Nationalcharak-
teren oder Menschheitstypen, haben die Rastignac, Dombey, Raskolnikoff, Löfborg,
Solneß, wie Hamlet und Don Quichotte, und Werther, Dorothea, die Gestalten der
Wahlverwandtschaften, von denen des Faust zu schweigen, nicht minder als Wilhelm
und Philine.
Wie der Dichter bei der Bewältigung von Urerlebnis und Bildungserlebnis zu
verschiedenen Stoffen greift, den einen bevorzugt, von dem andern abläßt, ist ein
Problem, das in den weiten Kreis der Fragen hineingreift, die sich an den Frag-
mentenreichtum des Goethischen Schaffens knüpfen. Gundolf glaubt als ein Gesetz
des Ausleseprozesses annehmen zu dürfen, daß, je stärker und nachhaltiger ein
Urerlebnis sei, um so mehr Bildungselemente das ihm gemäßeste Symbol an sich
ziehe. Gleichsam als ein stärkerer Magnet oder als ein Baum von stärkerem Wachs-
tum entzieht er den geplanten Motiven, worin ein minder kräftiges Urerlebnis sich
ausdrücken möchte, die Bildungssubstanzen, so daß sie verkümmern. So hat die
Iphigenie der Nausikaa Saft und Luft entzogen. Noch öfter zeigt es sich, daß das
Bildungserlebnis, das Milieu, die Atmosphäre, das aus dem Bereich der Bildung
entnommene Motiv nicht ergiebig genug war, um der ganzen Stärke des Urerleb-
nisses zu genügen und zum Symbol auszureichen. So haben Faust oder Götz den
minder adäquaten Sinnbildern des Titanismus, Prometheus, Mahomet, Cäsar Blut
und Luft entzogen, so ist Elpenor neben Tasso und Iphigenie verkümmert. Wenn
auch hier nicht immer klar zwischen gestalteten und ungestalteten Stoffen geschieden
wird und zuweilen ex eventu prophezeit wird, so kann der fruchtbare Kern dieser
Anschauung nicht übersehen werden. Erleuchtende Parallelen ließen sich aus
einem Blick auf Kleists Arbeit am Guiscard und an der Penthesilea gewinnen;
weniger und eher als Gegenbeispiel aus einer Betrachtung von Schillers oder
Hebbels Fragmenten. Übrigens ist gerade auf Grund solcher Untersuchungen sehr
wohl, was Gundolf bestreitet, ein Werden der Gestalten zu beobachten, wie bei
allen Dichtern, die es lieben, Charaktere gleicher Anlage in verschiedenen Werken
und Altersperioden mehrmals in neuem Wurf zu gestalten, besonders Ibsen und
Dostojewski]'. Dagegen bleibt hier die sichere Tatsache der Kontamination ver-
schiedener Modelle, Erlebnisse, Gestalten unberücksichtigt, und auch auf das, was
Dilthey Zerlegung der eigenen Heterogeneität nennt, fällt nur ein Seitenlicht. Daß
in Goethes Altersdichtung das Einzelerlebnis überhaupt nicht mehr die Rolle spielt,
wie in den früheren Perioden, ist Gundolf nicht entgangen. Das Einzelerlebnis, in
der Zeit des Werther, auch noch der Iphigenie, Träger und Schöpfer der Produktion,
geht dann unter in einer allgemeinen großen Gestimnitheit, und es wäre noch die
Frage zu beantworten, ob diese allgemeine Gestimnitheit soviel Tragkraft besitzt
wie das einzelne Erlebnis. Die meisten werden auch die bloße Möglichkeit ver-
neinen, und es ist ja leicht, angesichts eines Produktes, das eine andere Entschei-
dung nahelegt, ein Einzelerlebnis vorauszusetzen.
Mittels einer Auffassungsweise, die durch die hier vorgeführten Grundbegriffe
charakterisiert wird, ist es Gundolf gelungen, nicht nur den Entwicklungsgang des
Goethischen Geistes und die besonderen Zustände, die diese Entwicklung repräsen-
208 BESPRECHUNGEN.
tiefen, In einem stärkeren Grade faßbar zu machen, als es seit Schiller und Hum-
boldt seinen Vorgängern gelungen ist, sondern auch den poetischen Gehalt der
Dichtung in ganz anderer Weise auszuschöpfen. Wenn Gundolf dabei stets vom
Erlebnis ausgeht, so lehnt er doch jeden kausalen Schluß ab und begnügt sich,
über die geistige Struktur, den geschichtlich-biographischen Platz und den seelischen
Sinn Aussagen zu machen. Zu diesem Zweck ist er genötigt und imstande, sich
über Begriffe, Grundfragen und Relationen allgemeinster Art, wie Geist, Sprache,
Form, den einzelnen und die Gesellschaft, die Geschlechter, Schicksal, Jugend und
Alter auszusprechen. Er vollbringt dieses, aus dem Gehalt seines eigenen Daseins
schöpfend, nicht bereitgehaltene allgefrieine Maximen auf einen einzelnen Fall an-
wendend, sondern der Erscheinung hingegeben und in dieser Hingabe sich der
Gesetzlichkeit bewußt werdend. Dadurch hat er dem Begriff des klassischen
iMenschen, den wir so oft als leere Voraussetzung angewendet sehen mußten, einen
positiven Sinn gegeben. Er konnte das nur vollbringen durch eine Darstellung,
deren Umfang an die Ausdauer des Lesers nicht geringe Anforderungen stellt.
Aber — damit lenken wir zu unserem Ausgangspunkt zurück — angesichts des
Zustandes der heutigen Bildung liegt das Entscheidende darin, daß die Gesamt-
auffassung, die in knapperer Form gewiß klarzustellen war, sich in der durch-
geführten Einzelbetrachtung zu bewähren hatte. Gundolfs Buch ist keine Aus-
walzung eines Einfalls, keine Abhetzung einer Methode, es ist ein groß geartetes
Denkmal für den größten deutschen Menschen, unternommen und zu Ende geführt
in einer Gesinnung und mit einer Kraft, deren Vorhandensein uns mit Zuversicht
für unser Volk und Zeitalter erfüllen darf. Es ist eine Ausnahmeleistung, aber die
Literaturwissenschaft würde übel beraten sein, wenn ihre Vertreter sich mit ehrlich
gemeinten Achtungsbezeigungen begnügten und nicht alles daran setzten, das neu
bestimmte Niveau einzuhalten.
Berlin-Grunewald. Hugo Bieber.
Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie. Dritter Band: Die Kunst. Dritte,
neu bearbeitete Auflage. Mit 62 Abbildungen im Text. Alfred Kröner Verlag
in Leipzig, 1919. XII und 624 Seiten.
Eine dritte, neu bearbeitete Auflage des umfangreichen Kunstbandes aus der
Völkerpsychologie! Wahrlich, immer wieder staunenswert sind die geistige Frische
und der nie stockende Fleiß, die Wundt zu dieser — ein Menschenleben weit über-
steigenden — Leistung befähigen. Und wer fände nicht in diesem — man darf
wohl getrost behaupten — international berühmten Werke eine blendende Fülle
reifen Wissens, ruhige Weite des Blickes, meisterliche Erfahrung des Alters, das
zahllose geistige Schätze aufgestapelt hat? Aber keiner Empfehlung bedarf dieses
Buch, das jeder Fachmann kennt, und das Vertreter der verschiedensten Wissens-
zweige als höchste Autorität zu Rate ziehen, wenn sie erkunden wollen, was »die
Psychologie« zu einem bestimmten Problem zu sagen hat.
So gern ich lediglich dem Gefühl der Ehrfurcht Ausdruck liehe; der Kritiker
darf nicht schweigen. Selbstverständlich ist es, daß Wundt — der fast um zwei
Menschenalter die heutige wissenschaftliche Jugend überragt — in vieler Hinsicht
die Dinge anders als diese sieht und ausdeutet. Aber es wäre kleinlich, in einer
Besprechung da einzuhaken. Hier wird der Betrieb der Wissenschaft selbst ent-
scheiden. Wundts Lehren — getragen und beflügeh durch die Autorität seiner Per-
sönlichkeit — überspringen jedoch das Gehege der Fachwissenschaft, die zu selbst-
ständiger Urteilsbildung befähigt ist. Er redet recht eigentlich zur ganzen wissen-
BESPRECHUNGEN. 200
schaftlichen Welt. Da besteht nun die ernste Gefahr, daß jene ein sehr einseitiges,
ja schiefes Bild von der Lage der gegenwärtigen Kunstphilosophie und Kunstpsycho-
logie empfängt. Die gewaltige Bewegung, in der allgemeine Kunstwissenschaft und
historische Kunstdisziplinen begriffen sind, spiegelt sich kaum andeutungsweise bei
Wundt wieder.
Wundt besitzt die fabelhafte Gabe, sich in jede Wissenschaft einzuarbeiten. Er
liest die Hauptwerke, macht sich mit dem Material bekannt und gewinnt bald
Gliederungen, Begründungen und all das, was er als gewiegter Fachpsychologe zu
den Problemen zu sagen hat. Aber die Nachteile bleiben auch nicht aus. Wo die
Beziehungen zu dem betreffenden Wissensgebiet nicht eng genug sind, entsteht nur
eine blasse »Buchgelehrsamkeit«, also eine gerade für die Psychologie durchaus un-
genügende Grundlage. So sind ihm denn auch gelegentlich fast unglaubliche Ent-
gleisungen unterlaufen, wie z. B. Hoernes, Marty und Stumpf nachgewiesen haben.
Und zur Kunst hat Wundt jedenfalls kein inneres Verhältnis. Qundolf würde sagen:
die Kunst ist für Wundt »Bildungserlebnis«, nicht »Urerlebnis«. Keine Psychologie
vermag jenen schlichten Tatbestand des Erlebens zu ersetzen. Wie sehr darum auch
Wundt gegen konstruierendes Verfahren, Reflexion und Intellektualismus eifert, er
selbst wird von diesen Gespenstern bedräut; denn die eigenen Erfahrungen lassen
ihn im Stich oder sind mangelhaft. So leiden viele Ausführungen daran, daß sie
unscharf, verwaschen, richtungslos sind und dann doch wieder eingepreßt in schwer
bewegliche Kategorien. Unwiderleglich offenbart sich, daß Kunstpsychologie und
auch Völkerpsychologie der Kunst schlechterdings unmöglich sind ohne Philosophie
der Kunst, welche die einzelnen Grundbegriffe säubert, klärt und kritisch-systematisch
verankert, und daß keine Exaktheit irgendwie jene Welt von Eriebnissen herbei-
zwingen und aufmeißeln kann, die sich nur jenem erschließt, dessen ganzes Sein
auf Kunst eingestellt ist.
Den Begriff der Kunst faßt Wundt »in jenem weiteren Sinne, der durch den
Zusammenhang des Wortes mit dem Können unmittelbar nahegelegt ist, und bei
dem als Bedingung des bei der Erzeugung eines Kunstwerkes wirksamen Könnens
zugleich ein Wollen vorausgesetzt wird, das in bestimmten, näher zu untersuchenden
Motiven seinen Ursprung nimmt. Bei welchem Punkte dieser Entwicklung ästhetische
Gefühle sich regen, das bleibt aber ebenso an die im Laufe dieser Untersuchung
sich ergebenden Aufschlüsse über die psychologischen Bedingungen des künstlerischen
Handelns und ihrer Wandlungen gebunden, wie die damit eng zusammenhängende
weitere Frage, welcher Art die Beziehungen seien, die das künstlerische Schaffen
mit den übrigen Faktoren des seelischen Lebens und seiner äußeren Betätigungen
verbinden«. Darin liegt gewiß ein weites Entgegenkommen gegenüber den Be-
strebungen einer allgemeinen Kunstwissenschaft, die es ablehnt, den gesamten Sach-
verhalt der Kunst einseitig auf das Ästhetische festnageln zu wollen; aber man muß
doch fragen: wissen wir heute über Begriff und Wesen der Kunst tatsächlich nicht
mehr, als jene mageren Bemerkungen über Können und Wollen künden? und ist
das Verhältnis des Künstlerischen zum Ästhetischen wirklich so unbestimmt, fast
»zufällig« ? oder handelt es sich vielmehr dabei um Differenzen und Typen innerhalb
eines grundsätzlichen Spielraums, um verschiedene Möglichkeiten im Bereich einer
Gesetzlichkeit?
Wundt gibt auch eine nähere Bestimmung: die Phantasie soll die Grundlage
jeder Art künstlerischer Betätigung sein ; und unter Phantasie faßt er alle die seeli-
schen Erscheinungen zusammen, in denen sich eine bildende Tätigkeit offenbart
Ich stimme keineswegs der Wundtschen Psychologie der Phantasie zu; aber be-
wegen wir uns nicht überhaupt in einem etwas eriedigten Zustand der Wissenschaft,
Zeitschr. f. ÄsUietik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 14
210 BESPRECHUNGEN.
wenn wir für künstlerisches Schaffen und Aufnahme der Kunst Phantasie als zentrale
Funktion haftbar machen ? Gewiß, sie gehört hierher ; aber vieles andere nicht minder,
das verdunkelt und vergewaltigt wird durch jene unbewiesene Einheitsformulierung.
Und ebenso scheinen mir Wundts Ausführungen über »Einfühlung« sehr weit hinter
dem zurückzubleiben, was durch Lipps, Volkelt, Geiger und andere bereits erarbeitet
ist Ja, die gesamte Auffassung der heutigen Lage unserer Wissenschaft klingt
überaus sonderbar: »Im Unterschiede von der alten Ästhetik, die im Sinne der
aristotelischen Poetik und getreu der Auffassung, daß die Kunst eine Nachahmung
der Natur sei, in einer nach dem Vorbild der Naturbeschreibung unternommenen
objektiven Analyse des Kunstwerks ihre Aufgabe erschöpft sah, hat die moderne
Ästhetik in wachsendem Maße das Streben entwickelt, das Kunstwerk aus den
geistigen Eigenschaften des Künstlers, und somit aus den allgemeinen, wie aus den
individuellen Gesetzen der künstlerischen Phantasie verstehen zu lernen. Das ist
aber eine von Grund aus psychologische Aufgabe, und es bliebe völlig unverständ-
lich, wie trotzdem noch immer eine rein philosophische Ästhetik existieren könnte,
die ihre über allen solchen Bedingungen persönlichen Schaffens schwebenden Schöa-
heitsbegriffe entwickelt, wenn nicht auch hier noch jene objektive aristotelische Kunst-
auffassung, durch Kant und den Klassizismus in eigentümlicher Weise umgebildet,
ihre Herrschaft bis in unsere Tage erstreckte. In der Kunst selbst aber tritt die
Subjektivität des künstlerischen Schaffens nicht zum wenigsten in der Willkür hervor,
mit der die künstlerische Phantasie gelegentlich an die Stelle der Gesetze der Natur
und der ihnen abgelauschten objektiven Ideale ihre eigenen, unberechenbaren Launen
treten läßt.« Soll man mehr die historische, oder die sachliche Unrichtigkeit dieser
Ausführungen beklagen ? Ich glaube, daß für die Leser dieser Zeitschrift eine Kritik
nicht notwendig ist.
Jedes Werk der bildenden Kunst läßt sich nach Wundt »psychologisch in zwei
Grundbestandteile zerlegen : einen bildhaften und einen ornamentalen. Keiner dieser
Bestandteile kann fehlen«. Die omamentalen Eigenschaften bestehen in den ein-
fachsten Fällen möglicherweise »bloß in der für die künstlerische Wiedergabe ge-
wählten Stellung des Gegenstandes, der besonderen Lage seiner Teile usw. Diese
Erscheinungen sind Grenzfälle, in denen der bildhafte Bestandteil derart überwiegt,
daß der naive Beschauer nur das Bild zu sehen glaubt, während er in Wirklichkeit
nicht minder die ornamentalen Eigenschaften sieht, die dem Objekt von Natur zu-
kommen oder vom Künstler mitgeteilt sind, so daß selbst hier die notwendige Ver-
bindung bildhafter und ornamentaler Bestandteile nicht fehlt-. Die beiden Stilgegen-
sätze, die allen anderen vorausgegangen sind, können als der Stil der geometrischen
und der Stil der organischen Gesetzmäßigkeit unterschieden werden. Jedenfalls sind
das die beiden grundlegenden Stilformen, die völkerpsychologisch deshalb von hervor
ragendem Interesse sind, weil die Anfänge ihrer Sonderung bereits weit in vor-
historische Zeiten und in die primitive Kunst der Naturvölker zurückreichen. Sie
sind es eben, welche eng an jene Grundbestandteile des Bildhaften und des Orna-
mentalen sich anschließen, die aller Kunst von Anfang an eigen sind. Diese Ur-
formen des Stils sind es darum aber auch, die vermöge der offenbaren Allgemein-
gültigkeit ihrer Entstehungsbedingungen auf die Entwicklungsgesetze der bildenden
Kunst Licht zu werfen versprechen.
Ich habe diese Gedankengänge Wundts kurz wiedergegeben, weil sie mir recht
charakteristisch zu sein scheinen. JVlan wird wohl hier von einer eigentlichen psycho-
logischen »Erklärung« nicht sprechen können, sondern eher von einer Annahme,
die zu sehr weitgehenden Hypothesen verarbeitet ist. Jene Annahme ist durchaus
nicht neu. Schon Furtwängler z. B. unterschied zwei ursprüngliche Begabungstypen,
BESPRECHUNGEN. 211
den einen in Richtung auf das Abstrakt-Geometrische, den anderen in Richtung auf
das Organisch-Lebendige. In den Schlagworten »Abstraktion und Einfühlung« ist
dann dieses Problem — besonders durch Worringer und einige jüngere Forscher —
neu gestellt und eingehend behandelt worden. Aber noch anderes spielt bei Wundt
herein: der alte Gegensatz von Form und Inhalt; die Erkenntnis, daß jede Kunst
irgendwie Gestaltung ist usw. Ich kann darin keinen Vorteil erblicken, diese grund-
legenden Fragen vieldeutig zu vereinen. Nur Unklarheit und Verwirrung sind die
Folgen dieses Verfahrens. Und gleich äußerlich scheint mir das gesamte Stilproblem
erfaßt. Es geht doch wahrlich nicht mehr an, die Stilfrage als ein Architekturkapitel
zu behandeln. Alles was Wundt sagt, ist richtig; aber es ritzt kaum die Oberfläche
jener Aufgaben, die durch Wölfflin, Schmarsow, Hamann, Walzel usw. in unaerer
Wissenschaft brennend geworden sind.
Ich will hier abbrechen, um mich nicht weiter zu einem — immer mehr sich
verschärfenden — Widerspruch verleiten zu lassen. Und ich will nur hoffen, daß
der Leser über alles Trennende hinweg nicht den Ausdruck tiefer Verehrung ver-
gessen hat, die auch ich dem JVlanne und seinem Werke zolle. Wundt und seine
Schriften sind heute jedem bekannt; und so soll es auch sein. Warnen wollte ich
lediglich vor der unkritischen Verwertung und Benutzung. Und die Vertreter der
Nachbardisziplinen müssen wissen, daß jedenfalls der Kunstband nicht als Re-
präsentant unserer heutigen Ästhetik, allgemeinen Kunstwissenschaft oder auch nur
der Kunstpsychologie gelten darf. Er ist nach Vorzügen und Mängeln vollständig:
Wilhelm Wundt. Dies ist zugleich Grenzsetzung und Lob.
Rostock. Emil Utitz.
Schriftenverzeichnis für 1918.
Zweite Hälfte.
I. Ästhetik.
1. Geschichte und Allgemeines.
Festschrift, J. Volkelt zum 70. Geburtstag dargebracht von P.Barth, B.Bauch,
E. Bergmann, J. Cohn, M. Dessoir, R. Faickenberg, M. Frischeisen - Köhler,
O. Klemm, A. Köster, F. Krüger, F. R. Lipsius, W. Schmied-Kowarzik, H. Schnei-
der, H. Schwarz, E. Spranger, H. Volkelt, W. Wirth, O. Witkowski, W. Wundt.
Mit einem Bildnis und einem vollständigen Verzeichnis der Schriften Volkelts.
VII, 428 S. gr. 8". München, C H. Beck. 25 M.
Wundt, W., Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgeschichte
von Sprache, Mythus und Sitte. 3. Bd. Die Kunst. 3. neubearbeitete Auflage.
Mit 62 Abbildungen im Text. XII, 624 S. gr. 8°. Leipzig, A. Kröner. 16 M.
Vi seh er. Fr. Jh., Ausgewählte Prosaschriften. Herausgegeben von J. Keyßner
513 S. 8". Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt. Pappbd. 5 M.
Lichtwark, A., Eine Auswahl seiner Schriften. Besorgt von W. Mannhardt. Mit
einer Einlage von K. Scheffler. 2 Bde. XXVIII, 351 u. 453 S. gr. 8». Berlin
1917. Br. Cassirer. Pappbd. 30 M.
Katann, O., Ästhetisch -literarische Arbeiten. Verlagsanst. Tyrolia. Wien-Inns-
bruck-München. 371 S. Broch. 10 M.
Behne, A., Die russische Ästhetik. Sozialistische Monatshefte. 24. Jahrg. 21. u.
22. Heft. S. 894—896.
Bonus, A., Die Bedeutung des Ästhetischen für die Philosophie. Die neue Rund-
schau. 39. Jahrg. 9. Heft. S. 1222-1226.
Zangenberg, Th., Ästhetische Gesichtspunkte in der englischen Ethik des 18. Jahr-
hunderts. III, 88 S. 671. Heft von Manns pädagog. Magazin. Abhandlung vom
Gebiete d. Pädag. u. ihrer Hilfswissensch. 8«. Langensalza, H. Beyer u. Söhne.
1.60 M.
Pfister, O., Wahrheit und Schönheit in der Psychoanalyse. 143 S. Schweizer
Schriften f. allg. Wissen. 6. Heft. Zürich, Rascher u. Cie. 5 M.
Ho eher, F., Objektivierende Kunstkritik. Das deutsche Drama. 1. Jahrg. 3. Heft.
S. 201—207.
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214 SCHRFFTENVERZEICHNIS FÜR 1918.
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Briefen u. 160 Abbildungen. 2. Aufl. 368 S. 8». München, Delphin-Verlag.
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Künstler abseits vom Wege. Zehn Jahre deutscher Kunst in der Provinz.
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Der expressionistische Holzschnitt. 46. Ausstellung. Neue Kunst H. Goltz
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Die Sammlung W. Oumprecht, Berlin. 2 Bde. 33 x 24,5 cm. Berlin, P. Cas-
sirer. München, H. Helbing. Pappbd. 50 M.
1. Die Gemälde. Verzeichnet von E. Plietsch. 88 S. mit 40 Tafeln.
2. Die Bildwerke. Verzeichnet von F. Goldschmidt. — Die kunstgewerblichen
Gegenstände verzeichnet von R. Schmidt. 90 S. mit 51 Tafeln.
Führer durch die kgl. Museen zu Berlin. Herausgeg. von der General-
verwaltung. Die Altertums-Sammlungen des Alten u. Neuen Museums. 15. Aufl.
159 S. mit eingedruckten Grundrissen, kl. 8". Berlin, Georg Reimer. 0.50 M.
Führer durch die kgl. Sammlungen zu Dresden. Herausgeg. von der
Generaldirektion der kgl. Sammlungen für Kunst u. Wissenschaft. 13. Aufl. mit
16 Abbildungen auf Tafeln. XXIV, 340 S. m. eingedr. Plänen, kl. 8". Dresden,
Albanussche Buchdruckerei. Dresden, H. Burdach. 9 M.
Die Kunstdenkmäler des Königr. Bayerns. Herausgeg. im Auftrage des
kgl. bayr. Staatsministeriums des Innern. 3. Bd. Regier.-Bez. Unterfranken u.
Aschaffenburg, herausgeg. von F. Mader. 19. Heft. Lex. 8". München, R. Olden-
bourg in Komm. F. Mader. Stadt Aschaffenburg mit einer historischen Einlage
von H. Ring. Mit zeichnerischen Aufnahmen von G. Lösti. Mit 43 Tafeln, 263 Ab-
bildungen im Text u. einem Lageplan. V, 339 S. Hlwbd. 14 M.
Woermann, K., Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker. 2. neubearb. u.
verm. Aufl. In 6 Bdn. 3. Bd. Lex. 8". Leipzig, Bibliographisches Institut. 3. Die
Kunst der christl. Frühzeit u. des JVUttelalters. Mit 343 Abbildungen im Text,
8 Tafeln in Farbendruck u. 58 Tafeln in Tonätzung u. Holzschn. XVIU, 574 S.
16 M., Hwbd. 18 M.
Karabacek, I. v.. Abendländische Künstler zu Konstantinopel im 15. u. 16. Jahr-
hundert. I. Italiens Künstler am Hofe Mohammeds II. Mit 9 Tafeln u. 55 Text-
bildern. 62. Bd. der Denkschriften der Akad. d. Wissensch. Wien. Phil.-Hist.
Klasse. 1. Abh. Wien, Holder in Komm. 22 M.
Kahn, M., Die Stadtansicht von Würzburg im Wechsel der Jahrhunderte. Mün-
chen, Dunker u. Humblot. Leipzig 1918.
Wald mann, E., Albrecht Dürers Handzeichnungen. Des Dürer-Buches 3. Tl. mit
80 Vollbildern. 57 S. gr. 8". Leipzig, Insel-Verl. Hlwbd. 5 M.
Friedländer, M. J., Dürers Bilddruck. Ein Vortrag gedr. f. d. Mitglieder d. kunst-
hist. Gesellsch. E.V. Nürnberg. 18 S. 8°. Nürnberg, C. Koch. 1 M.
Kahn, R., Die Graphik des Lukas van Leyden. Studien zur Entwicklungsgesch.
der holl. Kunst im 16. Jahrhundert. Mit 18 Lichtdrucktaf. XVll, 146 S.
Zur Kunstgesch. des Auslandes. 118. Heft. 8°. Straßburg, J. H. E. Heitz. 20 M.
Weihnachten in altdeutscher Malerei. 16 Gemälde des 15. u. 16. Jahr-
hunderts in farbiger Wiedergabe mit Einf. von H. Naumann. Furche-Verl.
222 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918.
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662 pp. il. ind. 25/n.
Die Briefe des P.P.Rubens. Übers, u. eingel. von O. Zoff. Kunstverlag
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Herausgeg. von der allgem. Vereinigung für christliche Kunst. Nr. 35. Lex. 8*.
München. Durch O. Maier, Leipzig. Für den Band von 4 Nrn. 4 M., geb. 6.80 M.,
Einzelbd. 1.10 M.
Kehr er, H., Francisco de Zurbarän. Hugo Schmidt, München.
Delphin-Kunstbücher. 3. Folge. 8". München, Delphin-Verlag. Muriilo, Barto-
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von A. L. Mayer. Mit 24 Abbildungen auf Tafeln. 22 S. Pappbd. 0.90 M.
Goya, F., Caprichos. 83 getreue Nachbildungen in Lichtdruck. Herausgeg. von
V. v. Loga. 83 Tafeln mit 11 S. Text. 31 x 20,5 cm. München, H. Schmidt. Leder-
band 480 M. Subskr.-Pr. 380 M.
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hors texte. Paris, H. Laurens. In. -8. de 128 p.
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497 S. gr. 8". Berlin 1919, C. Dunker. 20 M.
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J. W. Heyer. Mit einer Vorrede von Dr. Paul F. .Schmidt. Neu herausgeg. von
R. Schrey. XXIV, XVI, 167 S. 8». Frankfurt a. M., A. Voigtländer-Tetzner. 6 M.
Das Neureuther-Album. Mit 78 Tafeln Abbildungen aus den Briefen Goethes
an Neureuther. Herausgeg. von E. Bredt. 72 Tafeln mit 32 S. Text. 30,5x23 cm.
München, H. Schmidt. Pappbd. 22 M.
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E. W. Bredt. 80 S. 8«. München, H. Schmidt. Pappbd. 2.80 M.
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Segantini, O., Sein Leben und seine Werke. Mit einer Einf. von G. Segantini.
2. Aufl. 53 zum Teil farbigen Tafeln u. 23 S. Text mit eingeklebten Abbildungen.
Lex. 8". München, Photograph. Union. Pappbd. 40 M., Vorzugsausg. 100 M.
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196 S. Mit einem Bildnis u. 84 S. Abbildungen, gr. 8». Beriin, Amsler u. Rut-
hardt. Pappbd. 24 M.
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Dur et, Th., Die Impressionisten. Pissaro, Claude Monet, Sisley, Renoir, Berthe
Morisot, Cezanne, Guillaumin. Volksausg. Mit 65 Abbildungen nach Gemälden,
Zeichnungen, Radierungen der Impressionisten auf Tafeln (eine farbige) und im
Text. 3. Auf. V, 139 S. gr. 8». Beriin, B. Cassirer. Hlwbd. 13 M.
Das Ornamentwerk des Daniel Marot in 264 Lichtdr. nachgebildet. Mit
Text von P.Jessen. Neudr.-Ausg. d. Tafeln. 264 Tafeln. 37 x 27,5 cm. Berlin,
E. Wasmuth. Hlwbd. 132 M.
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1918. 223
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vom Jahre >1000«. Gedr. auf Kosten der kgl. bayr. Akad. der Wissensch. 20 8.
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Ooldschmidt, A., Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und
sächsischen Kaiser.. 8.— 11. Jahrhundert. Bearb. unter Mitw. von P.O. Hübner
u. O. Homburger. Denkmäler der deutschen Kunst. 2. Sektion. Plastik. 4. Abt.
2.Bd. 70Lichtdr.-Tafelnu.42TextiIlustr., Text- U.Tafelbild. V, 77 S. 49 x 38,5 cm.
Berlin, B. Cassirer. In Leinw.-Mappe 170 M., Hlbrbd. 235 M.
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Bayreuth, Seligsberg. 8 M.
8. Neue Zeitschriften und Sammelwerke.
Archiv für Musikwissenschaft. Herausgeg. von Max Seiffert, Joh. Wolf, Max
Schneider. Bückeburg u. Leipzig, Breitkopf u. Härtel.
Zeitschrift für Musikwissenschaft. Herausgeg. von der deutschen Musikgesell-
schaft. Leipzig, Breitkopf u. Härtel. Für Mitglieder d. deutsch. Musikgesellsch.
kostenlos. Einzelhefte 2 M. Erscheint monatlich.
Nyland. Vierteljahrsschrift des Bundes für schöpferische Arbeit. (Fortsetzung der
Quadriga.) Jahrg. 1918/19. 4 Hefte. I.Heft. SOS. gr. 8". Jena, E. Diederichs.
16 M., Einzelheft 4 M.
Eos. Eine Dreimonatsschrift für Dichtung und Kunst. Herausgeg. von Emil Pirchan,
1. Jahr. Oktober 1918 bis September 1919. 4 Hefte. 1. Heft 96 S. mit Abbil-
dungen. 38 X 27,5 cm. Beriin-Wilmersdorf. Die Wende. Ausg. A. (Nr. 1—40)
auf Büttenpapier, Abbildungen auf Japanpapier, 1000 M., Einzelheft 250 M. ; Aus-
gabe B (Nr. 41— 250) Pappbd. 700 M., Einzelheft 175 M.
Berliner Romantik. Eine Vierteljahrsschrift. Herausgeg. von Dr. Kurt Bock.
1. Jahrg. Oktober 1918 bis September 1919. 4 Hefte. 1. Heft. 16 S. gr. 8». Beriin,
Bolle & Pickardt. 3 M.
Der Wächter. Zeitschrift für alle Zweige der Kultur, in Verb, mit dem Eichen-
dorff-Bund. Begr. u. herausgeg. von W. Kosch. 1. Jahrg. 4 Hefte. 1. u. 2. Heft.
120 u. XVI S. mit 1 1 Tafeln u. Musikbeil. Lex. S". München, Veri. Parcus & Co.
12 M., Einzelheft 4 M.
5 '^
VII.
Das ästhetische Naturerlebnis.
Von
Betty M. Heimann.
Natur als ästhetischer Gegenstand ist anscheinend ein Doppeltes:
einmal ein Ganzes, in welches der Mensch gestellt ist, eine Welt, die
ihn umgibt — ein andermal eine Vielheit von Einzeldingen, denen er
gegenübersteht. Wir sprechen von einem ästhetischen Genüsse an
der Natur sowohl dann, wenn wir uns der edlen Bildung einer Rose
freuen, den schlanken Wuciis einer Gazelle bewundern, als auch dann,
wenn wir — losgelöst von den praktischen Interessen des Lebens,
hinausgehoben über seine Alltäglichkeiten ■— uns von dem Zauber des
Waldes einspinnen lassen, in die erhabene Weite und den tönenden
Gesang des Meeres uns verlieren. Nun aber nimmt alles, was zur
Natur gehört, an dieser Doppelheit teil: Umwelt oder Gegenüber sein
zu können. Ais ein Gegenüber ist das Naturwesen — der Kristall,
die Pflanze, das Tier, der Mensch eine selbständige Bildung, die
aus der Natur herausragt und zu gesonderter Beschäftigung mit ihm
auffordert. Es ist ein Einzelnes, ein Einziges und Individuelles, das
seinen Wert und Unwert in sich selber hat, über das wir nicht weiter
hinausfragen, das wir nicht einstellen in einen größeren und um-
fassenderen Zusammenhang. Ebenso kann dasjenige, dem diese Dinge
in anderer Einstellung eingegliedert sind: die Landschaft, auch ihrer-
seits wieder als ein in sich geschlossener selbstgenugsamer Gegen-
stand angesehen werden, als ein Bild, das wir durch das Gezweig der
Waldgesträuche hindurch wie in einem natürlichen Rahmen erblicken,
zu dessen Genüsse wir uns den günstigsten Standpunkt, die richtige
Aussicht wählen. Schließlich kann sogar die ganze Natur, die ganze
Welt als ein Individuum aufgefaßt werden, als Kosmos, der freilich
gar nicht mehr sinnlich, sondern rein intellektuell und gefühlsmäßig
zustande kommt und dessen ästhetischer Charakter insofern fraglich ist.
Oder aber wir begeben uns in die andere Art des Naturerlebens.
Dann werden die Einzelwesen zu Elementen der Umwelt, eingebettet
in die landschaftliche Natur. Ja selbst wenn wir unsere Aufmerksam-
keit einem von ihnen besonders zuwenden, so erhält es nicht mehr
Zeitsclir. f. Ästhetik II. allg. Kunstwissenschaft. XIV. t5
226 BETTY M. HEIMANN.
die frühere Selbständigkeit. Es wird aufgenommen als eine Offenbarung
der Allnatur, an dem sie dieselben schöpferischen Kräfte betätigt, die
sich auch in uns regen, als eine Welle im kontinuierlichem Flusse der
Dinge und des Geschehens, in dem auch wir nur Wellen sind, als ein
Herz, an dem wir nur den Pulsschlag des Allebens um uns her ver-
stärkt und gesammelt verspüren und mit dem uns feine unzerreißbare
Blutgefäße verbinden. All dies natürlich nicht in verstandesmäßiger
Überlegung, sondern in der lebendigen Fülle sinnlichen Ergreifens.
Weiter wird die Landschaft zum Milieu, dem wir zugehören, zur
Totalität, von der wir ein Stück sind, zum Alibeseelten, dem wir uns
verwandt fühlen.
Nun aber besteht dieselbe Zweiheit in unserem Verhältnis zu den
Werken der Kunst. Auch mit ihnen sind wir das eine Mal im tiefsten
Innern eines, gehen in ihnen auf, sind trunken und berauscht von ihnen;
das andere Mal werden wir von ihnen nur leicht und zart bewegt wie
von einem uns Abgeschiedenen und Abgesonderten, so daß wir sie
rings umschreiten, alle ihre Reize genießen, uns mit Kennerschaft in
sie versenken, ohne in ihnen zu versinken.
Die Zugehörigkeit eines Gegenstandes zur Natur im alltäglichen
Sinne oder zum Gebiete der Kunst bestimmt also keineswegs eindeutig
die Art unseres ästhetischen Erlebens; vielmehr unterscheiden sich
naturästhetisches und künstlerisches Aufnehmen äußerer Gegebenheiten
rein erlebnismäßig. Es ist unsere Auffassung, die bestimmt, ob ein
Objekt »Natur« ist oder »Kunst«, wobei natürlich nicht geleugnet
werden soll, daß sich bestimmte Objekte mehr für die eine, andere
für die andere Auffassung eignen und daß sich überhaupt über die
Berechtigung streiten läßt, Naturgegenstände künstlerisch oder Kunst-
werke naturästhetisch auf sich wirken zu lassen. Aber einerlei ob
berechtigt oder nicht: beides geschieht und wir haben deshalb jedes
Erleben eines Kunstgegenstandes erst daraufhin anzusehen, ob es ein
kunstästhetisches ist, ebenso wie jeder Naturgenuß sich als natur-
ästhetisch ausweisen muß.
Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, welche von den
beiden oben kurz gekennzeichneten Erlebnisarten die naturästhetische,
welche die kunstästhetische ist. Über die richtige Weise Kunstwerke
zu erleben, überhaupt künstlerisch zu sehen und zu hören, ist man
sich im allgemeinen klar. Man hat aber die naturästhetische Auffassung
noch nicht genügend von der kunstästhetischen unterschieden; man
hat vielfach Momente, welche dem künstlerischen Auffassen als solchem
angehören, fälschlich auf das naturästhetische übertragen und hat sich
noch nicht Rechenschaft darüber abgelegt, daß beide — abgesehen von
ihrer Verwandtschaft als ästhetischen Erlebnisweisen, d. h. von ihrem
DAS ÄSTHETISCHE NATURERLEBNIS. 227
Gegensatze gegen das praktische, verstandesmäßige, religiöse Ver-
halten usw. — den stärksten Kontrast miteinander bilden.
Das erste und bedeutsamste Merkmal des ästhetischen Natur-
genießens (Naturerlebens, Naturerfassens, all dies hier promiscue ge-
braucht) scheint mir dieses zu sein, daß der Genießende sich als Ein-
heft mit der Natur erlebt. Er muß selber untrennbar zu ihr gehören,
sich unlöslich in sie verwebt fühlen ; nicht aber darf er sich ihr gegen-
überstellen, die zarten Verbindungsfäden zwischen ihr und sich zer-
reißen und sie als etwas Fremdes, außerhalb seiner Stehendes betrachten.
3 Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wieder-
zukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und
Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe,
wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert,
und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht.« Mit diesen
Worten schildert Hyperion sein Naturgefühl dem Freunde Bellarmin.
2>0 selige Natur! . . . Mein ganzes Wesen verstummt und lauscht, wenn
die zarte Welle der Luft mir um die Brust spielt. Verloren ins weite
Blau, blick' ich oft hinauf an den Äther und hinein ins heilige Meer,
und mir ist, als öffnet ein verwandter Geist mir die Arme, als löste
der Schmerz der Einsamkeit sich auf ins Leben der Gottheit. Eines
zu sein mit allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des
Menschen.« — Wer die Natur wahrhaft liebt, der taucht ganz hinein
in ihr heimliches Leben und Weben, der fühlt die Herzen aller Ge-
schöpfe in gleichem Takte mit dem seinen schlagen. Still liegt er da
wie der Knabe in Kellers Gedicht »Lebendig begraben« unter den tief-
hängenden jungen Tannen, über sich in blauer Luft den Adler mit
ausgebreiteten Schwingen, und schaut dem grünen Eidechslein wonnig
zufrieden in seine ernsten braungoldenen Augen. Oder er wirft sich
jauchzend ins weiche Moos, belauscht das emsige geschäftige Treiben
der Käferlein und Würmchen und freut sich der Sonnenwärme, die
ihn und all diese winzigen Kreaturen gleichmäßig belebend umfängt
und durchdringt. »Wenn das liebe Tal um mich dampft . . ., ich dann
im hohen Grase am fallenden Bache liege und näher an der Erde
tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich
das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, un-
ergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem
Herzen fühle und die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem
Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne
schwebend trägt und erhält — « (Werther am 10. Mai).
Die Verschmelzung mit der Natur, das Aufgehen in ihr gelingt
uns nur, wenn wir mit ihr allein sind. : Ich kann nicht dichten wie
du, Günderode, aber ich kann sprechen mit der Natur, wenn ich allein
228 BETTY M. IlElMAiNN.
mit ihr bin; aber es darf niemand hinter mir sein, denn grad das Allein-
sein macht, daß ich mit ihr bin< , schreibt Bettina an ihre Freundin.
Zum Naturgenuß gehört Einsaml<eit. Für Liebende freilich oder sehr
vertraute Freunde mag es bisweilen möglich sein, auch gemeinsam in
jene Stimmung zu geraten, ohne welche das Naturerlebnis nicht statt-
finden kann. Es gibt anderseits eine gewisse Gruppe von Menschen,
deren Anwesenheit unter Umständen, zu denen auch gehört, daß sie
uns persönlich fremd sind, unser inniges Verhältnis zur Natur nicht
beeinträchtigt. Das sind u. a. die Köhler, Holzfäller, Beerensammlerinnen
im Walde, die Fischer und Schiffer am Meere, die Landleute auf dem
Felde, wenn sie in ihrer Erscheinung und Tätigkeit organisch zur
Natur gehören, einen selbstverständlichen Bestandteil der landschaft-
lichen Umgebung bilden. Denn die Störung, welche die Gegen-
wart eines andern Menschen in mein Naturerleben bringt, besteht ja
darin, daß er als ein Fremdkörper in ihr, als ein sich von ihr Ab-
hebendes aufgefaßt wird, daß sein Du die Aufmerksamkeit meines Ich
für sich fordert und von der Natur ablenkt und das Aufgehen meines
Ich in dem großen Du der Natur unmöglich macht. Der Tod des
echten Naturgenusses ist die Gesellschaft, die Geselligkeit; wo sie auf
den Plan tritt, da wird sie sogleich zum herrschenden Gliede des
Ganzen und die Natur verwandelt sich in einen Schauplatz, einen
Hintergrund, anstatt ein Ganzes für sich zu sein. Als Bühne für die
Veranstaltungen, als Treffpunkt für die Begebnisse der Gesellschaft
verliert die Landschaft jedoch nicht nur ihre Selbständigkeit, mit der
sie allein und für sich die Natur darsteUt; sondern das Ganze, dem sie
sich einordnet, ist selbst nicht mehr Natur, freilich auch kein eigent-
liches Kunstwerk, vielmehr ein Drittes, dessen Eigenschaften wir
hier nicht zu untersuchen brauchen. Trotzdem aber spielt die Land-
schaft hier die Rolle eines künstlerisch verwerteten Faktors; dem-
entsprechend ist hier auch stets die Neigung vorhanden, zur tatsäch-
lichen Umgestaltung der Landschaft ihrer Funktion gemäß nach künst-
lerischen Gesichtspunkten vorzuschreiten. Eine Szenerie, welche für
die Geselligkeit bestimmt ist, behält nicht lange ihr natürliches Aus-
sehen, sondern wird ehestens zum Parke, zur Gartenanlage umge-
schaffen.
Diesen Ausgang nimmt leicht jede ästhetische Berührung mit der
Natur, welche nicht rein naturästhetisch ist. Wer die Landschaft wie
ein Bild vor sich liegen sieht, dem er selber als Zuschauer gegenüber-
steht, der kommt schnell dazu, sich auch bildend, umbildend zu ihr zu
verhalten, ganz einfach dadurch daß man an ein Bild bestimmte Forde-
rungen der Einheitlichkeit stellt, der Übereinstimmung mit sich selbst.
So verändert er zunächst in seiner Phantasie einige Linien, er veK
DAS ÄSTHETISCHE NATÜRERLEBNIS. 229
schiebt Baumgruppen, Felspartien ein wenig in seiner Vorstellung; kurz
er sieht in die Landschaft hinein, was er in ihr finden will, was er
darin zu erblicken wünscht. Und diese Tätigkeit der Einbildung geht
natürlich, soweit das möglich ist, gerne in ein wirkliches Tun über.
Man hat oft gesagt, jede Zeit sähe die Natur mit den Augen ihrer
Künstler; so richtig dies ist, so beweist es doch nur, daß wir die
Natur viel weniger naturästhetisch zu erleben gewohnt sind als künst-
lerisch. Wir sind Künstler, wenn wir die Landschaft als Bild sehen,
Künstler aus zweiter Hand in den meisten Fällen, aber in gewissem
Sinne immerhin Künstler. — Aus diesem Gegensätze zwischen natur-
ästhetischem und künstlerischem Erfassen der Natur erklärt es sich
auch, warum so oft der Künstler nicht den echten Naturgenuß kennt
noch der echte Naturfreund den künstlerischen. Der Künstler ist nur
sehr selten dazu geneigt, sich bei dem einfachen Akte zu beruhigen,
der aus dem Gegebenen Natur macht. Er kann nicht auf das bildende
Weiterarbeiten der schöpferischen Kräfte verzichten. Das naturästhetische
Erlebnis wirkt sich wohl aus, aber es läßt sich nicht ausgestalten,
so wenig wie sein Gegenstand, wenn man hier überhaupt noch von
einem Gegenstande sprechen, einen Gegenstand von dem Erlebnisse
abscheiden kann. Der richtige Naturfreund dagegen ist viel zu stark
verknüpft mit dem Naturleben, er fühlt sich — als Jäger, Forstmann,
Wanderer usw. — ihm viel zu sehr zugehörig und verwandt, als daß
er aus ihm heraustreten und sich rein betrachtend dazu verhalten
möchte. Es ist nichts anderes als eine Selbsttäuschung, die Werther
schreiben läßt: >lch bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem
Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter
leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin
nie ein größerer Maler gewesen, als in diesen Augenblicken« (am
10. Mai). Ach nein, Werther ist in diesen Augenblicken durchaus
kein Maler; er unterliegt nur dem allgemeinen Vorurteil, jedes lebhafte
Gefühl der sichtbaren Naturschönheit sei ein malerisches und bestimmt
oder geeignet malerische Kunstwerke aus sich hervorgehen zu lassen! —
Sehr lange Zeit habe ich darüber nachgesonnen, wie es doch zugehe,
daß gerade solche Gegenden, die mir die intensivsten Naturerlebnisse
schenken, mich am wenigsten reizen, sie zu malen und höchstens spär-
liche Ausschnitte, Szenen, Motive darbieten, welche zu künstlerischer
Wiedergabe oder Verarbeitung anregen; während umgekehrt diejenigen
Landschaften, die meine Produktivität unwiderstehlich herauszufordern
pflegen — wie etwa das Bergland des Schweizer Jura — , mir äußerst
selten die Wonnen reinen Naturgenusses geben. Die Lösung dieses
Rätsels liegt in der Verschiedenartigkeit des künstlerischen und des
naturästhetischen Erlebens der Landschaft und ihrer Affinität zu einem
230 BETTY M. HEIMANN.
oder dem andern. Manche Landschaften laden gleichsam selbst den
Maler dazu ein, sich an ihnen zu versuchen; andere dagegen versagen
sich gerne selbst den hartnäckigsten Bemühungen, sie malerisch zu
verwerten. Es mag dies teilweise damit zusammenhängen, daß wir
gewisse Landschaftsformen sehr häufig dargestellt finden, andere nie-
mals oder in verschwindend geringer Anzahl und daß wir daher, sobald
wir jene erblicken, unwillkürlich dazu geführt werden, ein Bild darin
zu sehen, was bei diesen andern nicht geschieht. So groß jedoch der
Anteil der Gewohnheit sein mag, so kann er doch nicht unser Ver-
halten allein erklären; sicher ist, daß die eine Landschaft durch groß-
zügigere Formen, durch die übersichtlichere Gliederung in Vorder- und
Hintergründe, durch eine bestimmte Verteilung ihrer Bestandstücke im
Gelände sich leichter einer bildmäßigen Zusammenfassung durch das
Auge hergibt als die andere. Auch das trägt oft dazu bei, einen Teil
einer »Gegend« zum Bilde zu prädisponieren, daß man ihn von einem
besonderen — erhöht und damit gleichsam außerhalb ihrer liegenden —
Orte, einem sogenannten Aussichtspunkte aus übersehen kann, und
mehr noch, daß eine Lücke im Gemäuer, im Buschwerk, in den Felsen
die Möglichkeit bietet, ihn durch eine vorteilhafte Einfassung aus ihr
herauszuschneiden. Die Trennung, die zwischen uns, unserer Welt
und dem Kunstwerke besteht, die Selbstgenügsamkeit und Abge-
schlossenheit seiner findet Ausdruck und Stütze in der Umrahmung.
Wo daher die Landschaft in irgend einem Rahmen — es mag übrigens
auch ein bloß phantasierter, fingierter sein — erblickt wird, dort ist
ihre Erhöhung und Proklamierung zum Kunstwerke vollendet, dort
wird sie quasi auf ein Postament gestellt und wie eine Bildsäule verehrt.
Wie es also zum echten Naturgenusse gehört, daß ich mit meinem
Gegenstande, mit der Natur eine Einheit bilde, so gehört es ebenso
dazu, daß die Natur selber eine Einheit, ein Ganzes sei; das heißt, daß
ich nicht einen Teil aus ihr heraushebe und mich auf diesen einstelle,
sondern daß mein Gegenstand die ganze Natur sei, kein begrenzter
Ausschnitt aus ihr, sondern sie selbst in ihrer Weite und Unbeschränkt-
heit. Landschaft als > Natur« ist offen, nicht geschlossen; sie hat die
Perspektive der Unendlichkeit. Das Gefühl der Unermeßlichkeit, der
Schrankenlosigkeit der Natur ist ein wesentlicher Bestandteil unseres
Naturgefühls. Daß das Land, die See sich immer mehr ins Weite
dehnt, daß der Horizont vor uns flieht, wenn wir ihm näher schreiten
wollen, daß hinter den Wolken Tiefen sich auftun, deren Boden das
Auge nicht erreicht — ein Wissen von dem allen liegt uns im Blute,
wenn wir auf die Natur gestimmt sind. Ein Gärtchen von Stadtmauern
umschlossen, kann höchstens einen gewissen künstlerischen Reiz be-
sitzen, wenn es gut angelegt ist; es kann uns einzelne Elemente der
DAS ÄSTHETISCHE NATURERLEBNIS. 231
Natur geben. — Grün des Rasens, Jasminduft, Vogelgezwitscher —
Natur gibt es uns nicht. Zum Zauber des Waldes gehört es, daß
sich der Blick in der grüngoldenen Dämmerung verliert, daß das un-
durchdringliche Dunkel des Dickichts uns zu der Annahme verführt,
der Wald höre niemals auf; wir könnten hineingchn — Stunden, Tage,
wir könnten ihn Monde und Jahre durchirren und fänden niemals
wieder heraus. Das ist der verzauberte Wald unserer Märchen.
Sobald wir die jenseitige Grenze eines Waldbestandes sehen können,
sobald wir wissen: er ist in geringer Entfernung von uns zu Ende,
sind wir ernüchtert.
Mit diesem Erleben der Unendlichkeit hängt ein anderer Faktor
unseres Naturgenusses zusammen: das Gefühl für die Wirklichkeit des
Erlebens und des Erlebten. In der Wirklichkeit sind wir immer mitten
darin; aus ihr können wir eigentlich niemals herauskommen. Alles
künstlich Gemachte können wir von außen ansehen ; auch das Unwirk-
liche, bloß Erträumte ist nicht überall, sondern jenseits unserer Welt.
Die seligen Inseln sind weit, weit weg; sie haben Ufer und das Meer
umgibt sie. Auch das Paradies hat noch eine Mauer und wir können
daraus verjagt werden; wir können an die Pforte klopfen und den
Engel mit dem Schwerte vergebens um Einlaß bitten. Nur die Wirk-
lichkeit ist nie zu Ende; sie ist immer da, wo ich bin und folgt mir,
wohin ich gehe. Denn ich selber bin ja die Wirklichkeit, die eindring-
lichste, unerschöpflichste Wirklichkeit. Ich aber bin in der Natur, und
wenn ich sie erlebe, so erlebe ich zugleich auch mich. Für den Natur-
genuß gilt also nicht der weitverbreitete Glaube an die Unwirklichkeit
des ästhetischen Gegenstandes. Im Genüsse einer Bergwanderung,
einer Meerfahrt, im Geschütteltwerden vom Sturm, bei ruhigem Daliegen
im Sonnenlicht saugen wir die Wirklichkeit der Welt durch alle unsere
Poren in uns auf. All unseren Sinnen prägt es sich ein, daß das Wirk-
lichkeit ist, nicht Traum, daß wir es sind, wir hier auf unserer alten
Erde, die so Köstliches erleben dürfen. Wer zum ersten Male ein be-
sonders schönes Fleckchen Erde besucht, vielleicht ein sonnenbeglänztes
sanft geschwungenes südliches Gestade mit See und Bergen, dem
drängt sich seine Begeisterung unwillkürlich in die Worte zusammen :
Wie schön ist die Welt ! Wie herrlich ist das Leben ! — Wie elend, wie
grau und unsäglich nüchtern muß Wirklichkeit für uns sein, wenn
wir uns einbilden, Wirklichkeit sei keine Tonart, in der wir ästhetisch
erleben können, wenn wir vermeinen, was da schön und herrlich sein
solle, das müsse jenseits aller Wirklichkeit liegen. Aber in unserem
alltäglichen Leben, in der Praxis, in der wir allein die Wirklichkeit als
herrschend anerkennen wollen, erleben wir die Wirklichkeit ja gar
nicht; wir erleben allerlei Inhalte, welche sich als zur Wirklichkeit ge-
232 BETTY M. HEIMANN.
hörig erweisen, wenn wir über ihre Herl<unft und ihren Ort nach-
denken. Wirklichkeit als solche erleben wir nicht, nicht das be-
rauschende Bewußtsein unseres Wurzeins und Daseins, unserer Ge-
wißheit und Sicherheit in ihr, unserer Verschwisterung mit ihren
Geschöpfen, nicht die liebevolle Andacht, die uns alles, was wirklich
ist, rein deshalb schon wert und köstlich macht. Es gibt ein tiefes
Ausschöpfen und Genießen der Wirklichkeit, bei dem wir das Häß-
lichste und Geringste, jede Falte, ja jede Warze, jedes Mal und Härchen
in einem alten runzligen Gesicht unendlich viel reizender finden als
die schönsten erdichteten Köpfe. Jene alten deutschen Meister, die ein
Gräschen, ein Hälmchen mit einem Tautropfen, ein armseliges Käferlein
so unendlich bescheiden und innig mit ihrem Pinsel nachbildeten, sie
besaßen diese Versenkung in die Wirklichkeit, der alle Wirklichkeit als
ein Ehrwürdiges gilt. Dieser Geist macht den Realismus« der ger-
manischen Meister aus, ein Realismus, der zugleich der höchste Idealis-
mus, die vollkommene Verklärung des Wirklichen aus der Wirklichkeit
ist. Denn dies Wirkliche ist nicht wirklich ohne Gott. Nirgends viel-
leicht hat sich die fromme Anbetung der göttlichen /überwirklichen« Er-
habenheit zusammen mit dem tiefberuhigten Erfülltsein von der Herrlichkeit
desWirklichen ergreifender ausgesprochen als in den Eingangsworten jenes
alten Gedichtes, das man das Wessobrunner Gebet genannt hat. Das
erfuhr ich unter den Menschen als der Weisheiten größte: da die Erde
nicht war, noch der Himmel oben, nicht Berg noch Baum nicht war,
die Sonne nicht schien, noch der Mond leuchtete, noch der Meersee,
da nichts noch war von Ende und Grenze, da war der eine allmächtige
Gott. In dieser anscheinend fast trockenen Aufzählung der Wirklich-
keiten in der Welt verrät sich dennoch die kräftige Liebe zu ihnen
geradezu überwältigend. In den früheren Zeiten tritt nun allerdings
das Moment der Unendlichkeit der Natur noch ein wenig zurück, ohne
daß es ganz fehlte; überhaupt sind ja die Typen unseres Empfindens,
die wir im Interesse der Erkenntnis aufstellen müssen, niemals ganz
rein verwirklicht, und das reiche vielfältige Leben stellt bald diese, bald
jene Züge in den Vordergrund. So dürfen wir uns denn nicht wundern,
daß in manchen Erscheinungen des Naturempfindens mehr das Gefühl
für die Unendlichkeit des Natürlichen, in andern mehr das Gefühl für
ihre Wirklichkeit, in andern wieder anderes hervortritt. Für jene alten
Meister des Pinsels, von denen wir oben gesprochen haben, und für
ihre Zeitgenossen ist der Charakter der Wirklichkeit der Natur so
wesentlich, daß sie die Gestalt derjenigen Wirklichkeiten annimmt, die
sie in ihrer Umgebung zu sehen gewohnt, mit denen sie vertraut sind.
Da ist die Natur wie ein sauber gefegtes wohlgeordnetes Kämmerlein,
in der Gott die Hausfrau ist, die alles blank geputzt und an seinen
DAS ÄSTHETISCHE NATURERLEBNIS. 233
Ort gestellt hat. Oder sie ist wie ein prächtiges Schatzkästlefn, in das
Gott allerlei blitzende kunstreich geschliffene Steine und zierlich ge-
arbeitete Geschmeide gelegt hat. Oder sie ist wie ein weitläufig und
übersichtlich angelegter Garten, in dem der göttliche Gärtner die Beete
reinlich abgemessen und alle Pflänzlein wohl verteilt hat. Es artet dann
freilich auch diese Auffassung der Natur, wo ihr der Horizont der Un-
endlichkeit gänzlich mangelt, bisweilen in eine mehr kleinbürgerliche
Beschränktheit aus, welche auch nicht den Zauberschlüssel besitzt, der
die Natur uns aufschließt. Im ganzen aber liegt doch hierin, daß die
Natur etwas Vertrautes und Heimisches ist, die Heimat, in der wir
geborgen sind und zu der wir uns immer wieder flüchten können.
Das schließt nicht aus, daß die Natur uns auch gelegentlich das Fremde,
ja das Unheimliche sein mag. Bei aller Einheitlichkeit und Verwandt-
schaft darf doch die Verschmelzung nicht so weit gehen, daß wir nur
uns selbst in der Natur und gar nicht mehr sie selbst in ihrer Eigenart
und Selbständigkeit erleben. Nicht das ist das echte Naturgefühl, das
die Natur zum Echo, zum Spiegel unserer eigenen Stimmungen werden
läßt. Nicht der sentimentale oder elegische Naturgenuß, der eigentlich
nur ein Selbstgenuß ist, ist der richtige, auf den es ankommt. Damit sind
auch die sogenannten lyrischen und romantischen Naturschwärmereien
als unechte Naturliebe gekennzeichnet. Die Gefühle der Sehnsucht,
der Resignation usw. suchen ein Unwirkliches; sie schweifen hinüber
in eine andere Welt. Und wie sie in einem andern Räume sich er-
gehen, so beziehen sie sich auch auf eine andere Zeit. In der Resigna-
tion und der Sehnsucht, sagt Simmel einmal (Lebensanschauung S. 81),
»stellt sich die Seele irgendwie jenseits der Bedingtheiten der Zeit ;
damit bekommen diese Gefühle eine künstlerische Färbung. Wie das
Kunstwerk eine Welt für sich, seinem Orte nach ein Jenseits ist, so
ist es auch ein Jenseits der Zeit; es ist zeitlos, ewig. In dem Natur-
erleben dagegen, in der intensiven Unmittelbarkeit des Lebens sind
wir ganz eingefangen in die Gegenwart. Wie die Natur immer Wirk-
lichkeit ist, so ist sie auch immer Gegenwart, — eine Gegenwart freilich,
die ebenso ihren zeitlichen Unendlichkeitshorizont hat, wie ihre Wirk-
lichkeit den räumlichen, und so gibt es denn in ihr auch ein Indie-
fernestreben, das jenem romantischen Sehnen nach einer andern Welt
zum Verwechseln ähnlich sieht.
Zu dieser Distanzlosigkeit und Gegenwartsumsponnenheit liefert
nun ein neues Moment des ästhetischen Naturerlebnisses einen erheb-
lichen Beifrag; die Teilnahme alier Sinne an ihm. Das Kunstwerk, das
nur einem Sinne zugänglich ist, berührt mit seinem Kreise unsern Lebens-
kreis gleichsam nur in einem Punkte; beide Kreise fallen auseinander.
Der Kreis der Natur hat mit dem unsern viele Punkte gemeinsam, so
234 BETTY M. HEIMANN.
viele, daß beide miteinander zusammenfallen. Alle Sinne vereinigen sich
zur Erzeugung des Naturerlebnisses. Wie ich mit allem und jedem
in der Natur verbunden bin, wie weder ich gegen die Natur noch sie
gegen mich isoliert ist, so ist auch die Weise meines Naturempfindens
keine einseitige, in sich gegen andere Weisen des Empfindens abge-
grenzte. Mein Naturgenuß ist nicht allein auf mein Sehen der Natur
gegründet; die Laute in ihr, das Brausen des Meeres, das Rauschen
der Bäume, das vielstimmige Konzert der Vögel oder auch die hörbare
traumhafte Stille — sie gehören ebensogut mit zu meinem Natur-
genusse wie das Schauen auf die Dinge. Ja, auch der Duft des Waldes
oder der Seegeruch, die kräftige leichte oder dumpfe schwere Luft, die
Tast- und Temperatur- und Raumempfindungen — sie alle sind Ele-
mente meines Naturerlebens.
>Die Wolke seh' ich wandeln und den Fluß,
Es dringt der Sonne goldner Kuß
Mir tief bis ins Geblüt hinein; '
Die Augen, wunderbar berauschet,
Tun als schliefen sie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.»
Mörike, Im Frühling.
Wenn ich mit der ganzen Natur in Einheit leben, in ihr mich ver-
lieren soll, so darf keiner der Wege versperrt sein, auf denen sie in
mich eindringen, kein Tor, durch das ich sie einatmen kann. Eben
dadurch, daß die Natur durch alle Pforten meiner Sinne zu mir kommt,
dadurch wird sie erst selbst zu einer einheitlichen mich überwältigenden
Macht, zu einem Meere, in das ich tauche, in dem ich schwimme. Ja
eigentlich ist es nicht einmal die Gesamtheit der Sinne, durch die
das naturästhetische Erlebnis in mich eindringt, sondern ein zwischen
ihnen sich ausbreitendes gemeinsames Medium der Zuleitung. Natur
ästhetisch erlebt ist nicht mehr Gegenstand, sondern Ele-
ment. »Die sternenhelle Nacht ist nun mein Element geworden«
(Hyperion an Bellarmin). Darum wird auch das Elementarische in der
Natur als das eigentlich Reizende und Wesentliche in ihr gepriesen:
die mütterliche Erde, das weiche spielende oder wild aufrauschende
Wasser, der reine Äther, die göttliche Sonnenwärme, der Sturmwind,
die milde Luft. Ein kindliches Sichhineinschmiegen in so ein um-
fangendes Element ist die wahre Hingabe an die Natur; in ihr wird
die Wonne und Seligkeit des Naturerlebens, wird die Erlösung des
Menschen von allen Lasten und Kümmernissen des Lebens am tiefsten
gefühlt. »Allen drang die mütterliche Luft ans Herz, und hob sie und
zog sie zu sich. Und die Menschen gingen aus ihren Türen heraus,
und fühlten wunderbar das geistige Wehen, wie es leise die zarten
DAS ÄSTHETISCHE NATURERLEBNIS. 235
Haare über die Stirne bewegte, wie es den Lichtstrahl itühlte, und
lösten freundlich ihre Gewänder, um es aufzunehmen an ihre Brust,
atmeten süßer, berührten zärtlicher das leichte klare schmeichelnde
Meer, in dem sie lebten und webten. O Schwester des Geistes, der
feurig mächtig in uns waltet und lebt, heilige Luft! wie schön ists,
daß du, wohin ich wandre, mich geleitest. Allgegenwärtige, Unsterb-
liche !< (Hyperion an Beliarmin). Nicht das Physische des Elementes
ist es also im Grunde allein, was hier ästhetisch erlebt wird, sondern
ein Geistiges und Seelisches, das sich eben nur als Element erfassen,
bezeichnen läßt, und dementsprechend drückt die Mitwirkung aller Sinne
bei der Vermittlung des ästhetischen Naturgenusses ihn nicht in höherem
Grade zu einem rein physischen herab, als es die Vermittlung eines
einzelnen Sinnes dem ästhetischen Kunstgenüsse gegenüber tut.
Natur ist Element, nicht Gestalt, ebenso wie wir selbst — uns in
sie auflösend — unsere Abgeschlossenheit, unsere Gestalthaftigkeit preis-
geben. Wäre Natur Gestalt, so wäre das Zusammenwirken unserer
verschiedenen Sinne zu ihrem Zustandekommen unmöglich. Denn jede
Form, die sichtbare des organischen Gebildes, die hörbare der Melodie
ist nur für einen der Sinne vorhanden, kann nur erzeugt werden da-
durch, daß wir uns auf den Gebrauch eines einzigen unserer Sinnes-
organe beschränken und alle Eindrücke, die uns durch andere Werk-
zeuge der Empfindung zugeleitet werden, als störend ausschalten.
Obwohl aber Natur nicht Gestalt ist, ist sie dennoch ein Werk unseres
Schöpfertums. Es scheint mir ein Irrtum zu sein, anzunehmen, daß
jedes Erzeugnis ein Gebilde sein müsse — so wie umgekehrt
vielleicht auch nicht jedes Gebilde im strengen Sinne ein Erzeugnis
zu sein braucht — , daß Form die einzige Tat sei, die unser Ich an
dem Gegebenen vollbringen könne. Das Gegebene ist als solches
genau so wenig gestaltlos im Sinne der positiven Kontinuität, wie es
gestaltet ist, sich negierend diskret gegen anderes absetzt. Für das
Gegebene ist es ganz gleichgültig, ob wir die Landschaft unendlich
sehen oder endlich, ob wir am Horizonte betonen, daß er den Erd-
boden, das Meer abschließt oder daß er sich nicht fassen läßt, immer
weiter ins Nebelhafte flieht — ob wir den Himmel betrachten als die
gewölbte über die Erde gestülpte Glocke, an dessen Sphären die Ge-
stirne befestigt sind, oder ob wir das Auge hineintauchen lassen, um
einen Ruhepunkt zu finden, und es dann tiefer und tiefer sich verliert
und seines Suchens kein Ende ist. Unendlichkeit ist nicht gegeben.
Unendlichkeit ist ein Licht, das der Geist über die Dinge ausgießt.
Unendlichkeit ist ein Jauchzen und eine Schwermut der Seele. Was
ist denn ästhetische Natur, gefühlte Natur? Doch nicht das Land, dessen
Flächeninhalt der Geometer ausmißt, dessen Ertrag der Landwirt be-
236 BETTY M. HEIMANN.
rechnet, dessen Aussichten als Gelände der Stratege oder der Sports-
mann in Erwägung zieht? Natur ist eine ebenso radikale Transposition
des Gegebenen wie die Kunst, nur in entgegengesetzter Richtung. In
der Kunst heben wir die Form aus der Welt heraus, machen sie zu
einem Selbständigen, verabsolutieren sie; in der Natur erlösen wir die
Weh — und uns — von der Form. Als Schöpfer des Kunstwerkes
sind wir Parmenides, und walten im Reiche des starren unveränder-
lichen Seins, der zeitlos ewigen Form; als Schöpfer der Natur sind
wir der Heraklit, der die Dinge in einen rastlosen Strom, ein dauernd
sich wandelndes Geschehen hineinwirft und alle Einzelheiten in einem
glühenden Schmelztiegel verdampfen läßt. Nun aber glaube ich, daß
die Kunst zuletzt doch die höhere Macht hat und die platonische
Synthese von Ruhe und Bewegung, von Gestalt und Ungestalt vollzieht.
Kunst und Naturgefühl sind in einer ständigen Entwicklung be-
griffen. Die Antike, welche die Grenzenlosigkeit ablehnt, kennt keinen
Naturgenuß in unserem Sinne. Ihre Welt war eine Ordnung, ein
Kosmos, die griechische Landschaft ein begrenzter Bezirk, nur in der
hellsten und zugleich traumhaftesten Stunde des Mittags aus ihrer be-
ruhigenden Umfriedung aufgeschreckt, nur hier von einem tieferen
Schauer berührt. Mit Pan dringt das außerkosmische Chaos, die Un-
endlichkeit ein in diese Welt und macht sie dem klassischen Menschen
unheimlich, während uns gerade dann heimlich, heimisch in ihr zu
Sinne ist. Die Antike erlebt die Natur noch in der Kategorie des
Künstlerischen. Und wie die Natur sich hier noch nicht völlig von
der Kunst gelöst hat, so steht die Kunst noch in der Natur, in der
»gegebenen < Natur, dem gemeinsamen Mutterschoße beider. Sie ist
noch die Verklärung und Erhöhung dieser Natur, ist noch von einem
gegenüberstehenden Sein empfangen, nicht freie Tat eines Ich. Sie ist
als reine Gestaltung einerseits erst noch der volle Gegensatz zu unserem
modernen Naturgefühl und somit ganz Kunst; anderseits aber der
modernen, die Gegensätze in sich begreifenden Kunst gegenüber noch
nicht ganz Kunst. Kunst und Natur sind noch beide vorwiegend Ge-
bilde und darin einander ähnlich; erst als reine Erzeugnisse treten sie
völlig auseinander. Erst wenn Natur als eine besondere Art der
Schöpfung angesehen wird, läßt sie sich in eine Parallele zur Kunst
bringen; erst dann ist Natur nicht mehr ein »als ob«, eine Illusion und
Vorstufe der Kunst, sondern ein eigenes ästhetisches Reich. Erst so
können aber auch die Reiche von Kunst und Natur ineinander hinein-
reichen, können beide ineinander übergehen — weil das Subjekt ihnen
gegenüber auf demselben Niveau bleibt — , kann sich zwischen ihren
Polen eine Skala spannen von mehr oder minder geformten Kunst-
werken, kann Kunst in dem einen Sinne als ein Überbau über beide
IMS ASTHETISCWK NATURÜRLEBNIS. 237
befrachtet werden, während es in einem anderen Sinne das Gebilde
Hervorbringende, der Gegensatz zur Natur ist, und wieder in einem
dritten Sinne das gemeinsame schaffende l'rinzip, das in seine Arten
Kunst und Natur auseinandertritt. Mit dem »Fortschreiten der Kunst
zu einer Produktion, weiche die beiden unmeßliar weit auseinander-
stehenden Gegensätze der modernen Natur und des modernen Kunst-
gebildes, des t art-pour-V art übergreift und in sich begreift, ist na-
türlich nicht gemeint, daß die späteren Kunstwerke besser und wert-
voller sind als die früheren. Trotzdem aber soll mit der Billigung einer
Synthese oder Überwindung der Dualität nicht etwa die eingetretene
Differenzierung auch die Kunst als Gebilde hat sich in ihrer Richtung
entwickelt, nicht nur die Natur als Erzeugnis — verurteilt und ihre
Rückgängigmachung anempfohlen werden. Die Einheit, welche die
Kunst vollbringen soll und in vielen Fällen auch schon vollbracht hat,
ist ganz anderer Art als jene Ungeschiedenheit der antiken Kunst und
Natur.
:» Natur zerstört die Grenzen, löst die Form der Naturdinge; Kunst
enthebt die Form der gegebenen Natur. Aber solange sie die Form
noch aus dem Gegebenen der Natur heraushebt, hält sie sich auch
noch an die Natur, haftet sie noch an ihr. Es ist noch die alte Kunst,
die schöne Kunst, die Kunst des Gegenständlichen, die so tut. Ihr
Gegenstand hat immer schon selber eine Form, obgleich erst die Kunst
sie an ihm erzeugt; es ist immer noch die Form dieses Gegenstandes,
des Menschen, des Tieres usw., die sie ablöst und erlöst. Die moderne
Kunst hat sich nicht nur freigemacht von der Schönheit des Gegen-
standes im Sinne des »Mittleren ;, sondern sie ist auf dem Wege dazu,
sich von seiner Form als einer individuellen gegenständ-
lichen Form zu befreien Sie nimmt gar nichts mehr vom Gegen-
stande auf, sondern schafft frei aus dem Punkt der Intensität, der Inner-
lichkeit heraus. Ihre Form kann die Formlosigkeit in sich schließen,
weil sie nicht mehr gegenständliche Form ist, sondern höhere, über-
gegenständliche Form. Das Gedicht z. B. drückt ja auch das Natur-
gefühl aus, d. h.: erst geschieht die Auflösung aller Naturformen, aller
Gegenstände und ihrer Formen, derjenigen [Formen, zu deren Schöpfung
das Gegebene Anlaß bietet und dann — oder vielmehr zeitlich zu-
gleich - wird diese aufgelöste Welt in eine Form genommen, die gar
nicht mehr gegenständlich ist, sondern rein dem künstlerischen Indivi-
duum entstammt. Zu diesem Verfahren der Dichtung strebt auch die
moderne Malerei und Skulptur. Für die Kunst der Renaissance gilt
noch dasselbe, was für die hellenische Kunst gilt — soweit es über-
haupt »gilt; alle Schemata gelten ja nur mehr oder weniger ange-
nähert. — In derselben Stunde, in der Giordano Bruno das neue Natur-
238
BETTY M. HEIMANN.
gefühl in sich erstehen fühlt, wird jene Kunst des Unendlichen geboren,
die wir die Kunst des Barock nennen; jene Kunst, die in die architek-
tonische und geometrische Form das Schwellende, Bewegte der Natur
aufzunehmen weiß, und für welche die Dinge anfangen, unterzugehen
im Lichte, im Element. Natur als Element wird das Motiv der neuen
Malerei, deren Höhepunkt der Impressionismus ist. Und in den Über-
gang zum Expressionismus fällt die Peripetie dieser modernen Kunst ;
als reines Element wird die Natur zur reinen Stimmung, zur bloßen
Intensität des Gefühls. In dieser Intensität fällt sie zusammen mit dem
innersten Punkte der Subjektivität selber, und jede Kunstwerdung ist
fortan ein Herausgebären aus dieser Subjektivität, eine rein künstlerische
und individuelle Formung. Die Notwendigkeit dieses Umschwunges
bedingt den kritischen Punkt unserer heutigen bildenden Kunst (der
wieder in der Poesie eine hier nicht zu erörternde Parallele hat); ob
diese Krisis in der richtigen Weise überwunden werden wird, d. h.
ob sich der große Künstler finden wird, der die neue Kunst in völlig
überzeugender, nicht mehr anzuzweifelnder Weise Wirklichkeit wird
werden lassen, davon hängt das Schicksal dieser Kunst jetzt ab.
VIII.
über Wertung und Wirkung von Werken
der bildenden Kunst').
Von
Otto Loewi.
Wenn wir Werken der bildenden Kunst gegenübertreten, so wer-
den wir schon im ersten Moment sie scheiden in solche, die uns
gleichgültig sind, und solche, die uns etwas bedeuten. Die Art der
Stellungnahme ist wesentlich abhängig von der Art und, wenn ich so
sagen darf, vom Vorleben des Betrachters. Oft oder vielleicht meist
ist der erste Eindruck nicht oder nicht hauptsächlich bestimmt durch
künstlerische, sondern durch außerkünstlerische Momente; daher ist er
mehr oder weniger gleichzuwerten Geschmacksäußerungen auf ganz
anderen als künstlerischen Gebieten und sagt so oft weniger aus über
den Wert des Kunstwerkes als solchen als über den Wert des
betrachtenden Individuums. Die meisten Betrachter beanspruchen
auch gar nicht Kunstrichter zu sein; es genügt ihnen der Genuß,
gleichviel, ob das Werk Kunstwert besitzt oder nicht.
Nun gibt es aber anderseits viele, die das Bedürfnis haben nach
einem wenn auch nicht allgemeingültigen so doch dem Wesen des
Kunstwerks an sich Rechnung tragenden Werturteil.
Die folgenden Erörterungen sollen daher der Frage gelten:
1. ob und inwieweit ein Werturteil möglich ist und
2. in welchem Verhältnis es zur Wirkung steht.
Es kann meines Erachtens keinem Zweifel unterliegen, daß die
Wertung von Kunstwerken deren besonderem von anderen zu be-
urteilenden Erscheinungen abweichenden Charakter Rechnung tragen
muß; es müssen sich also die Normen ausschließlich oder wesentlich
aus dem besonderen Sinn der künstlerischen Darstellung ableiten
lassen, mit anderen Worten: die Beurteilung des Wertes einer künst-
lerischen Leistung wird sich danach richten müssen, ob diese mehr
oder weniger dem Sinn allen Kunstschaffens entspricht.
') Nach einem Vortrag.
240 OTTO LOEWI.
Was ist nun der Sinn der künstlerischen Darstellung?
Wollen wir nicht von vornherein mit unbeweisbaren Hypothesen
arbeiten, so können wir ihn mit Konrad Fiedler ') nur von der Seite
der Entstehung der Kunstwerke fassen. Ihre Entstehung aber verdanken
die Kunstwerke dem besonderen Bedürfnis und der besonderen Be-
fähigung des Künstlers, das Erleben der Welt, der inneren und der
äußeren, von der Seite der Anschaulichkeit, der Sichtbarkeit zu erfassen,
und zwar ausschließlich von dieser. Die Anschaulichkeit der Dinge
ist nun nicht etwa etwas schlechtweg, mithin für jedermann Gegebenes,
sie entsteht vielmehr erst durch eine besondere Tätigkeit, muß in jedem
einzelnen Fall erst geschaffen werden. Das klingt so ohne weiteres
unglaubhaft und seltsam; man sollte doch glauben, daß jeder, der
Augen hat, auch ein anschauliches Bild der Dinge hat. Bei genauerem
Zusehen werden wir aber gewahr, daß wir gewöhnlich außerordent-
lich wenig von der sichtbaren Erscheinung der Dinge uns zum Be-
wußtsein bringen. Das liegt zunächst an dem, daß wir in der Regel
gar nicht zu dem Zweck schauen, zu dem der Künstler ausschließlich
schaut, nämlich: um ein Bild von den Dingen zu gewinnen; das
Sehen ist in der Regel gar nicht Selbstzweck, sondern dient ganz
anderen, oft z. B. utilitarischen Zwecken. Es ist bekannt, daß wir selbst
von Menschen, mit denen wir dauernd oder oft zusammen sind, nicht
einmal die Augenfarbe wissen und sie erst daraufhin besonders be-
trachten müssen. Aber selbst da, wo wir schauen, nur um ein Bild
zu gewinnen, kommt uns das Geschaute meist nicht in seiner Totalität
zum Bewußtsein, weil wir uns auf Teile des Sichtbaren konzentrieren,
und infolgedessen sind wir auch meist nachträglich außerstande, es
auch nur in der Erinnerung zu reproduzieren; wir glauben dann,
wir haben es vergessen; meist aber haben wir es gar nicht perzipiert
und so können wir es uns auch nicht einprägen. So wissen z. B. die
wenigsten Menschen selbst nach langer Betrachtung eines Figuren-
bildes, was für eine Farbe die darauf dargestellten Kleider haben.
Danach könnte man glauben, daß wir nur die Aufmerksamkeit
auf die Erwerbung eines anschaulichen Bildes zu konzentrieren brauch-
ten, um es zu gewinnen. Weit gefehlt: wir wüßten gar nicht, wie wir
uns dabei anstellen sollten. Was die Sichtbarkeit eines Dinges aus-
macht, sind zahllose Elemente, die wir ohne spezielle künstlerische
Begabung nicht entdecken können, auch wenn wir wollten. Anders
der Künstler: auf dem Wege der Intuition erfaßt er die Elemente, die
in ihrer Verbindung die Dinge erst anschaulich machen; der Künstler
') Konrad Fiedlers Schriften über Kunst. Herausgegeben von Hermann Kon-
nertli. R. Piper und Co., München 1Q13.
ÜBER WERTUNG UND WKKUNG VON WERKEN DER BILDENDEN KUNST. 241
erschafft also die Anschaulichkeit erst, und zwar ist das seine dauernde
Tätigkeit; denn ihm ist ja die Welt nur Erscheinung, und ihr Wesen,
das er sich geistig anzueignen bemüht, beruht ihm ausschließlich in
der Erscheinung, in der sichtbaren Gestalt der Dinge. Hinter die
Fähigkeit und Neigung zu anschaulicher Vorstellung treten alle anderen
menschlichen Interessen an der Welt des Seins zurück.
Diese Dauerproduktion von anschaulichen Vorstellungen durch
den Künstler tritt nun zeitweise in Erscheinung im Kunstwerk; dies
hat jene also zur Voraussetzung und bedeutet zunächst ihre Verdich-
tung zu einer schärferen Fassung oder Formung in einem bestimmten
Fall, die man als inneres Gesicht oder als Idee des Kunstwerkes be-
zeichnen kann. Das Wesentliche und Unterscheidende an der künst-
lerischen Idee gegenüber anderen Ideen ist also die Tatsache, daß sie
anschaulich ist. Wenn der Nichlkünstler sagt: »Ich werde eine Ma-
donna malen«, so bedeutet das nichts; denn er stellt sich irgend etwas
Unanschauliches vor, aber er sieht nichts dabei. Der Künstler aber
sieht die Madonna, die er malen will. Daß die Idee nur dann künst-
lerische Idee ist, wenn sie schon Anschaulichkeit angenommen hat,
gilt übrigens für jede Kunst. Wenn nun das Bild in der Vorstellung
auch schon vorhanden, so ist es doch noch nicht darin voll entwickelt;
dazu gelangt es erst durch einen weiteren Prozeß, nämlich durch die
künstlerische Gestaltung. Das Verhältnis dieser Gestaltung zur Idee
wird hübsch und klar illustriert durch die Bemerkung eines Künstlers,
die ich jüngst bei Hermann Bahr") gelesen habe; er sagte: j^Meine
geistigen Bilder sind so klar, daß, wenn ich nicht zeichnen könnte, ich
sagen würde, daß ich sie zeichnen könnte. Das innere Bild ist also
nicht so klar, daß seine Ausgestaltung zum Kunstwerk nicht noch eine
große Aufgabe wäre; die Gestaltung ist keineswegs nur Anwendung
der Technik, vielmehr auch noch eine weitere Ausarbeitung, Entwick-
lung der Idee; und natürlich bedarf der Künstler dazu der Technik. —
Die Grenze zwischen Idee und Gestaltung ist wohl schwer zu ziehen.
Das Hauptthema der Eroica ist vor Beethoven schon Mozart eingefallen
und Mozart hat daraus die Ouvertüre zu dem anmutigen Stück ^^Bastien
und Bastiennet gemacht. Ist das nur Verschiedenheit der Gestaltung
oder ist nicht die verschiedene Gestaltung Ausdruck und Entwicklung
verschiedener musikalischer Ideen über das gleiche Thema? Wer
wollte das entscheiden?
Schon daraus, daß die Anschaulichkeit der Dinge nicht a priori
gegeben ist, sondern jedesmal neu geschaffen werden muß, geht her-
vor, daß sie verschieden ausfallen muß, je nachdem, was die Phantasie
') Hermann Bahr, Expressionismus. Delphin-Verlag, München 191S.
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Ktinttwissenschaft. XIV. 16
242 OTTO LOEWI.
der einzelnen aus den Wahrnehmungsvorstellungen macht, wie sie sie
verarbeitet; und das ist wieder abhängig von der Art der Persönlich-
keit. Schon der Nichti<ünstler verarbeitet die gleiche Gesichtsempfin-
dung nicht immer zur gleichen Vorstellung; er sieht z. B. mit den
»Augen der Liebe« anders als sonst. Der Dichter Hölty singt: »Röter
blühet Tal und Au, grüner wird der Rasen, wo die Finger meiner Frau
Maienblumen lasen.« Jeder Mensch würde auch das gleiche Vor-
stellungsbild anders gestalten. Das können wir daraus schließen,
daß jeder Mensch eine andere Handschrift schreibt.
Viel gewaltiger sind natürlich die Unterschiede im »Sehen<, d. h.
im geistigen Aufnehmen, und dann im Gestalten der empfangenen
Wahrnehmungsvorstellungen bei verschiedenen Künstlern vermöge der
ihnen eigenen, verschieden anschaulichen Phantasie. Auf die Unter-
schiede im einzelnen kann ich nicht eingehen, weil die Probleme der
Künstlerpsychologie, um die es sich dabei handelt, ungelöst und viel-
leicht unlösbar sind. Nur eines möchte ich herausheben. Die Um-
wandlung einer Gesichtsempfindung durch ein und denselben Künstler
kann verschieden weit gehen. Der Künstler muß ja nicht nur wieder-
geben was er sah, er kann z. B. in der Absicht, einen bestimmten
Eindruck, den er hat, zu verstärken, das, was er sah, noch weiter
umwandeln.
Die hier vorgetragene Auffassung vom Wesen der Kunst, das
also ausschließlich aus der eigentümlichen Veranlagung des Künstlers
abgeleitet wird, genügt allein schon, um die gewaltige Bedeutung, die
die bildende Kunst für unsere geistige Entwicklung besitzt, klar auf-
zuzeigen. Danach ist die Leistung der Kunst für unsere Erfassung
der Welt von ähnlicher Bedeutung wie die der Wissenschaft. Beide
lehren uns die Welt von einer besonderen Seite nehmen; die
Wissenschaft von der Seite der Kausalität, die Kunst von der Seite
der Anschaulichkeit. Anselm Feuerbach gab dem entwickelten Ge-
danken die Prägung: »Die Kunst sieht das Wesen in der Erscheinung,
die Wissenschaft die Erscheinung im Wesen.« Durch die Kunst lernen
wir also die Welt in des Wortes eigenstem Sinn erst »sehen«. Ich
kann natürlich nur an wenigen Beispielen dartun, was wir der Kunst
in diesem Sinn verdanken. Das Sehenlernen erstreckt sich einmal auf
die allen Dingen gemeinsamen Erscheinungsweisen; um nur Grobes
anzuführen, erwähne ich, daß wir linear, plastisch, malerisch sehen
gelernt haben. Es erstreckt sich ferner das Sehenlernen auf das Dar-
gestellte selbst. Und zwar war die Kunst bis auf unsere Tage fast
reine Gegenstandskunst. Gerade um das anschauliche und nur anschau-
liche Wesen des Gegenständlichen uns zu vermitteln, ist die Kunst
unentbehrlich; denn wir pflegen im gewöhnlichen Leben die Gegen-
^
ÜBKR WERTUNG UND WIRKUNG VON WERKEN DER BILDENDEN KUNST. 243
stände fast nie losgelöst von ihrer mehr oder weniger zufälligen Um-
gebung und von anderen unwesentlichen Zutaten zu sehen. Die
Gegenstände erscheinen uns daher in der Regel mehr als beziehungs-
reiche Teile von anderem, denn als selbständige Eigenwesen. Erst
die Kunst macht sie dazu und verleiht ihnen Eigendasein und Eigen-
leben und damit unser Interesse, dadurch, daß sie sie aus ihrer Umge-
bung isoliert, herausstellt und gegen die Umw^elt abschließt schon rein
äußerlich, z. B. das Bild durch den Rahmen, die Skulptur durch leeren
Hintergrund. Dies Selbständigmachen des Gegenstands ist ein wesent-
licher Teil der künstlerischen Betätigung; die Mühe des Künstlers bei
der Wahl des Standpunktes dem Darzustellenden gegenüber und der
Anordnung im Werk selbst, alles läuft darauf hinaus, das Darzustellende
zur selbständigen Geltung zu bringen. Das Gelingen beweist die
Künstlerschaft. Das Sehenlernen durch die Kunst ist natürlich nicht
abgeschlossen, sondern geht immer weiter. Wir sehen schon viel
mehr als frühere Jahrhunderte. Solche (sit venia verbo) Augenmenschen
wie die Künstler der Renaissance haben Luft und Licht nur selten
gesehen; auf ihren Bildern kann man meist bestenfalls erkennen, daß
nicht Nacht ist; ob aber Sonnenschein oder nicht, oder gar Morgen-
oder Abenddämmerung, bleibt unklar. Luft und Licht als wesentliche
Elemente der Sichtbarkeit wurden vom Künstler viel später entdeckt
oder doch betont. Seitdem sind sie uns so geläufig geworden, daß
sie sogar unsere Freude an der Landschaft in der Natur wesentlich
mitbestimmen. Beweis: die Freude an der Ebene, der sogenannten
einfachen Landschaft, die nichts als Luft und Licht dem Auge bietet.
Und was wird uns die Zukunft noch bringen? Damit, daß sie
unser Weltbild nach einer wesentlichen Seite vervollkommnet, befriedigt
die Kunst gleichzeitig eines unserer stärksten Bedürfnisse, nämlich
das nach Anschaulichkeit im allgemeinen. Und danach verstehen wir
ihre hohe allgemeine Wertung erst recht. Das Anschaulichmachen
ganz im allgemeinen ist offenbar ein notwendiges Mittel für uns,
zu verstehen; ich erinnere daran, wie das Verständnis abstrakter
Begriffe durch anschauliche Beispiele oder durch Bilder gefördert
wird. Aber auch sonst stellen wir die Dinge heraus, außer uns,
und machen sie dadurch sinnfällig, um weiter zu kommen; dahin
gehört vielleicht auch, daß wir das Bedürfnis nach Aussprache
haben, um uns selbst über Dinge klar zu werden. Schließlich sehe
ich auch eine Seite der Bedeutung des Dichters darin, daß er durch
völlige Konzentration auf das Gemüt unklare Gefühle zum klaren Be-
wußtsein bringt, genau so wie der darstellende Künstler durch kon-
zentriertes Streben nach Anschaulichkeit undeutliche Vorstellungen
anschaulich macht.
244 • OTTO LOEWI.
Wir sind nunmehr so weit in den Sinn der bildenden Kunst ein-
gedrungen, daß wir auf die Frage nach der Wertung von
Kunstwerken eingehen können.
Entsprechend unserer Auffassung vom Wesen der Kunst könnten
wir vielleicht zur Entscheidung der Frage, ob wir es mit einem Kunst-
werk zu tun haben oder nicht, sagen: ein Werk hat dann als Kunst-
werk zu gelten, wenn es dem reinen Trieb entspringt. Gegenständ-
liches anschaulich zu erfassen, und wenn es dem Bildner gelungen ist,
die erfaßte Anschaulichkeit zu gestalten, d. h. zum Ausdruck zu bringen.
Damit scheidet schon eine große Reihe von Werken aus der Reihe
der Kunstwerke aus, alle die nämlich, bei denen nicht allein das künst-
lerische Streben nach Anschaulichkeit, sondern auch irgendwelche
außerkünstlerische Tendenzen den Pinsel oder den Meißel geführt und
nichts Künstlerisches zuwege gebracht haben. Eine niedere Art solcher
außerkünstlerischer Tendenzen stellt die Spekulation auf Neigungen
des Publikums dar, seien diese nun sentimentaler, spannender oder
welcher Art immer. Solche Übung nennen wir: Kitsch. Eine höhere
Art stellen Werke dar, bei denen nicht gerade die Oewinnabsicht,
sondern irgend eine andere, außerästhetische Tendenz das Primäre ist,
so daß das Werk nur eine nachträgliche Illustration zu irgend einer
vorgefaßten Idee darstellt; die sogenannten Nazarener z. B. waren fromm
und wollten dem malerisch Ausdruck geben; eigene anschauliche
Phantasie hatten sie nicht; so machten sie eine Anleihe bei den Bildern
Rafaels. Die Künstler pflegen solche Kunst treffend als * Literatur«
zu bezeichnen. Alle solche Werke, die nicht aus künstlerischer Not-
wendigkeit entsprungen sind, verstoßen gleichzeitig gegen das, was
allein man künstlerische Wahrheit nennen sollte. Anderseits aber
werden wir nun kaum geneigt sein, Werke, die den obigen Anforde-
rungen genügen, schlechthin als Kunstwerke zu bezeichnen. Die
obige Forderung stellt weniger einen Maßstab zur Beurteilung dar, als
vielmehr eine Voraussetzung, ohne deren Erfüllung von Kunst über-
haupt nicht die Rede sein kann. Wenn ein Knabe sich bemüht, eine
Kugel zeichnerisch anschaulich zu gestalten und es ihm restlos ge-
lingt, so können wir das Ergebnis meinethalben als Kunstwerk be-
zeichen. Ich werde aber kaum auf Widerstand stoßen, wenn ich dies
Kunstwerk als ein kleines Kunstwerk bezeichne. Wenn wir anderseits
hören, wie Hans von Marees Jahre und Jahre schwer gerungen hat,
anschauliche Vorstellungen, die er sich vom Zusammenhang von Natur
und Menschentum machte, bildnerisch zum Ausdruck zu bringen,
und ihm dies selbst nach seiner eigenen Überzeugung nie voll ge-
lungen ist, sei es, daß seine Vorstellungen nicht anschaulich genug
waren oder daß es ihm an Gestaltungskraft fehlte, so hat er zwar im
ÜBER WERTUNG UND WIRKUNG VON WERKEN DER BILDENDEN KUNST. 245
Gegensatze zum Knaben, was er wollte, nicht gekonnt, wir werden
ihn aber doch im Gegensätze zum Knaben einen Künstler nennen.
Entscheidend für unser Urteil ist der streng genommen quantitative,
faktisch qualitative Unterschied in der Aufgabe, die sich der Knabe
einerseits, Marees anderseits stellten. Bei der Aufgabe des Knaben
ist kaum die Möglichkeit produktiver Phantasiebetätigung gegeben, es
muß aber ein gewisses Mindestmaß von künstlerischer Aufgabe vor-
liegen, d. h. es muß etwas zu dem hinzukommen, was von vornherein
für jedermanns Anschauung gegeben. Es genügt z. B. nicht eine
Wiedergabe der Natur, wie sie vollständiger und besser der photo-
graphische Apparat besorgt, darum nicht, weil sie nicht mehr an An-
schaulichkeit gibt als was ich in der Natur selbst anschaulich sehe,
und das ist ja, wie wir darlegten, sehr wenig. Graf Schack sagt ein-
mal: »Nur der Handwerker kopiert die Wirklichkeit, der Künstler stellt
sie so dar, wie sie erscheint, nachdem das Bild durch seine Seele
gegangen ist. Erst der Künstler erschafft die Anschaulichkeit durch
eigenes Zutun, und wir werden ihn um so höher stellen, je schöpfe-
rischer er ist, je größer seine Persönlichkeit, je mehr er daher zum
gegebenen Vorstellungsgehalt aus eigener Phantasie bringt, je größer
also der anschauliche Neugehalt in seinen Werken ist. Es soll nun
nicht geleugnet werden, daß dieser Maßstab, falls wir keine Ein-
schränkungen machen, auch den äußersten Individualismus als künst-
lerisch berechtigt anerkennt. In der Tat sehe ich nicht, wo die Grenze
grundsätzlich gezogen werden könnte, ohne daß wir uns auf einen
normativen Standpunkt stellten, der der Kunst Aufgaben und Grenzen
setzt. Jedenfalls ist mit Recht der Standpunkt schon längst über-
wunden, der die Treue gegen die Natur, wie wir, die Nichtkünstler,
sie sehen, verlangt. Es ist meines Erachtens die Grenze nicht ab-
zustecken, über die hinaus Künstler einer bestimmten anschaulichen
Vorstellung zuliebe z. B. nicht weglassen oder übertreiben sollten;
wir sehen ja oft ganze Gestalten oder nur Teile übermäßig in die
Länge gezogen oder sonstwie stilisiert. Wenn wir nach der Ursache
forschen, erkennen wir, daß z. B. der Eindruck des Feierlichen hervor-
gerufen werden sollte. Oft sind Gründe maßgebend, die in der äußeren
Bestimmung des Werkes liegen; in der ägyptischen Kunst sehen wir
solche Stilisierung zu einer Zeit, wo gleichzeitige lebensvolle realistische
Darstellungen Zeugnis davon ablegen, daß nicht etwa Nichtanders-
können Ursache der seltsamen Stilisierung war. In all diesen Fällen
ist äußerste Zurückhaltung geboten mit dem Urteil: sinnlos oder gar
verrückt. Zuvor muß mindestens die oft schwer lösbare Aufgabe ge-
löst sein, die Absicht des Künstlers zu erkennen; aber selbst an-
genommen, es wäre das geglückt: was ist sinnvoll, was ist sinnlos?
246 Ono LOEWI.
Fließen nicht die Grenzen oft ineinander wie zwischen gesund und
krank? Und dann: der Verstand dürfte in Sachen höherer geistiger
Bedürfnisse, gar der Kunst, kaum der einzige zuständige Richter sein.
Ein weit besserer ist die Zeit, und so überlassen wir das Urteil besser
ihr, als daß wir uns voreilig auf Normen festlegen. Jedenfalls ist das
Vorkommen von Fällen sogenannter Vergewaltigung der Natur nicht
geeignet, den Satz zu erschüttern, daß der Wert eines Kunstwerkes
durch die Größe der schöpferischen Kraft und des davon abhängigen
Neugehalts an Anschaulichkeit bestimmt wird.
Gibt es nun einen Maßstab zur Bemessung dieser
Größen im Einzelfall?
Auch hier heißt es prüfen, ob es uns nicht weiterbringt, wenn
wir vom Sinn des Kunstwerkes, wie wir ihn auffaßten, ausgehen.
Der Künstler sieht das Wesen der Dinge in ihrer anschaulichen Gestalt
Um es zu finden isoliert er sie, wie wir sahen, aus der ihr Eigen-
wesen verschleiernden zufälligen Umgebung. Aber auch dann haften
noch allemal der Einzelerscheinung unwesentliche, mehr zufällige Züge
an. Ich möchte nun glauben, daß wie auf anderen Gebieten so auch
hier der Künstler die größere Schöpferkraft besitzt, der das Wesent*
liehe vom Unwesentlichen der Erscheinungen zu trennen weiß und
durch diese Vereinfachung das einzelne zum Typus erhebt. So haben
die großen Porträtisten Menschentypen geschaffen. Jedenfalls huldigt
die durch des Gedankens Blässe nicht angekränkelte instinktive Meinung
aller Zeiten der hier geäußerten Auffassung; sie liebt im Künstler wie
im Dichter den Seher, der das wahre, das ist durch nichts Zufälliges
entstellte Wesen der Dinge sieht. Wir sagen: der Apfel ist wie ge-
malt; wir meinen damit: er nähert sich dem von Zufälligkeiten freien
Typus. Das« Idealbild der Dinge existiert natürlich nicht. Die großen
Künstler schaffen vielmehr etwas, was uns als solches erscheint, weil
es dunklen Vorstellungen in uns begegnet, sie klärt und damit ein
Streben in uns befriedigt. Die verschiedenen Künstler sehen selbst-
verständlich das Wesen der Dinge in verschiedenem. Wofern die
Gestaltung ihrer Vorstellung entspricht, weiß ich nicht, wie man aus
der Verschiedenheit künstlerische Rangunterschiede ableiten kann. Es
handelt sich dabei um Unvergleichbares. Die Frage: wer ist größer,
Schiller oder Goethe? ist zur Persiflage auf derlei geworden. Wir
schließen also : ein Künstler ist um so größer, je mehr er mit der Dar-
stellung des einzelnen gleichzeitig einen Typus schafft. Ob aber der
Typus so oder so beschaffen, bedingt an sich keine verschiedene
Wertung. Anders steht es dagegen mit der Frage, ob etwa der Vo!^
wurf als solcher, den der Künstler wählt, bei gleicher Durchführung,
eine verschiedene Wertung der künstlerischen Leistung begründet, ob,
4
ÜBER WERTUNG UND WIRKUNG VON WERKEN DER BILDENDEN KUNST. 247
um ein geläufiges Beispiel anzuführen, die Darstellung einer Madonna
rein künstlerisch mehr bedeutet als die Darstellung einer Rübe. Erst
hieß der Satz: die gutgemalte Rübe ist besser als die schlechtgemalte
Madonna. Das ist eine Binsenwahrheit, denn es heißt nichts anderes
als: ein gutgemaltes Bild ist besser als ein schlechtgemaltes Bild.
Liebermann') tat dann den Ausspruch: »Eine gutgemalte Rübe ist
ebensogut wie eine gutgemalte Madonna.< Er meint allerdings nur
als rein malerisches Produkt. Als künstlerische Oesamtaufgabe ist
auch nach seiner Meinung die Madonna weit schwerer zu bewältigen
als das Stilleben. Und das ist klar; bei der Rübe erschöpft sich die
künstlerische Aufgabe im wesentlichen in der malerischen. Nicht als
ob deren Bewältigung gering einzuschätzen wäre. Mit Recht sagt einer
vom Handwerk, der es verstehen muß, Max Klinger: »Die Intensität, mit
welcher das bisher im Stoff kaum Geahnte zum Ausdruck gebracht
wird, macht die Kunst aus, und so wird der unscheinbarste Gegen-
stand, den eine schöpferische Kraft erfaßt, zum Kunstwerk.; Aber bei
der Madonna ist die Aufgabe eine noch größere. Soll uns in ihr die
vor irdischen Müttern ausgezeichnete Mutter mit den besonderen Be-
ziehungen zu dem vor irdischen Kindern ausgezeichneten Kinde an-
schaulich gemacht werden, dann muß der Beruf erkennbar sein in
Ausdruck und Haltung auch ohne äußere Attribute. Mag ein irdi-
sches Modell die Aufgabe in Einzelheiten erleichtern, das Besondere,
das Madonnenhafte muß vom Künstler schöpferisch erschaut und
gestaltet werden; es kommt also eine gewaltige Aufgabe, die näm-
lich im Gegenstand als solchem liegt, zur malerischen hinzu. Fraglos
ist der größere Künstler, wer beides bewältigt. Es hat also auch
der Gegenstand als solcher Bedeutung für die Wertung der Größe
.der künstlerischen Leistung. Natürlich läßt sich im einzelnen so
eine Art Wertvergleichstabelle nach Gegenständen geordnet nicht auf-
stellen.
Ich kann nun nicht umhin, ganz kurz an dieser Stelle den Stand-
punkt der Kunst unserer Tage, worunter ich noch nicht den Expres-
sionismus verstehe, in dieser Frage zu berühren.
Ich habe oben den Ausspruch gebracht, die gutgemalte Rübe ist
besser als die schlechtgemalte Madonna. Weiter sagt Liebermann einmal:
>Der spezifisch malerische Gehalt eines Bildes ist um so größer, je
geringer das Interesse an seinem Gegenstand; je restloser der Inhalt
eines Bildes in malerischer Form aufgegangen ist, desto größer der
Maler. < Wohlgemerkt, Liebermann sagt auch hier, der Maler, nicht
der Künstler! Der Sinn beider Aussprüche ist, daß die Hauptsache
') Max Liebermann, Die Phantasie in der Malerei. Bruno Cassirer, Berlin 1Q16.
248 OTTO LOEWI.
für den Maler nicht sowohl anschauliche Charakterisierung eines be-
stimmten Gegenstandes behufs dessen anschaulicherer Charakterisierung
ist, sondern der allen Gegenständen eigentümliche malerische Ausdruck.
In der Tat ist die Malerei von heute im Gegensatz zur Kunst aller
Zeiten nicht Gegenstandskunst, sondern in höchstem Maß ungegen-
ständliche oder Formkunst. Form ist Selbstzweck. Man hat den Ein-
druck, daß die Gegenstände nur die bis jetzt noch unumgänglich not-
wendigen, aber schon beinahe lästigen Träger der ihnen eigentüm-
lichen malerischen Form sind. Diese Stellung, nämlich das Zurück-
treten des Interesses am Einzelgegenstand gegen das an der eigen-
tümlichen Form, hinter das Ungegenständliche, ist charakteristisch nicht
nur für die heutige Malerei, sondern für die gesamte Kunst unserer
Tage. Wir sehen, wie in der Musik die gegenständlichen Momente,
Thema, sogar Motiv, immer spärlicher werden und das Ungegenständ-
liche, die musikalische Form, die Gestaltung an sich zur Hauptsache
wird. Und in der Literatur ist es nicht anders. Ich kann, was ich
meine, nicht besser ausdrücken, als mit den Worten Ernst Ludwigs
über das Schaffen Hermann Bangs, die er dessen letztem Werk, dem
Roman »Die Vaterlandslosen« '), vorausschickt. Er sagt: Von seinem
ersten Buch zu diesem führen zwei Linien, die eine abwärts, das ist
die Linie der Handlung, der interessanten Begebenheiten, der Be-
wegung; die andere aufwärts, das ist die musikalische Linie.« Soll
heißen: gegenstandslose Gestaltung. Und weiter: »Mehr und mehr
wurden seine Romane Dokumente eines Gestalters, nicht Erfinders.
Mehr und mehr will und vermag er im Grunde nur dieses eine: Ge-
stalten an sich ohne Handlung, ohne Bewegung, ja ohne Milieu und
Landschaft aufzustellen.«^
Jede Kunst wurzelt in der meist unbewußten Sehnsucht ihrer Zeit,
gibt ihr klaren Ausdruck und mitunter Erfüllung. Was bedeutet die,
wie wir sahen, einheitliche Tendenz der Kunst unserer Tage? Wir
leben im Zeitalter der Wissenschaft. Die Wissenschaft aber kann nur
ein Weltbild gelten lassen, das aus im einzelnen erkannten Teilen sich
zusammensetzt; von dem intuitiv erfaßten Weltbild, der Synthesis a
priori, geht ihr Weg über die Analyse zur Synthesis a posteriori, zur
Resynthese. Auf diesem Weg hat sie frühere Weltbilder schon zer-
trümmert, ist aber von der Resynthese noch weit entfernt. Der Mensch
aber braucht ein einheitliches Bild schon heute. So verstehen wir
vielleicht, daß heute jede einzelne Kunst innerhalb ihres Rahmens über
das Besondere hinaus durch Vereinfachung und Vereinheitlichung zum
allgemeineren strebt. Aber es geht noch weiter: die Malerei will
') Bei S. Fischer, Berlin.
BER WERTUNG UND WIRKUNG VON WEttKEN DER BILDENDEN KUNST. 24Q
gleichzeitig Musik sein, die Musik Malerei und die Dichtung beides;
die Grenzen der einzelnen Künste werden gesprengt, im Oesamtkunst-
werk soll alles zur Einheit werden.
Wir haben bisher, was allein zulässig erscheint, im allgemeinen
den Standpunkt angegeben, von dem aus die künstlerische Bewertung
von Kunstwerken erfolgen muß. Es fragt sich nunmehr, was
im einzelnen dazu gehört, sie durchzuführen.
Es braucht wohl kaum besonders gesagt zu werden, daß wir die
Größe des Kunstwertes eines Werkes nur beurteilen können, wenn
wir das Werk verstehen. Verstehen heißt aber nach dem, was wir
gehört haben, die auf anschauliche Darstellung gerichtete Absicht des
Künstlers und ihren Ausdruck im Werk erkennen. Dazu verhilft
nun kein theoretisches Wissen, sondern es muß die Gabe verliehen
sein, sich in den Künstler einzufühlen. Dies ist aber nur möglich,
wenn ein, obgleich der Intensität nach verschiedenes, so doch dem
des Künstlers gleichgerichtetes Bedürfnis nach anschaulicher Erfassung
der Dinge unbewußt vorliegt. Wer das nicht besitzt, wird sich übrigens
gar nicht zur Beschäftigung mit der Kunst getrieben fühlen. Es ge-
nügt aber nicht eine Einfühlungsmöglichkeit im allgemeinen in das,
was Kunst überhaupt bietet, zu haben, sondern wir müssen uns ein-
fühlen können in das, was der Künstler im einzelnen Fall will. Das
wird uns am ehesten gelingen, wenn wir einem Kunstwerk aus unseren
Tagen gegenüberstehen; denn die zeitgenössischen Künstler sind ja
vom selben Fleisch und Blut wie wir, ihre Absichten werden darum
bis zu einem gewissen Grad mit unseren übereinstimmen, wodurch
das Verständnis naturgemäß wesentlich erleichtert wird. Verstehen
werden wir aber ohne weiteres auch die Kunst der ganz Großen der
Vergangenheit, die zeitlose Kunst, die auf anschauliche Darstellung
gerichtete, allgemein menschliche Bedürfnisse befriedigt. Weniger leicht
wird es uns sein, solche Kunst der Vergangenheit zu verstehen, die
nur zeitlich oder national begrenzte, der Gegenwart nicht analoge Be-
dürfnisse in ihren Erzeugnissen befriedigte. Um dieser Kunst einiger-
maßen gerecht zu werden, sind antiquarische Studien erforderlich; wir
müssen die Zeit verstehen, um Wollen und Leistung ihrer Künstler
würdigen zu können; vor allem müssen wir über die uns wesens-
fremden Formeigentümlichkeiten der verschiedenen Zeiten wegkommen,
wollen wir dem einzelnen Künstler gerecht werden. Diese gleichen
Schwierigkeiten des Verständnisses wie der Kunstfreund hat auch der
Künstler. Ja, in gesteigertem Maße. Besitzt er auch das größere An-
schaulichkeitsbedürfnis, so kann er sich doch im allgemeinen noch
weniger als der Nichtkünstler in ihm fremde Art zu sehen und zu
gestalten einfühlen; ist doch gerade eine gewisse leidenschaftliche
250 ■ OTTOLOEWt, ..r,: !,;;:: r.;r: u)
Einseitigkeit in dieser Richtung notwendige Voraussetzung für wahres
Künstiertum. Nur als Kenner, d. h. als Beurteiler der Größe der
technischen Leistungen, der zu überwindenden Schwierigkeiten wird
der Künstler vom gleichen Handwerk dem Kunstfreund in der Regel
überlegen sein. Dies nebenbei.
Wenn wir uns auch noch so heiß um das Verständnis eines
Kunstwerkes bemüht haben, wir haben kein Kriterium dafür, ob es
uns gelungen ist, es zu verstehen. Wir dürfen aber in Analogie zu
anderen Erfahrungen annehmen, daß es uns in der Regel nur bis zu
einem gewissen Grad gelungen ist. Ein Teil von all dem, was vom
Menschen kommt, bleibt immer problemhaft. Wir verstehen ja nicht
einmal die Handlungen der Menschen restlos, mit denen wir zu-
sammenleben. Oft empfinden wir geradezu, namentlich wenn wir
einem großen Kunstwerk gegenüberstehen, daß uns dunkel bleibt,
was für die Wirkung auf uns das wesentlichste ist; beim großen
Kunstwerk ist das Ganze mehr als die Summe der erkennbaren
Teile. Man kann sogar sagen: ein Kunstwerk ist um so größer, je
mehr Imponderables es enthält.
Aber selbst angenommen, wir haben ein Werk verstanden, so ist
doch das bloße Verstehen nicht die einzige Vorbedingung für die
rechte Bewertung. Gerade was das Verstehen erleichtert, nämlich ein
dem des Künstlers gleichgerichtetes Anschaulichkeitsbedürfnis, erschwert
die Sachlichkeit; was mein Bedürfnis befriedigt, ist mir sympathisch
und macht mich voreingenommen. So verstehen wir, daß ein kunst-
gerechtes Urteil nur möglich ist über die Kunst der Vergangenheit;
bei der der Gegenwart sind wir zu sehr mit unserem Eigenwollen
beteiligt. Bei dieser Sachlage könnte man fragen, ob es überhaupt
einen Sinn hat, nach einem Werturteil zu streben. Ich glaube diese
Frage unbedingt bejahen zu sollen und zwar von zwei Gesichtspunkten
aus. Zum ersten werden wir veranlaßt den Werken der echten
Künstler, und für Echtheit pflegen wir eine feine Empfindung zu
haben, voll Ehrfurcht gegenüber zu treten und uns in sie zu versenken,
und kommen wir nicht zu einem kunstgerechten Verständnis, so wer-
den wir die Unzulänglichkeit eher in uns als beim Künstler zu suchen
haben. Das scheint aber der einzige Standpunkt zu sein, der den
großen Bereicherern unseres Daseins gerecht wird. Zum anderen aber
sehen wir auf allen Gebieten, auch auf dem der exakten Naturwissen-
schaften, daß die Betätigung im Streben nach einem Ziel den Menschen
meist mehr fördert als der schließliche Erfolg selbst.
Wir haben es bisher versucht, den Wert der Kunstwerke aus-
schließlich aus dem Verhältnis abzuleiten, in dem die Größe des
Werkes zu der aus dem Sinn des Kunstschaffens sich ergebenden
: WERTUNG UND WIRKUNG VON WERKEN DER BILDENDEN KUNST. 251
Aufgabe steht. Wir haben es soweit als möglich vermieden, auch
die Wirkung zur Wertbeurteii ung heranzuziehen, da diese
erstens etwas komplexes ist, d. h. von einer Summe außerkünst.
lerischer Momente mitabhängt, und zweitens von Subjekt zu Subjekt
wechselt und darum von vornherein keinerlei Maßstab an die Hand
jtxt geben scheint. Auch ist ja die Wirkung weder im Zweck noch
in der Absicht des wahren Kunstwerks gelegen, sondern gewisser-
maßen etwas, was infolge des besonderen Wesens der Kunst sich
nebenbei einstellt oder einstellen kann; das wahre Kunstwerk bliebe
dasselbe, wenn aus äußeren Gründen die Möglichkeit der Wirkung
entfiele. Immerhin ist das, was uns zur Kunst treibt, nicht das, was
sie an sich, sondern was sie für uns ist. Und da ist es doch sehr
der Mühe wert, zu untersuchen, ob nicht — allen scheinbaren Oe-
schmacksverschiedenheiten zum Trotz — ein bestimmtes Verhältnis
zwischen Wert und Wirkung besteht, ob wir nicht die Gewißheit
haben können, daß unsere gefühlsmäßige Reaktion auf Kunstwerke
ihrer künstlerischen Größe gerecht wird.
Wie und wo aber soll man die Wirkung fassen? Offenbar dort,
wo sie eine einheitliche ist. Da kann man
1. naturgemäß nur die Wirkung auf diejenigen heranziehen, denen
die Kunst als solche Bedürfnis ist, denen die Kunst also etwas
gibt, was ihnen nichts anderes gibt; nach dem, was wir gesehen
haben, kann es nur die Befriedigung des unbewußten Bedürfnisses
nach anschaulicher Darstellung der Welt sein. Aber wenn wir so
auch den Kreis derer, die in Betracht kommen, schon erheblich ein-
engen, gehen doch noch immer innerhalb dieses Kreises die Ge-
schmacksrichtungen weit auseinander; sie sind von Individuum zu
Individuum verschieden. Einheitlicher ist
2. die Wirkung schon innerhalb gleicher Zeitperioden. Neben
und über dem Individuellen gibt es einen Zeitgeschmack, es hat mit
anderen Worten jede Zeitepoche ein bestimmt gerichtetes Anschauungs-
bedürfnis, das natürlich auch die Künstler teilen und in der Zeitkunst
zum Ausdruck bringen. Noch mehr aber als in der Zeitkunst kon-
vergiert
3. der Geschmack gegenüber der Kunst, die man als zeitlose
bezeichnet; ihr gegenüber verstummt jeder Streit der Meinungen,
denn über die Bedürfnisse der Individuen und Zeit und
4. auch der kulturell vergleichbaren Nationen hinaus wendet
sie sich an den kunstsinnigen Menschen schlechtweg und offenbart
ihm als Veranschaulichungskunst im höchsten Sinn das reine und
wahre Wesen dessen, was ihm im Leben verschleiert ist durch zu-
fällige Beimischungen.
252
OTTO LOEWI.
So sind die zeitlosen Kunstweri<e zu Heiligtümern für die ganze
sehnende Menschheit geworden. Hier also haben wir die gesuchte,
einheitliche Wirkung. Und wenn wir uns fragen, was diese Werke als
Kunstleistungen bedeuten, so finden wir, daß unerreichte abschließende
Schöpferkraft zum wahren und zwingenden Ausdruck bringt, was
ohne Vorbild ist und was doch existiert; denn wir fühlen es. Somit
ergibt sich: unbedingte Wirkung und höchster Wert sind
eines.
I
\
IX.
über Malerbildhauer und Bildhauermaler.
(Kriterien zur Bestimmung von Werken aus einer Hand.)
Von
V. Curt Habicht.
Eine innere Verwandtschaft aller gleichzeitig entstandener Kunst-
werke aller Kunstzweige besteht trotz der bedeutenden Unterschiede
der Ausdrucksmittei. Zur Erklärung und Vertiefung der Vorstellung
vom Gesamtausdruckswillen eines bestimmten Zeitabschnittes bleibt
deshalb die Vergieichsmöglichkeit aller Künste untereinander offen und
gestattet. Mit vollem Rechte spricht man von einer wechselseitigen
Erhellung der Künste ') und macht auch von diesem Mittel der In-
beziehungsetzung verständnisfördernden Gebrauch. Bei allen solchen
Untersuchungen — auch bei enger gefaßten, wo Vorwiegen eines
Teilgebietes der bildenden Kunst (etwa des Plastischen oder des
Malerischen) klargestellt wird — tritt die Autorfrage hinter der Absicht,
die treibende Kraft des Stilwillens zu fassen, zurück.
An der Tatsache aber, daß eine Künstlerpersönlichkeit den Willen
und die Fähigkeit besessen haben kann, sich auf verschiedenen
Kunstzweigen — oft gegensätzlicher Art — auszudrücken, ist nicht
zu zweifeln — und wird auch nicht gezweifelt, wenn die geschaffenen
Werke unbestreitbare Fakten bilden und wenn ausreichende urkund-
liche Nachrichten sprechen. Sowohl vom Standpunkt des psycho-
genetischen Betrachters, als besonders von dem des Stilkritikers höchst
unbequeme und unleidliche Tatsachen. Wie weit wir von einer wirk-
lichen wechselseitigen Erhellung der bildenden Künste noch entfernt
sind, zeigt der Widerstand, der sich durchgängig weigert, diese Tat-
sache allein aus formalen Gründen zuzugeben. Nur da, wo die
urkundlichen Zeugnisse und Nachrichten erdrückend schwere sind,
findet man sich zu einer süßsauren Anerkennung bereit. Aber auch
hier stehen die Äußerungen wie zwei Welten gegenüber, und eine Ver-
gleichsmöglichkeit, die .Auffindung des aus psychologischen Gründen
') Vgl. Oskar Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste (Philos. Vorträge,
veröff. von der Kantgesellschaft, Nr. 15), Berlin 1917 und dazu O. Wulff, Wechsel-
seitige Erhellung der Künste, D. L. Z. XXXIX. Jahrg., Berlin 1918, Nr. 49-52.
254 V. CURT HABICHT.
Erkennbaren und Verbindenden scheinen ausgeschlossen bleiben zu
müssen. Dabei mehren sich die Fälle — besonders in der deutschen
Kunstgeschichte — , wo Nachrichten vorliegen, die die Annahme der
Doppelbegabung und -tätigkeit wahrscheinlich machen, wo wir auf
zwingende urkundliche Nachrichten aber kaum noch hoffen dürfen und
wo wir zu einer vergleichsweisen Gewißheit allein auf dem Wege der
wechselseitigen Erhellung gelangen können. Die geschmäcklerische
Behauptung der Unmöglichkeit — auf Grund orthodoxer Festlegung
der Künstlerpersönlichkeit — , die sehr problematischen Hinweise auf
Qualitätsunterschiede und die einseitige Benutzung von Bestimmungen
der Zunftordnungen können jedenfalls nicht mehr ausreichen, in
strittigen Fällen wie etwa bei Meister Bertram, Meister Francke, Konrad
Witz, Hans Multscher, Hans Raphon, Meister Wolter, M. Grünewald
und anderen die Diskussion abzuschneiden und die Problemstellung
überhaupt zu verweigern.
Es dürfte demnach angebracht sein, sich über die Grenzen der
Malerei und Plastik einig zu werden, ihre Berührungspunkte aufzufinden
und die Fäden bei Emanationen durch eine Persönlichkeit aufzu-
weisen 1).
Zunächst aber sind die bequemen, üblichen, unsachlichen Einwände
in Summa zu beseitigen.
Der dürftigste entspringt den Grenzen des Denkens der Beurteiler,
mehr einer gefühlsmäßigen Inanspruchnahme für eine Seite des künst-
lerischen Schaffens als einer kühlen (aber darum keineswegs weniger
liebenden) Denkbarmachung der genetischen Entwicklung. Je ein-
dringender die alle Denkfaktoren erfahrungsgemäß bestimmende »Ein-
fühlung«, der selig-süße Akt der gefühlsmäßigen Kontaminität, gewesen
ist, umso apodiktischer wird die Entscheidung für die eine oder andere
Wesensseite des Künstlers ausfallen. Die ebenso starke Inanspruch-
nahme Michelangelos für die Kategorie der Maler wie für die der
Bildhauer kann deshalb nicht verwundern. Die gefühlsmäßige Be^
tonung droht unter Umständen die unumstößlichen Nachrichten zu
kassieren oder zu Berichten von erzwungenen Leistungen zu degra-
dieren. Im voraus sei gesagt, daß die völlig gleichmäßige Verteilung
der Gaben an sich durchaus möglich und denkbar ist. Im Grunde ist
sie weit weniger ungeheuerlich als die stündlich zu erleidende Hetero-
nomie unseres Seins (Materie und Geist) überhaupt. Zu gleichmäßiger
und gleichwertiger Emanation setzt sie allerdings eine Harmonie des
') Erst nachträglich kommt mir die Arbeit von O. Wulff, Grundlinien und
kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der bildenden Kunst, Stuttgart 1917, in
die Hände, in der ich wichtige Bestätigungen meiner Ansichten finde, die ich zum
Teil noch berücksichtigen konnte.
OBER MALERBILDHAUER UND BrLDHAUERMALER. 255
I
Schaffens und eine Sauberkeit der Einstellung des schaffenden Künst-
lers auf eine Ausdruclcsart voraus, die selten und ungewöhnlich
sind. Daneben besteht — vielleicht über unausdenkbarem Ideal-
falie — der weit häufigere einer Doppelbegabung unter ersicht-
lichem Überwiegen einer Seite. Warum diese Anlage, auch bei un-
gleichmäßiger Verteilung der Realisierungsform, nicht in die Wirklich-
keit umgesetzt werden soll. Zwang zur Emanation sogar besitzen
kann, ist gar nicht einzusehen. Jedenfalls bedeutet es eine außer-
ordentliche, subjektive Beschränkung, die einmal gewonnene, wenn
auch gefühlsmäßig noch so starke Einfühlung in die malerische Be-
gabung Grünewalds etwa zur unduldsamen Ablehnung jeder bild-
hauerischen Tätigkeit des Künstlers zu übersteigern.
Damit gelangen wir zum Qualitätsvorwurf. Die ungleichmäßige
Oabenverteilung — im Sehen und Gestalten — ist häufig; häufiger
jedenfalls als eine äquivalente. Aber sie ist eine Tatsache, die die
Betätigung, die Gestaltungsnof und den künstlerischen Akt nicht hin-
dern kann. Allein Goethes malerisch-zeichnerische und dichterische
Begabung — bei völliger Urteilslosigkeit des gewiß urteilsreichen
Künstlersubjektes — , die ungeheure Kluft zwischen den Emanationen
auf beiden Gebieten bei völlig gleichem Willenstrieb (nach der un-
zulänglichen Seite sogar zeitweise zweifellos stärker!) sollten davon
abhalten, Qualitätsunterschiede allein — etwa bei strittigen Fragen des
V. Stoß oder M. Grunewald — als zureichende Gründe für die Ab-
lehnung der Doppelbegabung auszuspielen.
Es bleibt der äußerlichste Widerstand: die bürgerliche Sanktion.
Nun bestehen zweifellos im mittelalterlichen Deutschland — für das
die Streitfälle hauptsächlich gelten — ängstliche Zunftabgrenzungen,
Verbote der Ausübung der doppelten Tätigkeit und ähnliche Bestim-
mungen. Ebenso häufig aber begegnen wir auch Zunftvereinigungen,
die sogar die gleichen künstlerischen Anforderungen bei der Auf-
nahme forderten (vgl. z. B. Hamburg i) oder Würzburg '^).
In den schroffen, engbrüstigen Fällen, bei denen eine Erlaubnis-
einholung notwendig war, werden sich der künstlerische Wille und
die Begabung — Urkraft und Trieb — dadurch nicht einmal haben
binden lassen. Der legale Ausweg des Eintrittes in die gesonderten
Zünfte ist in der Tat auch oft genug beschritten — aber auch glatt
überschritten worden.
') O. Rüdigdr, Die ältesten hamburgischen Zunftrollen, Hamburg 1874.
-) E. Tönnies, Leben und Werke des Tilmann Riemenschneider, Straßburg 1900,
S. 9 ö.
256 V. CURT HABICHT.
Gehen wir an die Lösung der uns hier beschäftigenden Fragen
heran, so müssen zunächst einige bereits klargestellte Begriffe noch
einmal erläutert werden. Ich stelle die Definition, die Wulff ') auf
Grund psychologischer Untersuchungen vom Typus des Malers und
Bildhauers gibt, voran. Für den Bildhauer: >Das plastische Sehen
oder Vorstellen haftet an der Gestaltqualität der Dinge und beruht
auf dem psychophysischen Tatbestande, daß in der künstlerischen
Vorstellungsbildung diejenigen Gesichtssinnesempfindungen die Vor-
herrschaft haben, welche uns die extensiven Wahrnehmungen ver-
mitteln und sich am engsten mit Tast- und Bewegungsempfindungen
assoziieren. f Er erblickt im Bildhauer den visuell motorischen Typus.
Der Maler rechnet nach ihm zum dynamischen Typus. Über die
malerische Grundanlage äußert sich Wulff folgendermaßen: »Das male-
rische Sehen und Gestalten herrscht da, wo die intensiven (qualitativen)
Gesichtssinnesempfindungen vorwiegend die Wahrnehmung (oder die
reproduktive Phantasietätigkeit) vermitteln.« So wertvoll diese begriff-
lichen Klarlegungen sind, so wenig können sie uns bei der Entschei-
dung über die uns hier beschäftigenden Fragen nützen, weil die be-
stimmte Einreihungsmöglichkeit eines Künstlers (etwa Verrocchios) die
Doppeltätigkeit nicht aus der Welt schafft und eher unerklärlich als
deutbar erscheinen lassen muß.
Wir werden deshalb von den Tatsachen selbst, zunächst von den
Gemeinsamkeiten der beiden Künste auszugehen haben. Die erste
Übereinstimmung beruht auf der künstlerischen Intention, auf dem
Grundwollen der Mitteilung, der Benutzung künstlerischer Formen zur
symbolischen Sprache von Seele zu Seele "). Beide Ausdrucksarten
wollen gesehen werden, beide beziehen sich zunächst auf unseren
Gesichtssinn, wenden sich an das gleiche physische Organ zwecks
Rezeption, während alle Erscheinungen und Körper im realen Räume
diese Absicht an sich nicht besitzen (oder nicht zu besitzen brauchen).
Die Annäherung, ja die Gemeinsamkeit beruhen also auf einer Art von
Konkurrenz, in die Bildhauerkunst und Malerei stets treten werden.
Die weitere Gemeinsamkeit besteht in der für beide Künste überein-
stimmenden Notwendigkeit, Raumwerte zu schaffen, einen Raum, den
die Bildhauerkunst mit dem Werke selbst besitzt, oder doch mit Willen
wesentlich, erweitern kann, während die Malerei ihn für ihre Gestalten
überhaupt erst schaffen muß. Trotz einer leichten Übertreibung
(durch die Problemstellung veranlaßt) kann Troß^) mit einem gewissen
") Vgl. Wulff, Grundlinien, a. a. O. S. 40 ff.
-) Vgl. Paul Häberlin, Symbol in der Psychologie und Symbol in der Kunst.
Bern 1916.
^) Vgl. Ernst Troß, Das Raumproblem in der bildenden Kunst. München 1914,8.89.
ÜBER MALERBILDHAUER UND BILDHAUERMALER. 257
Recht sagen: »Das Prinzip der Gestaltung einer Raumeinheit im empi-
rischen Raum bleibt in der Malerei wie in der Plastik dasselbe, nur
zwingt die Verschiedenheit des Materials den Künstler zu verschiedenen
Lösungen.
Ebenso scharf wie die Übereinstimmungen ergeben sich auch die
Verschiedenheiten. Es sind die Ziele der beiden Künste, die auch die
nötige Klarheit über die verschiedenen Wege geben. Aufgabe der
Bildhauerkunst ist die Schöpfung von realen Körpern, Aufgabe der
Malerei ist die Vortäuschung von Körpern (neben anderem, das uns
hier nicht zu beschäftigen hat). Die Bildhauerkunst stellt ein wirk-
liches, körperhaftes Gebilde in den Raum (ich spreche zur Verdeut-
lichung der Unterschiede und Grenzen in erster Linie von Freistatuen),
die Malerei weckt nur die Illusion von solchen Gebilden, wobei die
Anforderungen (Erschwerungen oder Erleichterungen) an unsere Vor-
stellung gleichgültig sind. Die eine Kunst ist konkret, körperlich, der
Wirklichkeit eng verschmolzen; die andere abstrakt, unkörperlich, Ideen
nah verwandt. Scheinbar unvereinbare Gegensätze. Dualismen wie
Geist und Körper, Diesseits und Jenseits, Glück und Leid. Typische
Äußerungen unserer kontrapolischen Gesamtstruktur. Aber auch hier
tun sich wieder Verbindungstore auf. Körper kann nicht reiner Geist,
Geist nicht reiner Körper sein (wenigstens für den Menschen und sein
künstlerisches Abbild). Ein unvermitteltes Nebeneinanderstehen ist
unmöglich. Wir gelangen damit zum ersten Grenzpunkt der Annähe-
rung. Bildhauerkunst kann nicht reine Körperkunst, Malerei nicht reine
Abstraktion sein. Die Bildhauerei bleibt schon als Kunst ideenhaft
verfestigt, die Malerei bedarf zur Sichtbarmachung der Körperwelt.
Hier sind die Grenzen fließend.
Der Maler ist ein Zusammenschauender, der Bildhauer ein ab-
sondernd Schauender. So klein der Ausschnitt aus der Wirklichkeit
sein mag, den der Maler gibt, so bleibt er eine in sich gefügte, un-
lösliche Welt für sich. Diese Welt trennt sich von der übrigen ab,
muß sich absondern, fordert Begrenzung, sie lehnt die Umwelt ab.
Vom Gesichtspunkt des Raumproblems aus gelangt Troß*) zu fol-
gender Formulierung: >Das Bild des Malers muß dem umgebenden
Gesamtraum gegenüber als Einheit sich behaupten, der positive Raum
für unsere Anschauung deutlich innerhalb der empirischen Realität
raumabgegrenzt sein, damit das, was Rauminhalt des Gesichtsraums
werden soll, aus dem Zusammenhange der Umgebung herausgenommen
ist und dadurch einer anschaulichen wie diskursiven Verknüpfung mit
ihr entgegengearbeitet wird.« Dagegen der Bildhauer. So geschlossen
') Vgl. Troß, a. a. O. S. 85.
Zeitschr. f. Ästhetik u. alltr. Kunstwissenscliaft. XIV. 17
258 V. CURT HABICHT.
der Bildhauer sein Gebilde auch fessein mag, es gehört zum Oei-
schaffenen, geht in es über. Es tritt in die Welt der Erscheinung,
bedarf der Umwelt nicht, benötigt keine Grenzen. Es hat sie in sich.
Wieder von der Raumvorstellung aus kommt Troß ^) zu folgendem
Ergebnis: »Während die Vorstellung eines Objektes in abstracto (also
im euklidischen Raum) für den Maler weder Ausgangspunkt noch
Zweck seiner Darstellung ist, muß der Bildhauer von der Vorstellung
in abstracto ausgehen und diese im kubischen Material so realisieren,
daß sie als Gegenstandserscheinung des positiven Raumes den gesetz-
lichen Zusammenhang der Sichtbarkeit für unsere Raumvorstellung
ausmacht.«
Die grundlegenden Unterschiede werden für unsere Zwecke aber
noch begrifflich handhabbarer bei einer Betrachtung des Werdens der
Kunstwerke selber. Der körperschaffende Künstler, der Bildhauer,
stellt seine Gebilde in den unbegrenzten Raum. Die Parallelität und
Identität mit allem in der Erscheinungswelt Gewordenen schaffen in
sich begrenzte Emanationen, die auf die äußere Bindung verzichten
können. Nicht so der Maler.
Die Tatwerdung des Ideenhaften, die Perpetuierung eines visionär
Geschauten, des an sich Unbegrenzten, fordern Einschluß in Grenzen.
Troß'-) sagt: -Gegenüber der Plastik befindet sich der Maler hierbei
im Vorteil, da es in der Art seiner Darstellungsmittel liegt, den Be-
schauer notwendig in sein persönliches Raumzentrum zu zwingen,
andernfalls das Bild gar nicht oder nur unvollständig gesehen werden
könnte.« Von hier aus ergeben sich auch die ersten Kriterien zur
Bestimmung eines Autors. Entweder wird sich der Maler in Bild-
hauerarbeiten durch seinen geforderten Begrenzungsdrang (den er aber
nicht mit bildhauerischen Mitteln erfüllen kann) oder der Bildhauer in
seinen Malereien durch den Verzicht auf räumlichen Abschluß (der
deshalb keine Welt für sich entstehen läßt und zu künstlerischen In-
konsequenzen führt) von vornherein verraten.
Abgesehen von weiteren notwendigen Kriterien lassen sich aber
mit den gefundenen bereits Proben auf die Anwendungsfähigkeit
machen. Ich wähle als Beispiele die Bildhauerarbeiten des Isenheimer
Altares und die Malereien des Grabower Altares, jeder der Grüne-
waldbiographen beklagt mit besonderem Nachdruck das Fehlen des
ursprünglichen Altaraufbaus und der rahmenden Teile für die Plastiken.
Mit vollstem Rechte; denn diese Arbeiten schreien geradezu nach einer
künstlerischen Begrenzung, innerhalb der sie überhaupt erst Sinn und
') Vgl. Troß, a. a. O. S. 87.
=) Vgl. Troß, a. a. O. S. 85.
^
ÜBER MALERBILDHAUER UND BILDHAUERMALER. 259
Bedeutung erhalten. Daß hier der Künstler den Orenzraum mit den
Plastiken nicht mitzuschaffen verstanden hat, wie es der reine Bild-
hauer tut, kann gar nicht übersehen werden. Das Zusammenschauen
der Figuren mit dem Raum, anstatt des Körperbildens unbekümmert
um einen besonders gestalteten Raum, bildet den Ausgangspunkt, der
für die Figuren der Heiligen Augustin und Hieronymus ') genau so
ausschlaggebend ist wie für die gemalten Statuen der Heiligen Sebastian
und Antonius*'). Sie sind nicht absolut für sich gedacht und gestaltet,
sondern in notwendiger Verbindung mit einer künstlerischen Um-
gebung (die aber mit plastischen Mitteln nicht geschaffen werden kann),
sie verwachsen mit einer künstlerisch gefühlten, jedoch nicht gegebenen
Umwelt. Anders verhält es sich mit dem Heiligen Antonius und den
Büsten Christi und der zwölf Apostel"). Diese Gestalten tragen ihre
Begrenzung in sich (vgl. Antonius oder besonders auch die geschlossene
Gestalt Christi), sind durchaus bildhauerisch gesehen und danach ge-
arbeitet. Dagegen erweisen die beiden opfernden Bauern^) (Sammlung
Böhler) schon von dem hier beleuchteten Gesichtspunkt aus klar und
deutlich ihre Zugehörigkeit zu den malerisch empfundenen Figuren der
Heiligen Hieronymus und Augustin.
Eine Abgrenzung gegen den empirischen Raum gibt es auf keiner
der Tafeln des Grabower Altares. Wie die vom Bildhauer *) geschaffe-
nen Figuren stehen besonders die Wiederholungen Gottvaters'^) im
euklidischen Raum. Keine Raumgrenze schafft hier einen Ausschnitt,
Abstand und Ende. Vielleicht könnte man den Erzählungen der
Schöpfungsgeschichte dabei eine gewisse Absicht, nämlich Verdeut-
lichung der Unendlichkeit, zusprechen. Die anderen Tafeln zeigen
aber auf das klarste, daß ein plastisches Orundempfinden des Künstlers
alle Darstellungen in dieser Eigenart bestimmt hat. Nicht eine der
Tafeln gibt einen wirklichen Raumausschnitt, Abschnürungen gegen
den empirischen Raum, Anfang und Ende des dargestellten Raumes.
Dieser Künstler hat mit dem Orundsehen des Malers bei diesen Tafeln
nichts gemein. Gestalten ragen in die Szenen (z. B. bethlehemitischer
Kindermord ')), werden überschnitten (z. B. Entdeckungen des Sünden-
') Vgl. H. A. Schtnid, Die Gemälde und Zeichnungen von M. Grünewald.
Straßburg, Tafel 27 b.
-■) Vgl. H. A. Schniid, a. a. O. Tafel 14 und 15.
') Vgl. H. A. Schmid, a. a. O. Tafel 27c und 27d.
') Vgl. H. H. Josten, M. Grünewald. Bielefeld und Leipzig 1913, S. 54 und 55.
') Daß Meister Bertram hier als Bildhauer in Anspruch genommen wird, be-
darf einer kurzen Begründung. Er wird in den archivalischen Nachrichten zwar
stets pictor genannt, ist aber dokumentarisch auch als Bildhauer tätig gewesen.
°) Vgl. A. Lichtwark, Meister Bertram. Hamburg 1905, Abb. S. 189, 191 ff,
') Vgl. Lichtwark, a. a. O. Abb. S. 233.
260 V. CURT HABICHT.
falles ')) und stehen ohne jede Rücksicht zum Räume. Wo es die Dar-
stellung nur irgend zuläßt, leben diese Figuren für sich, sie brauchen
die Umwelt nicht, sie haben vollen Halt im körperlichen Sein (be-
sonders deutlich Gottvater oder Kain oder Joseph auf der Flucht nach
Ägypten-)). Man kann diese Figuren lostrennen, ohne den Bildorganis-
mus zu zerstören. Sie sind nicht mit dem Bilde verwachsen, eben
nicht malerisch mit der Umwelt zusammengesehen. Ein durchaus
plastisch empfindender Meister ist hier deutlich am Werke gewesen ■).
Ein Maler-Bildhauer, was er ja auch urkundlich war.
Erst von diesen Orundgrenzen und ihren Folgen in zwiefacher
Betätigung aus lassen sich die übrigen Kriterien gewinnen. Neben
der Begrenzungsunbedürftigkeit der Gestalt wird der malende Bild-
hauer in der körperhaften Durchdringung seiner Figuren, in der Pla-
stizität sein angeborenes Talent verraten. Gewöhnlich legt man hierauf
allein Gewicht. Es bleibt aber einmal zu beachten, daß das raum-
füllende Bilden hier wegfällt, daß eine Identität mit dem kubischen
Schöpfungsakte nicht vorliegt und daß sich der malende Bildhauer
vom Augenblicke der Wahl der zweidimensionalen Mittel der Unmög-
lichkeit seines gewohnten Tuns vollauf bewußt wird. Er würde eben
bilden und nicht malen, wenn er sich nicht freiwillig dem Zwange des
malerischen Grundproblems unterworfen hätte. Nun ist aber, von
einigen wenigen Stilströmungen abgesehen, das körperhafte Runden
der Gestalten, die Herausmodellierung der Figuren selbst ein Postulat
der Malerei. Der malende Bildhauer trifft also hier oft auf ein Ver-
wandtes. Selbst die Andersartigkeit der Mittel wird es seiner hierzu
begünstigenden Begabung nicht verwehren können, urtümlicher und
schneller zum Ziele zu gelangen. Gewiß lagen ernste Bemühungen
in der Malerei in der Zeit um 1430 vor, die entschlossen auf glaub-
hafte Plastizität der Gestalt im Bilde ausgingen. Die rigorose Ein-
seitigkeit, die Iieilige Eindringlichkeit und die unbeirrbare Verfolgung
des einen Zieles in den Werken des Konrad Witz sind aber mehr als
dies, mehr als kluges und begabtes Aufnehmen von Dingen, die in
der Luft lagen. Hier verrät sich unter der Gruppe der Francke, Moser,
Lochner ein Bildhauer mit unverkennbarer Deutlichkeit. In der Tat
fehlt es uns auch nicht an Nachrichten, die die Beobachtung als
richtig erscheinen lassen, wenn ihnen auch keine zwingende Beweis-
kraft beizulegen ist. Ich meine die Stelle in der Reimerzählung, die
') Vgl. Lichtwark, a. a. O. Abb. S. 207.
'■') Vgl. Abb. in Lichtwark, a. a. O.
=) Die gewonnene Einsicht ist übrigens ein Grund mehr — unter anderen —
für die Annahme eines Autors (Meister Bertrams) als Urhebers der Malereien und
Piastiken des Orabower Altares.
ÜBKR MALKRBILDHAUER UND BILDHAUERMALER. 261
man jedenfalls nicht leicht abtun kann'). Es ist eine logisch nicht ganz
richtige Anschauung, wenn die Plastizität der Malerei darin gesehen
wird, daß man die Gestalten mit den Augen abtasten, daß man um
sie »herumgehen < kann. Dies ist erst eine Folge, ein Ergebnis, die
mit der Eigenart des bildhauerisch gefühlten Reproduzierens in Male-
reien gegeben sind, sie selbst aber nicht erklären. Die Entstehung
dieser Tatsache beruht auf dem eingeborenen Zwange, die zu bildende
Figur nicht von einer Einansicht aus, wie es der Maler tut, sondern
von allen Seiten, oder doch wenigstens von mehreren aus zu sehen
und dementsprechend zu gestalten. Gewiß kann man auch bei Figuren
eines reinen Malers, etwa denen der Kreuzigung des Isenlieimer Altares,
mit den Augen um sie herumgehen , aber die Einstellung auf eine
bestimmte Ansicht ist doch scharf festgehalten und mehr: diese Stellung
ist mit dem Ganzen organisch verwachsen, in Eins geschaut und dem-
gemäß gebildet. Ganz anders Witz. Etwa David und Abisai, Sabothai
und Benaja^). Die Körper sind nicht auf eine bestimmte Blickeinstellung
hin geschaffen. Soweit es die Grenzen der Malerei, die nicht darstell-
bare Rückseite, zulassen, sind alle Ansichten körperhaft wie bei einer
Statue und mit gleichberechtigter Betonung dargeboten. Und da die
Einstellung auf die Einansicht fehlt, geht auch der malerische Gesamt-
zusammenhang der Gestalten mit der Umwelt im Bilde verloren. Sie
leben für sich, unbekümmert um die sie umschließende Welt. Es ver-
steht sich, daß solche Ergebnisse doch nur relativen Wert besitzen,
daß sie aufschlußreich erst durch Messen an den zeitlichen Gesamt-
problemen werden können. Die Evidenz der bildhauerischen Anlage
von Konrad Witz wird ganz überzeugend etwa erst bei einem Ver-
gleiche seiner Werke mit dem Tiefenbronner Altare.
Der gleiche Fall liegt bei den mit Hans Multscher in Verbindung
gebrachten Malereien und Plastiken vor. Zur Verdeutlichung der Ab-
sichten dieser Abhandlung sei hierauf noch näher eingegangen. Die
Wurzacher Tafeln'') zeigen sämtlich eine auffallende Sorglosigkeit gegen-
über der Begrenzung des Bildes gegen den empirischen Raum. Ja,
im Gegensatze zu einer geschlossenen Projizierung eines Wirklich-
keitsausschnittes verfließen sie, gehen in den empirischen Raum über.
Fast überall finden sich an den Seiten Figuren, die in eine nicht mehr
sichtbare Raumschicht hineinragen. Nur bei den Innenräumen wird
das Blickfeld etwas mehr abgeschlossen, aber auch hier nicht absolut.
Bei den Sterzinger Tafeln ') kommt das malerische Grundempfinden
') Vgl. Mela Escliericli, Konrad Witz. Straßburg 1916, S. 30 ff.
-) Vgl. Abb. in E. Heidrich, Die altdeutsche Malerei. Jena 1909, Abb. 20 u. 21.
') Vgl. Heidricli, a. a. O. Abb. 30—33.
') Vgl. Heidrich, a.a.O. Abb. 39-41.
262 V. CURT HABICHT.
stärker zum Ausdruck, ohne aber die Unbekümmertheit um den empi-
rischen Raum ganz zu verleugnen. Man hat den Eindruck, daß längere
Erfahrung eine Änderung hat reifen lassen, wobei aber die Grundanlage
nicht verwischt werden konnte. Die Beobachtung entspricht der zeit-
lichen Differenz von nahezu 20 Jahren, in denen sich das malerische
Sehen überhaupt, die Schärfung der Beobachtung für die Wirklich-
keitswiedergabe und offenbar auch die Erfahrungen des Künstlers ge-
wandelt haben. Bei näherem Zusehen verblaf^t das Neue der Bild-
haltung doch sehr schnell. Es sind bestechende, dem Drang der Ent-
wicklung folgende, übernommene und sogar aufdringlich gegebene
Errungenschaften. Ist wirklich der Raum der Verkündigung des Ster-
zinger Altares ^), dieser an fremde Vorbilder kühlberechnend angeglichene,
das Wesentliche? Ist das von Rogiers Pathos gelenkte Sentiment die
Hauptsache? Kann man im Grunde von einer gesamtmalerischen Auf-
fassung sprechen? Ich glaube, bei allen diesen Fragen kann es bei
ernstlichem Eingehen auf die Tatsachen nur ein Nein als Antwort
geben. Es ist der Drang nach schöpferischem Bilden der Gestalt,
der hier nur zu deutlich spricht. Raum steigt von den breitgelagerten
Gewandmassen nach oben für die Gestalten (Mariae und Gabriels)
auf. Von einer Einansicht, von malerisch gesehener Verknüpfung mit
der Umwelt kann gar keine Rede sein. Am zwingendsten spricht wohl
die Darstellung des Gebets am Ölberg'*). Gewiß, die Landschaft ist
anders geworden als bei den Wurzacher Tafeln. Sie erstreckt sich
nahezu an den oberen Bildrand, hat Perspektive, Tiefe. Aber wie gleich-
gültig ist sie im Grunde. Sie ist ein Tribut an das Wollen der Zeit.
Nicht mehr. Warm wird der Meister erst bei den Figuren, d. h. bei
den bildhauerisch gefühlten Figuren. Hier erkennen wir eine Plastizität
des Gestaltens, einen Drang nach dem kubischen Raumfüllenden wie
bei den Wurzacher Tafeln. Dort ist die Einansicht allerdings schärfer
verlassen, die Gesichter erscheinen wie holzgeschnitzt. Die Schärfe
der Schatten- und Lichtverteilung von Bildhauerarbeiten schwebt dem
Künstler als notwendiges Wirkungs- und Ausdrucksmittel vor. Er sucht
sie mit einer rigorosen Härte durch malerische Mittel zu erreichen,
genauer gesagt, er arbeitet hier wie dort intuitiv auf gleiche Weise.
Das bildhauerische Grundgefühl und Reproduzieren können bei den
Wurzacher Tafeln unmöglich übersehen werden. Ich gebe zu, daß
es, wenn man von der üblichen stilkritischen Methode kommt, schwer
ist, den gleichen Meister für die Sterzinger Tafeln anzuerkennen. Aber
daß hier gleichfalls ein Bildhauer, und dann doch wohl der gewandelte
') Vgl. Heidrich, a. a. O. Abb. 40.
2) Vgl. Heidrich, a. a. O. Abb. 39.
ÜBER MALERBILDHAUER UND BILDHAUERMALER. 263
und an malerischen Erfahrungen bereicherte, von der niederländischen
Oroßmalerei stari< betroffene, Hans Muitscher am Werke war, habe
ich wohl deutlich gemacht.
Der bildhauernde Maler wird ebensowenig von seiner Grund-
anlage abweichen können. Außer der Begrenzungsbedürftigkeit seiner
Gestalten wird er, Gebilde schaffend, vom Zwange seines malerischen
Sehens bestimmt, einen Schauungsakt auf die Figuren projizieren. Sie
werden mehr als andere Plastiken die Einstellung auf eine bestimmte
Ansicht verlangen, jedenfalls in weit stärkerem Grade als Bildhauer-
werke einseitig tätiger und veranlagter Plastiker. Sie wachsen nicht,
sie sind gesehen. Sie wollen von einer bestimmten Stelle aus gesehen
sein. Dies Drängen auf eine Hauptansicht der Bildwerke bildet zwar
zweifellos auch ein Problem der Bildhauerkunst überhaupt und wird
durch Zweckursachen: Aufstellung an Portalen, in Altären usw. mit-
bestimmt. Die einseitige Vorkehrung dieses Problems, die Art seiner
Inangriffnahme und die Durchführung werden aber den malerisch
sehenden und veranlagten Autor in bestimmten Bildhauerarbeiten un*
schwer feststellen lassen. Die Seitenfiguren des Isenheimer Alfares,
die Heiligen Antonius, Hieronymus und die Bauern verraten den Maler
in dieser Hinsicht mit aller Deutlichkeit. Sie sind scharf auf eine Ein-
ansicht eingestellt (alle frontalen Photographien genügen deshalb nicht),
der Standpunkt ist für den Beschauer ganz genau vorgeschrieben. Der
Zwang, unter dem der Künstler gearbeitet hat, wirkt nach, muß be-
achtet werden, wenn man seine Absicht verstehen, seinem künstlerischen
Willen gerecht werden will. Als zweites Beispiel seien die Plastiken
des von mir in die Literatur eingeführten Meisters Wolter heran-
gezogen'). Er wird in den Urkunden stets Maler genannt und verrät
sein malerisches Empfinden und die dadurch gebundene Art seines
Reproduzierens auch deutlich genug. Die Tatsache soll hier aliein
bezüglich des Einstellungszwanges der Plastik auf die Einansicht be-
leuchtet werden. Zunächst: für den Augeneindruck, für den die Statuen
allein geschaffen sind, leben sie nicht unbedingt. Sie zerflattern in
den umgebenden Raum, suchen dort Halt und Resonanz, ohne ihn
finden zu können. Die ehemalige Bestimmung zur Aufstellung in einem
Altare hat diesem Tasten eine gewisse Beruhigung gegeben, sie be-
dingt aber eigentlich eine reine Frontalansicht, für die die Gestalten
wieder nicht geschaffen sind. Besonders bei dem Heiligen Martin -)
hat man bei reiner Frontalansicht nicht einmal die Möglichkeit, die Be-
deutung der Figur, viel weniger ihre formalen Absichten zu erkennen.
') Habicht, Die mittelalterliche Plastik Hildesheinis. Straßburg 1917, Tafel XXXVI
bis XXXIX.
•-) Vgl. Abb. 72 in Habicht, a. a. O.
264 V. CURT HABICHT.
Erst von einem Standpunkt ganz rechts zur Seite kann man die Oe-
bärde zu dem Bettler verstehen. Alle Formwerte sind auf diese Ein-
ansicht von der Seite her ganz einseitig eingestellt. Erst hier und hier
allein baut sich die Gestalt bildhauerisch auf.
Aufs engste verbunden mit diesen Bedingtheiten des bildhauernden
Malers ist seine Behandlung von Licht und Schatten. Der Bildhauer
formt Kreaturen, Gottvater ähnlich. Der Maler sieht sich verwiesen
auf ein Täuschungsmittel. Nur durch die Verteilung der Licht- und
Dunkelwerte ist es ihm möglich, eine Illusion von Plastizität zu er-
reichen. Diese grundlegende Ausdrucksgebundenheit wird er als Bild-
hauer kaum los werden können. Mit der Einstellung auf eine be-
stimmte Ansicht und dem Zwang der einseitigen Auffassungsnotwen-
digkeit seiner Gestalten wird er unumgänglich eine bestimmte Lichl-
und Dunkelverteilung verbinden. Er rechnet mit dem Lichteinfall von
einer klar vorgeschriebenen Seite. Die Figuren des Isenheimer Altares
zeigen diese Eigentümlichkeit, die aufs engste mit der Einstellung auf
die Einansicht zusammenhängt, ebenso klar wie die Figuren Meister
Wolters.
Mit ziemlicher Sicherheit wird sich also wenigstens feststellen
lassen, ob Malereien von einem Bildhauer oder Plastiken von einem
Maler herrühren. Dies Ergebnis gewinnt dann meist sicheren Boden
durch die mehr oder minder stark sprechenden dokumentarischen
Zeugnisse. Zur Beantwortung der Frage, ob nun bestimmte Arbeiten,
also etwa Malereien, von einem durch bildhauerische Werke greifbaren
Künstler angefertigt worden sind, oder umgekehrt, stehen uns also
Kriterien zur Verfügung. Jedenfalls sind wir nicht so hilflos, wie es
zunächst scheinen könnte.
Von Bedeutung zur Feststellung der Doppeltätigkeit erweist sich
ferner die Zuweisung zu einer der beiden kontrapolischen künst-
lerischen Möglichkeiten, zur Ausdrucks- und Formkunst. Die Tätigkeit
des Künstlers auf einem Gebiete, sei es Malerei oder Plastik, steht ja in
den uns beschäftigenden, strittigen Fällen fest. Es kann kaum Mühe
machen, mit Eindeutigkeit zu bestimmen, welcher Kategorie, der natura-
listischen oder idealistischen, wie Dvorak i) sagt, der Künstler zuzu-
zählen sein wird. Nehmen wir Grünewald. Unbedingter Ausdrucks-
künstler! Es wird sich also zur Klärung der jeweiligen Frage als not-
wendig erweisen, in den zweifelhaften Bildhauerarbeiten das Vorwiegen
dieser Anlage zu finden oder nicht. Man sieht aber leicht, daß diesen
Kriterien nur eine bedingte Beweiskraft, nämlich eine negative, zu-
') Vgl. Max Dvorak, Idealismus und Naturalismus in der gotischen Si<ulptur
und Malerei, München 1918.
ÜBER MALERBILDHAUER UND BILDHAUERMALER. 265
kommen kann. Der positive Wert wird geschmälert durch die Tat-
sache der allgemeinen, nicht singulären, Erscheinung dieser Ausdrucks-
arten; um konkret zu sprechen: Der Bildhauer des Isenheimer Altares
kann ein zweiter Ausdruckskünstler neben Grünewald sein, weil das
Vorherrschen dieser künstlerischen Grundrichtung wohl eine Eigen-
schaft Grünewalds, aber eine ihm nicht allein gehörige, sondern eine
spontane, willkürlich auftretende ist. Zur Klärung unserer Frage wäre
nur ein negatives Resultat zu gewinnen, falls die Plastiken ausge-
sprochen naturalistische (den Begriff in dem eindeutigen, von Dvoi'äk
für das Mittelalter festgelegten Sinne genommen) wären. Das sind sie
aber nicht. Die Hypothese der Anfertigung durch zwei verschiedene
Künstler verliert also durch diese Feststellung immerhin eine Stütze,
während sie durch die Anwendung der Grundkriferien (siehe oben)
zu Fall gebracht werden kann.
Ähnlich verhält es sich etwa bei den Arbeiten des Grabower
Altares. Trotz aller Transzendenz und aller Ausdruckskunst ruhen die
Werke hier wie dort, in Malerei und Plastik, auf der charakteristischen,
subjektiven Naturalistik. Die Gleichstrebigkeit ist auf beiden Seiten
vollkommen, aber wieder eingebettet in die allgemeinen Ziele der Zeit.
Ein Beweis für die Ausführung durch eine Persönlichkeit ist von hier
aus wieder nicht zu erbringen. Die Parallelität könnte auch in zwei
Individuen durch den Sfilwillen und das gemeinsame Zeitziel verknüpft
sein. Sie könnte. Andere Gründe, beibringbare müssen dazu kommen,
um die Identität behaupten zu können.
In weit größerem Abstände kommen dann die auf einem Kunst-
gebiete zu Recht bestehenden Stilkriterien; die beliebten Handhaben
nach der Morelli-Berensonschen Methode. Ihre Beweiskraft liegt gerade
in ihrer Unabhängigkeit — im ganzen und großen — von dem künst-
lerischen Gesamtwillen, von dem Wesentlichen der künstlerischen Ab-
sichten. Gerade die unnachahmbaren und zu Nachahmungen nicht
reizenden Marotten liefern hier die untrüglichsten und besten Hand-
haben. Es sind im Grunde materialistische Dinge, die über den Kern
des Kunstwerkes nichts, über den Urheber oft alles aussagen. Die
großen Ohren der Franckeschen Gestalten, die watteartigen Perücken
der Haardarstellungen Bertramscher Figuren rechnen hierher. Es sind
modi pingendi in Kleinigkeiten, nachlässige Erleichterungen in Neben-
sächlichem, kleine Schwächen großer Menschen, Konzessionen im
Kampf mit der Materie, Abbreviaturen bei der Realisierung der künst-
lerischen Absichten. Es versteht sich, daß diese Erscheinungen durch
die Technik bestimmt werden, und es ist deshalb nicht von vornherein
zu erwarten, daß sie sich bei der Handhabung verschiedener Techniken
wiederholen. Das Sichabfinden mit dem Stofflichen, die Mache, können
266 y. ClIRT HABICHT.
hier und dort zu ganz verschiedenen Schwächen führen. Wir besitzen
alle, auch die Nichtlcünstler, bei der mechanischen, nun einmal not-
wendigen Realisierung von geistigen Absichten, in der Emanation des
Geistigen, gewisse Tricks zur Bewältigung bestimmter Widerstände.
Sie können etwa in der Rede oder Schrift ähnliche oder gleiche sein,
brauchen es aber nicht. Genau so im künstlerischen Vortrage. Zeigen
Kunstwerke verschiedener Gebiete trotzdem übereinstimmende Sonder-
heiten in diesen Abkürzungen, Marotten, so darf der Nachweis als
Beweis für die Identität des Künstlers angesehen werden. Nur darf
man sie nicht von vornherein als die ausschlaggebenden Kriterien
verlangen oder erwarten. Sie können auch trotz der Identität des
Urhebers fehlen. Wiederholen müssen sie sich nur in Werken des
gleichen Kunstgebietes (Malerei oder Plastik). Aber diese Fragen be-
schäftigen uns hier nicht.
Mit Bestimmtheit wird sich hiernach feststellen lassen, ob Malereien
bildhauerische Begabung oder Bildhauerarbeiten malerische Veranlagung
verraten. Mit der Möglichkeit dieser allgemeinen Feststellung ist schon
viel gewonnen. Sie wird vorhandenen Nachrichten Stütze und Halt
geben, Nachprüfungsmöglichkeit und Bestätigung in bestimmten Fällen
schaffen können.
Die obigen Ausführungen sollen Hilfsmittel zur Entscheidung in
praktischen Fällen sein. Hilfsmittel nur, denn alle Geisteswissen-
schaften, auch die Kunstgeschichte, müssen mit Überraschungen rech-
nen. Gottlob, denn der menschliche Geist ist keine Maschine, und die
Grenzenlosigkeit seiner Betätigung ist das einzige, was uns noch Wun-
der erleben lassen kann. Hilfsmittel nur, denn vollkommene Sicherheit
geben einzig und allein eindeutige und sichere dokumentarische Nach-
richten. Ihr Nachweis muß — trotz aller zu erwartenden Enttäu-
schungen bei oft vergeblichem Suchen — stets Ziel und Antrieb bleiben,
wenn sich aus dem unbegrenzten Reich des Möglichen die nüchtern
greifbare Tatsächlichkeit erheben soll. Aber auch dann will das Factum
weniger gelesen als vielmehr verstanden sein. Auch hierzu wollen
die obigen Ausführungen einen Beitrag liefern.
X.
über den Tonschatten').
Von
Josef G. Daninger.
Die folgende Untersuchung gilt einem Erlebnis auf dem Gebiete
des Gehörsinnes, das in die Gruppe der Nachempfindungen ge-
hört, und zwar soll dieses Erlebnis hier im Zusammenhange mit dem
lebendigen Kunstwerk behandelt werden. Das bekannteste Schul-
beispiel für das Erleben einer Nachempfindung auf dem Gebiete des
Gesichtssinnes liefert die im dunklen Räume im Kreise geschwungene
glühende Kohle. Wir nehmen nicht die einzelnen Lagen der Kohle
wahr, sondern sehen einen leuchtenden Kreis. Die Erklärung für
dieses Erlebnis gibt die Psychologie damit, daß mit dem Aufhören
des physischen Reizes nicht auch sofort die Empfindung aufhört,
sondern daß vielmehr der Lichteindruck, den wir von der glühenden
Kohle an der ersten Stelle empfingen, noch anhält, wenn die Kohle
bereits eine Nachbarlage eingenommen hat. Auf dem Gebiete des
Gehörsinnes brauchen wir nur hinzuweisen auf die Erscheinung des
Echo. Die echogebende Wand muß etwa 18V' m vom Orte der
Schallerregung entfernt sein, damit die reflektierte Silbe von der gegen
die Wand gesprochenen getrennt wahrgenommen werden kann. Ein
anderes zu den folgenden Darlegungen in engerer Beziehung stehen-
des Beispiel: Wenn wir längere Zeit hindurch das Gerassel in der
Werkstätte einer Fabrik über uns haben ergehen lassen müssen und
hierauf ins Freie traten, so sind wir für einige Augenblicke taub für
kleine Geräusche.
Die Eigentümlichkeiten der Erscheinungen auf dem Gebiete des
Sinnes, durch den eine Kunst wirkt, stellen dieser besondere Auf-
gaben. Zeigen sie sich zunächst vielleicht als Hemmungen einer un-
gebundenen Entfaltung, so können sie anderseits Gelegenheit geben,
besondere Aufgaben zu lösen. Wir wollen die Bedeutung der Nach-
empfindung in der Tonkunst näher beleuchten, und zwar soll unsere
Untersuchung dem sogenannten Nachhall oder Tonschatten< gelten,
') Vortrag, gehalten in der deutschen Gesellschaft für Altertumskunde in Prag.
268 JOSEF G. DANINGER.
einer Erscheinung, in welcher die Nachempfindung zunächst als
Hemmung auftritt.
J. C. Lobe gibt im 2. Band seines Lehrbuches der musikalischen
Komposition (Lehre von der Instrumentation) S. 80 1) in dem Kapitel
über den Kontrast ein Beispiel aus Beethovens Egmontouvertüre:
Allegrosatz Takt Q2— 9Q. Die hier angezogene Stelle beginnt mit dem
Takte, in welchem die Tonart As-dur, die Paralleltonart zur Haupt-
tonart f-moll, erreicht ist. Es ertönt das bekannte schöne Thema in
Verteilung zwischen Klarinette, Flöte und Hoboe, während die Streicher
in tiefer Lage die Harmonie in Achteln ruhig hämmern über dem
Pizzikato der Streicherbässe und dem liegenden Fagottbaß. Aber erst
mit dem dritten Viertel des zweiten Taktes setzt die zarte Melodie
ein. Lobe, welcher die Stelle zunächst als Beispiel für den Instru-
mentalkontrast anführt, sagt: Diese Gestaltungsweise hat aber noch
einen zweiten Grund. Es geht nämlich unmittelbar eine kräftige Stelle
des ganzen Orchesters voraus, die noch mit einem Viertel in die
gegenwärtige Periode hereinschlägt und dadurch einen Nachhall
und Tonschatten über den ersten Takt wirft, aus dem das Akkom-
pagment sich erst zur vollen Klarheit herauszuwinden hat. Dies ge-
schieht in den beiden ersten Takten vollständig und nun werden die
zarten Töne der Blasinstrumente ungetrübt gehört. < Der Begriff des
Tonschattens ist hiernach klar. Die zarten Motive der Holzbläser setzen
nicht sofort ein, damit sich das Ohr vom Orchestertutti erholen kann.
Der Fluß des Tonsatzes darf aber nicht unterbrochen werden,
denn ein Stocken widerspräche ganz und gar dem Charakter dieses
dahinstürmenden Allegrosatzes. Die Streicher erfüllen daher die Auf-
gabe, den Fluß des Satzes zu erhalten, indem sie die Harmonie,
welche bereits erklungen ist, ruhig hämmernd fortsetzen-). Das
Verfahren des Tondichters kann aber an derartigen Stellen — die
weiteren Beispiele werden dies deutlicher hervortreten lassen — noch
in anderer Hinsicht Bedeutung für den ästhetischen Genuß erhalten,
nämlich durch die erzeugte Spannung, mit welcher wir die melo-
dische Erscheinung erwarten.
') J. C. Lobe, Lehrbuch der musikalischen Komposition, 2. Bd., Die Lehre von
der Instrumentation, 3. Auflage, Leipzig 1878. — Eugen Thomas hebt in seinem
Buche: »Die Instrumentation der Meistersinger von Nürnberg« hervor, daß Lobes
Buch im Gegensatz zu den meisten Lehrbüchern der Instrumentation auseinander-
setzt, worin das Oute oder Schlechte einer zitierten Partiturstelle liegt, wodurch
die Wirkung der Stelle zustande kommt.
*) Es braucht wohl nicht erst gesagt zu werden, daß der Verfasser dieser
Studie über die Wirkungen in den angeführten Beispielen spricht und diese zu er-
klären sucht, dagegen die Frage ganz unerörtert läßt, ob der Tondichter etwa in
der angedeuteten Richtung planmäßig vorgegangen ist.
I
ÜHER DEN TONSCHATTEN. 26«)
Der Zustand der Spannung ist gekennzeichnet durch das Ernst-
begehren nach der Kenntnis der weiteren Entwicklung eines Ge-
schehens '). Hieraus ergibt sich, daß solciie Spannung nur bei Zeit-
künsten in Frage kommen kann. Gebräuchlich ist es in der Dichtkunst,
von Spannung zu reden. Worauf soll sich in einem musikalischen
Kunstwerk die Spannung beziehen? Was soll hier Gegenstand des
vorhin genannten Ernstbegehrens sein? Spannung setzt ein nicht ab-
geschlossenes Geschehen voraus, ein Geschehen an einer solchen
Stelle angelangt, daß wir noch Bedeutsames erwarten.
Die Spannung beim Anhören eines Instrumentalstückes bedingen
daher alle jene Momente, aus welchen wir schließen, daß das Ton-
sfück noch nicht zu Ende sein kann. Hierher gehört z. B. die Modu-
lation. Richard Wagner rät in Über die Anwendung der Musik
auf das Drama , eine Tonart nicht zu verlassen, solange als, was
(sie!) wir zu sagen haben, in dieser noch zu sagen ist *). Aus diesem
Satze folgt: Wenn wir nach einer neuen Tonart modulieren, so muß
etwas Neues, Bedeutsames eintreten. Dieses Neue erwarten wir, da-
durch entsteht die Spannung.
Ein solcher Fall liegt in dem Beispiele aus der Egmontouvertüre
vor. Es wurde eben 18 Takte hindurch die Paralleltonart von f-moll,
die Tonart As-dur, festgelegt, wir erwarten daher mit Recht, daß der
Tondichter in dieser nunmehr befestigten Tonart auch etwas bietet.
Das Mittel, die Wirkung des Tonschattens aufzuheben, ergibt sich
zugleich als Mittel, die durch das Modulieren nach As-dur eingetretene
Spannung zu erhöhen.
Ein anderes Beispiel für das Auftreten des Tonschattens und für
die Art, wie diesem der Tondichter begegnen kann, finden wir in
Brückners IX. Symphonie im 1. Satz, 5 Takte nach dem Buchstaben D.
Der 13 Takte lange Satz — Tempo 1 (sehr breit) — schließt mit Be-
ginn des 13. Taktes mit einer Dominant-Tonika-Kadenz in D-dur. In
den 13 Takten entlädt das Orchester vollen Glanz. Bevor nun das
stufenweise absteigende Pizzikato der Streicher (p) mit den Zwischen-
rufen der Holzbläser (p) einsetzt, wirbelt die Pauke -'Solo< (wie es
auch in der Partitur heißt) pp auf d weiter. Zur Pauke gesellt sich
mit dem Eintritt des vorhin genannten Streicherpizzikatos das Tremolo
der Bratschen ebenfalls auf d. Der Paukenwirbel hat an dieser Stelle
dieselbe Aufgabe wie im Beispiele der Egmontouvertüre die hämmern-
den Achtel der Streicher. Auch hier tritt Spannung ein, aber nicht
wie oben durch die Feststellung einer neuen Tonika, es wird hier
') Vgl. Witasek, Ästhetik, Leipzig 1904.
') Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, 3. Auflage, Leipzig
1898, X. Bd., S. 193.
270 JOSEF G. DAHINGER.
vielmehr die alte Tonika bejaht, aber es ist so Gewaltiges vor sich
gegangen, daß wir unbedingt weiteres Geschehen erwarten.
Sehen wir uns den ersten Satz von Brückners V. Symphonie an,
so finden wir ein neues Mittel, dem Tonschatten zu begegnen. Im
15. Takte vom Beginn gerechnet setzt ff das Unisono des aus 2 Flöten,
2 Hoboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotten, 4 Hörnern und den Streichern
bestehenden Klangkörpers ein, an welches sich nach 3 Takten der
4-taktige Choral schließt. In diesem wirken außer den früheren Bläsern
noch 2 Trompeten, 3 Posaunen und eine Baßtuba mit. Nun folgen
drei halbe Takte Generalpause. Das Unisono setzt nochmals ein,
und zwar in der Tonika b (vorher die große Unterterz ges). Jetzt
beteiligt sich auch die Pauke. Diese Wiederholung ist der ersten Auf-
stellung analog gebaut, es folgen auch ihr drei halbe Takte General-
pause. In diesem Beispiele hebt die Generalpause die
Wirkung des Tonschattens auf. Ihre ästhetische Bedeutung
besteht zu beiden Malen in einer Erhöhung der Spannung. Eine so
große Machtentfaltung des Orchesters zu Beginn eines Symphonie-
satzes läßt Bedeutendes erwarten. Nach der ersten Generalpause tritt
jedoch dieses erwartete Neue noch nicht ein, es folgt vielmehr die
Wiederholung auf der Tonika. Die volle Energie des Orchesters ent-
lädt sich ruckweise. Durch die zweite Generalpause wird die Span-
nung noch erhöht.
Gegen die Verwendung der Generalpause könnte vielleicht das
gelegentlich des Beispieles aus der Egmontouvertüre berührte Be-
denken angeführt werden: das Aussetzen aller Instrumente zerstöre
den Fluß des Tonsatzes. Demgegenüber ist aber zu antworten: Wir
haben es hier nicht mit einem im Fluß befindlichen Tonsatz zu tun,
sondern mit einem sich erst entwickelnden.
Sorgfältiger Beachtung bedarf die Behandlung des Tonschattens
in Kompositionen für Soloinstrumente mit Begleitung des Orchesters.
J. C. Lobe sagt in dem oben genannten Lehrbuche im Kapitel über
»Die Instrumentation aller Arten von Virtuosenmusik«!): »Auf einen
vollstimmig und forte endenden Orchestersatz erscheint das eintretende
Solo selbst des stärksten Flügels mager und klanglos. In solchen
Fällen tut man wohl, das Orchester auf einer Fermate erst austönen
und durch eine Pause danach ganz verschwinden zu lassen, damit
das Ohr von der dicken Klangmasse befreit, beruhigt und für den
Eintritt des Solo empfänglich gemacht werde.; Lobe bringt als Bei-
spiel eine Stelle aus Beethovens C-moIl-Konzert: In Fortissimoorchester-
schlägen ertönt die Tonika C im V^-Takt auf dem 1. und 3. Viertel
') S. 349.
ÜBER DEN TONSCHATTEN. 271
des 1. Taktes, dann auf einer mit einer Fermate versehenen halben
Note des zweiten Taktes. Nun setzt das Klavier forte ein mit einem
Sechzehntellauf durch die C-moli-Tonieiter ausgehend von c, begleitet
von der tieferen Oktave; dem Laufe folgt ein analoger in der nächst
höheren Oktave und nochmals in der höheren Oktave. An dieser Stelle
ist besonders zu beachten, daß solche Läufe von selten des Hörers
noch keiner eigentlichen apperzeptiven Tätigkeit bedürfen und so be-
sonders geeignet sind, nach dem Tuttiklang des Orchesters die Klang-
farbe des Klavieres einzuführen.
Als weiteres Beispiel diene der Wechsel zwischen den Sforzato-
Schlägen des Orchesters und den Kadenzen des Klavieres zu Beginn
von Liszts Totentanz. Das aus 1 kleinen Flöte, 2 großen Flöten,
2 Hoboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotten, 2 Hörnern, 2 Trompeten, 3 Po-
saunen, 1 Baßtuba, Pauke, Becken und dem Streicherkörper bestehende
Orchester schlägt nach dem Erdröhnen des dies-trae-N[ot\ves auf das
erste Achtel des Taktes staccato einen verminderten Septakkord, erst
nach drei Achtel Pause im Andantezeitmaß setzt martellato<: im
Presto die Klavierkadenz ein. Die Stelle wird (einen Halbton höher)
wiederholt, nach zwei weiteren im Prinzip ähnlich gehaltenen Takten
folgt nach einem abermaligen Orchesterschlag nochmals eine Klavier-
kadenz. Jetzt kann diese schon mit dem zweiten Achtel einsetzen,
wir haben uns bereits mit dem Soloklang des Klavieres vertraut ge-
macht und so überschattet der letzte Tuttiklang keineswegs mehr den
Klavierklang.
Treffen wir in Tonwerken für Gesang und Orchester, etwa im
musikalischen Drama, auf Stellen, in denen der Tondichter der stören-
den Wirkung des Tonschattens begegnet, so können wir uns zwei
Fragen vorlegen:
1. Welche Beziehung zur Dichtung weist die Stelle auf, die die
schädliche Wirkung des Tonschattens aufhebt?
2. Welche Beziehung zur Dichtung zeigt die vorausgehende Kraft-
entfalfung?
In Wotans Abschied lautet an einer Stelle der Text: ». . . der
Feige fliehe Brunhildes Fels.'c Das erste Viertel des Taktes, auf
welches das Textwort >Fels« fällt, geben die Bläser (2 Flöten, 2 Hoboen,
2 Klarinetten, 1 englisches Hörn, 4 Hörner, 3 Fagotte, 2 Trompeten)
staccato und fortissimo, die Streichbässe geben in der Dauer einer
Achtelnote den Orundton h, Violinen und Bratschen setzen in Oktaven
ein Tremolo ein. Dieses Oktaventremolo dauert abnehmend bis zum
p zwei Takte hindurch. Es hat bezüglich des Tonschattens der vorher-
gehenden Orchestersteigerung und des Einsetzens des folgenden Sieg-
friedmotives dieselbe Bedeutung wie in der Egmontouvertüre die im
272 JOSEF G, DANINGER.
As-dur-Dreiklang ruhig hämmernden Streicher. Die beiden Stellen
unterscheiden sich aber in folgender Weise:
1. In der Egmontouvertüre finden wir in meßbarem Achtelrhyth-
mus pulsierende Akkorde, hier in für den Hörer unmeßbar kleinen
Zeitintervallen tremulierende Oktaven, dort in tiefer Lage das dunkle
As-dur, hier in hoher Lage (h bis h) das helle H-dur (als Dominante
von E-dur). Nicht zu übersehen ist die durch die Oktaven plötzlich
eintretende harmonische Leere nach der harmonisch reich ausgestal-
teten Verheißung des -bräutiichen Feuers. Die zum Verfolgen der
Harmonie nötige psychische Energie wird frei. Eine derartige plötz-
liche Entlastung wird begleitet von einem eigentümlichen Gemüts-
zustand, welcher gewissermaßen die Frage auslöst: Was geschieht
nun? Es tritt also wiederum Spannung ein. Diese wird erhöht durch
die mit Sechzehntelauftakt einsetzende, den zweiten Takt hindurch
ausgehaltene Oktave h bis h der zwei Trompeten und zwei Posaunen
vom Forte zum Piano abnehmend. Die musikalische Einkleidung der
Stelle steht in engstem Zusammenhang mit der Dichtung. Gerade
vorher malt das Orchester in überaus genialer Weise die ^zehrenden
Schrecken des Feuers; »der Feige fliehe Brunhildes Fels!> Hierdurch
ist die gewahige Entladung im Orchester begründet. Nun die ge-
spannte Erwartung nach dem berufenen Wecker. Hatten wir in der
Egmontouvertüre ein allgemein gezeichnetes Stimmungsbild vor uns,
so befinden wir uns hier inmitten einer dramatisch scharf umrissenen
Situation; daher die Verschiedenheit der Mittel in der Behandlung der
beiden Fälle, welche instrumentationstechnisch grundsätzlich gleich-
artig sind.
Einige Beispiele aus Wagners Meistersinger mögen nun folgen.
Die Beispiele entstammen dem Wahn-Monolog. Als erstes diene die
Stelle nach den Worten: ... gleich wacht er auf, — dann schaut,
wer ihn bemetstern kann!« Hier bricht das Orchester nach einer
lebhaften Steigerung bis zum Forte (darin das Wahnmotiv — Hör-
ner und Trompete — ) mit einem Zweiunddreißigstellauf der beiden
großen Flöten, der beiden Klarinetten und der Streicher plötzlich ab.
Nun folgt eine Generalpause. Nach dieser setzt in den Streichbläsern
wiederum das Wahnmotiv p ein. Das technische Mittel, das an
dieser Stelle den Tonschatten unwirksam macht, ist die Generalpause.
Wir hatten sie im gleichen Dienste bei Brückners fünfter Symphonie
kennen gelernt, dort in der reinen Instrumentalmusik, hier in der
dramatischen Musik. Die Orchestersteigerung ist in Sachsens vorhin
angeführten Worten begründet. Die angestaute psychische Energie
entspannt sich in der Generalpause, und nun wenden sich Sachsens
Gedanken dem lieblichen Nürnberg zu.
n
ÜBER Dm TONSCHATTEN. 273
Ein zweites Beispiel bietet der Monolog in der Oeneralpause,
welclie dem Eintritt des Sommernachtsmotives in H-dur, ^/j-Takt, vor-
angeht. Das der Oeneralpause vorangehende Anschwellen des
Orchesters weist eine Steigerung auf gegenüber dem Anschwellen im
vorigen Beispiel. Diese Steigerung ist zunächst gegeben in der Zu-
sammensetzung des Orchesters aus kleiner Flöte, 2 großen Flöten,
2 Hoboen, 2 Klarinetten, 4 Hörnern, 2 Fagotten, 2 Trompeten, Baß-
tuba, Pauke, Streicher hier gegen 2 große Flöten, 2 Hoboen, 2 Klari-
netten, 4 Hörner, 2 Fagotten, Trompete und Streicher dort. Die
Steigerung liegt aber auch im motivischen Material. Dort ist die
Steigerung entwickelt mit Hilfe des schön geschwungenen Lenzes-
gebotmotives, zu welchem sich im letzten Takt das markante Wahn-
motiv gesellt, hier mit Hilfe des lebhaft hämmernden Prügelmotivs,
staccato in chromatischer Aufwärtsführung; schließlich folgt ein schriller
Sechzehntel-Sextolenlauf, dazu kommt noch das drängende Zeitmaß
mit den nachschlagenden Viertein in der Pauke und den Trompeten.
Während im vorigen Beispiel die Generalpause auch dem Sänger gilt,
ist dies hier erst vom zweiten Viertel der zweiten Pause an der Fall.
Die erste der beiden Pausen mit dem letzten Viertel des vorangehen-
den und dem ersten des folgenden Taktes erfüllen Sachsens Worte:
»Gott weiß, wie das geschah?* Die Worte werden durch die voraus-
gehende Orchesterentwicklung nicht überschattet, da die Stimme des
Sängers auf der Bühne gegen das vertiefte, oder sogar verdeckte
Orchester genügend kontrastiert. Das Mittel der Generalpause erfährt
hier durch die Weiterführung der Singstimme eine feine Abstufung.
Abermals versinkt Sachs in Träumerei, und nun folgt die herrliche
Stelle: das Sommernachtsmotiv in gedämpften Violinen und Bratschen
mit Begleitung der Harfe. Die Generalpause hat hier auch noch eine
spieltechnische Bedeutung, nämlich die, den Streichern die zum Auf-
setzen der Dämpfer nötige Zeit zu gewähren.
Noch eine dritte Stelle aus dem Wahnmonolog soll hier vorge-
bracht werden, es sind dies die zwei letzten Takte vor dem Beginn
der zweiten Szene. Diese setzt ein mit dem p dolce beginnenden
Terzquartakkord der Holzbläser und Hörner, in deren Klang die Harfe
ihre Arpeggien mischt, dazu noch das as der Violoncelli. Zwei Takte
zuvor ertönt fortissimo (2 Flöten, 2 Hoboen, 2 Klarinetten, 4 Hörner,
2 Fagotte, 1 Trompete, Streicher) der Dominantakkord von C-dur.
Von den Bläsern setzen schon mit dem zweiten Viertel des Taktes
4. Hörn und 2. Fagott aus, die übrigen Bläser erst mit dem letzten
Achtel des Taktes, ausgenommen die Trompete, welche auch noch
den folgenden Takt hindurch g aushält. In diesem Takt lassen die
Streicher das schon im ersten Takt einsetzende Diminuendo auf dem
Zeitsclir. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. .\IV. l'S
274 JOSEF G.DANINGER.
Akkord ausklingen, die vorhin erwähnte Trompete verstärkt den Baß
der Violoncelli. Die Streicher geben noch das erste Achtel des
folgenden Taktes. Hier wird der Tonschatten unwirksam gemacht
durch das diminuendo Ausklingen des Akkordes in den Streichern
und in der Trompete. Die Orchestersteigerung war begründet in
Sachsens Entschluß; die folgende Szene muß mit zartem Kolorit ein-
setzen.
Die gleichzeitige Aufgabe, die störende Wirkung des Tonschattens
aufzuheben, kommt neben seiner Bedeutung für die Szene im zweiten
Aufzuge vor dem ersten Auftreten des Nachtwächters dem Nacht-
wächterhorn zu. Walter Stolzing gibt gerade seiner Wut über die
Meister Ausdruck. Die Violinen stürmen in die Höhe unterstützt
von der kleinen Flöte, dazu der aus 2 großen Flöten, 2 Hoboen,
2 Klarinetten, 4 Hörnern, 2 Fagotten und Bratschen ertönende Akkord,
die Pauke wirbelt, die Violoncelli trillern, fortissimo erklingt nun, ge-
bildet von sämtlichen Streichern (tremuliert) und von den Bläsern der
Akkord (a c es ges [fis]) ^), zu diesem Akkord setzt das Nachtwächter-
horn hinter der Szene mit fis ein. Mit dem ersten Achtel des
folgenden Taktes setzen sämtliche Orchesterinstrumente aus und nur
das Nachtwächterhorn tönt diminuendo während der mit einer Fer-
mate versehenen Generalpause des Orchesters hinüber zum ersten
Achtel des folgenden zarten H-dur-Satzes, welcher nach Walters leiden-
schaftlichem Ausbruch in die anmutige Stimmung der Sommernacht
hinüberführt.
Mit diesem Beispiele möge unsere Studie geschlossen sein. Noch
zahlreiche weitere Beispiele ließen sich vorführen, das Grundsätzliche
unseres Gegenstandes dürfte aber mit den angeführten genügend dar-
gelegt sein.
■) Die eckige Klammer soll andeuten, daß die Buchstaben nur die Akkord-
elemente geben aber nichts mit der Stellung des Tones in einer bestimmten Oktave
zu tun haben.
Bemerkungen.
Das Ästhetische und die Kunst.
Von
Erich Major.
Die Grenzlinie zwischen dem Ästhetischen im weiteren Sinne und dem Künst-
lerischen im engeren ist noch nicht gefunden. Die beiden Gebiete berühren sich,
aber sie decicen sich nicht und das eigenth"che Wesen des Unterschiedes ist nicht
vollständig klargestellt. Ein kunstgewerbliches Ornament beispielsweise, die Kurven
einer Tapete, die feinen Verzahnungen eines Uhrwerks sind sicherlich ästhetisch,
jedoch niemals Kunstwerke. Bis ins Primitivste hinunter sehen wir, wie die Menschen
versuchen, ihre Umgebung ästhetisch zu gestalten. Jeder empfindet sofort Miß-
behagen, wenn etwa in einer Bücherreihe das mittlere Buch das größte wäre und
die daneben stehenden kleiner. Ebenso spüren wir, selbst in der Haltung unseres
Körpers, im Verhältnisse zu uns selber und zu unserer Umgebung unzweifelhafte
Gesetze des Ästhetischen, die nicht verletzt werden können, ohne sofort das schärfste
Mißfallen, ja eine sehr oft unverhältnismäßige Mißbilligung hervorzurufen. Ganz
anders und scheinbar getrennt davon ist das Künstlerische. Im Kunstwerk wird ein
gewisser Grad von Unregelmäßigkeit, von Willkürlichkeit, ja von Dissonanz beinahe
gefordert. Jedes Kunstwerk, das rein ornamental gestaltet wäre, sich ganz nach
dem Gesetze richten würde, das sich in den Ausschmückungen eines Tischläufers
ausdrückt oder in der Schwingung und Biegung einer Lampe, wäre rettungslos
der Langweile preisgegeben. Nicht die geistige Idee bedingt den Unterschied.
Denn auch ein Ornament kann in seiner Art und durch mystische Deutungen idealen
Wert erhalten und doch kein Kunstwerk sein. Es muß somit etwas anderes sein,
was diese Differenzierung und das innerste Wesen dieses Gegensatzes ausmacht.
Und da stoßen wir immer wieder auf die berühmte und noch immer als vollgültig
betrachtete Kantische Lehre von dem interesselosen Wohlgefallen als Kriterium des
Ästhetischen. Schon Nietzsche hat es mit Recht als Unding bezeichnet, daß Schön-
heit keine Begierden erwecken und nur eine Art von Kastratengefühl, ein ärmliches,
blasses und dennoch süffisantes Behagen hervorrufen solle. Die Kantische Definition
ist rein negativ. Sie will nur besagen, daß man keine praktischen Ziele beim reinen
Anschauen des Ästhetischen verfolgen könne, daß sich das Schöne vom Angenehmen
unterscheide. Den positiven Inhalt des Kunstgefühls hat jedoch Kant nicht gefunden
und er gibt nur eine Abgrenzung und noch dazu eine sehr zweifelhafte, da ja bei-
spielsweise die Gegenstände chinesischer Kunst zum größten Teil praktische Neben-
ziele verfolgen, ohne jedoch zu sagen, was innerhalb der Grenzen der Interesse-
losigkeit das Besondere und Spezifische des Ästhetischen ausmacht.
Wenn man diesen Begriff überhaupt annimmt, so gibt es nur ein Gebiet, für
das er wirklich in gewissem Maße zu passen scheint, nämlich das Ästhetische im
weiteren Sinne. Wenn ich die Verflechtungen einer Sessellehne betrachte, so ist
diese Regelmäßigkeit gewiß ästhetisch und wirkt im Sinne eines Wohlgefallens, das
276 BEMERKUNGEN.
sicherlich als solches mit praktischen Erwägungen nichts zu tun hat, so sehr auch
der Ursprung dieser Ornamantik mit Gesetzen des Praktischen verwoben sein mag.
Positiv gesprochen, zeigt sich in ästhetischen Kurven das freiwillige Befolgen des
ökonomischen Prinzips, ferner das Streben, dem Auge nach den Gesetzen des
menschlichen Körpers Doppelseitigkeit zu geben und zu gleicher Zeit in den Linien
Bewegungsfornien darzustellen, die angenehme Wirkung haben. Die Kurven oder
die Farben oder die Töne bei Etüden, die beiläufig die Verpflanzung des Orna-
mentalen ins iWusikalische sind, gehorchen den Gesetzen der Spannung und Lösung
der körperlichen Reize, ferner dem Bedürfnis des Organismus nach Reichhaltigkeit
der Einwirkung, nach Funktionslust und nach Kontrastwirkung. Diese Gesetze
bieten jedoch nur die Wesenheiten des Rahmens, und nie und nimmer wird diese
ästhetische Regelmäßigkeit künstlerische Wirkung im eigenen und echten Sinne her-
vorrufen. Denn ihr fehlt der wesentliche Umstand, das eigentliche Kriterium des
Künstlerischen, und das ist gerade die von Kant verpönte und von einer
asketischen und lebensfremden Ästhetik abgewiesene Begierde.
Man versuche einmal die Wirkung des Kunstgewerblichen bei sich selber zu
beobachten. Der Unbefangene wird nach längerer Besichtigung eine eigentümliche
Abspannung empfinden, ein Gefühl nahe der Langweile, weil eben alles Anschauen
dieser Art uninteressiert bleibt, weil der Kontrapunkt fehlt, das Bewegte der
Empfindung, die beim echten Kunstwerk nicht in sich ruhend ist, sondern wie bei
allen starken Reizen motorische und vasomotorische Wirkungen hervorruft. Man
versuche es einmal, ein solches Ornament wirklich fortlaufend zu verfolgen. Binnen
kurzem wird sich vollkommener Überdruß einstellen und ein gleichsam physiologi-
scher Ärger, der uns zwingt an etwas anderes zu denken und aus der Regelmäßig-
keit, aus dem Anblick der einschläfernden Ranken, aus diesem leeren Wohllaut ins
Lebendige und ''Interessierte^, mit einem Worte: in die Begierde zu flüchten. In
diesem Moment liegt für uns der wesentliche Unterschied und die Grenzlinie des
Kunstwerks. Das Ornament erweckt Behagen, ebenso die gut gegliederte prosaische
Rede mit der richtigen Abwechslung der Vokale und der >normalen» Gliederung
des Satzbaus. Das Kunstwerk dagegen ist niemals »normal , sondern
immer wächst es aus den Elementen des Behagens zu dem Triebhaften, Elementaren
und zu der Dämonie, die auch das Unlustvolle, das Unharmonische, ja das Peinliche
für sich zu erobern vermag.
Was ist Begierde? Sie bedeutet eine Triebäußerung, verbunden mit einer Vor-
stellung. In dieser Gemeinschaft ergibt sich zu gleicher Zeit eine Doppelseitigkeit.
Die Triebäußerung ist schmerzhaft und entladet sich in dem Schrei des Kindes nach
der Mutterbrust und in den Qualen des Liebenden. Die Vorstellung, der geistige
Anblick des Begehrten dagegen ist lustvoll und bewirkt die seligen Ekstasen bei der
sich nähernden Erfüllung, die vorwiegende Freude an der Gewährung, an dem
Anteros, der Gegenliebe, wie sie die Griechen geistvoll als Gegenwert zum Eros
verkörperten. So nu'schen sich Lust und Unlust, Freude und Leid, Kühnheit und
Angst, Streben nach dem Wirklichen und phantastisches Ausgreifen in der Begierde,
die nach unserer Ansicht zum Kunstwerk leitet. Aber noch ist der exakte oder
zum mindesten der Indizienbeweis nicht geführt, 'daß es sich tatsächlich bei der
künstlerischen Empfindung im Gegensatze zur ästhetischen im allgemeinen um Be-
gierde handelt. Vor allem ist die Einhaltung der Grenze zwischen Gefühl und Be-
gierde sehr schwierig, Leiden setzt sich in die Begierde der Tränen um, wie sie
schon Homer genannt hat und in den Wunsch, das Leidvolle auszuschalten. Lust
wieder mündet in Gelächter, oft auch in Tränen oder in frohmüfige Bewegung und
in die Begierde der Aneignung. Das Wesentliche des Gefühls im Gegensätze zur
BEMERK13NGES. 277
Begierde ist jedoch zweierlei: Einheitlichkeit und Ruhe. Wer Lust empfindet, wird
solange das Gefühl haben, als diese Lust eben nicht in die Bewegung übergeht,
noch nicht das Zufassen nach dem Gegenstand, den Willen auslöst, ihn zu besitzen.
Ebenso wird Unlust die ruhige Trauer sein, die noch nicht physiologische Se-
kretion, noch nicht den Abscheu erzeugt und den Gegenpol zwingend und lockend
in das Bewußtsein bringt. Prüft man nun die künstlerische Sensation, im Verhältnis
zu diesen Abzweigungen, so möge sich jeder einzelne fragen, was er in seinen
stärksten Erschütterungen empfunden hat, in den Augenblicken, wo er nicht auf-
nehmend oder mindestens nicht aufnehmend alleinjdem Kunstwerk gegenüberstand,
und er wird finden, es ist nicht die eigentümliche Annehmlichkeit wie beim Betrachten
einer schönen Farbe, einer rein geformten Ledertasche, einer richtig geschweiften
Brosche und einer selbst zierlich angeordneten feinen Wohnung. Es ist auch nicht
die unzweideutige Ablehnung wie bei offenbarer Asymmetrie von Gegenständen,
bei fleckigen Kleidern, abgebrochenen Flaschen oder falsch gearbeiteten und ge-
stellten Sätzen. Sondern es ist eine neue, über beide Empfindungen hinausgehende,
sie beide gleichsam in eine Hülle spannende und durch starke Ladung von Oeistig-
keit veränderte Erregung. Nehmen wir die zweite Sinfonie von Mahler, diese
vielleicht höchste Leistung eines modernen Genius. Ist es »Lust«, die uns bei dieser
Musik ergreift, ist es »Unlust», fühlen wir uns angezogen, abgestoßen, sind wir
erfreut oder empfinden wir Gram? Keines von all dem und doch alles zusammen,
es ist Begeisterung am Wohlklang und doch wieder das eigentümliche Ziehen und
Zerren an unserem Innersten, die strömende Bewegung, die Plato in unvergleich-
licher Plastik mit der Wachstumsenipfindung verglichen hat, als regten sich, wie er
im Phädrus sagt, die alten Schäfte der Flügel, die wir auf unserem Himmelssturze
verloren haben. Ja, selbst bei der lustvollsten Musik, bei »Figaros Hochzeit«, ist
es nicht »Lust«, die wir empfinden, viel mehr eine prickelnde, aufwühlende, beinahe
schmerzhafte Erkenntnis der Vollendung. Der Abgrund zwischen Gefühl und Be-
gierde, darin ist der Unterschied zwischen dem Ästhetischen und dem Künstlerischen
verborgen. Daß man »keusch«, in meiner Sprache erotisch begehren kann, das
ist das dem Philister unlösbare Geheimnis der Kunst, und in dem Unverständnis
für diese spezifisch künstlerische, auch sinnliche und dennoch vom rein Physiologi-
schen freie und daher »reine« Begierde beruhen alle muckerischen Hetzen gegen
die Kunst und ihre Freiheit dem Nackten und dem (sobald unkünstlerisch betrachtet),
»Unsittlichen« gegenüber. Dieses ewig Harmlose, dieses vollkommene Billigen des
Begehrten und des Begehrens, dieser Zusammenschluß von Körper und Geist mit
dem Geist als Führer, darin liegt für den Dutzendmenschen das Unheimliche, ja oft
Widerliche und Abschreckende der Kunst, während darin doch nur das Inkommen-
surable im Sinne Goethes ist, das seltsame Schweben zwischen Göttlichem und Mensch-
lichem, zwischen Erdenleid und Himmelsfreude, der Dämon.
Nun könnte man einwenden, es handle sich nicht um eine Begierde, sondern
um ein gemischtes Gefühl, etwa, wie wenn man Trost im Ausweinen finde oder
mit allzu vieler Freude die Wehmut des Vergehens verknüpfe. Eine Begierde könne
nur in dem Wunsche nach Besitzergreifung eines Gegenstandes liegen. Hierauf
ist zu antworten: Es mag sein, daß beim Rezeptiven das künstlerische Empfinden
manchmal im Gefühl stecken bleibt und zu schwach, zu unbestimmt ist, um sich
zur Begehrung zu erhöhen. Unmöglich ist dies aber bei der Hauptperson des künst-
lerischen Prozesses, dem Schöpfer des Künstlerwerkes, dem Produktiven. Denn
sonnenklar ist es, daß er wirklich etwas besitzen und haben will, daß er den geistigen
und körperlichen Stoff verschmelzen, den Gegenstand seiner Sehnsucht zwingen und
im toten Stoff befestigen möchte. Diese Begehrung, die mit stürmischer, oft unab-
278 BEMERKUNGEN.
weislicher Intensität den Schaffenden überfällt, diese >Brunst« (Wagner), dieser ge-
waltige Drang kann nicht mehr mit -Gefühlt verwechselt werden, er ist nicht
mehr Ruhe, nicht mehr Beschauung, nicht mehr passives Wirkenlassen, sondern
höchste Aktivität, ein Stürmen der visionären und plastischen Fähigkeiten, ein
Zusammenklang von Schmerzlichem und Lustvollem, wie ihn in dieser Schärfe
nur die Begierde bietet, die schon der Rezeptive, der Hörer im guten Sinne des
Wortes, wenn auch in Schattenhaftigkeit und rudimentär empfindet. Nun wäre
noch das Problem zu lösen: Die Begierde wonach? Hier erhebt sich jedoch
eine Frage, die nur in Umrissen besprochen werden kann. Die Sehnsucht nach
Verewigung, die hier an erster Stelle steht, hat insbesondere Schmarsow in seinem
großen Werk über die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft betont, worin er
sagt: es komme darauf an, die Gegenstände dem ewig wechselnden Strome des
Werdens und Vergehens zu entrücken, sie hinzustellen zu freiem Genuß, ja eben
diese Werte als anerkannte zu verewigen für den Menschen, sei dies der Schöpfer
des Werkes allein oder seinesgleichen allesamt. Auch in seinem letzten großen
Essay in diesen Blättern entwickelt er denselben Gedanken und er führt dieses
Prinzip auch aus der primitiven Kunst hervor, indem er darstellt, daß die Halskette
der Frauen nichts anderes bedeutet, als die »beharrende Wiederholung- der
Liebkosung eines geliebten Mannes, ebenso die Umrahmung der Stirne, der Augen
und Ohren. »Das Ornament selbst ist in all seinen mannigfachen Variationen nichts
anderes als ein Niederschlag des mimischen Spiels um solchen Wert herum, des
anerkennenden Verweilens und beteuernden Wiederkehrensim Erfassen
des gefundenen Wertes. Eben 'lie nachfühlende, genießende Wiederholung der
ähnlichen Gebärde ist der Sinn, der allem Reichtum der Motive, allen Abwechs-
lungen der Form für den nämlichen Inhalt zugrunde liegt.« Schmarsow geht somit
im gleichen Gedankengang wie unabhängig von ihm der Verfasser von dem Grund-
satze aus, daß das Produktive den Vorrang in der Ästhetik habe und in seinem
letzten großen Aufsatz in dieser Zeitschrift spricht Schmarsow wieder den Gedanken
der Verewigung aus und bezeichnet das Schaffen als die Auseinandersetzung des
Menschen mit der Welt.
Diese Definition, so fruchtbar und bedeutsam sie sein mag, erscheint uns
jedoch als zu unbegrenzt, zu allgemein und zu vieldeutig. Denn zu dem Wunsche,
dem Begehren nach Verewigung muß noch ein weiteres bestimmendes Merkmal
hinzutreten, weil sonst die Abgrenzung zur Wissenschaft, zur Geschichte, zur
Philosophie, zu den halbniechanischen Fähigkeiten wie Photographie und Kine-
matograph nicht möglich wären. Es ist das Moment des Sinnlichen, die Begierde
nicht nach der künstlerischen Handlung, denn sie ist ja Verewigung, sondern nach
einer bestimmten Art des Gegenstandes dieser Handlung und nach bestimmter
Art der Verewigung. Der Wille zur Verewigung muß sich, wenn er künstlerisch
sein soll, mit der Begierde nach dem Geliebten vermählen, er muß in gegenständ-
licher Richtung bestimmt sein durch das Sehnsuchtweckende oder Sehnsucht-
stillende, durch die Atmosphäre der rein sinnlichen Erregung, hervorgerufen durch
Hörbarkeiten, Sichtbarkeiten und Tastbarkeiten, die unser Liebesvermögen berühren.
Er muß, sei es im Sinne der Schmerzphase, wenn man so sagen darf, dieser Be-
gierdenkurve arbeiten, indem er die Streb ung selbst in ihrer heftigen, unrast-
vollen, oft grausamen, ja wahnsinnigen Gewalt darstellt oder im Sinne der Lustphase,
wenn der Gegenstand dieser Sehnsucht nähergerückt ist und die Begierde sich be-
sitzend glaubt und in der Erfüllung bereits zu schwelgen scheint.
Was ist neben solchen Kräften die hausbackene Empfindung des Ästhetischen
im allgemeinen, die stumpfe Beh.Tglichkeit dieses einschläfernden Paradieses. Wie
I
BEMERKUNGEN. 219
sollte erklärt werden, daß die heftigsten Strebungen, ja Verbrechen künstlerisch
wirken können, wenn nicht schon im Wesen, in der Entstehung der Kunst eine
Affinität zur Begierde läge, als deren heftigste Äußerungen solche Abnormitäten
sich darstellen. Nein, da ist eine entscheidende, psychologisch wesentliche Kluft,
und das Ästhetische im weiteren Sinne ist eben nur Dienerin des Künstlerischen,
ein Hinlocken des Gemüts zu jener Höhe, wo dann eben »Lust« und »Unlüste auf-
hören und das »Erleben'» beginnt; ein Luxusgefühl, eine Empfindung höheren, be-
wegteren Daseins. Lust und Unlust sind nur Stufen, nur Helferinnen der großen
schöpferischen Auseinandersetzung, die das Kunstwerk hervorbringt. Die reine
Begierde, die ewige Sehnsucht ist es, die das Künstlertum erzeugt.
Fichte und die Lehre von der „romantischen Ironie".
Von
Carl Enders.
In ihrem Aufsatz «Die romantische Ironie (in dieser Zeitschrift Xlll [lOlSj,
S. 270 ff.) will Käte Friedemann zeigen, daß die allgemeine Annahme einer Ein-
wirkung Fichtes auf die Lehre von der romantischen Ironie nicht richtig sei. Diese
ijberzeugung wird ihr erweckt einmal »durch die Aussprüche der Romantiker über
das Wesen der Ironie, die nicht auf eine Verherrlichung des Ich, sondern im Gegen-
teil auf dessen Preisgabe an den Geist des Universums deuten, und zweitens durch
das gänzliche Fehlen irgendwelcher Hinweise darauf, daß hier tatsächlich ein Ein-
fluß Fichtes vorgelegen. Somit (schließt sie) scheint der von Hegel stammenden
und immer weiter verbreiteten Behauptung jeder sichere Boden entzogen zu sein«.
Ich kann diesen Ausführungen durchaus nicht beistimmen '). Vor allem scheint
mir ein methodischer Fehler vorzuliegen, wenn die Verfasserin sich für ihre Dar-
legungen auf die Aussprüche beschränkt, in denen das Wort Ironie vorkommt. Wo
würden wir in der Erforschung geistiger Zusammenhänge hinkommen, wenn wir
dieses äußerliche, hier als selbstverständlich vorausgesetzte Prinzip anerkennen
wollten ? Welche lebensfremde Auffassung geistiger Lebensprozesse liegt dem zu-
grunde! Und dabei handelt es sich hier um eine Bewegung, welche das »Sym-
philosophieren^ auf ihr Banner geschrieben hat! Es kommt doch wahrlich nicht
auf das Wort an, sondern auf den ganzen Begriffskomplex, in dem ein Glied durch
dieses Wort bezeichnet wird. Die Ironie ist, wenn sie auch, was ja bei der ge-
wollten Vermischung aller geistigen Betätigungsweisen (Philosophie, Kunst, Moral)
bei Friedrich Schlegel selbstverständlich erscheint, nicht rein .Hsthetisch ist, doch aus
ästhetischen Betrachtungen heraus geboren. Und so müssen zum wenigsten alle
Äußerungen über Poesie, das Wesen des Künstlertums usw. herangezogen werden.
Käte Friedemann behauptet nun, es widerspräche durchaus der Art Friedrich
Schlegels, in den Athenäumsfragmenten sowohl von Fichte wie von der Ironie zu
sprechen, ohne beide je miteinander in Zusammenhang zu bringen. Denn er sei
keine unbewußte Natur und gebe sich stets Rechenschaft über die Einwirkungen,
die er erfahren habe. Den Beweis für diese kühne Behauptung bleibt sie schuldig.
') Die Behauptung, die romantische Ironie beruhe auf dem Grunde der roman-
tischen Auffassung vom Tragischen, lasse ich hier auf sich beruhen.
28Ö BEMERKUNGEN.
Sie verweist nur darauf, daß ich in meinem Buche über Friedrich Schlegel,
Leipzig 1913, S. VlI, eine andere Auffassung vertreten habe. Ich stehe sogar auf
einem noch viel radikaleren Standpunkt. Ich glaube, daß es so bewußte Naturen,
wie sie eine in Schlegel sehen will, in reichbewegten Kulturkreisen überhaupt nicht
gibt. Kein Mensch, am wenigsten aber ein so gärender und in voller Revolution
befindlicher, wie Schlegel einer im Jahre 1798 war, gibt sich in dieser mathematisch-
starren Weise Rechenschaft von den Quellen aller Einzelheiten seines Denksystems,
insbesondere dann nicht, wenn wie bei Friedrich Schlegel diese Anregungen in
seine eigene auf individuelle Naturanlage gegründete Anschauungswelt sich ein-
fügen derart, daß sich schwer sagen läßt, ob die Anregung ihm weiter entgegen-
gekommen ist als er ihr. Für Friedrich Schlegel habe ich die irrationale Grundlage
seines Wesens doch nicht nur in der Einleitung behauptet, sondern durch das Buch
eingehend erwiesen.
Käte Friedemann sagt nun, Schlegel habe ja für die Lehre von der Ironie (wie
alle Romantiker) wiederholt auf Vorbilder hingewiesen, auf Sokrates, Sophokles und
Shakespeare, niemals aber in solchem Zusammenhang auf Fichte. Das ist ein Trug-
schluß. Auf Fichte konnte in solchem Zusammenhang gar nicht verwiesen werden.
Dort handelte es sich um Theoretiker und Praktiker der Ironie, um den Lehrer und
um die Meister der Vorstufen. Das war freilich Fichte nicht; er hat weder eine
Lehre der Ironie als solche formuliert, noch hat er die Ironie künstlerisch gehand-
habt. Die immer nur behauptete Beziehung Fichtes zu dieser Lehre Schlegels be-
steht darin, daß er Begriffsstützen für ihren Bau geliefert hat. Das ist aber etwas
ganz anderes.
Prüfen wir nun die Beweisführung Käte Friedemanns einmal nach. Sie kenn-
zeichnet das Verhältnis der romantischen Persönlichkeit Schlegels zum Universum
ganz richtig: :>Das Ich fühlt sich klein in seiner Endlichkeit dem unendlichen Uni-
versum gegenüber (S. 274), das ihm aber nicht, wie bei Heine und Brentano als
die Macht der brutalen Außenwelt über die Welt der Seele entgegentritt, sondern
als das Ganze, dem der Teil sich liebend hingibt, in das er sich freudig zu -ver-
lieren vermag und mit dessen innerstem Wesen er sich eins weiß.« Sehr richtig:
mit dessen innerstem Wesen er sich eins weiß! Noch mehr: mit dem er sich
in den Augenblicken der romantischen Ironie geradezu, wenn auch nur momentan,
identifiziert. Dieser Gedanke wird zu Unrecht nicht in gleicher Weise ausgeführt,
wie der Gedanke des Bewußtseins von der Kleinheit des Ichs, wenn das Gefühl
der Einheit zurücktritt. Denn nun heißt es weiter: i^Wir haben es hier im Grunde
mit drei Faktoren zu tun: mit dem Ich, der empirischen Welt und dem Universum,
das uns niemals als Erfahrung, sondern immer nur als Idee gegeben oder eigentlich
aufgegeben ist. Um des letzteren willen leiden die beiden ersten, aber das Ich
betrachtet sich selbst sowie die Welt des äußeren Geschehens, »die Begebenheiten,
die Menschen, kurz das ganze Spiel des Lebens«;, als Spiel, das heißt mit Ironie,
um des Ernstes jenes Allumfassenden willen, das ihm Universum oder Gottheit
heißt«. Hier liegt der Fehler in der begrifflichen Ableitung. Wir haben es bei
Schlegel nicht mit drei, sondern mit vier Faktoren zu tun. Es handelt sich nicht
um ein Ich, sondern um zwei verschiedene Ich, um das hier allein berücksichtigte
empirische Ich und um das absolute Ich, welches als praktisches Ich das ausführende
Organ des Universums im Zustand der romantischen Ironie ist. Die Polarität von
Zentrum und Peripherie (das sind doch die letzten Grundbegriffe von Schiegels
Lehre) wird auf der einen Seite vertreten durch die empirische Welt und ihre Er-
scheinung in der Persönlichkeit, das empirische Ich, auf der anderen Seite durch
das Universum und seine Erscheinung in der Persönlichkeit, das absolute Ich. Es
BEMERKUNGEN. 281
hiuB also heißen: Um der letzteren willen (Universum und absolutes Ich) leiden
die beiden ersten. Und wenn Käte Friedemann fortfährt: »aber das Ich betrachtet
sich selbst als Spiel«, so wirft sie in verwirrender Weise diese beiden Ich zu-
sammen. Es muß heißen: das absolute Ich betrachtet das empirische Ich als Spiel.
Zu der Auffassung von der Selbsthingabe, welche jene Stimmung heiterer
Ironie erzeugt, 'die sich gegen das Ich selbst kehrt, weil der einzelne Mensch als
solcher mit allem, was ihm das äußere Leben zu bringen vermag, nicht wichtig
genug ist, als daß man ihn ernst nehme«, zu dieser Auffassung soll jene andere
durchaus im Widerspruch stehen, die das Wesen der romantischen Ironie gerade
in der Verherrlichung des souveränen Ich der Welt gegenüber erblicken möchte.
Sie steht damit nicht im Widerspruch. Es ist die Machtvollkommenheit des abso-
luten Ich, das sich »mit dem innersten Wesen des Universums eins weiß«, welches
sich diese selbstgeschaffene Welt in jedem Augenblick wieder zerstören kann. In
der Tat ist der Fichtesche Gedanke, der in der Entstehungszeit der Lyzeums- und
Athenäumsfragniente mit voller Wucht auf das sich entwickelnde System Schlegels
einwirkt, voll und ganz zur Geltung gekommen. Weshalb Fichte nicht als Lehrer
und Meister der Ironie selbst genannt werden kann, ist oben ausgeführt worden.
Wenn dagegen Käte Friedemann das Gegenargument aufstellt, Friedrich Schlegel
bringe, statt Fichte zu nennen, die Ironie direkt mit dem Begriff der Selbstvernich-
tung in Verbindung, und wenn sie sich dabei auf das Athenäumsfragment 305
bezieht'), so muß doch festgestellt werden, daß es dort heißt: »Absicht bis zur
Ironie und mit willkürlichem Schein von Selbstvernichtung ist ebenso wohl
naiv als Instinkt bis zur Ironie.« Es handelt sich hier doch ersichtlich wieder um
die beiden Pole. Die Ironie begreift sie beide, die Absicht und den Instinkt. Die
Willkür ist für den tieferen Blick nur scheinbar, weil das vom Universum inspirierte
und in die Persönlichkeit wirkende absolute Ich doch im letzten Grunde naiv ist.
Letzthin ist eben die Selbstvernichtung auch nur positive Auswirkung, nicht negative,
deshalb sii/i specie aetcrnitatis gar nicht Vernichtung, sondern Schöpfung, conditio
sine qua noii der Schöpfung. Daß der Instinkt bis zur Ironie naiv ist, das leuchtet ja
jedem sofort ein. Es soll deshalb gesagt werden, daß Absicht bis zur Ironie ebenso
naiv ist. K. Friedemann stützt sich also auf eine Stelle, die beim näheren Zusehen
das Gegenteil von dem beweist, was sie beweisen soll. Und sie hat andere Stellen,
wo auch von Ironie und Selbstvernichtung zusammenfassend die Rede ist, wie
Athenäumsfragment 51 u.a. einfach beiseite gelassen, obwohl sie eine von den ersten
Forschern vertretene Meinung als einen großen Irrtum mit leichter Gebärde abtun
will. Dieses letztere erläutert Nr. 305 durchaus gegen die Auffassung Käte Friede-
manns. Es heißt da ausdrücklich: »Naiv ist, was bis zur Ironie oder bis zum steten
Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung natürlich, individuell oder
klassisch ist oder scheint.. Ironie wird also ausdrücklich identifiziert mit dem
steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichlung. .
Friedrich Schlegel hat sich aber auch ganz unzweideutig zu der Frage des
Verhältnisses von absolutcTn und empirischem Ich gerade in einer kritischen Stellung-
nahme zu Fichteschem Geist ausgesprochen. In der Rezension des Niethammer-
schen Philosophischen Journals (von 1797!) führt er in Besprechung der Niet-
hammerschen »Briefe« aus-): »Wenn, wie er behauptet, nur dem transzendentalen
Subjekt absolute Freiheit beigelegt werden kann, die er dem empirischen mit dem
vollsten Recht und den bündigsten Beweisen abspricht; wenn die praktische
') Minor, Schlegels Jugendschriften II, S. 253.
■) Enders, Fr. Schlegel, S. 301 ff., Minor II, S. 103 ff.
282 BEMEKKUNÜEN.
Selbstbestimmung durchaus nur mittelbar sein kann, so gibt's überall keine
Praxis, d. h. (eben) Bestimmung des Empirischen durchs Absolute. Eine durchaus
nur mittelbare Selbstbestimmung enthält schon einen inneren Widerspruch: es wäre
gar keine Selbstbestimnmng und kein Selbst. Alle Vermittlungen sind empirisch :
man kommt dem Absoluten dadurch um nichts näher und bleibt immer in den
Schranken. Daraus würde folgen, daß die Schranken absolut wären, das Ich aber
relativ. So ist es im theoretischen Gebiet. Gibt es ein praktisches Gebiet und eine
praktische Aufgabe, die nicht an das reine Ich ergehen kann: so muß es auch ein
praktisches Ich geben. Denn von dem empirischen Subjekt als solchem, dessen
Selbsttätigkeit durch Naturgesetze beschränkt ist, gänzliche Vernichtung aller Schranken
absolut zu fordern, wäre widersprechend. Das praktische Ich ist das Abso-
lute, insofern es das empirische bestimmt oder umgekehrt. Die Mög-
lichkeit dieser Bestimmung, die nur unmittelbar sein kann, worauf es hier
eigentlich ankommt, folgt von selbst, wenn das reine Ich absolut ist. Es gibt
dann keine Schranken, als die es sich selbst gesetzt hat, also auch wieder durch
sich selbst muß aufheben können. Wird von der Zeit abstrahiert, wie in
praktischer Rücksicht davon abstrahiert werden muß und soll '): so ist die Macht
des Willens unendlich. Ein einziger synthetischer Entschluß kann
als erstes Glied einer unendlichen Progression von steten Freiheits-
erweiterungen die Ursache der gänzlichen Vernichtung aller Schranken
sein. Wie könnte die Kraft beschrärrkt sein, deren Produkt absolut ist,« das absolute
Ich Fichtes. »Freilich aber darf man nicht,' fährt er fort, »wie so häufig ge-
schieht, was nur fürs praktische gilt, auch aufs empirische Subjekt
übertrageil.«. »Wir können uns nicht mit einem Schwertstreich heilig machen.«
Das war die Jakobische Tendenz, die er in der selbstreinigenden Rezension von
Jakobis »Woldeniar« so scharf und witzig abgelehnt hatte. > Es gibt gewiß keinen
größeren Unsinn, als zu sagen: Soeben habe ich mich durch reine Vernunft selbst
bestimmt.« Schlegel unterscheidet also ganz klar Fichtes reines Ich und empirisches
Ich. Das empirische ist in die Schranken gebannt, die nur in unendlicher Progression
überwunden werden können. Das reine Ich er.scheint als theoretisches, indem es
die Schranken setzt, als praktisches, indem es sie überwindet, vernichtet, als abso-
lutes, indem es im Unendlichen vollendet ist.
Die ästhetische Genialität des romantischen Künstler-Menschen ergibt sich
daraus nun in Anlehnung an die (Hemsterhuissche) Vorstellung, daß das Absolute
oder Wesentliche zur Erscheinung hindrängt. Das Kunstwerk entsteht parallel der
Welt als Mikrokosmos, der schöpferische Geist ist das Vehikel des Absoluten; das
reine Ich wirkt in ihm. Entsprechend der Setzung der Schranken durch das theo-
retische Ich ergibt sich im Gebiet des Ästhetischen die Beschränktheit des sinn-
fälligen Ausdrucks in der Gestaltung (ganz wie bei Hemsterhuis). Das empirische
ästhetische Ich könnte diese Beschränktheit in der Gestaltung einer absoluten Idee
auch nur in unendlicher Progression überwinden. Das praktische ästhetische Ich,
das verlangt, daß die Gestaltung die absolute Idee völlig zur Anschauung bringe,
gibt den Antrieb. Die Genialität des romantischen Künstlers besteht nun darin,
daß das praktische Ich in der schöpferischen Sphäre seines künstlerischen Schaffens
die unendliche Progression überfliegt und die Schranken der empirischen Gestaltung
von der momentan erfaßten absoluten Idee her sieht und beurteilt, ja, für diesen
Moment vernichten kann, um in der Vernichtung die Idee schöpferisch-intuitiv auf-
') In empirischer Rücksicht kann davon nicht abstrahiert werden, weil der
Zeitbegriff ja eine unlösliche Anschauungsweise endlicher Wesen ist.
%
BEMERKUNGEN. 283
leuchten zu lassen. Und der Zustand, in dem das gelingt, ist der der romantischen
Ironie. Sie ist verankert in diesem Gedankenkomplex. Ich kann mir nicht helfen,
ich sehe Schlegel lächeln über einen Versuch, sie in' solcher Anklammerung an das
Wort und sein Vorkommen, an diese empirische Stoffverbindung von Lauten und
Buchstaben, erklären zu wollen.
So bleibt also die Einwirkung Fichtes auch nach der Anfechtung durch Käte
Friedemann bestehen. Nach den letzten Ausführungen, die natürlich noch in
gleichem Sinn erweitert werden können, ist es klar, daß es im Wesen der in der
Begabung mit der romantischen Ironie, diesem steten Wechsel von Selbstvernichtung
und Selbstschöpfung bedingten romantischen Dichtart liegen mufi, »daß sie ewig
nur werden, nie vollendet sein kann«. »Sie kann durch keine Theorie erschöpft
werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren
zu wollen,« eine Kritik also, die auch vom praktisch gewordenen absoluten Ich
getragen wäre. >Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr
erstes Gesetz .inerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz
über sich leide.« An dieser Schlegelschen Festlegung (Athenäumsfragment 116)
ist nicht zu deuteln. Wie der Begriff Willkür aufzufassen ist, haben wir oben ge-
sehen. Er ist die volle Freiheit von Schranken des in der Persönlichkeit wirksamen
Universums, sah specic aeternitatis also gar keine Willkür, sondern nur willkürlicher
Schein; als Willkür nur dem empirischen Ich erscheinend, das sich der Vernichtung
preisgegeben sieht.
Einige Fragmente ') werden das Bild noch lebensvoller machen. »Nur der-
jenige kann Künstler sein, der eine eigene Religion, eine originelle Ansicht des
Unendlichen hat« (Idee 13). Ist hier das Gefühl der Abhängigkeit des Auserlesenen
betont, so die Souveränität des Künstlers, auf dem der Abglanz des in ihm wirk-
samen Universums ruht, in der Idee 43: »Was die Menschen unter den anderen
Bildungen der Erde, das sind die Künstler unter den Menschen.« In der Idee 114
heißt es: »Keiner soll bloß Repräsentant. seiner Gattung sein, sondern er soll sich
und seine Gattung auf das Ganze beziehen, dieses dadurch bestimmen und also
beherrschen.« Zwar heißt es in der Idee 113 von einem Pol her: Der Künstler, der
nicht sein ganzes Selbst (sein empirisches!) preisgibt, ist ein unnützer Knecht«, und
die Idee 131 führt dazu aus: Der geheime Sinn des Opfers ist die Vernichtung
des Endlichen, weil es endlich ist«, und »Menschenopfer sind die natürlichsten
Opfer.« Aber »der Mensch ist mehr als die Blüte der Erde; er ist vernünftig,
und die Vernunft (die sich eben aus dem Universum, von Gott her in ihm mani-
festiert) ist frei und selbst nichts anderes, als ein ewiges Selbstbestimmen ins Un-
endliche ... In der Begeisterung des Vernichtens offenbart sich zuerst der Sinn
der göttlichen Schöpfung. Nur in der Mitte des Todes entzündet sich der
Blitz des ewigen Lebens.« Hier ist es wieder deutlich ausgesprochen: Die
Selbstvernichtung (des Empirischen) ist nichts ohne die mit und aus ihr geborene
Selbstschöpfung (des Absoluten). Beides vollzieht sich in, gegen und durch das
Ich, das »Selbst«. Und die Idee *I4 verkündet, vom Nur-Ästhetischen absehend,
wie das Göttliche selbst im Menschen wirksam wird und durch ihn sich offenbart:
»Gott erblicken wir nicht, aber überall erblicken wir Göttliches, zunächst und am
eigentlichsten jedoch in der Mitte eines sinnvollen Menschen . . . Nur der Mensch
kann göttlich dichten und denken und mit Religion leben ... Ein Mittler ist der-
jenige, der Göttliches in sich wahrnimmt und sich selbst vernichtend preisgibt, um
') Vgl. dazu meine Gruppenanordnung in dem Bärdchen der Inselbücherei
Nr. 179.
284 BEMERKUNGEN.
dieses Göttliche zu verkündigen, mitzuteilen und darzustellen... Ver*
mitteln und Vermitteltwerden ist das ganze höhere Leben des Menschen, und
jeder Künstler ist Mittler für alle übrigen.« Und ein Künstler ist, wer sein
Zentrum in sich selbst hat« (aus Idee 45). Auch da, wo er als Schriftsteller von
der Notwendigkeit spricht, sich im Ausgeben der Welt gegenüber zu- beschränken,
meint er, das sei der beste Prüfstein des großen Schriftstellers, denn man kann
sich nur in den Punkten und an den Seiten selbst beschränken, wo man unendliche
Kraft hat, Sei bst schöpf ung und Selbstbeschränkung (Lyzeumsfrag-
mente 37).
Es ist also wieder zum mindesten sehr einseitig, wenn Käte Friedemann der
Frühromantik nur die begeisterte Resignation eines Spinoza zuschreiben will. Es
lebt in ihr auch das Gefühl göttlicher Überlegenheit über alle Kreatur, jenes Be-
wußtsein einer geistigen Herrschaft, das in Novalis so bezeichnend zum jmagischen-,
die empirische Welt zur Unterwerfung zwingenden Idealismus sich verdichtet. Erst
als dieser Glaube schwankt und erlischt, wird der Platz frei für den geoffenbarten
Glauben der Kirche, das Dogma.
Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit in der Architektur.
• Von
Leo Adler.
Tritt man an die geschichtliche Betrachtung der Baukunst nicht nur unter dem
Gesichtspunkt der Tatsachenforschung heran, sondern wirft man die Frage nach
ihrer gesetzmäßigen Entwicklung auf, so stößt man nur zu bald auf den erschweren-
den Umstand, daß die kunstwissenschaftliche Terminologie häufig an einer be-
klagenswerten Verschwommenheit leidet, daß das betreffende Wort über seinen
Begriffsinhalt gar nichts aussagt. Allerorten tritt die schon von Wölfflin beklagte
Tatsache zutage, daß in der Kunstwissenschaft die begriffliche Forschung mit der
Tatsachenforschung nicht Schritt gehalten hat '). Für die Architektur kommt noch
ferner der Umstand hinzu, daß es sich in der Mehrzahl der Fälle um übertragene
Begriffe handelt, die auf dem Gebiete der Schwesterkünste gewonnen sind;
ich brauche nur auf den alten und scheinbar unlöslichen Streit um den Begriff des
Malerischen und Unmalerischen in der Architektur hinzuweisen -). Soll also eine
Betrachtung im genetischen Sinne erfolgen, so ergibt sich zuvor die Notwendigkeit
der Untersuchung und Zergliederung der wichtigsten Begriffe sowohl formal-ästheti-
scher als auch prinzipiell-genetischer Art im Gebiete der Architektur. In den folgenden
Zeilen soll unter diesem Gesichtswinkel die Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit
in der Baukunst einer Betrachtung unterzogen werden.
Fr. Th. Vischer definiert die Regelmäßigkeit als die >gleichniäßige Wiederkehr
unterschiedener doch gleicher Teile. Niemals kann ein ganzes Schönes darin er-
schöpft sein; nur als Teil in einem ganzen Schönen kann streng Regelmäßiges auf-
treten : mathematische Formen wie Quadrat, Kreis, Würfel, Kugel, gleiche Säulen
') Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 2. Aufl., München 1917, S.VIII.
-) Vgl. z. B. Gurlitf, Zum Wesen des Barock in : Berliner Architekturwelt,
14. Jahrg. 1912, S. 40 ff.
BEMKKKUNUKN. 283
mit gleichen Distanzen, gleiche VersfüHe, gleicher Takt '). Mit Recht betont dem-
gegenüber Wölfflin-) das Unzulängliche dieser Bestimm iing, mit der Begründung,
daß sich Regelmäßigkeit und Oesetzniäßigkeit, die in Vischers Definition, namentlich
aber in den herangezogenen Beispielen durcheinander laufen, grundsätzlich unter-
scheiden. Nach Wölfflin hätten wir in der Gesetzmäßigkeit ein rein intellektuelles
Verhältnis vor uns«, während die Regelmäßigkeit ein physisches- darstellt. Wölfflin
versucht seinerseits folgende Klarstellung: Die Oesetzniäßigkeit, die sich in einem
Quadrat ausspricht, hat keine Beziehung zu unserem Organismus').« (janz recht:
nur lautet die Frage eben, ob das Quadrat eine gesetzmäßige oder regelmäßige
Bildung ist, da wir eben nicht beide Worte als Synonyma auffassen, wie es die
ältere Ästhetik zum Teil tat ').
Die Geometrie spricht unzweifelhaft von der Regelmäßigkeit ebener Figuren
und diesen ist das Quadrat ebenso unzweifelhaft unterzuordnen. Ganz willkür-
lich wird, so will uns scheinen, Wölfflins Dialektik im Fortgange seiner Unter-
suchung: 'Die Regelmäßigkeit der Folge ist uns etwas Wertvolles« ■'), willkürlich
deshalb, weil hier die Regelmäßigkeit der Folge herausgegriffen wird, also wie
schon bei Vischer, der aufeinanderfolgenden Mehrzahl gleicher Elemente. Das fällt
aber unseres Erachteiis unter dasjenige formal-ästhetische Prinzip, das Semper mit
mehr Recht, wie uns scheint, Eurhythmie nennt (in bewußtem Gegensatz zu Vitruv
allerdings)"). Nach Semper ist Eurhythmie »eine geschlossene Aneinanderreihung
gleichgeformter Raumabschnitte« ■), an deren Stelle selbstverständlich auch andere
ästhetische Elemente treten können, ohne etwas an dem Begriff der Eurhythmie zu
ändern. Die Regelmäßigkeit dagegen ist im weiteren Sinne nicht an eine zeitliche
oder räumliche Folge gebunden, wie wir zeigen wollen.
Schmarsow zieht die letzte Konsequenz aus der Auffassung der Regelmäßigkeit
als einer bloßen Folge: »Regelmäßigkeit unterliegt der zeitlichen Auffassung ...
Im Bereich der Künste zeitlicher Anschauungsformen, Musik, Mimik, Poesie, herrscht
sie ohne weiteres als Grundform").« Allerdings: »So wie wir den Begriff auf die
räumliche Existenz übertragen, scheint sich eben durch den Vergleich mit einem
zeitlichen Nebeneinander, das die Regel vorschreibt, der Widerspruch zum räum-
lichen Nebeneinander einzustellen. Wir sprechen aber trotzdem (!) von einem regel-
mäßigen Körper, ohne Anstoß zu nehmen. Die Erscheinung eines solchen kristal-
linisch festen Gebildes führt uns durch seinen Anblick selbst dazu, das starre Dasein
sozusagen in zeitliche Auffassung aufzulösen').» Wir vermögen unserseits hierin
nur eine dialektische Gewaltsamkeit zu erblicken, um von dem gewählten Ausgangs-
punkt aus an dem Begriffe noch zu retten, was zu retten ist. Wenn vollends ge-
>) Fr. Th. Vischer, Kritische Gänge V, Stuttgart 1866, S. 67 ff.
') Wölfflin, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. Diss. München
1886, S. 20 ff.
») Ebenda S. 20.
*) So z. B. Zeising, Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Kör-
pers usw., Leipzig 1854, S. 332 ff.
0) Wölfflin, a. a. O. S. 20.
'•) Vitruv, Zehn Bücher über die Architektur, Ausg. Reber. 1. Buch, 2. Kap.,
Ziff. 3, S. 13.
') Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, Bd. I, 2. Aufl.
München 1878, S. XXVIII.
*) Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Leipzig 1905, S. 48.
») Ebenda S. 4S.
gS6 BEMERKUNGEN.
fragt wird: »Enthält die Vorstellung (der Regelmäßigkeit) nicht von vornherein den
Impuls der Bewegung mit ? '), so vermögen wir nur mit Nein zu antworten. Denn
inwieweit z. B. die Vorstellung von der Regelmäßigkeit eines Oktaeders oder eines
sonstigen regelmäßigen Vielflächners den Impuls der Bewegung enthalten soll, ist
uns unerfindlich. Um zu Gebilden in der Fläche zurückzukehren: Wir halten mit
Vischer an der Regelmäßigkeit des Quadrates fest, wie der geometrische Aus-
druck nun einmal lautet. ^Quadrat und Kreis . . . sind beide regelmäßige Figuren«
heißt es auch bei Lipps '). Dieser Eindruck der Regelmäßigkeit soll nun laut
Schmarsow ein »Beitrag des menschlichen Subjekts« sein und im Gegensatz dazu
sei »Gesetzlichkeit . . . der Beitrag der Außenwelt, die Wirkung der Natur-
kräfte« ').
Bei dieser Auffassung des Problems ist schlechterdings nicht einzusehen, wie
die Zahl regelmäßiger stereometrischer Vielflächner (Polyeder) durch mathematischen
Beweis auf fünf beschränkt werden kann '). Dazu müssen notwendig objektive
Merkzeichen der Regelmäßigkeit vorhanden sein. Auf den subjektiven Standpunkt
des Betrachters allein kann es füglich nicht ankommen, wie Schmarsow will:
-Unsere Subjektivität hat das Recht der Erstgeburt für sich; allmählich erst an-
erkennen wir die Objektivität des Bestandes außer uns, damit aber hört dann die
sukzessive Auffassung als solche auf (d. h. die Regelmäßigkeit) und die simultane
tritt an deren Stelle (also die Gesetzmäßigkeit)').«
Kurz, danach schlössen Regel- und Gesetzmäßigkeit keinen objektiven Gegen-
satz in sich, sie wären lediglich abhängig von der subjektiven Auffassung des Be-
schauers, ohne daß ein objektiver Tatbestand als Ursache vorläge; objektiv im
Sinne der Fähigkeit eines Objektes, im Subjekt eine bestimmte Wirkung hervor-
zubringen oder eine solche auszulösen. Wenn wir hier von objektiven nnd sub-
jektiven Momenten reden, so ist es angesichts des erkenntnistheoretischen Problems
der Realität, d. h. eben des Verhältnisses von Objekt zu Subjekt, erforderlich, aus-
drücklich zu betonen, daß wir die Realität der Dinge außer uns als eine schlechthin
psychologische Tatsache hinnehmen. Damit sind wir von jeder metaphysischen
Deutung der gegebenen Gegenstände unabhängig, wir haben den erkenntnistheo-
retisch neutralen Standpunkt gewonnen . . . Das erkenntnistheoretisch neutrale Bild
ist die Wirklichkeit, wie sie dem normalen Bewußtsein gegeben ist, ohne jede
bewußte oder unbewußte vererbte Denkzutat').« Von diesem Boden aus wollen
unsere Untersuchungen : objektiver Tatsachen« verstanden werden.
»Regelmäßigkeit nun ist Übereinstimmung von Teilen, Elementen, Zügen eines
Ganzen. Und solche Übereinstimmung erleichtert die Auffassung des Ganzen.«
Diese Definition von Lipps •) scheint uns den Kern der Sache noch nicht scharf
') A. a. O. S. 49. Vgl. auch Lipps, Grundlegung der Ästhetik, Hamburg 1904,
3. Abschnitt. 1. Kapitel: Ästhetische Mechanik.
-) Lipps, a. a. O. S. 40.
') Schmarsow, a. a. O. S. 49.
*) Satz von Euler: Ecken -\- Flächen = Kanten + 2; der Beweis in jedem
Lehrbuch der Stereometrie, z. B. Mehler, Hauptsätze der Elementarmathematik,
22. Aufl., Beriin 1900, § 211, S. 187 ff.
') Schmarsow, a. a. O. S. 49.
•) Aloys Müller, Das Problem des absoluten Raumes und seine Beziehung
zum allgemeinen Raumproblem (»Die Wissenschaft« XXXIX. Heft), Braunschweig
1911, S. 3 und 4.
') Lipps, Grundlegung der Ästhetik, S. IS.
BEMEiiKUNGEN. 2ft
genug zu treffen; was heiBt hier Übereinstimimiiisj? Sie l<anii qiianlitativer, quali-
tativer, formaler oder inlialtliclier Art sein ; sie kann die Symmetrie umfassen so gut
wie das bloße Ebenmaß, das ästhetische Gleichgewicht der Massen. Wir meinen viel-
mehr: der Regelmäßigkeit liegt der Funktionsbegriff zugrunde, f^egelmäßigkeit ist
der sinnfällige Ausdruck der Funktion. Das aber heißt: Jedem gegebenen Werte
oder Zustand von A entsprechen bei Regelmäßigkeit ganz bestimmte Werte oder
Zustände von B, C usw., und ausschließlich diese! »Demgemäß schließt der kleinste
Teil, dieser (regelmäßigen) Gebilde das Ganze in sich ').' Ändert sich z. B. A in A',
so ist die Regelmäßigkeit des Gebildes solange aufgehoben, bis alle anderen Be-
standteile die zu A' gehörigen Werte B', C usw. angenommen haben. Hat diese
Umwertung einmal stattgefunden, so ist die Regelmäßigkeit sofort wieder hergestellt.
Es ergibt sich die wichtige Folge: Ist ein Bruchteil des regelmäßigen Gebildes,
z. B. eines regelmäßig gestalteten Bauwerkes gegeben, so läßt sich in der Tat
das Ganze mit Sicherheit daraus rekonstruieren-).
Der Regelmäßigkeit steht nun die Gesetzmäßigkeit gegenüber. Um ein an-
schauliches Beispiel zu wählen: Die mathematische Parabel ist eine regelmäßige
Kurve, sinnfälliger Ausdruck der analytischen Gleichung y- = 2px. Wird diese
mathematische Kurve in die Wirklichkeit des lufterfüllten Raumes übertragen, so
wird sie unter dem Einfluß verschiedener Naturkräfte (hierin also pflichten wir
Schmarsow bei) zu der gesetzmäßigen Wurfparabel, der ballistischen Kurve. Er-
setzen wir den vieldeutigen Begriff »Naturkräfte durch den eindeutigen der »Ener-
gien«, so erkennen wir, daß die Gesetzmäßigkeit die sinnliche Erscheinungs-
form der Energien ist, wie die Regelmäßigkeit die der Funktion. Wir verstehen
hierbei unter Energie alles »was aus Arbeit entsteht oder was sich in (mechanische)
Arbeit verwandeln kann- '■'). Während nun die Energien, unter deren Einfluß ein
gesetzmäßiges Gebilde entsteht, sowohl innere als auch ursächlich verknüpfte äußere
Kräfte sein können, ist die Regelmäßigkeit ausschließlich Ausdruck von Funktionen,
dynamisch gesprochen Ausdruck innerer Kräfte allein. Ein gegebener Teil eines
gesetzmäßigen Ganzen läßt infolge der möglichen Einwirkung äußerer Energien
einen unfehlbaren Schluß auf das Ganze nicht zu, wie es bei dem regelmäßigen
Gebilde der Fall ist.
Mit der Zuordnung der Regelmäßigkeit zur Funktion, der Gesetzmäßigkeit
zur Energie erscheint in der Tat ein wesentliches Kennzeichen dieser beiden Begriffe
gegeben zu sein, ein im oben bezeichneten Sinne objektives Merkmal, das un-
abhängig von dem Standpunkt bloß subjektiver Stellungnahme ist.
War soweit die begriffliche Unterscheidung von Regelmäßigkeit und Gesetz-
mäßigkeit noch ziemlich leicht zu gewinnen, so würden die Schwierigkeiten ins
Unendliche wachsen, wollten wir die Anwendung dieser Begriffe auf Erscheinungen
des Lebens selbst vornehmen. Denn in den Lebenserscheinungen herrscht weder
die Funktion noch die Energie allein, sondern das große Rätsel Leben ! Das zu
untersuchen ist nicht unseres Amtes, da wir uns auf bauhistorischem Boden be-
wegen. Der Vollständigkeit halber sei nur darauf hingewiesen, daß das Ringen
um die hier in Rede stehenden Begriffsinhalte im wesentlichen den methodologischen
') Lipps, a. a. O. S. 251.
^) Derartige Fälle sind häufig bei archäologischen Rekonstruktionen; ein her-
vorstechendes Beispiel die Auffindung der Oeisonecke vom Tempel C zu Selinunt.
Vgl. Koldewey-Puchstein, Die griechischen Tempel in Unteritalien und Sizilien,
Beriin 1899.
•) Graetz, Die Physik und ihre Anwendungen, Leipzig 1917, S. 32.
288 BKMERKUNGEN.
Streit zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft ausmachen '). Für unsere
Zwecl<e lassen wir es uns genug sein an dem Gewonnenen und bemericen nur
noch, daß ledigh'ch von Regelmäßigi<eit und Gesetzmäßigkeit der Form die Rede
ist, insbesondere der Form architelftonischer Gestaltung, und hierauf allein kommt
es uns an.
Wir fassen das Ergebnis dahin zusammen: Die regelmäßige Bildung ist sinn-
licher Ausdruck der Funktion. Die Gesetzmäßigkeit ist Ausdruck von Energien,
Symbol eines Kräftespiels.
Damit ist ein Ausgangspunkt gewonnen zur Erkenntnis der formalen Polarität
hellenisch-klassischer und germanisch-nordischer architektonischer Gestaltung. Nur
ein Ausgangspunkt allerdings, keineswegs eine Erschöpfung des hier ruhenden
Gegensatzes, über den an anderer Stelle noch zu sprechen sein wird.
Die Begrenzung von Epos und Drama in der Theorie
Otto Ludwigs.
Von
Friedrich Kreis.
Die theoretischen Schriften Otto Ludwigs sind erst nach des Dichters Tode
an die Öffentlichkeit getreten; zunächst gab Moritz Heydrich Leipzig 1872 unter
dem Titel Otto Ludwig: Shakespearestudien, aus dem Nachlasse des Dichters heraus-
gegeben«: tagebuchähnliche Aufzeichnungen des Dichters in chronologischer Reihen-
folge heraus. Diese Ausgabe, die den größten und wichtigsten Teil des handschrift-
lichen Nachlasses, allerdings mit Ausschluß der epischen Studien, enthält, fand dann
eine wertvolle Ergänzung in >Otto Ludwigs gesammelten Schriften (herausgeget)en
von Adolf Stern und Erich Schmidt; 6 Bände, Leipzig o. J. (1891 92]). In dieser Aus-
gabe enthalten Band 5 und 6 die Studien und kritischen Schriften (mit einem Vor-
bericht von Adolf Stern). Band 5 enthält mit nur wenigen Ergänzungen die bereits
von Heydrich veröffentlichten Shakespearestudien ; neu in dieser Ausgabe ist die
Anordnung des Stoffes. A. Stern hat den Versuch gemacht, das ungeheuere, fast
chaotische Material, das in dieser durchaus unsystematischen Gestalt von Otto Ludwig
selbst wohl niemals veröffentlicht worden wäre, wenn auch nicht in ein System zu
bringen, so doch nach gewissen inhaltlichen Prinzipien anzuordnen ; so stellt er zu-
sammen die Shakespearestudien im engeren Sinne, die Analysen einzelner Dramen
Shakespeares und Schillers, die dramaturgischen Aphorismen, die den Reinertrag der
Shakespearestudien enthalten sollen. Wenn diese Anordnung auch ganz glücklich
ist, so beweist sie anderseits doch, daß sich die Shakespearestudien trotz ihrer
inneren organischen Einheit infolge ihrer äußeren formalen Unabgeschlossenheit, die
der vorzeitige Tod des Dichters verschuldet hat, niemals mehr in ein System bringen
lassen-). Band 6 enthält neben allgemein -ästhetischen Aphorismen, Gesprächen
und Briefen die für uns wichtigen Romanstudien. Eine knappe Zusammenstellung
') Vgl. dazu die Arbeiten von Rickert, Lamprecht u. a., vor allem aber Bem-
heim, Lehrbuch der historischen Methode, 3. Aufl., Leipzig 1903, S. 94 ff.
') Neuere Herausgeber wie Bartels und Eloesser haben denn auch an der
Sternschen Anordnung des Textes nichts mehr geändert.
BEMERKUNGEN. 289
der tlieoretisclieii Anscliauiingen iles Dicliters jjibt Ernst Wacliler: Über Otto Ludwigs
ästhetische Oniiidsätze. In.-Diss. Berlin 1897. 30 S.
Wenn man als die Voraussetzungen einer harmonischen Gestaltung der künst-
lerischen Persönlichkeit eine Ausgeglichenheit oder ein Zusammenspiel von schöpferi-
scher Phantasie und diskursiver Reflexion annimmt, so findet diese Tatsache vielleicht
ihr äulierliches, objektives Widerspiel in der gegenseitigen Entsprechung von innerer
Aufgabe des Künstlers und seiner Gestalt gewordenen Leistung. Wollen und Können
werden auch ihrerseits übereinstinnnen. Vielleicht geht diese Übereinstimmung so
weit, daß man nun andererseits aus einer Diskrepanz von Wollen und Können zurück-
schließen kann auf eine intellektuell bestimmte und begrifflich faßbare Störung der
harmonischen Persönlichkeit des Künstlers. Wo jene vollkommene Übereinstimmung
von Phantasie und Verstand, wollen wir einmal psychologisch primitiv sagen, fehlt,
ist auch für den Künstler die instinktmäßige Sicherheit des Schaffens verloren ; an
die Stelle eines unbewußten Zusammenspiels von Phantasie und Verstand tritt deren
bewußt getrennte Eigentätigkeit; die Phantasie des Künstlers in dieser Isolierung
bar jeder Zügelung und Sicherheit sucht Hilfe bei dem Verstand, der nun seinerseits
in Form einer nachträglichen Reflexion bestimmend auf die Phantasietätigkeit einzu-
wirken versucht. Eine solche Diskrepanz von Phantasie und Verstand hebt die Ein-
heit des künstlerischen Schaffens und damit die Einheit des Kunstwerkes auf: sie
macht die eigentliche Tragik eines Künstlerlebens ans. Auch der tragische Zwiespalt,
der sich durch das ganze Leben Otto Ludwigs hindurch verfolgen läßt, scheint auf
jene für einen Künstler so verhängnisvolle psychische Erscheinung ursächlich zurück-
zugehen, ihren Ausdruck findet diese Tatsache in dem schon in der frühesten Jugend
des Dichters stark hervortretenden unsicheren Schwanken zwischen dem Berufe des
Musikers und des Dichters; später aber, nachdem die Entscheidung zugunsten des
Dichters gefallen war, in dem aufreibenden Kampfe des Dramatikers mit dem Epiker.
Diese Situation beleuchtet treffend ein Ausspruch Heinrich von Treitschkes, der von
dem Dichter sagt: »Durch solche verschwenderische Kargheit der Natur, die ihm
einige herrliche Gaben des Dramatikers, einige Kräfte des Epikers, doch nicht die
Harmonie des Genies schenkte, wird das tiefe Unglück dieses ringenden Dichter-
geistes vollauf erklärt.'
Es ist psychologisch durchaus verständlich, daß der Unsicherheit und Unaus-
geglichenheit des dichterischen Schaffens auf der einen Seite eine um so größere
Klarheit und Treffsicherheit des Verstandes in seiner Isolierung gegenüber steht ;
ja, das Ist vielleicht das entschieden tragische Moment in dem ganzen Unglück des
Dichters, daß sein scharfer Verstand in anhaltender, selbstvernichtender, grüblerischer
Reflexion ihm die größte Klarheit über die Ursache und das Wesen der Mängel
und Fehler seiner künstlerischen Produktionen verschafft, ohne ihm jedoch bei der
Gestaltung selbst von wesentlichem Nutzen zu sein. So darf man vielleicht die
etwas kühne Behauptung aufstellen, daß erst das tragische Geschick des Dichters
Ludwig den Theoretiker ermöglichte, der mit feinsinniger Begabung in die Fülle
der Krscheimingen eindrang, um aus ihr in unerhörter Detailforschuug das in ihr
geltende, innnerwährende Gesetz zu eruieren. So sind denn Otto Ludwigs Studien,
sowohl die dramatischen wie die epischen, nicht aus einem wissenschaftlichen End-
zwecke heraus entstanden, sondern aus der Not des Dichters. Das Schwanken des'
Dichters Ludwig zwischen Epos und Drama, das ihn zu keiner großen Leistung
kommen läßt, führt den Theoretiker zu einer wunderbaren Klarheit über das Wesen
dichterischer Gattung überhaupt: so entstehen seine Studien über das Drama und
ZeitKhr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 19
290 BEMERKUNGEN.
in allerdings weit geringerem Umfange jene über die epische Dichtung, besonders
über den Roman. In diesen Studien erweist sich Otto Ludwig als einer der fein-
sten und tiefsten Kenner beider Kunstarten, dessen eindringende und eindring-
liche Charakterisierungen des jeweiligen besonderen Gattungscharakters aller Kunst
und damit auch der Dichtkunst die Formulierung unseres Themas gestatten, im
Sinne der Theorie Otto Ludwigs Dram.i und Epos einander gegenüberzustellen und
damit beide Kunstgattungen voneinander abzugrenzen. Hier erhebt sich aber zu-
nächst eine Schwierigkeit: Wenn wir vor aller ästhetischen Untersuchung Bereits
von Epos und Drama sprechen, so unterscheiden wir damit zwei Dinge voneinander
in dem Bewußtsein, daß das Moment des Unterschiedenseins in der Sache
selbst enthalten ist. Die Unterscheidung ist also eine logische Operation,
ein Erkenntnisvorgang, der zwei Dinge von der Kategorie der Identität aus-
schließt. Sind nun jene Elemente, die dem Erkennen die Berechtigung
geben, zwei Dinge voneinander zu unterscheiden, lediglich objektiver Struktur,
Elemente der »Wirklichkeit«, oder sind sie Elemente des bereits ästhetisch
geformten Gegenstandes? Mit anderen Worten: Ist das logische Urteil, das Epos
und Drama voneinander unterscheidet, ein reines Erkenntnisurteil, oder baut es sich
auf auf einem ihm zugrunde liegenden und es allererst rechtfertigenden ästhetischen
Urteil? Es kann ja ganz leicht der Fall sein, daß Dinge, die für unser Erkennen
eine Bedeutung besitzen, für unser ästhetisches Verhalten unerheblich sind; daß
wir wohl wissen, was episch und was dramatisch ist, daß dieses Wissen vom
Epischen und Dramatischen unser ästhetisches Verhalten aber gar nicht berührt.
Die Frage ist also die : Ist mit der Trennung von Epos und Drama neben der rein
begrifflichen Feststellung zugleich für das Kunstwerk eine ästhetische Forderung ge-
geben, ist die Reinhaltung der Gattung ästhetisch gefordert, oder ist das Ineinander-
übergehen der Gattungen im Kunstwerk etwa gleichgültig, also erlaubt oder gar
erwünscht? Schiller äußert sich einmal über dieses Problem in einem Brief an Goethe
vom 29. Dezember 1797 folgendermaßen'): »Ihr jetziges Geschäft, die beiden
Gattungen zu sondern und zu reinigen, ist freilich von der höchsten Bedeutung,
aber Sie werden mit mir überzeugt sein, daß, um von einem Kunstwerk alles aus-
zuschließen, was seiner Gattung fremd ist, man auch notwendig alles darin müsse
einschließen können, was der Gattung gebührt. Und eben daran fehlt es jetzt. Weil
wir einmal die Bedingungen nicht zusammenbringen können, unter welchen eine jede
der beiden Gattungen steht, so sind wir genötigt, sie zu vermischen. Gab' es
Rhapsoden und eine Welt für sie, so würde der epische Dichter kerne Motive von
dem tragischen zu entlehnen brauchen, und hätten wir die Hilfsmittel und intensiven
Kräfte des griechischen Trauerspiels und dabei die Vergünstigung, unsere Zuhörer
durch eine Reihe von sieben Repräsentationen hindurchzuführen, so würden wir
unsere Dramen nicht über die Gebühr in die Breite zu treiben brauchen. Das
Empfindungsvermögen des Zuschauers und Hörers muß einmal ausgefüllt und in
allen Punkten seiner Peripherie berührt werden ; der Durchmesser dieses Vermögens
ist das Maß für den Poeten.« Also nach Schiller kann wohl der strenge Gattungs-
charakter ein ästhetisch gefordertes A\oment sein; er muß es aber nicht sein; das
Gattungsmäßige ist eben doch kein apriorisches Moment am reinen Kunstwerk,
sondern etwas, das bedingt ist durch das Verhalten einer Welt- oder Lebenssphäre
zur Kunst. Gab' es Rhapsoden und eine Welt für sie, dann müßte die Kunst auch
eine streng epische sein. Das Übergreifen der einen Kunstgattung in die andere
■) Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe \ Stuttgart (Cotta) 1881, 1. Bd.
S. 351.
BEMERKUNGEN. 29t
ist also da möglich, ja sogar (geboten, wo das Erleben selbst nicht mehr ein rein
episches oder dramatisches ist. Völlig anders nun stellt sich die Lösung dieses
Problems bei Otto Ludwig dar; für ihn ist das Gattungsmäßige gleichsam eine
absolute Eigenschaft am Kunstwerk. Er führt Lessing gegen Schiller ins Feld, der
gesagt habe »ein Drama sei ein umso vollkommeneres Gedicht, je mehr es Drama
sei; das Drama müsse dramatische Schönheiten haben; was im Epos, im lyrischen
Gedichte höchlich zu loben sei, das gereiche, ins Drama verpflanzt, zum gerechten
Tadel, denn Schönes sei nur an der rechten Stelle schön«. Die Reinhaltung der
poetischen Gattungen ist also eine höchste Forderung für das Kunstwerk, denn es
kann seine Bestimmung nur in dem finden, was es durch seinen spezifischen Gattungs-
charakter zu erreichen imstande ist. Epische, lyrische und dramatische Schönheiten
sind voneinander verschieden und nur ein tadelnswerter Dilettantismus kann diese
Schönheiten vermischen wollen. Da es keine über den Gattungen stehende reine
Kunst gibt, so ist der Gattungscharakter immer zugleich mit dem einzelnen Kunst-
werk gegeben. Bei einer gegenseitigen Abgrenzung von Drama und Epos wird
es also wohl kaum genügen, sozusagen die Schnittlinie zwischen den beiden Gat-
tungen aufzuweisen, sondern erst wenn die Charakterisierung beider Gattungen be-
grifflich voll erschöpft ist, ist auch die Abgrenzung beider Gebiete vollendet. Eine
stete Voraussetzung für dieses Unternehmen bleibt es natürlich, daß die Begriffe
von Drama und Epos in der Tat ästhetisch bedeutsame Elemente der Kunst sind,
daß die Kunst in ihren höchsten und reinsten Realisierungen tatsächlich diesen
Gattungscharakter aufweist. Und so stellt sich uns nun die weitere Frage entgegen,
wie gelangt Otto Ludwig zu diesen Begriffen von Drama und Epos?
Mit vielem Nachdruck lehnt der Dichter eine philosophische Erörterung des
Wesens des Dramatischen ab. Dem Philosophen kommt es immer nur auf die
Erörterung von abstrakten Begriffen an, so kann er z. B. den Begriff des Tragischen
in metaphysische Formulierungen fassen, ohne im geringsten den anschaulichen
Charakter, den die Tragödie dem Tragischen verleiht, irgendwie zu respektieren ;
der [Philosoph reicht sozusagen mit seinen Begriffen nicht bis zum Kunstwerk hinab
und wo er es erwähnt, da dient es ihm lediglich als Beispiel ; umgekehrt geht der
Empiriker auf die anschaulich gegebene Tatsache des einzelnen Kunstwerks aus;
was dem Philosophen nur Illustrationsmittel, ist ihm Wesen und Ziel seiner Unter-
suchung. Auf dem induktiven Wege einer Schritt für Schritt vor sich gehenden
Analyse gelangt er zu den Gesetzen des Kunstwerks, in unserem Falle des Dramas.
So zerfasert Otto Ludwig bis ins kleinste Detail die Technik ') des Dramas mit be-
wunderungswürdigem Spürsinn und unendlicher Geduld, und eine unerschöpfliche
Fülle von wesentlichen Beobachtungen ist sein Ertrag. Aber eine Grenze ist auch
der empirischen Methode gezogen, auf die es hinzuweisen gilt. Der Empiriker muß
immer ausgehen vom einzelnen Kunstwerk, was aber auch er sucht, ist etwas, das
über das empirisch Gegebene hinausragt, die Gesetze des Dramas, des Epos, den
Gattungscharakter, oder wie immer man das benennen mag, das Anspruch auf
Geltung erhebt und diesen Anspruch niemals rechtfertigen und begründen kann in
der Herleitung aus einem zufällig Gegebenen. Wie also kann man, so verengert
sich jetzt die Problemstellung, unter Beibehaltung des induktiven Verfahrens doch
zu Ergebnissen gelangen, deren Wert unabhängig ist von den einzelnen empirischen
Data, die ihrerseits vielmehr erst von jenen geltenden Gesetzen her Würde und
') Einen Beweis für das induktive Verfahren findet Heydrich (a. a. O. LXX)
u. a. darin, daß die Dialoguntersuchungen den Charakferuntersuchungen zeitlich
vorausgehen.
J02 BEMERKUNGEN.
Bedeutung erlangen ? Zunächst gelten solche Gesetze ohne Zweifel für das analysierte
Drama selbst, sofern nur unter den einzelnen Gesetzen kein innerer Widerspruch
besteht; sie sollen jedoch nicht nur immanenten Geltungscharakter besitzen, sondern
transgredient sein, auf die Sphäre des gesamten Dramas ausgehen. Jedenfalls läßt
Otto Ludwig keinen Zweifel darüber bestehen, daß die Regeln, die er für das Drama
findet, eben die dramatischen Gesetze sind, daß sie unbeschränkte Geltung besitzen
und fordern. Wollen wir also mittels empirischer Methode allgemein gültige Ge-
setze finden, so müssen wir eine, aber eine entscheidende Voraussetzung machen,
nämlich die, daß wir sie an dem vollendeten Kunstwerke suchen, in unserem Falle
des Dramas dort, wo der Gattungscharakter des Dramas am vollkommensten er-
scheint. Das ist nach Otto Ludwig bei Shakespeare der Fall. Daß aber Shake-
speare die Vollendung des Dramas bedeutet, das kann man mit Otto Ludwig nur
intuitiv erfassen, dafür gibt es keinerlei Beweise mehr. Innerhalb dieser einzigen
Voraussetzung also gelten die Gesetze, die Otto Ludwig findet, unerschütterlich;
für den Skeptiker aber, der hier nicht mehr mitgehen kann, der nicht weiß, ob
Shakespeare die absolute Vollendung der Kunst bedeutet, für den werden auch Otto
Ludwigs dramatische Gesetze keine absolute, sondern nur relativ bedingte Geltung
besitzen. So schränkt sich der Begriff des Dramas bei Otto Ludwig erheblich ein:
es ist der Begriff des Shakespeareschen Dramas, der Shakespeareschen Tragödie.
Sehr deutlich sagt er einmal an einer Stelle der Romanstudien »ich spreche nur von
der Tragödie, indem diese eigentlich der Gegensatz des Romans oder Epos ist'.
Shakespeare zollt Otto Ludwig eine maßlose Bewunderung. Ihm widmet er seine
Studien '), um »aus dem eigentümlichen Zwecke der tragischen Behandlung Shake-
speares die psychologische Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit seiner dramatischen
Form nachzuweisen«. So wurde ihm Shakespeare geradezu die Norm, der Regu-
lator fürs deutsche Drama, der feste Maßstab seines dramatischen Urteils, der sicherste
Weg der Fortentwicklung deutscher Kunst usw.« -). Auf dem Boden des Shake-
spearestudiums erwachsen ihm die ästhetischen Begriffe, Anschauungen und Forde-
rungen, die seine Polemik gegen Schiller begreiflich machen. So interessant und
reizvoll es auch wäre, so können wir doch nicht des näheren eingehen auf das
Verhältnis Ludwigs zu Schiller, doch sei mit wenigen Worten einer Abhandlung
gedacht, die sich dieses Verhältnis zum Gegenstand gemacht haf). Heß bemüht
sich, den Gegensatz von Schiller und Otto Ludwig auf die Formel vom Fabel- und
Charakterdrama zu bringen und hat es dann einigermaßen leicht, Otto Ludwig ad
absurdum zu führen ; gilt es doch lediglich nachzuweisen, daß auch bei Shakespeare
der Handlung hinsichtlich der Entwicklung des tragischen Charakters eine Bedeu-
tung zukommt. In der Tat jedoch trifft die Formulierung des Fabel- und Charakter-
dramas den hier vorliegenden Sachverhalt nicht; sie geht zurück auf den Irrtum der
Stürmer und Dränger, daß zwischen Shakespeare und den griechischen Tragikern ein
') Vgl. R. M. Meyer: Otto Ludwigs Shakespearestudium. Jahrbuch der deutschen
Shakespearegesellschaft, 37. Jahrgang 1901, S. 59 ff. — Man wird R. M. Meyer ohne
weiteres zugeben können, daß angesichts des unerschöpflichen Genies Shakespeares
auch Otto Ludwig nicht den ganzen Shakespeare restlos erfaßt, sondern das in ihm
findet, was er sucht. Jedoch geht Meyer entschieden zu weit in der Annahme, der
Theorie Ludwigs entspreche als sachliches Substrat nicht die Tragödie Shakespeares,
sondern das Drama Ibsens.
«) Heydrich a. a. O.
') j. Heß: Otto Ludwig und Schiller. Versuch eines Ausgleichs zwischen
Fabel- und Charakterdrama. Diss. Cöln 1902.
BKMERKUNGEN. 293
prinzipieller Unterschied bestehe; ihn zu entdecken blieb diesen Theoretikern vor-
behalten, nachdem Lessing die Übereinstininiunü Shakespeares mit Aristoteles
festgestellt hatte. Und so definierte denn Lenz in den .Anmerkungen über das
Theater^ (1774) den Unterschied zwischen Fabel- und Charakterdrama mit den vagen
Worten, dali in dem einen der Charakter, in dem anderen die Handlung die »Haupt-
sache, seil Daß in dem Gegensatz von Otto Ludwig und Schiller die Bedeutung
von Charakter und Handlung eine große Rolle spielt, ist gewiß. Doch verschließt
man sich von vornherein dem Verständnis Otto Ludwigs und Shakespeares, wie er
ihn auffaßt, wenn man die Beziehungen von Charakter und Handlung als ein ein-
faches Kausalverhältnis deutet in dem Sinne, daß also entweder der Charakter die
Handlung ursächlich bestimmt oder umgekehrt. Otto Ludwig hat demgegenüber
immer wieder betont, daß sowohl Handlung wie Charakter von sich aus unab-
hängige Kausalreihen ausgehen lassen, die sich selbst nie berühren, vielmehr
parallel nebeneinander hergehen. Allerdings sind beide aufeinander bezogen (sonst
könnten sie nicht einmal parallel sein), indem die Kausalreihe der Handlung die
symbolische Realisierung der Kausalreihe des Charakters (des Idealnexus) darstellt.
Lediglich in diesem Symbolcharakter besteht die formale Abhängigkeit der Hand-
lung vom Primat des Charakters. Nachdem es sich also erwiesen hat, daß die
Beziehungen von Charakter und Handlung auf einer ganz anderen Ebene liegen,
als die Theorie des Charakter- und Fabeldramas glauben machen wollte, dürfte auch
einleuchtend sein, daß auf dieser Grundlage aus ein billiger Ausgleich nicht mehr
möglich ist. Der tragische Charakter ist nach Otto Ludwig bei Shakespeare
wesentliches Moment der Tragödie ; er bestimmt zwar nicht die Handlung, aber
diese ist doch nur seinetwegen da '). Daß diese exzeptionelle Stellung, die dem
tragischen Charakter bei Shakespeare zukommt, nun weder auf Zufall noch auf
Willkür beruht, vielmehr nur der Ausdruck einer ursprünglichen, primären Eigen-
schaft alles Dramatischen ist, werden wir sogleich sehen.
Die erste und grundlegende Eigenschaft des Dramas ist sein Charakter als
Darstellung unmittelbarer Anschauung. Das Epos berichtet, das Drama stellt dar!
Was kann nun aber dargestellt werden für die unmittelbare Anschauung unserer
Sinne? Sehen wir von dem Medium des Mimischen in der Darstellung ab, so bleibt
auch dem Drama wie dem Epos das Medium der Sprache-). Berichten kann
nun die Sprache alles ; das stoffliche Gebiet des Epos ist daher unendlich ; Begeben-
heiten, Zuständlichkeiten, die ganze Welt der Objekte, die Natur, alles das kann
Gegenstand des Epos sein. Jedoch unmittelbar darstellen kann die Sprache nur
das, was in der Wirklichkeit selbst die Modifikationen seines Wesens in der Sprache
zur sinnlichen Erscheinung bringt, das ist die menschliche Seele. Im Mittelpunkt
des Dramas steht also ein psychisches Sein, für die Tragödie übersetzt ein Charakter
und zwar ein tragischer Charakter. Dieser tragische Charakter ist der einzige Sinn
der Tragödie, in ihm ist die Einheit und die Idee des Dramas gefunden. Die Ent-
') Daß umgekehrt bei Schiller der Handlung eine wesentliche und zwar
moralische Struktur zugehört, die Shakespeare ganz fremd ist, daß also in der Auf-
fassung dieser bedeutsamen Momente Otto Ludwig ganz richtig gesehen hat, geht
eindeutig hervor aus der lichtvollen Darstellung bei Friedrich Gundolf : Shakespeare
und der deutsche Geist. Beriin 1911, S. 286 ff.
•) Auch in der Frage der Formwirkung der Sprache gehen die Anschauungen
Otto Ludwigs und Schillers weit auseinander, was Heß a.a.O. übersehen hat;
darauf aufmerksam macht O. Walzel: Formen des Tragischen, eine Vorstudie. Inter-
nationale Monatsschrift 1914, S. 463 ff. und 582 ff.
294 BEMEKKUNGEN.
Wicklung der Handlung ist nur die symbolische Realisierung der an sich selbständig
angelegten Entfaltung des Charakters. Die Handlung selbst kann keinen unmittel-
baren Einfluß auf das Wesen des tragischen Charakters ausüben: der Charakter
wird nicht erst im Laufe der Handlung durch irgendwelche Situation tragisch, der
tragische Konflikt ist vielmehr ein ursprünglicher Kampf im Innern des Helden, der
aus dem Widerstreit einer großen Leidenschaft mit einem Affekte erwächst. Die
Leidenschaft ist typisch ; sie ist das allgemein-menschliche, nichtindividuelle Moment
des Tragischen, ohne welches das Tragische überhaupt nicht allgemein mitteilbar,
überhaupt nicht verständlich wäre. Aber dieser allgemein-menschliche Charakter
der Leidenschaft hindert nun doch nicht, daß der tragische Charakter selbst gar
nichts Allgemeines, sondern etwas durchaus Singulares, Einmaliges ist Diese Einzig-
artigkeit und Einmaligkeit des Charakters besteht darin, daß er gebunden ist an
einen Helden, der aus voller Freiheit heraus in vollkommener Unabhängigkeit von
der Situation den Widerspruch, seine tragische Schuld, zur Entfaltung bringt und
durchführt bis zum Bewußtsein dieses Zwiespaltes als einer Verschuldung. Dieses
Bewußtsein schließt die Sühne in sich ein. Schuld und Sühne müssen daher in der
Tragödie in einer ganz bestimmten Proportion zueinander stehen, was man auch
so formulieren kann, daß man sagt: der Held ist der Mensch, der aus seiner Leiden-
schaft heraus sich selbst vernichtet. Wo dies nicht der Fall ist, fehlt auch jedes
tragische Moment im Charakter. So kann z. B. ein Typus wie der Erbförster nie
tragisch sein; Otto Ludwig hat es selbst ausgesprochen. Der Erbförster ist kein
freier, leidenschaftlicher und heldenhafter, sondern ein kleiner, unfreier, mit seiner
Umgebung verwachsener Mensch, dessen Verschuldung keine große Leidenschaft,
sondern eine fixe Idee ist. Aber auch da wird nie tragische Wirkung eintreten, wo
der Vernichtung eines Menschen keine Schuld als ihre ideale Vorbedingung vorher-
geht, also dort, wo der blinde kausale Verlauf der Ereignisse unerwartet und plötz-
lich ein Menschenleben vernichtet. Gerade dem, was man im Sprachgebrauch des
täglichen Lebens »tragisch« nennt, fehlt gemeinhin jedes Kennzeichen des wirk-
lich Tragischen: die Beziehung des Bewußtseins zum Tode'). Vorbedingung zur
tragischen Wirkung ist also immer die große Leidenschaft eines Helden z. B. Ham-
lets ; in diesem Falle allerdings eine passive Leidenschaft, eine Leidenschaft des
»Nichthandelnvvollens<. Daß wirklich dies die letzte Quelle alles Tragischen bei
Shakespeare ist und nicht doch etwa die aus der Handlung resultierende Situation
das Tragische bedingt, kann man an der Bedeutung ermessen, die dem Monolog
in der Tragödie zufällt. Weit entfernt davon, etwas Lyrisches oder Episches zu
sein, hat der Monolog die dramatische Bedeutung, den tragischen Charakter des
Helden zum Bewußtsein zu bringen. Vergleicht man daraufhin die vier Monologe
Hamlets miteinander ohne Berücksichtigung der dazwischenliegenden Handlung,
so wird man feststellen, daß in ihnen jedes Moment der Entwicklung oder Ver-
änderung fehlt. Schon im ersten Monologe ist der gesamte Gedankeninhalt der
drei übrigen Monologe enthalten. Das scheint doch in der Tat darauf hinzuweisen,
') Da Otto Ludwig die Quelle des Tragischen bei Shakespeare nicht im re-
flektierenden Bewußtsein, sondern in einer ursprünglichen organischen Leidenschaft
und ihrem Konflikte mit einem ebenso ursprünglichen Affekt gefunden hatte, so
hieße es ihn sicher mißverstehen, wollte man seinen Definitionen der tragischen
Schuld und Sühne eine eng moralische Deutung unterlegen. Ich kann daher auch
Gundolf nicht zustimmen, der a. a. O. meint, die Kritik Ludwigs an Schiller habe
den ethischen Aspekt selbst nicht aufgehoben, in dem alles Tragische bei Schiller
erscheint.
^
BEMERKUNGEN. 295
daß der tragische Keim im Charakter des Helden latent enthalten ist, ehe die Hand-
lung überhaupt einsetzt. Nennen wir die bisher geschilderten ideellen Zusammen-,
hänge mit Otto Ludwig den Idealnexus, so wird dessen Verwirklichung sich voll-
ziehen in der pragmatischen Verknüpfung der Handlung; mit ihr ist eine neue,
zweite Welt hinzugekonnnen, in der alle Erscheinungen ihre Parallele finden; auf
der einen Seite also ergibt der Charakter Schuld und Sühne, auf der anderen be-
dingt die Handlung die Verschuldung und die Katastrophe. Die Handlung muß
also die Idee der Tragödie zur Erscheinung bringen; ihr kausales Geschehen ist ein
Symbol für die innere Notwendigkeit, daher der Dichter auch ihre Gestaltung unter
dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit vollzieht. Ohne Zweifel ist es auch die
Handlung, die den ersten Anstoß zur Entfaltung des Charakters gibt. Hamlet ist
der Mensch, der nie handelnd in die Welt eintreten wird, da erwächst ihm aus der
Situation die Forderung, doch zu handeln, nämlich den Tod seines Vaters zu rächen.
Die richtige Entfaltung der Charaktere ist also eine wesentliche Aufgabe der Hand-
lung; dabei zeigt sich, daß der tragische Charakter durchaus nicht immer sich im
Zustande des Affektes befindet; der Dichter läßt ihn vielmehr erscheinen in einer
gleichmäßigen Ruhe, die es ihm erst ermöglicht, die Steigerung in den Affekt vor-
zunehmen. Das wichtigste Mittel, dessen sich die Handlung bedient, ist die Moti-
vierung; sie ist nach Otto Ludwig eine spezifische Krscheinung des Dramas; motiviert
wird die Katastrophe, das Schicksal des Helden, aus seiner Schuld, diese wieder
ans seinem Charakter. Dabei darf der Dichter im Drama nichts geschehen lassen,
das wir nicht nach der bisherigen Motivierung notwendig erwarten müssen ; er darf
aber auch nicht eine Entwicklung dem Zuschauer wahrscheinlich machen, die dann
tatsächlich gar nicht eintritt. Die Zweckmäßigkeit, unter der die Handlung im Drama
steht, bedingt eine enge Geschlossenheit, eine straffe Konzentrierung der Handlungs-
elemente, der die mannigfachsten Mittel dienstbar sind. An erster Stelle steht die
ideale Behandlung von Raum und Zeit. Der Zuschauer tritt nicht mit seiner Zeit-
auffassung an die Handlung heran, wir erleben eine kontinuierliche Abfolge von
Vorgängen, ohne sie auf den inzwischen erfolg[ten Zeitablauf zu beziehen. Eine
ähnliche Oleichgültigkeit für die Geschehnisse besitzt der Ort. Ein Mittel, trotz der
Beengung durch die Form eine Mannigfaltigkeit doch dramatisch wirken zu lassen,
sind die kontrastierenden Doppelhandlungen, in denen mehrere Charaktere in bezug
auf eine gemeinsame Eigenschaft kontrastiert werden. Ein reiches Mittel der
Charakterisierungskunst ist dem Dichter in der Sprache gegeben; so gestaltet er
den Dialog, dem eine Menge anschaulicher Mittel lebhaften, dramatischen Charakter
verleihen.
Weit geringeren Umfangs sind Otto Ludwigs Aufzeichnungen über Epos und
Roman ; allerdings ist mit der vollständigen Charakterisierung des Dramatischen auch
für die Abgrenzung dieses Begriffes vom Epischen Positives geleistet und für die
Charakterisierung des letzteren Vorarbeit getan. Den großen epischen Gedichten,
der Ilias, der Äneis usw. entnimmt Otto Ludwig die Tatsache, daß im Mittelpunkte
ihres Interesses keine Hauptfiguren, sondern Sachen stehen; so bedeute Helena nur
eine Sache, um die gekämpft wird. Der Roman ist ästhetisch minderwertiger als
das Epos, seine Gattung steht in der Mitte zwischen Epos und Drama. Wenn Otto
Ludwig zur Analyse des Dramas sich an Shakespeare wenden mußte, so tritt da-
gegen der Qattungscharakter des Romans nach seiner Auffassung am besten in
Durchschnittserscheinungen zutage. Um also die Gesetze des Romans kennen zu
lernen, muß man sich an die Romanschreiber zweiten Ranges und besonders an die
Engländer dieser Klasse wenden. Otto Ludwig hat denn auch selber hauptsächlich
Scott und Dickens analysiert. Während im Drama ein Charakter das Interesse des
296 BEMERKUNGEN.
Ganzen bedingte, wird das episclie Interesse eingenommen von der Mannigfaltigkeit
der Begebenheiten des Lebens. In dieser Region bekommen daher auch jene oben
erwähnten im populären Sinne des Wortes »tragischen« Ereignisse eine künstlerische
Bedeutung. In der Bewegtheit oder Zuständlichkeit des Lebens selbst stehen die
Romanfiguren mitten inne : Milieu, Sitte, Zeitumstände drücken den Menschen ihren
Stempel auf; nicht der freie Mensch gefällt uns im Romane, sondern der Mensch
in seiner Determiniertheit. Es findet zwar auch ein Kampf im Roman statt, aber
es interessiert uns nicht seine Bedeutung für das Schicksal eines einzelnen Menschen,
sondern der Kampf selbst, das Spiel der Ereignisse, die alle eingereiht sind in die
Kette des kausalen Weltgeschehens, das ist der Gegenstand unseres ästhetischen
Wohlgefallens, den wir als die epische Breite des Romans bezeichnen. So dehnt
sich die inhaltliche Sphäre des Epischen gegenüber dem Drama fast ins Unendliche
aus. Alles was der Schatz der Sprache nur immer berichten kann, mag episches
Interesse für sich in Anspruch nehmen. Daher hat denn auch der Zufall, die nicht
erkannte oder nicht motivierte Notwendigkeit, im Epos seine Bedeutung. Ebenso
kann die Natur in ihren Wirkungen auf dem Kampfplatz des epischen Geschehens
erscheinen, denn der Schauplatz der Geschehnisse ist nicht wie im Drama das Innere
eines Menschen, sondern die gesamte äußere und innere Welt. Was den Roman
dem Drama nähert, ist das Moment der Spannung ; doch ist diese im Roman wesent-
lich verschieden von der dramatischen Spannung. Im Drama ist die Spannung fest
bestimmt durch das Interesse an dem tragischen Charakter; im Roman ist sie viel
allgemeiner und weniger eine Teilnahme an dem Geschick eines Helden als eine
Spannung der Neugierde auf Begebenheiten. Diese Unbestimmtheit der Spannung
im Roman bedingt das Wohlgefallen an dem unaufhörlich wechselnden Spiel der
Erscheinungen und ist eine Voraussetzung für das Verständnis einer Fülle von Kunst-
griffen, die dem Romane gegenüber dem Drama zu eigen sind.
11
Besprechungen.
Richard Hamann, Ästhetik. 2. Aufl. (Aus Natur und Oeisteswelt, 345. Bänd-
chen.) Verlag von B. O. Teubner in Leipzig, 1919.
Über den Unterschied der neuen zur alten Auflage sagt der Verfasser: »Die
erste Auflage ging davon aus, daß es unabhängig von den vielen kunstwissenschaft-
lichen Problemen ein spezifisch Ästhetisches gebe, und daß der ästhetische Zustand
darin bestände, allen Zweckzusaninienhängen enthoben und als Erlebnis isoliert zu
sein. In der zweiten Auflage wird das Problem wesentlich enger gefaßt und das
Problem des Wesens des Ästhetischen auf eine Untersuchung der Kigenbedeutsani-
keif der Wahrnehmung eingeschränkt.« Ästhetisch sind Wahrnehmungen, wenn sie
aus dem Zusammenhang des Erkennens und Handelns herausgenommen werden
und trotzdem bedeutsam bleiben; die musikalischen Tongebilde sind das beste
Beispiel. Es handelt sich dabei nicht um wahrgenommene Dinge, sondern um un-
mittelbare Wahrnehmungsinhalte. Will man klarstellen, inwiefern solche Wahr-
nehmungen Selbstzweck werden können, so ist die psychologische Untersuchung
der ästhetischen Erlebnisse kein geeignetes Mittel. »Wir gehen deshalb geistes-
wissenschaftlich vor, gehen von bestimmten geistigen Inhalten, den Wahrneh-
mungsgebilden aus, und betrachten diese nicht nach den Bedingungen ihres
Auftretens, sondern nach ihrer Bedeutung, die sie haben, und den Bedingungen
dieser Bedeutung« (S. 21). Das Verfahren wird indessen nicht eigentlich durch-
geführt. Es wird bloß gezeigt, wie das ästhetische Gebilde sich abschließt (durch
Rahmung z. B.) und wie es in sich selber konzentriert und komponiert wird; da-
neben stellt Hamann als »Intensivierung der dargebotenen Wahrnehmung« die
Aktualität, die Neuheit, das Sensationelle und dergleichen, obwohl diese Dinge mit
der Eigenbedeutsamkeit der Wahrnehmung schwerlich etwas zu tun haben. Übrigens
wird auch nicht deutlich, inwiefern die ästhetische Seite der Dichtkunst durch die
vorgeschlagene Begriffsbestimmung gedeckt werden könnte. Der Verfasser hätte
vielleicht gut getan, über Kant, Hartmann, Münsterberg, Jonas Cohn hinaus- und
zur Phänomenologie fortzuschreiten. Es ist ja viel Gutes in dem Büchlein, das
dem Inhalt nach dogmatisch und der Form nach aphoristisch gehalten ist; immer-
hin wird die eigentliche Ästhetik Hamanns erst durch eine umfassende Darstellung
zur Erscheinung kommen. Wir warten darauf in der Zuversicht, daß hierdurch
unsere Wissenschaft erheblich bereichert werden wird.
Berlin. Max Dessoir.
Oskar Katann, Ästhetisch-Literarische Arbeiten. Verlagsanstalt Tyro-
lia, Wien-Innsbruck-München. 1918. 371 S.
Diese Sammlung von Aufsätzen wird durch eine Auffassung von der Methode
ästhetischer Kritik zu einem einheitlichen Buche. Der Verfasser betont den Wert
der Tradition als gei.stiger Macht, er fordert Arbeitsteilung und Werkfortsetzung
298 BESPRECHUNGEN.
Zusammenarbeit der Individuen und Generationen, Verknüpfung des Allgemeinen
und Bleibenden mit dem Individuellen und Wechselnden. Er unterschätzt das
synthetische Element nicht, das auch im Elektizismus liegt. Eine Wahrheit verliert
durch Wiederholung nichts an ihrem Wert. Im Geiste dieser Methode entwirft
Katann eine neuscholastische Theorie des Schönen, ein System der Künste, eine
Theorie des Tragischen usw., sich überall mit der wissenschaftlichen Tradition mit
Sorgfalt auseinandersetzend. Da diese Auseinandersetzung nicht mit der Wieder-
holung alter Wahrheiten endet, mit Besonnenheit und grosser Literaturkenntnis
geführt wird, liest man sie mit Gewinn. Vielleicht ist der Verfasser in seiner
Verehrung der Tradition auch manchmal ein wenig zu weit gegangen. Nicht jede
historisch vorliegende Lösung eines Problems trägt ja zu seiner systematischen
Förderung bei, und nur solche Lösungen haben eigentlich das Recht, weiterge-
schleppt zu werden, die heute noch fruchtbar sein können. Doch dient das histo-
rische Material bei Katann nie dazu, den Mangel an eigenen Gedanken zu ver-
decken. Seine Kritik des Vorhandenen ist nie kleinlich mörgelnd, sondern selb-
ständig und zu Neuem führend.
Merkwürdig Ist, daß der Verfasser gerade in dem grundlegenden Aufsatz des
Buches, dem Entwurf einer neuscholatischen Theorie des Schönen, eine historische
Anmerkung zu machen vergessen hat, die wohl der Mühe wert gewesen wäre.
Man kann der Definition des Schönen als einer »naturgemäßen Betätigung der ge-
samten vom Objekt ausgelösten Erkenntniskräfte« nicht lesen, ohne an Kants
Theorie vom Spiel der Erkenntnisvermögen zu denken. Bei aller Verschiedenheit
rückt durch die Betonung des Begriffs der Erkenntnis in dieser Definition die neu-
scholastische Ästhetik in eine scholastische Gedankengängen sonst recht fremde
Nähe zu Kantischen Gedanken, und es wäre verdienstlich gewesen, die Verwandt-
schaft und den Gegensatz der beiden Theoren wenigstens anzudeuten. — Daß
Katann das Verfahren seiner Ästhetik, vom Menschen, nicht von Gott auszu-
gehen, iuduktiu nennt, ist wohl nicht zu billigen, denn auch bei diesem Beginn
wäre noch ein anderes als induktives Verfahren möglich. Die Andeutung, die er
am Schlüsse über die Beziehung der Trinitätslehre zum Schönheitsbegriff macht,
sind tiefsinnig und schön, aber sie zeigen auch, daß eine Ästhetik, die zu solchen
Gipfeln führt, nicht induktiv heißen kann.
Auch die »synthetische- Lösung des Problems der Geltung des ästhetischen
Gefallens scheint mir nicht ganz glücklich. Katann meint, jeder fällt sein ästhetisches
Urteil nach dem Kulturstand und seiner psychischen Beschaffenheit — Insofern ist
die Theorie der Relativität Im Recht. Die Objektivität aber wird dadurch gewahrt,
daß man ein typisches. Ideales, ästhetisches Gefallen annimmt, dessen Korrelat der
Typus einer idealen Kunst wäre, an deren Wesen die verschiedenen Werke der
Völker, Zelten und Individuen Anteil haben. Auch auf dem Gebiet der Kunst also
herrscht das Gesetz der Arbeltsteilung und Werkfortsetzung. — Ich möchte diese
überschauende Art der Betrachtung nicht gering schätzen. Aber mir scheint, daß
hier entweder ein kulturhistorisches Apercu für eine systematische Lösung eintritt,
oder daß die Lösung wohl in einer ungenannt bleibenden tiefer liegenden Schicht
fundiert sein mag, daß sie aber dann keine wissenschaftliche mehr helssen kann,
denn diese Schicht könnte nur die einer theologischen Metaphysik sein. Es Ist
natürlich, daß die religiös-metaphysischen Voraussetzungen des Verfassers gerade
beim Problem der Subjektivität zum Vorschein kommen mußten. In allem übrigen
merkt man nichts von Ihnen, sondern findet voraussetzungslose Forschung. Der
Takt Katanns tritt besonders in den Aufsätzen, die ästhetische Grenzfragen be-
handeln, hervor, wie in dem über die Tendenz, über Dichtung und .Moral, dis
BKSl'RECHUNGEN. 209
Freiheit der Künste, und besonders in der Verteidigung der Dicliterin Handel-
Mazetti gegen die Anklage des Modernismus in ihrem Jesse und Maria-Roman.
Ein schönes Beispiel synthetischer Betrachtungsweise gibt Katann in dem Auf-
satz -Zur Theorie der Novelle«. Daß er hierbei auf den noch nicht genügend be-
achteten Thesencharakter der Novelle hinweist, scheint mir ein besonderes Verdienst.
Dabei hätte allerdings das Märchen mehr Berücksichtigung finden dürfen, denn
Thesencharakter besitzt das Volksmärchen sehr oft. ~ In dem Aufsatz vom -Wesen
der Literaturwissenschaft tritt der Verfasser für eine erkenntnistheoretische Fun-
dierung der Ästhetik im Sinne einer objektivistischen Weltansicht ein. Die prak-
tischen Beispiele, in denen er diese Forderung zu erfüllen sucht (in den Aufsätzen
>Wert und Wertung«, »Zur Technik des lyrischen Gedichts-, Über den Titel im
lyrischen Gedicht«, »Zu Ibsens Gespenstern«), scheinen zu beweisen, daß er einen
ästhetischen Objektivismus etwa im Sinne Dessoirs erstrebt. Mag dieser ästhetische
Objektivismus bei Katann auch von einem llieologisch-inetaphysischen getragen sein,
so bedeutet das, wie seine Aufsätze zeigen, für die Arbeitsteilung und Werkfort-
setzung auf ästhetischem Gebiet kein Hemmnis. Er hat in den Analysen des Auf-
baus der Goetheschen Gedichte »Mailiedc und »An den Mond«, der Liebesnacht«
von Greif und des vierten Stücks von Schönaich-Carolaths Fatthöme Musterstücke
kunstwissenschaftlicher Kritik gegeben. Der Weg, den er liier eingeschlagen hat
und den heute erfreulicherweise schon eine ganze Anzahl Forscher beschreiten,
verspricht uns die schönsten Ergebnisse für eine immer tiefer dringende Erkenntnis
der Kunstform der Dichtung.
Berlin. Alfred Baeumler.
M. v. B r o e c k e r , Kunstgeschichte im O r u n d r i li. Ein Buch für Schule und
Haus. 8. Auflage, herausgegeben von J. Ziehen. Mit 129 Abbildungen im
Text und 4 Farbtafeln. Leipzig 1917, Verlag von Julius Klinkhardt. VIII und
224 Selten. 8".
Die Kunstgeschichte im Grundriß von M. v. Broecker liegt nunmehr in 8. Auf-
lage vor. Ein Zeichen, daß das Bedürfnis nach diesem für Schule und Haus be-
stimmten Leitfaden immer noch groß ist, wenn auch das Buch als solches längst
durch bessere Werke ähnlicher Art, wie etwa H. Bergeners Grundriß der Kunst-
geschichte, überholt ist.
Die oft ungleiche Durcharbeitung des Büchleins, das in der zweckmäßigen Wahl
der Abbildungen häufig versagt und auch in bezug auf Einteilung und Umfang der
Kapitel manches zu wünschen übrig läßt, zeigen dem kundigeren Leser bald an,
daß ein Pädagoge, kein Kunsthistoriker vom Fach, die neue Auflage übernommen hat.
Die Ausführung der Abbildungen ist für einen Grundriß außerordentlich be-
friedigend. Dagegen ist zu beanstanden, daß Raffael mit sechs, Michelagniolo mit fünf,
Dürer hingegen nur mit vier Stücken vertreten ist. Das widerspricht der Absicht des
Buches, die deutsche Kunst hervorzuheben. In einem solchen Buch sollte z. B. Dürers
.Apostelbild nicht fehlen.
Auch sonst ist die Wahl der Abbildungen etwas willkürlich. Von Rembrandt
sind drei Blätter vorhanden: das Hundertguldenblatt, die Nachtwache und das Bild
einer alten Frau. Mir scheint, die Anatomie, die im Thema dem Hundertguldenblatt
ähnliche, in seelischer Hinsicht aber sehr viel tiefer empfundene und feiner durch-
dachte Radierung des predigenden Christus, und die Vision des Daniel oder der
Segen Jakobs hätten mit der Nachtwache vereint ein viel charakteristischeres Bild
von Rembrandts Persönlichkeit ergeben. Die Rokokoabbildungen beschränken sich
300 BESPRECHUNGEN.
auf zwei kleine Dekorationsstücke und ein Rokokokapitell. Ich würde statt dessen
eine Innenarchitektur eines der berühmten Rokokoschlösser und ein Bild Watteaus
bevorzugt haben. Befremdend wirkt es auch, daß im 19. Jahrhundert Meister ersten
Ranges wie Feuerbach, ganz besonders aber Leibl kaum erwähnt werden, während
Künstler dritter Ordnung wie Lessing, Knaus und Defregger sämtlich mit Ab-
bildungen vertreten sind. Eine solche Zurücksetzung erster Künstler nuiß ein geradezu
falsches Bild des 19. Jahrhunderts ergeben. Ich bemerke noch, daß bahnbrechende
Maler und Bildhauer wie Manet, Monet und Rodin nur dem Namen nach aufgeführt
werden, während Magnussen mit einer Büste Lionardos und Corot mit einer Land-
schaft vertreten ist.
Am meisten aber muß es auffallen, daß bei der Schilderung der niederländischen
Malerei des 15. Jahrhunderts lediglich ein Bild des Dirk Bouts gegeben wird, während
man nach dem Genfer Altar, nach Hugo van der Goes und Rogier van der Weyden
vergeblich sucht.
Zwar betont der Herausgeber in der Einleitung ausdrücklich, daß es ihm mehr
um den Text, als um einen möglichst reichen und vollständigen Abbildungsschatz
zu tun sei. Es ist richtig, nicht die Zahl der Abbildungen entscheidet bei einem
Abriß über Güte oder Ungute, aber allerdings die Wahl, lüne gute Auswahl ist
selbst schon Text, ja, ist mehr als Text. Diese aber ist es, die wir bei dem vor-
liegenden Büchlein in einigen wesentlichen Partien vermissen. Die klassisch-antike
Kunst und die italienische Renaissance sind mit zutreffenderen Abbildungen versehen.
Bei der Einteilung der einzelnen Kapitel fällt auf, daß die italienische Renaissance
etwa 40 Seiten, die flämische und niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts da-
gegen nur 11 Seiten umfaßt. So genügen dfui Herausgeber zur Schilderung Rem-
brandts zwei schmale Seiten, während Raphael mehr als der fünffache Spielraum einge-
räumt wird.
Der Text des Buches paßt sich besser als die Abbildungen seiner Bestimmung
an. Hier spürt man auch am deutlichsten die bessernde Hand des neuen Heraus-
gebers, der die allzu breite, oft unangenehm anekdotenhafte Art M. v. Broeckers
abfeilt und durch eine etwas präzisere, auf eigentliche Kunstfragen mehr eingehende
Darstellungsweise ersetzt.
Ein letztes Wort möchte ich noch über den neu hinzugekommenen Literatur-
nachweis sagen. Er umfaßt zwei enggedruckte Seiten und bringt eine ganze Fülle
aller möglichen Werke. Allein auch hier fehlt die sichtende Hand. Werke ersten
Ranges sind oft neben unbedeutenden Büchern genannt, z. B. neben Lipps und
Schmarsow H. Riegel. Ich gestehe, daß ich zunächst geglaubt habe, daß eine Ver-
wechslung mit A. Riegl vorliege. Es fehlen Wölfflins Kunstgeschichtliche Grund-
begriffe. Ebenso vermißt man unter den Einzelmonographien Hamanns Werk über
Rembrandts Radierungen, das beste Rembrandtbuch neben Bodes Rembrandtskizze.
Unter den kunstwissenschaftlichen Zeitschriften fehlt die Zeitschrift für Ästhetik und
allgemeine Kunstwissenschaft. Außerdem wäre dringend zu wünschen, daß die
Titel der betreffenden Werke genauer, nämlich mit Erscheinungsort und -jähr an-
gegeben würden.
Breslau. Elisabeth von Orth.
Oskar Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur
Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Philosophische Vorträge, veröffent-
licht von der Kantgesellschaft. Nr. 15. Berlin, Reuther & Reichard, 1917. 92 8.
Im Gegensatz zu einer Kunstbetrachtung, wie sie mit Meisterschaft Simmel
pflegte: Vordringen zu den innerlichsten Bedingungen, zu den metaphysischen«
BESPREUIUNGEN. 301
Voraussetzun<ien des künstlerisclien Schaffens, widmet sicli heute eine Anzahl
von Denkern der bescheidneren Aufgabe der Erforschung des Kunstwerks, seiner
»Schale« sagt Walzel, und sucht zuerst einmal das Äußere so genau wie möglich
zu bestimmen. In der Erkenntnis dessen, was »Technik« im höheren Sinn heilien
könnte, ist ja noch außerordentlich viel zu erobern. Der vorliegende Vortrag will
derartigen Untersuchungen einen methodischen Unterbau lieiern. In vorsichtig ab-
wägender Darstellung prüft Walzel eine Anzahl ästhetischer und historischer Arbeiten
nach ihrem Ertrag in bezug auf die Frage: »Ist es zweckdienlich, bei der Begründung
der künstlerischen Oestaltiing von einer Kunst durchgehende Merkmale zu berück-
sichtigen, die sich bei der Feststellung der künstlerischen Qestaltungsmöglichkeiten
einer anderen Kunst ergaben?« Er hofft, dal{ sich für dieses Problem der Aus-
druck >wechselseitige Erhellung der Künste« einbürgern werde, wozu dieser mir in
der Tat recht wohl geeignet scheint. Hauptsächlich handelt es sich Walzel um die
Vertauschung von Begriffen der bildenden Künste und Begriffen der Poesie. Nach-
dem er sich mit Schniarsow und seiner Schule auseinandergesetzt hat, bleibt er bei
Wölfflins »Kategorien stehen, in denen er wohl mit Recht das bisher voll-
kommenste Beispiel einer begrifflichen Bewältigung des Formproblems innerhalb
einer bestimmten Kunst erblickt. Er ist der Ansicht, daß wir für die Welt der
Dichtung vor allem etwas brauchen, das den Kategorien Wölfflins entspricht. Und
zwar soll die Erhellung der Betrachtung von Werken der Poesie durch die bei Be-
trachtung von Bildern, Bauwerken usw. gewonnenen Begriffe vorläufig nur dem
einzelnen Kunstwerk dienen, nicht gleich auf historische Reihenbildung ausgehen.
Walzel weist Strichs Versuch, Wölfflinsche Kategorien auf die Lyrik des 17. Jahr-
hunderts anzuwenden deshalb als bedenklich zurück, weil ein solches Unternehmen
für das lyrische Gebiet allein nichts Kndgültiges über den Stil einer Epoche zutage
fördern kann, wenn nicht gleichzeitig Epos und Drama der Zeit herangezogen
werden. Erst Klarheit über die möglichen Formbegriffe überhaupt, das ist, wenn
ich recht verstehe, seine Meinung, dann erst ihre historische Anwendung — diese
aber auch in aller Breite, nicht an herausgegriffenen günstigen Beispielen.
Diesen ersten, kritischen Teil des Vortrags zu lesen ist ein Genuß. Die Bau-
steine des Themas werden gleichsam mit Eleganz zusammengefügt und prüfend
gesichtet. Weniger glücklich scheint mir der Verfasser im zweiten Teil, der «er-
kenntnistheoretische Arbeit« leisten möchte. Walzel will bei bloßen >Stininuings-
vergleichen« nicht stehen bleiben. Nur wirklich gemeinsame Formeigentümlichkeiten,
sachliche Übereinstimmung der Künste, gestattet den Austausch der Forschungs-
mittel. Er will die Begriffe streng logisch erfassen und durchführen. Bei dieser
in den Einzelheiten sich bewährenden Feinfühligkeit für methodische Dinge wun-
dert man sich, daß Walzel ganz darauf verzichtet, sein Problem in den großen
Aufgabenkreis, zu dem es gehört, einzustellen. Sollte hier nicht ein wenig Ab-
neigung gegen »Philosophie mitspielen? Er verzichtet »mit Absicht« auf jede
»Deduktion^. Aber das Einstellen eines Problems in den systematischen Zusammen-
hang, in den es gehört, ist keine Deduktion, und wer über die Erhellung der Künste
durcheinander spricht, dürfte an dem Zentralproblem der künstlerischen
Objektivität überhaupt nicht vorübergehen. Ich glaube bei Walzel, wie
übrigens auch bei Wölfflin, eine gewisse Zurückhaltung in den eigentlich prin-
zipiellen Fragen zu bemerken, die sich bei dem letzteren wenigstens — gelegent-
lich mit etwas Mißtrauen gegen »philosophische« Behandlung verbindet. Nun ist
ja der Historiker gewiß nicht zur Systematik verpflichtet. Ja er tut als Historiker
völlig recht daran, sich von Systemgedanken fernzuhalten. Strebt er aber über das
Historische so energisch hinaus, wie es Wölfflin und Walzel tun, die doch weit
302 BESPRECHUNGEN.
mehr geben wollen als eine Analyse historischer Kunstfornien, strebt er also zum
Objekt überhaupt, so wird ihm die Besinnung auf die Prinzipien der Objekt-
gestaltung notwendig und er wird die Rücksichtnahme auf systematische Grund-
fragen nicht umgehen können. Es ist hier die rein kritische Systematik, keinerlei
willkürliche metaphysische oder sonstwie philosophische Voraussetzung gemeint.
Philosophisch heißt ja nicht eine deduktive, sondern eine die Einzelprobleme im
systematischen Problemzusammenhang erblickende Betrachtungsweise, die eine ins
einzelne gehende, unbefangene, »induktive Forschung nicht ausschließt, sondern
fordert. Walzels Problem gehört zu dem der kunstwissenschaftlichen Begriffsbildung.
Man könnte fragen, welchen Wert denn die Einstellung in dieses umfassende Pro-
blem für die Behandlung einer Einzelfrage haben könnte. Darauf ist zu antworten,
daß dieser Zusammenhang bei Behandlung einer konkreten Einzelfrage nicht ver-
mißt wird, daß man aber methodologische Probleme niemals außerhalb des
Zusammenhangs behandeln kann. Hier hängt eins am andern, und das scheinbar
entlegenste Problem ist noch mit dem Mittelpunkt verbunden.
Mit diesen Bemerkungen soll nicht gesagt sein, daß Walzel das methodologische
Problem nicht gefördert habe. Mir scheint aber, daß er durch eine systematische
Behandlung seinen Gedanken mehr Halt und auch eine größere Präzision zu geben
vermocht hätte. Wie dieser systematische Hintergrund seiner in allen Einzelheiten
treffenden Untersuchung zu denken sei, das auch nur anzudeuten ist hier nicht
Raum. Es soll nur noch auf den Reichtum dieses Vortrags an guten kritischen
Bemerkungen hingewiesen werden. Vortrefflich ist die Auseinandersetzung der
Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man auf Werke einer Kunst Ausdrücke an-
wendet, die dieser Kunst selbst entnommen sind (z. B. den Begriff des malerischen
auf Werke der Malerei, um einen besonderen Stil zu bezeichnen). Wenn Walzel
daraus den Schluß zieht, daß die Vermeidung solcher Schwierigkeiten durch Ver-
wendung von Fachausdrücken, die einem andern Kunstgebiet entnommen sind, ein
Beweisgrund für den Wert der wechselseitigen Erhellung der Künste sei, wird
man ihm gerne zustimmen. Etwas zu zurückhaltend scheint es mir aber, weqn er
es »dahingestellt« lassen will, ob die Scheidung von Epos, Lyrik und Drama an
Schärfe und Überzeugungskraft mit der von Malerei, Plastik und Architektur wett-
eifern könne. Ich dächte, wer nicht einmal so große Formgruppen völlig objektiv
bestimmen zu können glaubt, wie sollte der noch Hoffnung hegen, bestimmte
feinere Unterschiede innerhalb der verfließenden Gruppen zu treffen und durch Ver-
gleiche mit anderen Künsten erhellen zu können? Dieser nebenbei geäußerte
Skeptizismus in einer so wichtigen Frage hängt vielleicht mit der erwähnten Zu-
rückhaltung in systematischen Fragen zusammen : denn mit der Scheidung des
dichterischen Objektgedankens in den der lyrischen, epischen, dramatischen Form
müßte wohl jede Formsystematik der Dichtkunst beginnen.
Berlin. Alfred Baeumler.
Steinberg, S.D.. Ferdinand Hodler, ein Platoniker der Kunst. Mit
Abbildungen. Zürich, Rascher & Cie.
Widmer, Dr. Johannes, Von Hodlers letztem Lebensjahr. Mit
4 Kunstdrucktafeln. Zürich, Rascher & Cie.
'Ferdinand Hodler, ein Platoniker der Kunsts lautet die Aufschrift eines Heftes,
das der Verfasser als einen Versuch bezeichnet hat. Er will nur eine subjektive
Auffassung und Deutung der Hodlerschen Kunst geben. Dieser Vorbehalt kann
den Kritiker nicht entwaffnen, wenn das Gebotene vielfach in nicht persönlichen
BESPRECHUNGEN. 303
Deutungen und hymnischen Ergüssen besieht. Daneben finden sich freilich gute
Beobachtungen und manches von nicht bloß persönlicher, sondern allgemeinerer
Geltung.
Der junge Hodler ist Realist, sein ideal die Wahrheit; dann entgleitet er dem
Oenrehaften und der Anekdote, die Liebe zum Portrait wird kühler, aber er ver-
fällt nicht der Oedankenmalerei, nicht der Allegorie, sondern erhebt sich zum
stimmungsmäßigen Symbol. Von dem Bilde ^Zwiesprache mit der Natur« — nackter
Jüngling in Wiesenlandschaft — sagt der Verfasser: »Die Figur des Jünglings
verrät durch Gebärde, Stellung und Oesichtsausdruck bereits den liefen Wunsch
des jungen Künstlers, über die Wiedergabe des Greifbaren und Wägbaren hinaus-
zudringen und einzutreten in das unerkannte und geheimnisvolle Gebiet des Geisligen
und der Seele.« Weiterhin wächst der Künstler über den Kreis des Individuellen
in den umfassenderen der Gemeinschaft; der vielerörterte Parallelismus und das
Motiv der Wiederholung drücken das Gemeinsame einer Vielheit aus. Hodler hat
den Einzelfall überwunden, die Gestalten werden zeit- und raumlose Menschen-
brüder. »Hodler nimmt aus ihrer Hand den Stock, von ihrem Kopf den Hut,
er entkleidet sie modischer Tracht und umhüllt sie mit Gewändern, die zeitlos
sind, wie die Figuren selbst. Die Wände des Zimmers, die sie umgrenzten,
schrumpfen zusammen, die Welt ist um sie herum. Nicht fünf Leidende, nicht
fünf Enttäuschte und Lebensmüde sitzen vor uns: die Enttäuschung, die Müdigkeit
selbst steht vor uns und erschüttert uns.« Daher «Platoniker«, Gestalter von Ideen.
Der Verfasser zitiert das Wort Heinrich Heines: »Wer mit den einfachsten Sym-
bolen das Meiste und Bedeutendste ausspricht, der ist der größte Künstler.«
Ähnlich erklärt Steinberg die Abkehr von der Farbe in den »Darstellungen
des Allgemein-Gültigen« im Gegensätze zu den Landschaften; sie bedeutet ja zweifel-
los eine gewisse Abstraktion, ohne daß man mit dem Verfasser gerade eine Not-
wendigkeit dafür wird anerkennen können. Denn daß das >Wechselspiel der Farbe,
das Licht des Augenblicks, die Buntheit einer bestimmten Stunde« bei »Darstellungen
des Ewigen nicht paßt, leuchtet wohl ein, aber daß die Bilder über die Dinglich-
keit der Welt hinauswachsen (d. h. rein seelische Stimmungen verkörpern), ist
noch kein Grund gegen eine stärkere Farbigkeit; soviel könnte man immerhin von
den Expressionisten, bei aller wünschenswerten Vorsicht ihnen gegenüber, theo-
retisch lernen. Hodler wird eben in jenen Darstellungen rein zeichnerisch, und
seine farbige Haltung ist da weniger platonisch als protestantisch. Die weißen oder
kaltgetönten zeitlosen Mäntel der Gestalten erinnern an die kalkige Frostigkeit
mancher protestantischen Kirchenräume ; beide Male liegt der Grund des Verzichts
auf Farbe in einem Streben nach reiner Geisligkeit.
Die Darstellung einer historischen Idee mit ihrer Beschränkung auf das
Wesentliche hat der Verfasser in dem Auszuge der Jenenser Freiwilligen hübsch
aufgezeigt: »Man sieht es deutlich vor sich, wie es ein anderer etwa gemalt hätte:
Ein Stadtbild mit deutschen Giebeln, bemalten Fensterscheiben, winkligen Gassen ;
blumengeschmückte Jünglinge füllen erregt Straßen, Müller, Bräute und Schwestern
tragen Waffen nach, winken mit Tüchern und Händen oder stehen niedergebeugt
von innerem Schluchzen, in liefer Not verloren. Ein gewalliger .^pparat von Dingen
und Menschen hätte auf uns Wirkung ausüben, lärmende Umständlichkeit uns er-
greifen sollen.« Dagegen Hodler: »Was bedeutet ihm der Zufall eines Ortes, wo
das Ereignis abrollt, was kann ihm die Nebensächlichkeit unwesentlicher Umstände
sein vor der Idee des historischen Geschehens . . . Nur so erklärt es sich, daß wir
diese machtvollen Werke, die doch gegenständlichste Wirklichkeit festhallen, durch
abstrakte Begriffe umschreiben können. So dürfte man unter den ^Auszug der
304 BESPRECHUNGEN.
Jenenser Freiwilligen« das eine Wort: Begeisterung setzen, unter den .Teil« : Be-
freiung, unter den »Rückzug von Marignano« : Heldentrotz; die zweite Fassung des
Hannoveraner Reforniationsbildes nannte Hodler selbst - und wie bezeichnend ist
das — »Einmütigkeit« und erliärtete dadurch, daß sein Bild nicht ein historisches Er-
eignis, sondern einen historischen Gedanken wiedergeben soll.» Das ist durchaus zu-
treffend, ohne daß man gerade von Piatonismus sprechen müßte. Man könnte
statt Gedanken auch Gefühl sagen, wie denn die Begriffe Begeisterung, Befreiung,
Heldentrotz, Einmütigkeit Affekte bezeichnen. Das Wesentliche ist nicht die be-
grifflich sprachliche Form der möglichen Bildtitel, sondern ihr Inhalt. Und so dürfte
sich denn auch — in dieser Hinsicht — der Expressionismus auf Hodler berufen.
Walzel sagt über die neue »Ausdruckskunst« in der Dichtung (in »Deutsche Dich-
tung seit Goethes Tod«): »Sie löst den Menschen los von dem Alltag seiner
Umgebung. Sie befreit ihn von gesellschaftlichen Banden, von Familie, Pflicht,
Sittlichkeit. Er soll nur noch Mensch, er hört auf, Bürger zu sein.« Man darf aber
bei Hodler auch an andere künstlerische Welten denken, an die Monumentalkunst
der Giotto, Masaccio, Michelangelo, mit der seine Dramendarstellungen ebenfalls
die Einfachheit des Schauplatzes teilen. Sie entspricht dem monumentalen Stil über-
haupt. Im übrigen seien noch einige ergänzende Bemerkungen gestattet.
Hodler erreiclit seine stärksten Wirkungen keineswegs immer bei allge-
meinen Inhalten. Der Auszug der Jenenser Studenten oder der Rückzug von
Marignano machen doch wohl größeren Eindruck als die verzückten oder nach
innen (und oft auch nach außen, d. h. aus dem Bilde heraus) lauschenden Bruder-
schaften und Schwesternschaften der »Lebensmüden« oder der ^heiligen Stunde« usw.
Und Hodler gibt auch in einer einzigen Figur oft mehr Symbolik, mehr geistigen
imd seelischen Gehalt als anderwärts in mehreren. Die beiden einzelnen Lebens-
müden z.B. von 1887 greifen wenigstens, nach meinem Urteil, stärker an das Ge-
fühl als die Sitzung der Vereinigung von fünf Lebensmüden aus 1891 mit ihrer
starren Symmetrie, die mehr die Anerkennung ihrer Bedeutung« vom Betrachter
zu heischen scheinen. Man kann auch nicht sagen, daß die Häufung von mehreren
Trägern derselben Stimmung gerade das einfachste Mittel im Sinne jenes Heine-
Wortes wäre. Hodler gibt eben nicht Typen, d. h. nicht besonders ausgeprägte
Individuen, sondern er ersetzt gleichsam den Typus durch Darstellung einer An-
zahl einzelner Exemplare: und wesentlich dadurch, daß er in den verschiedenen
Figuren dieselbe Stimmung gibt, betont er die Meinung durch Wiederholung, durch
den -Parallelismus der Empfindung« wie er selber einmal gesagt hat. Er verwendet
immer wieder das Motiv der Reihung, das eines der ältesten Elementarmotive aller
Kunst ist; er drängt also nicht zusammen, sondern gibt ein Nebeneinander; seine
Konzentration besteht nicht so sehr in der seelischen Vertiefung des einzelnen
Kopfes und der einzelnen Gestalt, als in dem Weglassen des für den Ausdruck
jener gemeinsamen Stimmung Unwesentlichen. Er gibt keine Charakterköpfe,
sondern Ausdrucksköpfe, die nur keine heftigen Affekte, sondern mehr gleichmäßige
Gefühle ausdrücken. Als Persönlichkeiten sind diese Menschen nicht besonders stark
erhöht, sondern sie sind lediglich von der Seite einer jeweiligen Stimmung her auf-
gefaßt und insofern eindrücklich. In manchem Bilde einer einzelnen Gestalt da-
gegen, namentlich im »Tell< , stilisiert er einen Menschen ins Heroische und Mo-
numentale, und es ist kein Zweifel möglich, daß dies eine höhere Leistung ist.
Die Wiederholung und der Parallelismus bringen freilich einen spezifischen
Ausdruck des kollektiven Zusammenseins hervor, doch ist meines Erinnerns kaum
je ausgesprochen worden, daß gerade in dieser »Gemeinschaft« ein oft besonders
starker Eindruck der Einsamkeit entsteht. Die Figuren, die formal so intim auf
BESPRECHUNGEN. 3Q5
einander abgestimmt sind, daß sie für sich allein formal gar nicht verstanden würden^
bleiben innerlich dabei doch oft vollkommen für sich, den Nachbarn fremd, ohne
innere Verbindung mit ihnen, als wüßten sie nichts von ihnen; und so entbehrt das
Ganze häufig der inneren Geschlossenheit, ja der inneren Form. Eine Anzahl von
Bildern bietet einen Gegensatz dazu und stellt diese Eigentümlichkeit anderer Werke
ins Licht. So ist das frühe >Turnerbankett> von 1877 noch durchaus gesammelt,
und zwar durch eine Handlung, da einer spricht und alle andern ihn ansehen;
auch der Schwingerumzug» von 1882 stellt eine Handlung dar, ebenso der >Rück-
zug von Marignano-, der >Jenenser Auszug« und das Hannoversche Reforma-
tionsbild. Und das sind doch wohl sehr beträchtliche Höhepunkte Im Werk^
Hodlers, aber bei aller Ideendarstellung, die man auch ihnen zusprechen kann, doch
etwas grimdsätzlich Anderes als'dle stimrnimgshaften oder philosophischen Bilder
der Lebensmüden oder der Enttäuschten oder der heiligen Stunde oder der
Eurhythniie. In dem Oruppenbilde des »neuen Rütü« von 1887 haben wenigstens
die einzelnen Gruppen lebendige Beziehung untereinander, dank dem realen Vor-
gang der Begrüßung (von der in diesem Falle fragwürdigen symbolischen Ge-
staltung sehe ich hier ab). Dagegen fehlt in der Gruppe des ^Calvin im Hofe d?i;
Genfer Hochschule- von 1884 ein inneres Verbundensein der Gestalten. Es ist, als
ob jeder für sich von einem besonderen Geist ergriffen wäre. In der »Nacht«;
vollends von 1800 ist nun das Einsame, die innere Entfernung der zusammen-
geordneten, formal mit einander In Verbindung gebrachten Gruppen und Einzel«
gestalten sehr deutlich. Vielleicht daß die »Lebensmüden« in einem leisen Ein-
verständnis nn'teinander sind; auch die »Eurhythmie< läßt die Annahme einer
stillen inneren Übereinstimmung zu ; aber z. B. in der Heiligen Stunde» lebt jede
Gestalt bloß für sich. Es braucht natürlich nicht Immer eine Handlung zu sein,
was die innere Verbundenheit feststellt, weder ein dramatischer noch ein epischer
Inhalt, es genügt ebensogut eine Stimmung; aber auch eine bewußt gemeinsame
Stimmung fehlt eben bei Hodler oft; es ist wohl Stimmungseinheit da, doch keine
Stimmungsgemeinschaft. Er zeigt gern mehrere Ausdrucksfiguren zusammen, die
jedoch kein Gefühl des Beisammenseins zu haben scheinen. Wenn er, wie er-
wähnt, einmal von einem »Parallelisinus der Empfindung« gesprochen hat, so gibt
er in der Tat nicht selten auch innerlich bloße Parallelen, die sich nicht schneiden;
und nicht zuletzt deshalb behalten solche Bilder etwas Kaltes. iV\an mag sagen,
sie gestalten Ideen. Aber vielleicht ist nirgends so stark wie bei Hodler -^ gerade
in diesen starken künstlerischen Bindungen einer gewissen Gemeinsamkeit — dar-
gestellt worden, daß jede Seele immer allein bleibt. Bisweilen wird er das gewollt
haben, etwa in den Lebensmüden« oder in den »Enttäuschtens in anderen Wer-
ken aber wird es problematisch und in manchen zum Mangel, zum Widerspruche
zwischen innerer, isolierender und äußerer, bindender Form. Jedenfalls haben die
Figuren oft innerlich keinen Bezug zueinander, keine innere Fühlung, sie sehen ins
Leere oder sonstwie aus dem Bild hinaus, sprechen wohl lebhaft zu dem Betrachter,
doch untereinander scheinen sie stunmi und taub.
Manchen von ihnen geht dadurch, daß sie sich besonders lebhaft an den Be-
trachter wenden, die künstlerische Geschlossenheit des völligen Insichruhens ver-
loren. Es ist bezeichnend, daß in dem Bilde »Blick ins Unendliche« der Mann, der
hoch auf einem Felsen steht, der Unendlichkeit, der Hochgebirgslandschaft, den
Rücken wendet und den Beschauer ansieht. Abgesehen davon ist auch die Pose
in ihrer brnstweitend gemeinten Bedeutung nur eine Anweisung an die Vorstel-
lung, aber keine Darstellung tiefen Atmens oder gesteigerten Lebensgefühls. Es
muß gesagt werden und es darf gesagt werden, ohne die ragende Größe dieses
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg Kunstwissensch.ift. XIV. 20
306 BESPRECHUNGEN.
Künstlers in Frage zu stellen, daß seine Gebärden überhaupt nicht sehen schematisch
lind ein wenig leer sind. Das eigentümh'ch Inbrünstige und Ergreifende der
Hodierschen Kunst liegt weniger in den Gesten und im Qesichtsausdruck, als in
einzelnen Linien," sei es am Körper, im Gewand oder in der Landschaft. In-
sofern ist Hodler in gewissem Sinne Vorläufer des Expressionismus, der ebenfalls
auf die einfachsten und abstrakten Elemente der Sichtbarkeit zurückgeht. Eine
Hodlersche Gestalt rührt oder erschüttert oft durch die Lage einer Hand, einer
Schulter, oder sie sprüht von Leben in einem Fuß, ohne daß die Figur als Ganzes
überzeugend oder auch nur glaubhaft zu sein braucht. Die Oesamthaltung scheint
oft mehr nach den Anforderungen der formalen Komposition als nach inneren Aus»
drucksgeboten gedreht oder geschraubt zu sein. Auf diese Art bleibt in manchen
Bildern etwas Gewolltes oder Gemachtes zurück. Der außerordentliche Wert auch
solcher Werke liegt dann, abgesehen von den einzelnen Formelementen, in der
ganz großen Bildkomposition, die gelegentlich ebenfalls etwas errechnet wirken
mag, fast immer aber den Stil des monumentalen Wandbildes besitzt.
Im gleichen Verlage wie das Heft über Hodler den Platoniker ist kurz darauf
ein anderes »Von Hodlers letztem Lebensjahr« erschienen. Sein Verfasser
ist Dr. Johannes Widmer, der dem großen Künstler persönlich besonders nahe
gewesen ist. Feh hebe zunächst einige Stellen heraus, die an den Gedankengang
der anderen Schrift anklingen. Hodler hat in den letzten Lebensjahren vornehmlich
Landschaften gemalt, die wir in Deutschland infolge des Krieges noch nicht kennen
und auf die wir nach Widmers Mitteilungen besonders begierig sein dürfen. Diese
Landschaften waren nach der Überzeugung des Künstlers anders als seine früheren,
nämlich »rf« iiaysages pianäairesi^, planetcrische Landschaften. »Sehen Sie, wie
da drüben alles in Linie und Raum aufgeht? Ist ihnen nicht, als ob sie am Rande
der Erde stünden und frei mit dem All verkehrten? Solches werde ich fortan
malen.« Der Verfasser sagt dazu: Im Anfang (dieser letzten Zeit) waren seine
Landschaften noch irdisch, gegenständlich nah, in einem gewissen Grade noch von
der Art des Naturschnittes. Auf den folgenden Bildern aber trat das Einzelne
mehr und mehr vor dem Gesamten, der Berg vor dem Gebirge, das Gebirge vor
dem All zurück. Zwar verleugnete die Sache ihre Wahrheit nirgends. Die Än-
derung betraf die Einstellung: die Erde wurde von der Höhe her betrachtet. Sie
wich. Ein Bergrücken erstand am anderen, wie Wellen aufeinanderfolgen. Und
er gab sich der unermeßlichen Herrlichkeit und Klarheit der blauen Wölbung hin,
die sich über die endlosen Wellenberge schwang, aus dem Unbekannten erstieg
und ins Unerforschliche hinübergriff. Als trage ihn ein sieghaftes Flugzeug, so
schuf er um diese Zeit. Die Erde trat seinem sinnenden und bildenden Geiste
mehr denn je im Kosmos entgegen. Da waren sie, die planetarischen Landschaften.«
Das ist freilich mehr religiös als platonisch. Auch Menschen hat er so gemalt.
»Die alte Besorgnis um die äußere Ähnlichkeit entschwand noch ganz. Eine über-
wältigende innere Ähnlichkeit, die überpersönliche Wahrheit der Menschenform,
trat an den Tag.« Der Verfasser sagt sehr schön von dieser Kunst, »der es ge-
geben ist, das Vielzuviele zu schlichten und die Wirrnis der Welt aufzuhellen: Was
war das für eine Seele, die eine so krause Außenwelt so heiter sah und ihre
Rätsel malend löste?« Eine gute Unterscheidung zwischen Handlungsgeste und
Ausdrucksgebärde findet sich gelegentlich des großen Schlachtenbildes »Murten«,
dessen architektonische Gestaltung es erlaubt hat, die einzelnen Figuren mit Be-
deutung auszustatten: »Selbstverständlich heißt hier Bedeutung etwas anderes als
in Jena. Wir stehen mitten in der Schlacht, und jene gedankentiefen Gebärden,
die Vorgefühle vor dem Kampfe vergegenwärtigen, würden hier nicht am Platze
%
BESPRECHUNGEN, 307
sein.« Es ist, wenn man will, wieder der Unterschied von dramatischer nnd ex.
pressiver Darstellung; bemerl<enswert bleibt aber, daß das verhältnismäßig Expres-
sionistische nicht allein das letzte Stadium der Hodierschen Kunst war, sondern daß
ein großes dramatisches Schlachtenbild sinnvoll am Ende dieser Laufbahn des
größten Monumentalmalers der letzten Jahrzehnte steht.
Ein wundervolles Selbstbildnis von 1917 geleitet das Heft, kein früheres kommt
ihm gleich und tritt dem Betrachter menschlich so nahe: humorhaft, leicht im Ver-
gleich mit den gespannten Sehnen und Mienen früherer Selbstporträts, in der Form
fest und doch gelöst, der Bart flockig, — der Kopf eines Götz von Berlichingen,
ohne jede Spur von Verfall.
Das kleine Buch ist mit großer persönlicher Liebe geschrieben, doch ohne Ver-
himmelung, in trefflicher kernhafter Sprache, die an sich schon Genuß bereitet, in
jenem meisterhaften Deutsch, das dem Reichsdeutschen so oft an guten Schweizer
Autoren auffällt. Die geistige Stimmung und Haltung der Schrift aber ist ein Wert
für sich, vielleicht der schönste, und er kommt nicht minder auf Rechnung des Ver-
fassers wie des Künstlers. Widmer kündigt eine Charakterstudie über Hodler an.
Darauf darf man sich freuen.
Leipzig. Erich Everth.
Ernst Cohn-Wiener, Die Entwicklungsgeschichte der Stile in der
bildenden Kunst. Zweite Auflage, Leipzig-Berlin 1917. Verlag von B. G.
Teubner. I. Vom Altertum bis zur Gotik (122 S.). IL Von der Renaissance
bis zur Gegenwart (105 S.) Aus Natur- und Geisteswelt, Band 317 und 318.
In seiner Entwicklungsgeschichte der Stile in der bildenden Kunst, die nunmehr
in zweiter Auflage vorliegt, hat Cohn-Wiener den Versuch gemacht, aus der An-
schauung und Analyse der Kunstwerke in Architektur, Plastik, Malerei und Kunst-
gewerbe heraus das Wesen der verschiedenen Stile abzuleiten und klarzulegen. Es
handelt sich also nicht um eine biographische Charakterisierung der einzelnen Kunst-
epochen, sondern ausschließlich um die Feststellung ihres Kunstwollens — vom
Altertum bis zur Gegenwart.
Es wird dem Laien hierdurch nicht nur die Möglichkeit gegeben, die in den
Kunsthandbüchern weit auseinandergezogenen und auf viele Bände verteilten Kunst-
epochen einmal im Zusammenhang zu überschauen, sondern er gewinnt auch, und
das ist vielleicht die Hauptsache, eine Anschauung von den eigentlich künstlerischen
Problemstellungen. Gleichzeitig lernt er das einzelne Kunstwerk als einen Organismus
begreifen, es als Ganzes, aber auch in seinen einzelnen Teilen verstehen, und es
vor allem nicht nur isoliert, sondern aus dem Kunstwollen einer ganzen Epoche
heraus, die gerade diesen Stil und keinen anderen wählte, betrachten. Er wird ferner
zu einer objektiven Wertung der einzelnen Stile angeregt, indem ihm immer wieder
die Lehre entgegentritt, daß jeder Stil seine Daseinsberechtigung hat. Endlich wird
er durch eine feine und sorgfältige Analyse einzelner Kunstwerke zu einem genauen
Sehen und zu einem Nachempfinden der Absichten des Künstlers erzogen. Ich weise
hier nur auf die Beschreibung eines hellenischen Gefäßes des schwarzfigurigen Stils,
Michelagniolos Erschaffung des Menschen oder Schlüters Reiterdenkmal des Großen
Kurfürsten hin.
Die alte Einteilung des Büchleins in zwei Bände, von denen der erste vom
Altertum bis zur Gotik, der zweite von der Renaissance bis zur Gegenwart reicht,
ist in der neuen Auflage beibehalten worden. Auch die Zahl der Kapitel und die
Kapitelüberschriften sind dieselben geblieben. Außer kleinen stilistischen und in-
haltlichen Verbesserungen ist auch an dem Text, soweit ich sehe, nichts Wesent-
308 BKSPRECHUNGEN.
liches geändert worden; nur das Schlußkapitel des zweiten Bandes: Das Wesen des
Sliiwerdens und die historische Stellung der gegenwärtigen Kunst, ist umgearbeitet
und in seinen Grundtendenzen schärfer charakterisiert worden. Die Zahl der Ab-
bildungen ist beträchtlich vermehrt worden, wobei gleichzeitig einige Abbildungen
der ersten Auflage durch bessere ersetzt worden sind.
Zur Sache selbst ist folgendes zu bemerken. Man kann eine Stilgeschichte
auf den Erscheinungen aufbauen, die den jedesmaligen Stil am klarsten und ein-
deutigsten verkörpern. Dadurch treten die Gegensätzlichkeiten der einzelnen Stile
scharf hervor, und es ist möglich, die Kunstgesinnungen der verschiedenen Epochen
reinlich voneinander zu scheiden.
Daneben steht eine zweite Betrachtungsweise, die das Hauptgewicht nicht auf
die Stilhöhen, sondern auf die Stilübergänge legt. Um es ganz kurz an einem Beispiel
zu erläutern: die erste Betrachtungsweise würde das Kunstwollen der italienischen
Renaissance in Raphael gipfeln lassen und ihm dann im Barock etwa einen Meister
wie Rubens als scharfen Widerpart gegenüberstellen ; die zweite Art der Darstellung
würde die Renaissanceideen durch die Spätwerke Michelagniolos unmerklich in das
barocke Kunstwollen überleiten. Diese Auffassung beherrscht den Entwurf von
Cohn- Wiener.
Sie hat ihre unverkennbaren Vorzüge. Indessen hat sie auch ihre Bedenken,
besonders in einer Stilgeschichte, die sich in erster Linie an den Laien wendet.
Denn dem Laien fällt es ohnehin schon schwer, die einzelnen Stile so weil zu über-
sehen, daß er sie, wenigstens in ihren Hauptzügen, voneinander scheiden kann.
Findet er nun die Gegensätze verwischt und statt ihrer die Übergänge betont, so
sieht er sich einer ungegliederten Masse ineinander zerfließender Kunstanschauungen
gegenüber, auf die der Kantische Ausspruch zutrifft: Anschauungen ohne Begriffe
sind blind.
Aber Cohn-Wiener geht noch weiter. Er wünscht die Aufhebung unserer bis-
herigen Stilbezeichnungen zugunsten von drei Kategorien, die als antike, mittelalter-
liche und neuzeitliche Stilbewegung bisher getrennte Epochen als einheitlich in ihrem
Kunstwollen zusammenfassen. Jede dieser drei Epochen würde dann, wenn auch
in veränderter Form, dasselbe Bild dreier Entwicklungsstufen aufweisen. Die erste
Stilstufe ist die der tektonischen Form. Sie bezeichnet einen Stil, der bestimmt wird
durch das Gesetz der Zweckmäßigkeit auf der einen, der Gesetzlichkeit auf der
anderen Seite. Die Zweckkünste, Architektur und Kunstgewerbe, sind die eigent-
lichen Künste dieser Epoche; Malerei und Plastik werden als freie Künste nicht
gepflegt, sondern dienen nur zum Schmuck und zur Bereicherung der Architektur,
in deren Dienst sie gestellt werden. Der Zweckgedanke beherrscht die gesamte
Kunstübung. Man baut jeden einzelnen Bau streng dem Zweck gemäß, für den er
bestimmt ist, und zwar erstreckt sich der Zweckgedanke auf den Außen- wie auf
den Innenbau, bis auf die einzelnen Teile. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit spricht
sich in der natürlichen Verwendung der Formen aus. Man setzt beispielsweise
nicht willkürlich beliebige Schmuckformen auf, sondern läßt diese organisch aus den
betreffenden Bauteilen herauswachsen. Man empfindet Wand und Decke als Raum-
begrenzung und sucht sie nicht durch plastische oder malerische Tiefendarstellungen
ihres ursprünglichen Sinns zu berauben. Die Säule wird ihrer Bestimmung gemäß
vor allem als Träger empfunden, wie man denn überhaupt die einzelnen Funktionen
der Bauteile, das Tragen und Lasten, das Begrenzen und Ordnen in peinlicher Klar-
heit zum Ausdruck bringt.
Freier verfährt die zweite Stilstufe, die pathetisch bewegte Form. Ihr Element
ist die Bewegung, mittels der sie nicht nur die einzelnen Teile eines Baues zu-
BJ£.SPBpCHVNGEN. 309
einander, sondern den ganzen Bau selbst zu seiner Umgebung in riiythniische Be-
ziehung zu setzen sucht. »Der Bau ist kein Ausschnitt aus dem Weltraum mehr,
sondern ein Teil seiner Ausdehnung. ... So ist der Bau selbst über seine Grenzen
in den Raum erweitert, um mit ihm zusammenzuwirken, durch ansteigende Gewölbe,
lichte Kuppeln oder Kaumtiefe vortäuschende Deckengemälde im Innern, durch
Vasen, Statuen und Türme über der Dachlinie gegen den Luftraum und durch Stufen-
bauten, Arkaden und Alleen mit seiner Umgebung zusammengeschlossen. Zugrunde
liegen Gefühle, die durch die Kunst seelischen Stinnnungen Ausdruck geben wollen. -
Die dritte Stufe, die richtungslos bewegte Form, »treibt diesen Reichtum ins
Phantastische». Die Bewegung wird mit allen Mitteln ins Ungeniessene gesteigert,
»Hemmungen durch den Zweck oder die Disziplin bestehen nicht mehr , und so
entspricht jeder Kurve eine Gegenkurve, jede Tiefe hebt eine Höhe auf, Bewegungen
verflechten sich und lösen sich in Wirbeln». Das gleiche Spie! wird mit dem kunst-
gewerblichen Gerät getrieben, bei dem jeder Zweckgedanke völlig ausgeschieden
ist, um einem Spiel mit Ornamenten, mit malerischen Gegensätzen aller Art, schließ-
lich mit dem Material selbst zu weichen.
Cohn-Wiener ordnet der ersten Form den dorischen Stil des griechischen Alter-
tums, den romanischen des Mittelalters und den frühesten Renaissancestil in Italien
ein. Dieser konstruktive Stil entsteht, wie er bemerkt, jedesmal aus einer dumpfen
Vorform, die schon das tektonische Gefühl, aber noch keine tektonische Gliederung
hat, die Teile schon sondert und festhält, aber noch nicht funktionell durcharbeitet.
Dahin gehören der Dipylonstil, der frühchristliche Stil, und die Profangotik in
Italien«.
Der zweiten, pathetisch bewegten Form ordnet er den hellenistischen Stil mit
dem frühen römischen, die hohe Gotik und das Barock zu. Der dritten, richtungslos
bewegten Form endlich fügt sich der spätantike Stil, die Spätgotik und das Rokoko ein.
Indessen, so großartig der Gedanke an sich ist, das unübersehbare Vielerlei
der bisherigen Stilbestimmungen in drei große Kategorien umzuwandeln, die zudem
so gefaßt sind, daß sie sich wie eine große Wellenbewegung Hmmer wiederholen,
so scheint mir dieser Gedanke doch kaum in der hier vorgeschlagenen Form und
wahrscheinlich überhaupt nicht praktisch durchführbar zu sein. Wenigstens nicht
ohne eine außerordentliche Vergewaltigung des Kunstwollens selber. Und doch
ist es gerade diese, die der Verfasser durch seine neue Stilbestimmung zu über-
winden hofft.
Allein das Unzureichende seiner eigenen Kategorien zeigt sich vor allem darin,
daß zwar allenfalls die Früh- niemals aber die italienische Hochrenaissance sich einer
derselben einfügen läßt. Der Verfasser macht auch gar nicht erst einen solchen
Versuch, sondern geht stillschweigend über dieses Versagen hinweg.
Ferner läßt sich auch schon die Malerei der Frührenaissance nicht mehr unter
den Begriff der tektonischen Form bringen, da, von allem anderen ganz abgesehen,
doch schon Masaccio mit seinen Fresken eine Wanddurchbrechung und Tiefen-
wirkung gibt, wie sie der von dem Verfasser selbst gegebenen Erläuterung, daß
»die Wand in diesem Stil Fläche bleibts nicht entspricht.
Endlich aber scheint mir auch die hohe Gotik nicht in die Kategorie der
pathetisch bewegten Form zu passen, denn wenn auch zuzugeben ist, daß der Be-
wegung in diesem Stil sehr viel Freiheit gelassen wird und daß er seelischen
Stimmungen Ausdruck verleiht, so darf man doch keinen Augenblick übersehen,
daß die Architektur der Gotik niemals ihre Bauten wie das Barock zielbewußt mit
der ganzen Umgebung zusammenpaßt oder gar die Umgebung danach anlegt, und
daß die Malerei der Gotik eine Tiefenwirkung im Sinne des Barocks gar nicht kennt.
310 BESPRECHUNGEN.
Zusammenfassend möchte ich noch bemerken, daß die Kategorien des Ver-
fassers streng genommen nur für die Architektur, dagegen meist sehr wenig für die
Plastik und oft gar nicht für die Malerei der betreffenden Stile passen. Denn um
nur ein Beispiel herauszugreifen, so wird man sich unter einer richtungslos bewegten
Form beim Anblick Watteauscher Gemälde schwerlich etwas denken können.
Noch bedenklicher scheint mir der ausdrückliche Verzicht des Verfassers auf
jede Art von künstlerischer Wertung, wie er sich in folgenden Sätzen ausspricht.
>Wenn uns eine Periode als Aufstieg und eine andere als Niedergang erscheint, so
trägt allein unsere Abhängigkeit vom eigenen Geschmack die Schuld. Wertet man
objektiv, so ist die Kunst jeder Periode als Ausdruck ihres besonderen Schönheits-
gefühls der jeder anderen gleichwertig.« Eine solche Behauptung, die das Chaos
an die Stelle der Sichtung und Ordnung setzt, hat ihren Sinn nur als Antithese.
Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, daß der Verfasser selbst tat-
sächlich wertet, indem er die zweckbestimmten Stile, wie also etwa den dorischen,
sehr entschieden über die mehr aus dem Gefühl heraus schaffenden Stile der helle-
nistischen und gotischen Kunst stellt und in diesem Zusammenhang der helle-
nistischen Kunst sogar die Erregung von lüsternen Gefühlen als ausdrückliche Ab-
sicht unterschiebt. Ebenso, wenn er von einer ästhetischen Vierteilung spricht,
die das Auge dadurch erleiden soll, daß in den gotischen Domen das Hauptporta!
und der Innenraum auf das Mittelschiff, die Türme hingegen auf die Seitenschiffe
hinweisen.
In Hinsicht auf den Satzbau ist zu bemerken, daß er in einer Reihe von Fällen
an Klarheit zu wünschen übrig läßt. Indessen bleibt das Büchlein trotz allem ein
sehr bemerkenswerter Versuch, sich auf künstlerische Hauptfragen einzustellen und
auch den Untersuchungen eines Wölfflin, Riegl, Furtwängler und Wickhoff gegen-
über die volle Selbständigkeit des Urteils zu wahren.
Breslau. Elisabeth von Orth.
Charlotte Bühler, Das Märchen und die Phantasie des Kiirdes.
Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie, 17. Leipzig, J. Anibr.
Barth. 1918. 82 S.
Von der Erwägung ausgehend , daß wir bei der Erforschung der höheren
Seelenvorgänge des Kindes ganz auf objektive Methoden angewiesen sind und da-
her jedes Material willkommen heißen müssen, das uns irgendwelchen Aufschluß
verspricht, untersucht die Verfasserin die Literatur des Kindes (vom 4.-8. Lebens-
jahre etwa): das Märchen. Ihre Frage lautet: was lehrt uns das Märchen über
die kindliche Phantasie? Ich will kurz andeuten, was für die Leser dieser Zeit-
schrift aus dieser psychologischen Arbeit von Interesse sein könnte.
Das Volksmärchen legt eine große Mißachtung der Verstandesklugheit zutage.
Nicht nur kommt immer der Dumme zu Ehren, auch in der Erzählungsweise fehlt
fast ganz die Kombination, das eigentliche Verstandeselement. Das Märchen ist
typische Anschauungsliteratur; es kennt keine eingehende Zustandsschilderung und
keine Dramatik — beides setzt kombinatorisches Denken voraus. Der Handlung
fehlt das Zielbewußte. Der Erzähler schaltet nach Belieben, und ebenso willkürlich
darf der Hörer auffassen. Die Abstraktionsfähigkeit des Kindes ist gering; nur
durch die schärfste Betonung (durch den Gegensatz) wird es zur Beachtung einer
Eigenschaft gezwungen. Daher die polare und das Extreme bevorzugende Charak-
teristik, das Typische der Märchenpersonen. Die Umgebung der Personen ist nur
angedeutet. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, das Kind spinne sich nun
diese .ingedeuteten Situationen weiter aus. Es haftet zwar am einzelnen , aber
BESPRECHUNGEN. 31 1
nicht an der ruhigen, sciiilderndeii Eiiizeiiieit, sondern nur an der •jefiihlsbetonten.
Vereinfachungen, Wiederholungen zeigen an, dal? alles nach dem Willen des Er-
zählers, nicht nach den Gesetzen des Lebens abläuft. Die Darstellung ist rein episch
explizierend. F^rophezeiungen, Warnungen und Verbote erleichtern, als Dispositionen
gleichsam, die Auffassung. Der gedankliche Verlauf ist immer in anschauliche Vor-
gänge umgesetzt, emotionale Erlebnisse werden durch ihre äußeren Kennzeichen
festgehalten. Sehr hübsch sagt die Verfasserin: es heißt nicht, das kleine Mädchen
\yar traurig, sondern: es weinte. Nicht das kombinatorische Denken, sondern
die Analogiebildung, deren Bedeutung für das volkstümliche Denken W. Stern dar-
getari hat, charakterisiert die kindliche Phantasie. Sie kennt keine Ruhe. Alles
wird in Sukzession aufgelöst. Das Umschlagen der Situation, der szenische Wechsel,
bildet den Kern jeder echten Märchenhandlung. Krasse Proportionsunterschiede
(Riesen und Zwerge) sind für Kinder offenbar lustbetont.
Die Kritik der vorliegenden Arbeit muß vor allem betonen, daß das Thema
weit mehr Schwierigkeiten enthält, als die Verfasserin angenommen zu haben
scheint. Der an sich schöne und einleuchtende Gedanke, vom Märchen auf die
Phantasie der Kinder zu schließen, erweckt bei näherer Überlegung doch einige
Bedenken. So wie uns das Märchen der Brüder Grimm vorliegt, ist es eben
doch ein Kunstwerk, so gut wie die Gesänge Homers, und bevor man aus diesem
Kunstwerk Schlüsse auf den Urheber ziehen darf, müßte man einmal die Kunst-
form des Märchens vorurteilslos untersuchen. (Über das den Kern der Schwierig-
keiten bildende Problem des Verhältnisses von Volksseele und Kinderseele ist di«.-
Verfasserin fast ganz hinweggegangen.) Man würde aber das Märchen nicht auf
seine Form hin analysieren können, ohne zu fragen, ob sich nicht ähnliche Form-
eigentümlichkeiten auch in anderen Dokumenten finden lassen. Da wäre zunächst
die Sage heranzuziehen, mit der ja das Märchen eng verwandt ist. Aber noch
ganz andere Produkte kämen in Betracht: ein Teil der sogenannten Unterhaltungs-
romane und der ganze Volksroman. In der sogenannten Schundliteratur, die in
Wahrheit die Literatur des Volkes ist, wie das Märchen die des Kindes, finden sich
fast alle wesentlichen Züge des Märchens wieder: Vereinfachung, Übertreibung,
Gegenüberstellung von Extremen, plötzliches Umschlagen der Situation, karge Schil-
derung der Umwelt, das gute Ende usw. Die »Unreife«, den Wunsch des Hörers
für die Entwicklung der Handlung entscheidend werden zu lassen, die die Ver-
fasserin eine einzig im Märchen zu beobachtende Eigenheit der Darstellungstechnik
nennt, ist in Wahrheit eine charakteristische Eigenschaft der erwähnten Volksliteratur.
Wie viele Frauen lesen noch heute kein Buch, von dem sie sich nicht vorher über-
zeugt haben (ganz wie jenes Bübchen, von dem die Verfasserin erzählt), daß
es nicht traurig ausgeht, d. h. daß sie sich kriegen? Und wie viele Romane
werden mit Rücksicht auf diesen Wunsch geschrieben? -- Nun enthält der Unter-
haltungsroman und der Volksroman reichlich kombinatorisches Denken, eine ganz
andere Umwelt als das Märchen usw. Er gehört mehr zur Literatur der auf das
Märchenalter folgenden Lebensepoche. Aber in dieser erhält sich eben das
Märchenelemcnt immer noch in gewissem Grade. Die eigentlich märchenhaften
Züge sind aber aus einem ganzen Geflecht erst herauszulösen und dem Märchen
nicht so ohne weiteres zu entnehmen. Erst nach der Untersuchung des Märchens
auf seine spezifischen Märchenzüge hin könnte man daran gehen, die Beziehung
zur Kindesphantasie festzustellen, obgleich auch dann innner noch die Hauptschwierig-
keit übrig bliebe. Die Phantasie des Kindes ist die gesuchte Unbekannte. Wäre
das Märchen ein reines Produkt dieser Phantasie, so wäre die Gleichung leicht.
In Wirklichkeit aber ist das Märchen zwar für die Kinder, aber nicht von Kindern
312 BESPRECHUNGEN.
etzählt. Es ist nur indirekt durch das Kind bestimmt, und das erschwert die Rechnung
in jedem Falle bedeutend.
Der Gewinn der Arbeit Charlotte Bühlers scheint mir hauptsächlich in der An-
regung zu liegen, die Kunstform des Märchens einmal einwandfrei festzustellen.
Als Studie zu diesem Zwecke ist die Arbeit verdienstlich.
Berlin.
Alfred Baeumler.
Karl With, Buddhistische Plastik in Japan. Bis in den Beginn des S.Jahr-
hunderts n. Chr. Textband mit 28 Abbildungen, Tafelband mit 224 Tafeln
nach eigenen Aufnahmen des Herausgebers, gr. 4''. Wien, Kunstverlag Anton
Schroll & Co., 1919.
Unser Interesse für die asiatische Kunst ist bis in das 20. Jahrhundert hinein
ein durchaus oberflächliches gewesen. Es waren fast ausschließlich die Erzeugnisse
eines freilich hochentwickelten Kunstgewerbes, die es anregten. Die klassische
buddhistische Bildnerei blieb fast ganz unbeachtet. Die Funde einer gräzisierenden
Plastik in Nordwest-Indien erregten allerdings beinahe Sensation. Aber daß es
auch eine künstlerisch weit höher stehende national-indische Kunst gegeben habe,
war so wenig anerkannt, daß Havell diese Behauptung noch vor einem Jahrzehnt
in beredten Büchern, als sei sie ein Paradoxon, vertreten mußte.
Um diese Zeit herum, vielleicht durch jene Gandharafunde veranlaßt, begann
man sich mehr mit der buddhistischen Kunst auch außerhalb des nordwestlichen
Indiens zu beschäftigen. 1909 veröffentlichte Chavannes die Resultate einer archäo-
logischen iVlission, eine große Anzahl von Aufnahmen religiöser f^lastik wesentlich
aus nordchinesischen Höhlentempeln. — In den 1912 erschienenen Epoclis of
Chinese and Japanese Art', worin die reichen Erfahrungen des 1908 verstorbenen
Kunstkommissars der japanischen Regierung, Ernest Fenollosa, niedergelegt waren,
wurde ein allerdings noch recht unscharfes Bild der chinesisch-japanischen heiligen
Kunst mit starker Betonung ihrer vermeintlichen Beziehungen zur gräko-buddhisti-
schen entworfen. — Im selben Jahre begann die Ostasiatische Zeitung zu erscheinen,
die nun ihre Spalten mit Vorliebe diesem Thema öffnete und schon im ersten
Jahrgange einen Aufsatz William Cohns brachte, der die Bildnerei der Naraperiode,
der Blütezeit fernöstlicher Plastik, einer kunstwissenschaftlichen Untersuchung unter-
zog. Im selben Jahre wiederum wurde die ostasiatische Abteilung des kunsthisto-
rischen Institutes der Universität Wien unter Leitung Prof. Strzygowskis gegründet.
In seinem Auftrage reiste anfangs Januar 1913 Karl With nach Japan; seine Auf-
gabe war, einen allgemeinen Überblick der japanischen Kunst zu geben. Sehr im
Interesse der Wissenschaft engte er diesen für die kurze Dauer einer solchen
Expedition zu umfangreichen Plan ein, und suchte durch genaueres Studium der
früheren Denkmäler eine sichere Basis für weitere Forschungen zu schaffen. Von
dem Zentrum altbuddhistischer Lehre und Kunst, Nara, ausgehend, konnte er in
Tcaum Jahresfrist das kostbare JVlaterial zusammenbringen, das uns nun in den beiden
Bänden der Buddhistischen Plastik in Japan« vorliegt.
With beginnt seine Untersuchungen mit der ältesten sicher datierten, in Japan
befindlichen Skulptur, der Shaka-Trinität des Tori Busshi von 623, und schließt sie
mit Werken der Ton- und Trockenlack(Kanshitsu)plastik, die in der ersten Hälfte
des 8. Jahrhunderts entstanden. Der behandelte Zeitraum umfaßt demnach die
ersten anderthalb Jahrhunderte nach Einführung des Buddhismus in Japan. Ver-
gegenwärtigen wir uns, daß die neue Religion dort ganz primitive Kulturzustände
vorfand, daß insbesondere eine wirkliche nationale Kunstbetätigung noch nicht vor-
BESPRECHUNGEN. 3]^
banden war, so verstehen wir, daß die technisch schon hoch entwickelten Werke
zunächst nur aus China und Korea eingeführt oder von Meistern dieser Länder in
Japan gefertigt sein konnten. Diese Meister haben dann dort ohne Zweifel Schüler
herangebildet, aber von einer national-japanischen i^lastik kann in diesen Früh-
zeiten keine Rede sein. Höchstens entdeckt man hie und da die ersten Spuren
japanischer Auf fassungs weise.
Da nun aber in den beiden erwähnten Kulturländern nur sehr wenige Bild-
werke aus dem hier behandelten Zeiträume bekannt sind (abgesehen von den zwar
typologisch interessanten, aber ziemlich rohen Steinskulpturen der chinesischen Felsen-
tempel), so ist die Durcharbeitung der in Japan vorhandenen Frühplastik auch für
die Kunstgeschichte Chinas und Koreas von großem Interesse.
Die unentbehrliche Grundlage einer stilkritischen Untersuchung fernöstlicher
Bildnerei, von der weder Abgüsse noch wichtige Originale in Europa vorhanden
sind, ist eine besonders umfangreiche Sammlung von für den besonderen Zweck
gefertigten Abbildungen. Die ganz vortrefflichen japanischen Aufnahmen genügen
insofern nicht, als sie meist nur Frontansichten geben und bei weitem nicht alle
vom Autor herangezogenen Werke umfassen. With hat mit großem (jeschick die
Aufgabe gelöst, alle ihm wichtig scheinenden Skulpturen in allen Ansichten, die
seine Erörterungen verdeutlichen konnten, hinreichend groß und vortrefflich zu
photographieren. Auch bekanntere Objekte erscheinen so dem Sachkenner wörtlich
unter ganz neuen (jesichtspunkten. Zahlreich sind die Erstaufnahnieii, so daß auch
die wenigen Besitzer der großen japanischen Abbildungswerke des Neuen über-
genug finden werden. Höchst dankbar anzuerkennen und vorbildlich für den Westen
ist die Liberalität der japanischen Museums- und Tempelbehörden, die fast unbe-
grenztes Photographieren zuließen.
An die Bearbeitung des großen von ihm gesammelten Materials ging With zu-
nächst mit den Augen des exakten Kunstforschers, der durch subtile stilkritische
Untersuchungen Ordnung in das Chaos zu bringen, innere und äußere Zusammen-
hänge klarzulegen strebt. Aber die Lösung dieser mehr formalen Aufgaben ist
ihm nur das Mittel zu dem Zwecke, der allen Kulturvölkern gemeinsamen allmählichen
Wandlung einer intuitive Vorstellungen möglichst rein ausdrückenden Kunst in eine
auf Sinnesimpressionen aufgebaute nun auch im Kreise der fernöstlichen Welt
nachzugehen.
Hier dem Verfasser auf seinen Pfaden zu folgen, ist ein großer Genuß. Der
Leser erlebt die Entdeckerfreude mit, in ganz eigener Art die Gegensätze und Ent-
wicklungsbedingungen idealistischer und realistischer Kunst besonders rein in einem
ihm bisher ziemlich fremden Kulturkreise ausgeprägt zu finden. Der Referent muß
sich begnügen, Gang und Resultat der Untersuchungen in kurzen Zügen wieder-
zugeben.
With teilt den von ihm behandelten Zeitraum in drei Abteilungen. Die erste
entspricht etwa der Suikozeit und umfaßt die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts, die
zweite, die zweite Hälfte desselben einnehmend, der Hakuhozeit, die dritte, die in
die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts hineinreicht, dem Beginne der Tempyozeit.
Die Suikoperiode ist die Blütezeit des archaischen Stils. Der Buddhismus war
erst seit kurzem eingeführt, noch kaum in Sekten gegliedert. »Über dem Wirken
dieser Zeit liegt die wahrhaft keusche Ergriffenheit und unzerteilte Kraft früher,
unverbrauchter Ehrfurcht (S. 26). Die Form, »die sich der Idee unmittelbar an-
schließt, ohne auf die äußere Naturgesetzlichkeit Rücksicht zu nehmen« (S. 29) ent-
spricht noch dem inneren Erlebnisse. Der erste namhafte Meister, der diesem Er-
lebnisse eine deutliche Prägung gab, der Chinese Tori Busshi, schließt sich in
314 BESPRECHUNGEN.
seiner Bronzeteclinik deutlich an die Steinplastik an, wie sie in Cliina vor der glor-
reichen Tangzeit (618—907) geübt wurde: »Block- und Flächenschiclitung, Aufbau
in geschlossener Kontur oder Auflösung in lineare Silhouetten, schärfste Abwink-
lung der Seitenansichten, klare Profilwirkung und Sichtbarkeit aller Beziehungen
(S. 61). Von bekannteren Werken gehören dieser Gruppe außer der Shakatrinität
des Tori (T. 1 — 5) die Yumedono-Kwannon (T. 15 u. 16) und der Yakushi des
Horinji ( T. 33—37) an.
Gegen Ende der Periode durchdringt eine mehr malerische Behandlung den
^architektonischen« Stil. In dem Kokuzo (? vielleicht Kwannon) des Horyuji (T. 38
bis 44) typisiert sich diese: gegenüber dem Block der Toriwerke steht eine Säule,
die Masse wird durch Steigerung der Höhenverhältnisse entkörpert, der einem
Stamme gleichende Rundkern ist selbständig, die Gliedmaßen lösen sich los. Nach
japanischer Tradition stammt diese Statue aus dein holzreichen Korea, und With
steht nicht an, eine Reihe ähnlich gearteter Holzfiguren und auch Kleinbronzen
unter dem Namen »Koreanischer Stil« zusammenzufassen, so die Shitenno des
Horyuji (T. 45— 53) und den Kokuzo des Horinji (T. 62-65). Von den beiden
folgenden Gruppen, dem »frühchinesischen Mischstil und dem »reifen SuikostiU
charakterisiert sich die erstere als Versammlung von Arbeiten provinzieller Schulen,
die ältere Formen länger konservierten, oder in denen ein besonderes den alten
Stilgesetzen nicht homogenes Empfinden sich bemerkbar macht, unter ihnen der
hier wohl zuerst reproduzierte höchst merkwürdige Kasho-Butsu des Daigoji (T. 83
bis 86) mit dem Ahasvergesicht, das alles menschliche Dasein immer wieder über-
lebt und durchschaut« (S. 94), ein Vorläufer der späteren so überaus charakteristi-
schen Patriarchenbildnisse. Die andere Gruppe stellt die höchste Vollendung des
fernöstlichen archaischen Stils dar, in dem sich das innere Erlebnis so rücksichts-
los frei nach außen projiziert, wie in der herrlichen Nyoirin-Kwannon des Chuguji
(T. 111—116).
Die zweite Abteilung gliedert sich in drei Gruppen. Die erste als Taikwastil
nach dem Nengo Taikwa (645—649) benannt, faßt diejenigen Werke zusammen,
'die noch lebendig mit dem Suikoslil in Verbindung stehen, diesen fortwährend
unter den Gesichtspunkten der nunmehr aktuell werdenden Wirklichkeitsprobleme
erweitern und zu neuen Formproblemen verdichten« (S. 111). Ihr Hauptwerk ist
wiederum eine Nyoirin-Kwannon, die dem Koryuji angehört (T. 125—129), eine
Holzplastik höchsten Ranges. »Ein leidenschaftliches Schönheitsideal tritt an Stelle
der alten Ideale der überweltlichen Wirklichkeit und Stille. Das künstlerische Bild
gewinnt an äußerer Macht und Dynamik des Ausdruckes, verliert aber die ferne
zurückhaltende Majestät« (S. 110).
Die zweite Gruppe, der chinesische Tangstil der Hakuhozeit, zeigt uns eine
Reihe von Werken staunenerregender Größe, »die gegen das Formerbe der Suikc-
zeit offen Sturm laufen« (S. 124), wie die Yakushitrinität des Yakushiji (T. 135—148)
und der Shaka des Kanimanji (T. 153— -156), die in ihrer Vollendung eine lange
Entwicklung voraussetzen, für deren Formmomente die Suikowerke keine Analogie
liefern. »Die Bildform ist nicht mehr ausschließliche Gestaltgebung der Phantasie,
sondern eine ideale Verkörperung erschauter und verdichteter Natürlichkeit« (S. 127).
Das archaische Stilbewußtsein tritt gegenüber dem naturalistischen in den Hinter-
grund. Eine neue mächtige Einflußwelle muß von China her um diese Zeit sich
nach Japan ergossen haben. Ihr Ursprung liegt wohl in der Konsolidierung des
mächtigen Tangreiches, das mit Öffnung der chinesischen Grenzen und dem inter-
nationalen Ausbau der Verkehrsverbindungen Zentralasien, Nordindien und Persien
als Komponenten seiner Kultur heranzog. Das Resultat war eine Höhe künstle-
BESPRECHUNGEN. 315
rischeil Scliaffciis, die, in iliier Art einzig in der Kiinslgescliiclitc aller Völker da-
stehend, auch in Japan ihre Wirkung äußerte. «Die neuen Formen bilden von nun
ab den unumgänglichen Bestandteil aller weiteren Entwicklung. Damit ist das rein
archaische Zeitalter mit seiner ungeheueren Phantastik und seiner gewaltigen Sehn-
sucht nach einer wirklichkeitsfreien Totalität vorüber« (S. 140).
Die dritte Gruppe, der archaisierende Hakuhostil, läßt sich kurz als Reaktion
der eingeborenen Künstlerschaft im Sinne des Suikostils bezeichnen. Das Haupt-
werk ist der Schrein der Tachibana Fnjin mit der Amidatrinität (T. 159—166).
F^ie dritte AbteiWing leitet uns hinüber zum Tempyostil, der das ganze 8. Jahr-
hundert beherrscht. Es geschieht das an Hand der Tonfiguren der Horyuji-Pagode
(T. 189 201), des Bonten und Taishakuten in Holz und Ton (T. 204— 211), einer
meines Wissens noch unpublizierten Amidatrinität in Kanshitsu ans Horyuji (T. 218
bis 224) u. a. Aus des Verfassers Erörterungen greifen wir folgende Sätze heraus
(S. 197): Nur soviel soll noch gesagt werden, daß dieser Tempyostil alle diejenigen
Formen und Motive, die unter dem Ausdrucke der Aktivität, der Handlung, der
plastischen Oreifbarkeit und der sinnlich-dekorativen Pracht fallen, lieber anwendet
und vollkommener meistert, als jene Formen, die zum Ausdrucksbereich der Stille,
der Versunkenheit, mit einem Worte der inneren Wesenheit gotterfüllter Träume
gehören. Es fehlt den Künstlern dieser Zeit die große innerliche Ergriffenheit von
Träumern, Weisen und Propheten; dafür aber sind sie tiefer ins wirkliche Dasein
herabgestiegen, erfüllt von der Kraft und der Schönheit des tätigen Lebens, mit
einem klaren Bewußtsein für das, was dem Menschen nottut.«
Im vorstehenden suchte ich den sachlichen Inhalt des Buches in aller Kürze,
wo angängig mit den eigenen Worten des Verfassers zu skizzieren. Dem mit fern-
östlicher Kunst Vertrauten wird die Angabe der hauptsächlichen behandelten Kunst-
werke genügen, um sich einen Begriff von dem zu machen, was hier geboten wird.
Wie es geboten wird, erscheint noch wichtiger, aber der Raum gestattet nicht, auch
nur an einem Beispiel den Reiz und Wert der Arbeit klarzustellen, die hier in der
Stilanalyse jeder einzelnen Skulptur aufgewandt ist. Sie scheint nn'r vorbildlich zur
Erreichung des Zieles, dem Leser das innerlich nachschaffendc Begreifen des Kunst-
werkes zu ermöglichen. Die sorgfältigste Untersuchung aller den Stil ausmachen-
den Komponenten konnte nur dann ein lebendiges Bild ergeben, wenn auf Schritt
und Tritt die Nachprüfung am Objekte möglich war. Diese Möglichkeit wird durch
die Ausgiebigkeit der Nachbildungen fast so gut gewährleistet, wie durch die Gegen-
wart des Originals. Wenn es auch für den Leser eine mühsame Arbeit ist, von
mehr als hundert Kunstwerken aufs genaueste jede Bewegungsäußerung, jedes
Faltenmotiv, Haltung, Silhouette und vieles andere auf ihren Ausdruckswert zu
prüfen, so erfrischt immer wieder der gehaltene Unterton der Begeisterung des
Autors für seine Sache. Und ist es schon im höchsten Grade spannend, den
tragischen Kampf der aus religiös tief erregtem Gemüte heraus schaffenden Kunst
gegen den impressionistischen Naturalismus mitzuerleben, so wird diese Spannung
noch dadurch erhöht, daß das Feld, auf dem sich der Kampf abspielt, noch fast
nnbeackert ist.
Bei aller Anerkennung der großen Leistung kann der Kritiker nicht umhin,
einige kleine Mängel und Unvollkommenheiten zu erwähnen, die zum Teil aller-
dings ihre Ursache in den für Bearbeitung und Drucklegung überaus schwierigen
Zeitverhältnissen haben.
Zunächst ist diesem Umstände zuzuschreiben, daß die Schreibung japanischer
Worte sehr ungleich und mehrfach direkt fehlerhaft ist. Der Verfasser, der als
Offizier im Felde stand, mußte eben vielfach ohne literarische Hilfsmittel arbeiten
316 BESPRECHUNGEN,
und die Korrekturen Freunden überlassen, die nicht Fachmänner im engeren Sinn«
waren. Wenn ich auf solche Fehler und Unsicherheiten größeres Gewicht lege, so
geschieht es, weil die Ungleicheit der Transskriptionsmethoden sich in der Sinologie
zu einem wahren Elend ausgewachsen hat und die Benutzung nicht nur wissen-
schaftlicher Werke sehr erschwert. Es wäre sehr wünschenswert, wenn die ein-
fachen Regeln der japanischen »Gesellschaft für römische Schriftzeichen« (Vokale
geschrieben wie im Italienischen oder Deutschen, Konsonanten wie im Englischen)
in der Japanologie allgemein beachtet würden.
Dann ist der Verfasser bei der Benennung der einzelnen- Bildwerke mehr der
Tradition als der Ikonographie gefolgt, welch letztere ja allerdings noch sehr un-
vollkommen bearbeitet ist. Er gibt mehrfach den Klassennamen, wo die Artbestim-
mung für die Physiognomik wertvolle Anhaltspunkte liefern würde. Und gerade
diese ist bei den archaischen Werken oft besonders zart behandelt. Die beiden
Figuren auf T. 158 stellen Kwannon und Seishi dar, die beiden Begleiter Amidas,
die dessen Haupteigenschaften, unendliche Güte, sowie Weisheit und Kraft ver-
körpern. Hier prägt Seishi (rechts) der milden Kwannon gegenüber in Größenmaß,
lebhafterer Bewegung, soweit der kleine Maßstab zuläßt, gut seine männliche Natur
aus. -- Die Skulpturen der Tafeln 87 und 91 sind durch Fingerhaltung und kleine
Scheiben über der Stirn als Nikko und Qwakko (»Sonnenglanz« und Mondglanz<)
gekennzeichnet, die beiden Bodhisattva, die den »irdischen Heiland« Yakushi be-
gleiten. Er erhellt mit ihrem tröstenden Lichte unser trauriges Dasein. Nun ver-
gleiche man die schönen Abbildungen der Tafeln 89 und 93 und wird leichter das
Verständnis des fast mystisch tiefen Ausdruckes erlangen.
Es versteht sich von selbst, daß auch ü^er die Unterbringung einzelner Werke
in den Gruppen verschiedene Meinungen bestehen können. Ihre Diskussion bleibt
wohl besser den Fachblättern überlassen.
Nur wenige Spezialisten wissen, welche Bereicherung aus den Schätzen des
fernen Osten unserem Kunstfühlen erwachsen kann. Ich kenne kein Reproduktions-
werk, das auch dem Laien diesen Reichtum so eindringlich vor Augen führte. Möge
es seine werbende Kraft auf die weitesten Kreise ausüben und der fernöstlichen
Kunst ihren Platz in der allgemeinen Kunstwissenschaft erobern helfen!
Bremen-Horn.
Hermann Smidt.
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1. Wien und
Leipzig, Wilh. Braumüller, 1918. XVI u. 639 S.
Es genügt nicht, von einem Buche zu sagen, es stehe darin: so ist es und so,
sondern man muß zuerst fragen, in welchem Sinne dieses »es ist so^^ gemeint sei;
denn es gibt einen vielfachen Sinn — den des psychologischen Aufgezeigtseins, den
des naturwissens'chaftlichen Festgestelltseins, den des — nach richtig oder falsch —
Gewertetseins und den des mit logischer Notwendigkeit als Voraussetzung (Kant:
als a priori) Gefordertseins.
Eine solche erkenntnistheoretische Frage nach der Methode der Geschichts-
philosophie hat sich der Verfasser nicht vorgelegt. Seine Seele gehört dem, von
dem nur im ersten Sinne gesprochen werden kann, dem Triebhaften im Handeln,
dem ästhetischen und religiösen Erieben; da gibt's kein richtig oder falsch, da gibt's
nur ein Aufzeigen des Erlebnisses, wie es aus innerem Zwang, aus »schicksalhafter
Notwendigkeit« kam. Groß ist sicher der Faktor des Triebhaften auf dem ganzen
Gebiete der Kultur, aber es wird ein verzerrtes Geschichtsbild, wenn man setzt: eine
Kultur beschreiben heißt das notwendige Schicksal eines großen Triebhaften auf'
•I
r
HKSPiBlitCHUNGEN. 317
zeigen. Dies aher ist der Kern des Buches; es verzichfet grundsätzlich auf alles
Werten : auch an Mathematik, an Naturwissenschaft, Ethik, Pohtik, Philosophie darf
nicht die Frage gestellt werden, ob sie richtig sind oder falsch, wir haben nur zu
versuchen, sie aus der großen Triebgesetzlichkeit ihrer Schöpfer als gerade so not-
wendig zu begreifen. »Eine physikalische Theorie ist ein intellektueller Mythus«
(S. 613). An diesen Abschnitten sieht man nnt peinlicher Deutlichkeit, wohin eine
Oeschichtsphilosophie führt, die in den Menschen und Völkern nur das Triebhafte
nicht auch das freie Wählen nach Gesichtspunkten des Richtigen als geschichts-
bildendes Element erkennen will. In der Methode hat also Herr Spengler große
Ähnlichkeit mit Hegel, im Ergebnis geht er weit über ihn hinaus: nicht eine
Kultur ist über die Erde gegangen von ihrer Kindheit in Asien bis zum Greisenalter
in Deutschland, sondern eine Reihe solcher ist sich gefolgt, die ägyptische, indische,
antike, arabisch-byzantinische, abendländische, in deren Greisenalter wir stehen,
während die nächste, die russische, bereits erwacht zu sein scheint. Jede dieser
Kulturen hat einen bestimmten triebhaften, sie tragenden Charakterzug, ihren ^StiU —
die antike das Vordergrundhafte (Apollinische), die arabische das Magische, die
abendländische das Faustische; die Kindheit aller aber unter sich ist weitgehend
vergleichbar, ebenso jede spätere Epoche bis zum Tode, so daß aus der Analogie
zu den bereits abgelaufenen Kulturen die Zukunft der unsrigen, die Art ihres not-
wendigen Hinsterbens in Zivilisation mit Sicherheit vorausbeschrieben werden kann
(S. 516). >Jede Kultur hat . . . ihre eigene Art zu sterben ... Deshalb sind
Buddhismus, Stoizisiiuis, Sozialismus morphologisch gleichwertige Phänomene.«
S. 157: »Jede Kultur hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr
Oreisentum. Eine junge, verschüchterte, ahnungsschwere Seele offenbart sich in der
Morgenfrühe der Romanik und Gotik . . . Kindheit spricht ebenso und in ganz ver-
wandten Lauten ans der frühhomerischen Dorik, aus der altchristlichen, d. h. früh-
arabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4. Dynastie beginnenden Alten
Reiches in Ägypten ... Je mehr sich eine Kultur der Mittagshöhe ihres Daseins
nähert, desto männlicher, herber, beherrschter, gesättigter wird ihre endlich ge-
sicherte Formensprache ... Im vollen Bewußtsein der gereiften Gestaltungskraft,
wie sie die Zeitalter des Sesostris, der Peisistratiden, Justinian I, der spanischen
Weltmacht Karl V. zeigen, erscheint jede Einzelheit des Ausdrucks gewählt, streng,
gemessen, von einer wunderbaren Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Hier finden
sich überall Momente von einer leuchtenden Vollkommenheit, Momente, in denen
der Kopf Amenemhets III. (die Hyksossphinx von Tanis), die Wölbung der Hagia
Sophia, die Gemälde Tizians ent.standen sind. Noch später, zart, beinahe zerbrech-
lich, von der wehen Süßigkeit der letzten Oktobertage sind die knidische Aphrodite
und die Korenhalle des Erechtheion, die Arabesken an sarazenischen Hufeisenbögen,
der Dresdener Zwinger, Watteau und Mozart. Zuletzt, im Oreisentum der an-
brechenden Zivilisation, erlischt das Feuer der Seele . . ..
Berlin-Pankow. Christoph Schwantke.
Deutsche Bühne, Jahrbuch der Frankfurter Städtischen Bühnen. Herausgegeben
von Georg J. Plotke. Erster Band. igiQ. Literarische Anstalt Rütten u.
Loening in Frankfurt a. M. 8». 403 S.
Dieser Samnielband, vortrefflich zusanmiengestellt von dem leider inzwischen
verstorbenen Plotke, enthält Aufsätze über das Drama, die Bühnenkunst und einige
mit der Oper verknüpfte musikalische Probleme. Zur letzten Gruppe gehören —
abgesehen von einer Übersicht über das Spieljahr 1917/18 des Frankfurter Opern-
hauses eine Studie Paul Bekkers zur Kritik der modernen Oper, insbesondere
3 1 8 BESPRECHUNGEN.
Franz Schrekers, ein von Bernhard Diebold geschriebener Lebenslauf der »Ariadne«
lind zwei Aufsätze der Kapellmei^er Roltenberg und Brecher.
Bekker erweist von neuem seine Fähigkeit, das einzelne in einen großen Zu-
sammenhang einzufügen und gedanklich zu durchdringen ; er bewährt daneben die
Gabe, durch Geschmeidigkeit des sauber gehaltenen Ausdrucks dem einzelnen seine
Besonderheit zu lassen, die von jener zuerst erwähnten Fähigkeit her bedroht wird.
So gelingt es ihm, den Dichter-Komponisten Franz Schreker mit Wagner zu ver-
knüpfen, ohne ihn zu einem Wagnerianer zu machen. Bei Schreker nämlich wieder-
holt sich, so meint Bekker, der für Wagners Werk entscheidende tiefere Zusammen-
h.ing textlicher und musikalischer Gestaltung. Dieser Zusammenhang entsteht aus
einer ursprünglichen musikalischen Ergriffenheit, die zur dramatischen Form und
damit zur Dichtung drängt; alles andere im -Gesamtkunstwerk«: ist Außeriichkeit
oder Theorie. Während nun bisher gewisse Seiten des Worttondramas fortgebildet
wurden (in der Märchen-Oper Humperdincks , der Festspiel-Oper Pfitzners , der
Musizier-Oper Straußens, der Theater-Oper d'Aiberts), ist Franz Schreker das gleiche
Phänomen wie Wagner, »nur in ganz anderer, die Verwandtschaft der Art auf den
ersten Blick kaum erkennenlassender Verkörperung«. Über diese Wertung Schrekers
kann ich nicht urteilen, da ich zu wenig von ihm kenne, aber zu der Auffassung
Wagners möchte ich bemerken, daß sie mir eine nach rückwärts gewendete Kon-
struktion zu sein scheint; will man Wagner nicht von der Gegenwart her, sondern
aus sich selber verstehen, so darf man schweriich seine Dichtung, Bühne, Philo-
sophie aus einer Allmacht der in ihm lebenden Musik ableiten, sondern man muß
ihm schon eine ursprüngliche Vielfalt der Begabungen zuerkennen. — Der Kapell-
meister Rottenberg bringt einige Aphorismen, sein Amtsgenosse Brecher einen Bei-
trag zu der Frage , ob das Publikum den Dirigenten auch sehen muß , um vollen
Genuß von einer Orchesteraufführung zu haben. Die letzte Frage möchte Ich —
nach meinen persönlichen Erfahrungen — bejahen. Auf die Dauer ist das bloße
Hören anstrengend, wirkt die Einschränkung auf den einen Sinn lähmend, und
schon deshalb wünsche ich bei reiner Instrumentalmusik den Kapellmeister oder
den Solisten sehen zu können, so oft es mir beliebt ; außerdem jedoch tragen die Aus-
drucksbewegungen des Künstlers zur Erhellung seiner Absichten aufs reizvollste bei,
es scheint mir theoretische Engherzigkeit, wenn man auf ihre Mithilfe beim Nach-
leben der Musik verzichten will. Ein Umstand freilich, auf den Brecher hinweist;
ohne ihn mit dem Problem zu verkoppeln, stört bei der Beobachtung des Diri-
genten: das »Vorschlagen«. Zwar muß jeder Musizierende beim Spielen die sich
anschließenden musikalischen Gebilde voraussehen, teils um dem augenblicklich Ge-
spielten den rechten Ausdruck zu sichern, teils aus technischen Gründen (Wahl des
Fingersatzes u. dgl.), aber der Leiter eines Orchesters muß Zeichen geben, und
diese Zeichen, die sich auf Einsatz, Stärkegrad, Empfindung beziehen, müssen vor-
zeitig erfolgen, um ihre Wirkung auszuüben. So kommt es, daß man während des
lautesten Orchesterklanges beschwichtigende Bewegungen sieht oder beim Anfang
der Manfred-Ouvertüre wegen des »Vorschlagens« nicht zur Auffassung der Syn-
kopen gelangt. Der Kundige, zumal wenn er selbst einmal im Orchester gesessen
hat, zieht das alles in Rechnung, der technisch weniger geschulte musikalische
Hörer wird dadurch gestört.
Ein »literarischer Teil« des Sammelbandes beschäftigt sich mit Theatergeschichte
und dramatischer Dichtkunst. Im Anschluß an Max Herrmanns grundlegende Ar-
beiten wird Theaterwissenschaft bestimmt als »die Wissenschaft von der Gesamtheit
der Künste, wie sie das moderne Theater beansprucht, also ebensosehr Schauspieler-
analyse wie Kostümkunde und Geschichte der Architektur und Malerei». Offenbar
I
BESPRECHUNGEN. 3|g
soll Beschaffenheit und Zweck eines geschichtlich gewordenen Gebildes den Inhalt
einer Wissenschaft «mgrenzen. Natürlich i<ann in den Begriff einer Architektur-
wissenschaft zusammengefalM werden, was der werdende Baumeister von Stilunter-
ßchiedeii, Kunstgeschichte, Hygiene, Mathematik, Rechtsprechung im Hinblick auf
seinen Beruf lernen niiili, und ebenso kann als Theaterwissenschaft die Beschreibung
und Erklärung alles dessen angesehen werden, was nun einmal zur Bühne gehört.
Indessen, die strengere Auffjissung von Wissenschaft überhaupt fordert einen Kern-
punkt, in dem der Gegenstand seiner Eigentümlichkeit nach und mit einer aus ihm
fließenden Methode ergriffen wird. Hierfür genügt nicht das Zusammenraffen eines
tatsächlich verbundenen Mannigfachen. Unter den vielen Beiträgen zur literari-
schen Dramaturgie sei zunächst ein Aufsatz von Ernst Blaß hervorgehoben. Er
will die unverkennbare Abstraktheit in Paul Ernsts dramatischer Kunst dadurch
rechtfertigen, daß er dem Dichter-Denker einen besonders geschärften Sinn für die
apriorische Dranienform« zuschreibt. Je reiner und nackter die Handlung eines
Dramas ist, desto stärker gibt sie das Wesentliche; da aber die Leibhaftigkeit aus
dem Personendrama und der Bühne nicht auszumerzen ist, so bleibt als Aufgabe
für den Dramatiker: »eine Handlung unter Menschen, deren intelligible Rolle sich
mit ihrem empirischen Sein decken muß . Ein grundsätzlicher Gegensatz muß
zwischen lebendigen Menschen ausgekämpft werden, Wille des Schicksals und Wille
des Menschen müssen zusammentreffen, damit die dramatische Form ihrer Haupt-
aufgabe gerecht wird, durch sinnfällige Handlung ein Geistiges zu veranschaulichen.
Dies der Grundgedanke. Man sieht leicht, daß er mit einer durch den besonderen
Fall verhängten Zuspitzung beginnt und in ein stumpfes Ende ausläuft : der Gebrauch
von Begriffen wie apriorisch und intelligibel — die übrigens mit größerer Vorsicht
verwendet werden sollten, auch im Falle Paul Ernst — bereitet nur den Weg zur
alten idealistischen Lehre. — Der neue Idealismus tritt ans Licht mit einer gehalt-
vollen Abhandlung, die Julius Bab dem expressionistischen Drama widmet. Sie
beginnt mit dem Gedanken, daß impressionistische und naturalistische Kunst Aus-
druck war für das Gefühl der Abhängigkeit des Menschen von der Umgebung, und
zeigt dann, wie die neue Kunst des Glaubens lebt, daß geheimnisvolle Kräfte im
Menschen es sind, die die Welt überhaupt erst bilden. Des Dichters Aufgabe ist:
Wesensmenschen oder seelische Grundfiguren zu zeichnen, wobei allerdings auch
der Körper glaubhaft bleiben muß. Bab wiederholt die geschickten Worte, in die
der junge Dichter Paul Kornfeld den Sinn des Expressionismus eingefangen hat:
ilst der Mensch Mittelpunkt der Welt, so ist er's nicht um seiner Talente willen,
er ist's, weil er Spiegel und Schatten des Ewigen, weil er, zwar erdgeboren, doch
Verwalter des Göttlichen ist . . . (Sache der Selbsterkenntnis soll sein) sich dessen
bewußt zu werden, was unzeitlich in uns ist, und also in höherem Sinne sich zu
erleben, statt in niedrigerem Sinne sich zu begucken . . . Die Psychologie sagt vom
Wesen des Menschen ebensowenig aus wie die Anatomie.- Über die eigentümliche
Fornuing, die das Drama von hier erhält, gibt Bab leider nur Andeutungen; er hebt
hervor, daß zwischen die lebendigen Menschen in jedem Augenblick Gestalten
treten können, die nur geträumt sind, daß der Gefühlsausdruck in der Sprache über-
gangslos hervorspringt, daß die Wechselrede rhythmisch klar gegliedert wird. Aber
es müßte noch weit mehr an Einzelheiten aufgezeigt werden, um zu erweisen, daß
Theorie und Praxis nicht nebeneinander hergehen, sondern aus demselben eigen-
tümlichen Kunstgefühl hervorwachsen.
Ich übergehe eine Reihe von Aufsätzen — darunter eine Studie Gustav Lan-
dauers über »Troilus und Cressida« — und beschränke mich auf ein paar Bemer-
kungen zu dem von Richard Weichert behandelten Gegenstand: Regisseur und Dar-
320 BESPRECHUNGEN,
steller. Gern pflichte ich der Forderung bei, daß der Geist der Dichtun<j höchste
Autorität bleiben muß, aber ich sehe nicht im Wort »das Wesentliche des Theaters«
noch in der Bühne »eine akustische Anstalt- . Das Besondere der Biihnenkunst liegt
doch darin, daß die ebenso besondere Einbildungskraft des geborenen Res^isseurs
Anblick der Szene, Sprache, Geste, Bewegung, Kostüm unter der Leitung des Dichter-
wortes zu einer Ganzheit vereinigt — nur eine so aufgebaute Vorstellung hat Stil,
wie der Verfasser selber gesteht. Und eine weitere Eigenschaft des Regisseurs
steckt in der Fähigkeit, dem Schauspieler das erwünscht Scheinende wirklich klar
machen zu können, wozu dann noch andere pädagogische Gaben sich gesellen
müssen. Das ist ein weites Feld. Es sollte einmal von einem philosophischen
Nachfolger H. Th. Roetschers beackert werden, sofern er genügende Bühnenerfah-
rung besitzt.
Berlin. JVlax Dessoir.
31»
XI.
Der Begriff des Kunstwollens%
Von
Erwin Panofsky.
Es ist der Fluch und der Segen der Kunstwissenschaft, daß ihre
Objekte mit Notwendigkeit den Anspruch erheben, anders als nur
historisch von uns erfaßt zu werden. Eine rein historische Betrachtung,
gehe sie nun Inhalts- oder formgeschichtlich vor, erklärt das Phäno-
men Kunstwerk stets nur aus irgendwelchen anderen Phänomenen,
nicht aus einer Erkenntnisquelle höherer Ordnung: eine bestimmte
Darstellung ikonographisch zurückverfolgen, einen bestimmten Form-
komplex typengeschichtlich oder aus irgendwelchen besonderen Ein-
flüssen ableiten, die künstlerische Leistung eines bestimmten Meisters
im Rahmen seiner Epoche oder sub specie seines individuellen Kunst-
charakters erklären, heißt innerhalb des großen Gesamtkomplexes
der zu erforschenden realen Erscheinungen die eine auf die andere
zurückbeziehen, nicht von einem außerhalb des Seins-Kreises fixierten
archimedischen Punkte aus ihre absolute Lage und Bedeutsamkeit
bestimmen: auch die längsten »Entwicklungsreihen« stellen immer nur
Linien dar, die ihre Anfangs- und Endpunkte innerhalb jenes rein
historischen Komplexes haben müssen.
Die politische Geschichte, als Geschichte des menschlichen
Handelns gefaßt, wird sich mit einer solchen Betrachtungsweise zu-
frieden geben müssen — und auch zufrieden geben können: das
Phänomen der Handlung muß seinem Begriffe nach, d. h. als bloße
Verschiebung, nicht formende Bewältigung der Wirklichkeitsinhalte*),
durch rein historische Erforschung voll erschöpfbar sein, ja einer nicht
historischen Betrachtung widerstreben. Die künstlerische Tätigkeit aber
unterscheidet sich insofern von dem allgemeingeschichtlichen Geschehen
') Diese Ausführungen bilden in gewisser Hinsicht die Fortsetzung zu dem in
der Zeitschr. f. Ästhetik u. aiig. Kunstwissenschaft, Jahrg. X, S. 460 ff. erschienenen
Artikel des Verfassers über »Das Problem des Stils in der bildenden Kunst«, dessen
Schlußabsatz in ihnen näher erläutert wird.
') Vgl. Schopenhauers schöne Unterscheidung zwischen »Taten€ und »Werken«
(Aphor. zur Lebensweisheit, Kap. IV).
Zeitschr. f. Ästhetik u. all£. Kunstwissenschaft. XIV. 21
322 ERWIN PANOFSKY.
(und berührt sich insofern mit der Erkenntnis), als ihre Leistungen
nicht Äußerungen von Subjel<ten darstellen, sondern Formungen von
Stoffen, nicht Begebenheiten, sondern Ergebnisse. Und damit erhebt
sich vor der Kunstbetrachtung die Forderung — die auf philosophi-
schem Gebiete durch die Erkenntnistheorie befriedigt wird — , ein
Erklärungsprinzip zu finden, auf Grund dessen das künstlerische Phä-
nomen nicht nur durch immer weitere Verweisungen an andere Phä-
nomene in seiner Existenz begriffen, sondern auch durch eine
unter die Sphäre des empirischen Daseins hinabtauchende Besinnung
in den Bedingungen seiner Existenz erkannt werden kann.
Diese Forderung bedeutet, wie gesagt, Fluch und Segen: Segen,
weil sie die Kunstwissenschaft in einer dauernden Spannung erhält,
ständig die methodologische Überlegung herausfordert und uns vor allem
immer wieder daran erinnert, daß das Kunstwerk Kunstwerk ist, nicht
ein beliebiges historisches Objekt, — Fluch, weil sie eine schwer er-
trägliche Unsicherheit und Zersplitterung in die Forschung hinein-
tragen mußte, und weil das Streben nach der Aufdeckung von Ge-
setzmäßigkeiten vielfach zu Resultaten geführt hat, die entweder mit
dem Ernste einer wissenschaftlichen Anschauung nicht zu vereinen
sind oder aber dem Einzigkeitswert des individuellen Kunstwerkes zu
nahe zu treten scheinen: zu einem puritanischen Rationalismus im
Sinne der normativen Ästhetik, zu einem Völker- oder einzelpsycho-
logischen Empirismus im Sinne der Leipziger Schule und der zahl-
reichen Theoretiker des »künstlerischen Schaffensprozesses«, zu einer
willkürlich konstruktiven Spekulation im Sinne Worringers oder zu
unklarer Begriffsverschlingung im Sinne Burgers. Kein Wunder daher,
wenn nicht die Schlechtesten unter den neueren Methodologen der
Kunstwissenschaft, skeptisch geworden, endgültig das einzige Heil in
der rein historischen Betrachtungsweise erblickten ^) — kein Wunder
aber auch, wenn auf der anderen Seite Forscher auftraten, die sich,
mit Gewissenhaftigkeit, philosophischem Kritizismus und auf Grund
umfassendster Materialkenntnis der Aufgabe unterzogen, trotz allem
zur mehr-als-phänomenalen Erfassung der Kunsterscheinungen vorzu-
dringen.
Der bedeutendste Vertreter dieser ernsten Kunstphilosophie dürfte
Alois Riegl sein. Durch seine zeitliche Stellung sah dieser große Forscher
sich jedoch genötigt, bevor er sich der Erkenntnis der dem künstle-
rischen Schaffen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zuwenden
konnte, zunächst die dabei vorauszusetzende, zu seiner Zeit aber durch-
aus nicht anerkannte Autonomie desselben gegenüber den vielfältigen
') Hans Tietze, Die Methode der Kunstgeschichte, 1Q13.
^
DER BEGRIFF DES KUNSTWOLLENS.
323
Abhängigkeitstheorien, vor allem gegenüber der materialistisch-techno-
logischen Auffassung Gottfried Sempers, sicherzustellen. Dieses tat
er durch die Einführung eines Begriffes, der im Gegensatz zu der be-
ständigen Betonung der das Kunstwerk determinierenden Faktoren
(des Materialcharakters, der Technik, der Zweckbestimmung, der histo-
rischen Bedingungen) die Summe oder Einheit der in demselben zum
Ausdruck gelangenden, es formal wie inhaltlich von innen heraus
organisierenden schöpferischen Kräfte bezeichnen sollte: des Be-
griffes »Kunstwollen<.
Dieser Begriff, vielleicht der aktuellste der modernen kunstwissen-
schaftlichen Forschung, ist nun aber nicht ungefährlich wegen seiner
Zuspitzung auf das psychologisch Willensmäßige, — einer Zuspitzung,
die sich freilich aus dem Protest gegen jene anderen Theorien des späteren
IQ. Jahrhunderts (die man als »Theorien des Müssens« bezeichnen
könnte) historisch erklären läßt; und er bedarf daher, wie wir glauben,
der methodologischen Erörterung ebensosehr, wie sein nicht minder
geläufiger Parallelbegriff, der Begriff der »künstlerischen Absicht«, der
sich nur konventionell, nämlich nach dem Umfang seines Anwendungs-
gebietes, von ihm zu unterscheiden scheint, indem man den Ausdruck
»Kunstwollen« vorwiegend auf künstlerische Gesamterscheinungen,
auf das Schaffen einer Zeit, eines Volkes oder einer ganzen Persön-
lichkeit zu beziehen pflegt, während der Ausdruck: »künstlerische
Absicht« meist mehr zur Charakterisierung des Einzelkunstwerks
Verwendung findet. Denn, wenn wir vom »Kunstwollen« der Re-
naissance, der spätantiken Plastik, des Bernini oder des Correggio
reden, wenn wir innerhalb des Einzelkunstwerks in der Anordnung
bestimmter Linien- oder Flächenkombinationen, in der Wahl bestimmter
Farbenzusammenstellungen, in der Disposition bestimmter Bauglieder
eine »künstlerische Absicht« zu erkennen glauben, so sind wir zwar
einhellig davon überzeugt, damit etwas Objektives und für das Wesent-
liche der künstlerischen Erscheinungen Bezeichnendes auszusagen —
aber keine Einigkeit herrscht über die tatsächliche Bedeutung einer
solchen Konstatierung, d. h. darüber, in welchem Sinne das
»Kunstwollen« oder »die künstlerische Absicht« ein mög-
licher Gegenstand kunstwissenschaftlicher Erkenntnis sei.
Die verbreitetsten Auffassungen der genannten Begriffe (Auf-
fassungen übrigens, die von ihren Vertretern durchaus nicht immer
ausdrücklich und bewußt akzeptiert zu sein brauchen, sondern oft
nur de facto von ihnen betätigt werden) sind psychologistisch und
lassen sich in folgende drei Unterarten sondern: 1. die individual-
324
ERWIN PANOFSKY.
historisch orientierte künstlerpsychologische Deutung, die die
künstlerische Absicht oder das Kunstwolien ohne weiteres mit der
Absicht oder dem Wollen des Künstlers identifiziert — 2. die
kollektivgeschichtlich eingestellte zeitpsychologische Deutung,
die das in einer künstlerischen Schöpfung wirksame Wollen so be-
urteilen will, wie es in den Menschen der gleichen Epoche lebendig
war und, bewußt oder unbewußt, von ihnen aufgefaßt wurde —
3. die rein empirisch verfahrende apperzeptionspsychologische
Deutung, die — von der Analyse und Erklärung des »ästhetischen
Eriebnisses«, d. h. der in der Psyche des kunstgenießenden Be-
schauers sich abspielenden Vorgänge ausgehend — die im Kunst-
werk sich aussprechende Tendenz ohne weiteres aus der Wirkung
erschließen zu können glaubt, die es in uns Betrachtenden hervorruft.
1. Die durch die normale Bedeutung des Wortes »Absicht«, ebenso
wie die des Wortes »Wollen« am meisten nahegelegte, aber dennoch
mißverständliche Deutung ist die künstler-psychologische, d.h.
diejenige, die die künstlerische Absicht, das künstlerische Wollen, als
den psychologischen Akt des historisch greifbaren Subjektes »Künstler«
betrachtet. Es bedarf kaum der Erörterung, daß eine solche Auf-
fassung — die also dem empirischen Individuum Giotto oder Rem-
brandt alles das als Produkt einer psychologisch faßbaren Willens-
regung zuschiebt, was uns in der giottesken oder rembrandtischen
Kunst als Ausdruck eines besonderen kompositioneilen oder expres-
siven Prinzips zutage zu treten scheint — unmöglich zutreffen kann,
wenn anders die Begriffe »künstlerische Absicht« oder »Kunst-
wollen« einen objektiven und das Wesentliche des durch die Kunst
Ausgedrückten treffenden Inhalt haben sollen. Entweder sehen wir
uns — denn die Prozesse, die sich in der Seele des Künstlers ab-
spielen, sind ja der objektiven Erforschung notwendig entzogen —
über seine wirklichen psychologischen Absichten nicht anders als
durch seine uns vorliegenden Werke (die aber ihrerseits doch erst
wieder aus diesen Absichten erklärt werden sollen) unterrichtet: dann
müssen wir den Gemütszustand des Künstlers aus eben diesen Werken
erschließen, womit wir nicht nur Unbeweisbares behaupten, sondern
auch dem circulus vitiosus verfallen, das Kunstwerk auf Grund von
Erkenntnissen zu interpretieren, die wir selbst erst einer Interpretation
des Kunstwerks verdanken — oder aber es sind uns in bestimmten
Fällen positive Aussagen reflektierender Künstler überiiefert, denen die
eigene künstlerische Absicht bewußt geworden ist: dann nützt uns
diese Kenntnis auch nicht viel, denn es erweist sich hierbei mit Not-
wendigkeit, wie wenig das intellektuell geformte, bewußt gewordene
Wollen des Künstlers dem entspricht, was sich uns als die wahre
^
DER BEGRIFF DES KUNSTWOLLENS. 325
Tendenz seines Schaffens aufzudrängen scheint. Der Wille kann
sich — im Gegensatz zum Trieb — nur auf Bei<anntes richten, auf
einen Inliait, den wir zu »bestimmen«, d. h. in seiner besonderen
Wesensart von anderen Inhalten zu unterscheiden vermögen. Der
Wiilensakt besitzt mit anderen Worten stets den Charakter einer Ent-
scheidung: nur da kann man mit Sinn von einem »Wollen« reden,
wo nicht ein einheitlicher Trieb unweigerlich ein bestimmtes Ergebnis
erzwingt, sondern wo im Subjekte mindestens zwei Zielvorstel-
lungen Potential lebendig sind, zwischen denen es zu wählen hat.
Bewußte Bejahung bestimmter künstlerischer Ziele, und damit eine
bestimmte kunsttheoretische Stellungnahme, wird also nur solchen
Künstlern (oder Epochen) möglich sein, in denen neben ihrem eigent-
lichen schöpferischen Urtrieb zum mindesten noch eine zweite, ent-
gegengesetzt gerichtete Tendenz latent ist, und durch ein >Bildungs-
erlebnis« (etwa durch die Berührung mit der Antike oder irgend einem
anderen künstlerischen Phänomen) wachgerufen wird: erst wenn sich
auf diese Weise verschiedene Möglichkeiten des Schaffens vor
dem Bewußtsein wechselseitig erhellen können, sieht dieses sich
befähigt und genötigt, zu unterscheiden, abzuwägen und sich zu ent-
schließen. So hat Dürer theoretisiert, nicht Grunewald; Poussin, nicht
Velasquez; Mengs, nicht Fragonard: erst die Renaissance konnte und
mußte theoretisieren im Gegensatz zum Mittelalter, erst die helleni-
stisch-römische Zeit im Gegensatz zur Epoche der Phidias und Po-
lygnot '). Daher ist jede Künstlerästhetik mit einer gewissen Notwen-
digkeit in sich antagonistisch und zwar mit der Maßgabe, daß gerade
die nicht ursprüngliche, erst durch das Bildungserlebnis wachgerufene
Tendenz, als die reflektierbarere, in ihr den schärferen, programma-
tischeren Ausdruck findet: wohl spiegelt sie eine Uneinheitlichkeit, die
auch in der Kunst des betreffenden Meisters zutage treten wird, — aber
sie spiegelt sie in dem Sinne, daß sie gerade diejenige Tendenz, die künst-
lerisch die minder schöpferische, sekundäre, ja retardierende genannt
werden muß, theoretisch häufiger, grundsätzlicher und mit postulativer
Geltung zum Ausdruck bringt. Es zeigt sich also hier mit Deutlich-
keit, was solche Aussprüche theoretisierender Künstler für das Ver-
ständnis ihrer Kunst bedeuten können: es ist nicht so, daß sie als
solche bereits das »Kunstwollen« des betreffenden Künstlers unmittel-
') Das oben Gesagte gilt natürlich nur für die Theorie über die Kunst.
Eine Theorie für die Kunst (Proportions-, Perspektiv- oder Bewegungslehre) ist
prinzipiell auch in einheitlich disponierten Epochen möglich. Eine Sonderstellung
gegenüber anderen Künstler-Theoretikern nimmt Lionardo da Vinci insofern ein, als
er weniger als theoretisierender Künstler, denn als ein künstlerisch tätiger Welt-
begreifer aufzufassen ist.
326 ERWIN PANOFSKY.
bar bezeichneten, sondern sie dokumentieren es nur. Wovon
einem Künstler reflel<tierte Aussprüche über seine Kunst oder über
die Kunst im allgemeinen erhalten sind, bilden sie (gleich unrefiek-
tierten Äußerungen, wie sie etwa in den Gedichten Michelangelos
oder in Raffaels Briefstelle über die Certa idea vorliegen) in ihrer
Totalität ein der Deutung fähiges und bedürftiges Parallelphänomen
zu seinen künstlerischen Schöpfungen, nicht aber im einzelnen deren
Erklärung — , Objekte, nicht Mittel der sinngeschichtlichen Inter-
pretation'). Am wenigsten aber darf denjenigen Künstlern, die, mit
sich und ihrer Zeit im Einklang stehend, eine bestimmte Möglichkeit
des künstlerischen Schaffens verwirklichten, und denen wir theore-
tische Reflexionen nicht nachweisen können, ein bewußtes Wollen im
Sinne der intellektuellen Ablehnung anderer Möglichkeiten imputiert
werden. Es ist historisch wie philosophisch gleich unhaltbar, wenn
neuerlich behauptet werden konnte: »eine Frage des Könnens gibt es
in der Kunstgeschichte nicht, sondern nur die des Woliens ... Polyklet
hätte einen borghesischen Fechter bilden, Polygnot eine naturalistische
Landschaft malen können, aber sie taten es nicht, weil sie sie nicht
schön gefunden hätten 2).« Ein solcher Ausspruch ist deshalb unrichtig,
weil sich ein »Wollen« eben nur auf ein Bekanntes richten kann, und
weil es daher umgekehrt auch keinen Sinn hat, da von einem Nicht-
Wollen in der psychologischen Bedeutung des Ablehnens (des Noile,
nicht des Non-velle) zu reden, wo eine von dem »Gewollten« abwei-
chende Möglichkeit dem betreffenden Subjekt gar nicht vorstellbar war:
Polygnot hat eine naturalistische Landschaft nicht deshalb nicht gemalt,
weil er sie als »ihm nicht schön erscheinend« abgelehnt hätte, son-
dern weil er sie sich nie hätte vorstellen können, weil er — kraft
einer sein psychologisches Wollen vorherbestimmenden Notwendig-
keit — nichts anderes als eine unnaturalistische Landschaft wollen
konnte; und eben deshalb hat es keinen Sinn, zu sagen, daß er eine
andersartige gewissermaßen freiwillig zu malen unterlassen hätte 3).
') Die Umkehrung, die die Bedeutung der das Schaffen eines Künstlers tat-
sächlich beherrschenden Prinzipien in seiner Theorie erfährt, erhellt besonders deut-
lich aus der Ästhetik Berninis, dessen theoretische Aussprüche mit ganz wenigen
und minder programmatisch formulierten Ausnahmen einen durchaus objekti-
vistisch-idealistischen Standpunkt vertreten; vgl. hierzu einen Aufsatz des Verfassers
im Jahrbuch der Preuß. Kunstsammlungen, 1919, Heft IV, dem die obigen Sätze
zum Teil entnommen sind. Ein weiteres ebenso gutes Beispiel böte die Ästhetik
Albrecht Dürers, die ebenfalls im allgemeinen mit der italienischen Renaissance-
Anschauung mitgeht und nur an wenigen Stellen die subjektivistische und indivi-
dualistische Richtung des großen deutschen Künstlers verrät.
2) G. Rodenwald in Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft XI, S. 123.
ä) Umgekehrt würde uns die Konstatierung eines bloßen Non-velle den Phä-
nomenen um keinen Schritt näherbringen.
DER BEGRIFF DES KUNSTWOLLENS.
327
2. Aus dieser Überlegung ergeben sich nun zugleich die Einwen-
dungen gegen die zeitpsychologische Auffassung der künstlerischen
Absicht. Auch hier erleben wir entweder unbewußt wirksame, nicht
in der Form irgendeiner dokumentarischen Überlieferung niederge-
schlagene Strömungen oder Wollungen, die nur aus eben denselben
künstlerischen Phänomenen erschließbar sind, die ihrerseits durch sie
erklärt zu werden verlangen (so daß der »gotische Mensch« oder der
»Primitive«, aus dessen vermeintlichem Wesen wir ein bestimmtes Kunst-
produkt erklären wollen, in Wahrheit nur die Hypostasierung eines Ein-
drucks ist, den wir von eben diesem Kunstprodukt empfingen) — oder
aber es handelt sich um die bewußt gewordenen Absichten oder
Wertungen, wie sie in der zeitgenössischen Kunsttheorie oder Kunst-
kritik ihre Formulierung finden, — dann können diese Formulierungen,
ganz wie die individuellen theoretischen Äußerungen der schaffenden
Künstler selbst, wiederum nur ein Parallelphänomen zu den künst-
lerischen Hervorbringungen der Epoche bilden, nicht aber bereits ihre
Deutung enthalten. Und auch hier wird dieses Parallelphänomen
in seiner Ganzheit zwar ein außerordentlich interessantes Objekt der
geisteswissenschaftlichen Forschung darstellen, im einzelnen aber keines-
wegs ein methodologisch faßbares Kunstwollen unmittelbar zu be-
zeichnen vermögen: ebenso wie die selbstanalytischen oder allgemein-
theoretischen Aussprüche der einzelnen Künstler ihr eigenes Kunstwollen,
wird auch eine die künstlerische Produktion einer Zeit im ganzen be-
gleitende Kunstbetrachtung das Kunstwollen dieser Zeit zwar in sich
zum Ausdruck bringen, nicht aber es für uns mit Namen nennen.
Sie wird, ihrerseits der Interpretation ebenfalls erst bedürftig, bei sinn-
gemäßer Deutung für die Erkenntnis der in der betreffenden Zeit
herrschenden Tendenzen und damit für die Beurteilung ihres Kunst-
wollens von eminenter Bedeutung sein können, aber niemals kann
die Erkenntnis dessen, was, »im Sinn eines bestimmten Ausdrucks« ')
') WölKIin, Sitzungsberichte der Kgl. preuß. Akad. d. Wissensch. 1912, S. 576.
Wir haben in unserem Aufsatz in der Zeitschr. f. Ästhetik usw. X, S. 463 Anm.
bereits darauf hingewiesen, daß eine solche zeitgenössische Auffassung künstle-
rischer Absichten für ihre objektive Beurteilung nicht maßgebend sein kann. — Die
Meinung, es sei bei der Beurteilung von Kunstwerken der >Eindruck der Zeit-
genossen«, nicht der unsere, ausschlaggebend, ist neuerdings mit starker Übertrei-
bung von D. Henry verfochten worden (Die weißen Blätter 1919, S. 315 ff.) — in
einem Aufsatz, der auch durch die völlige Identifizierung Riegis mit Worringer zu
Mißverständnissen Anlaß geben kann. Es kann nicht genug betont werden, daß
Riegis Ansichten bei Worringer sehr stark, und nicht zum Besseren,
verändert sind. Wenn Riegl sagt: »Jede Kunst will ihre Welt darstel len« — so
sagt Worringer: »Die Kunst will entweder (als .organische') die Welt darstellen,
oder sie will sie (als .abstrakte') nicht darstellen.« Riegl hat also den Begriff
328 ERWIN PANOFSKY.
auf die Zeitgenossen wirkend, nach ihrer Meinung den Inhalt der
künstlerischen Absichten auszumachen schien, bereits der Einsicht in
das Wesen des in den betreffenden Werken objektiv verwirklichten
Kunstwollens gleichgeachtet werden. Auch die kunstkritischen oder
kunsttheoretischen Äußerungen einer ganzen Epoche werden die in
dieser Epoche hervorgebrachten Kunstwerke nicht unmittelbar deuten
können, sondern erst mit ihnen zusammen von uns gedeutet
werden müssen.
3. Was aber endlich die von der modernen »Ästhetik« zumeist
betätigte apperzeptionspsychologische Auffassung des Kunst-
wollens angeht, so muß gesagt werden, daß Urteile, die auf dieser
Auffassung fußen, d. h. sich mehr oder minder eingestandenermaßen
nicht sowohl auf ein historisches Objekt, als vielmehr auf das Ein-
druckserlebnis eines modernen Beschauers (oder einer Vielheit moderner
Beschauer) beziehen, weniger für die Erkenntnis der in dem beurteilten
Kunstwerke verwirklichten künstlerischen Absichten, als für die Psycho-
logie des urteilenden Betrachters Bedeutung haben werden. Bezogen
nicht auf eine historische Gegebenheit, sondern auf ihre Spiegelung
in einem modernen Bewußtsein haben solche Urteile — mögen sie
im Einzelfalle auch noch so viel Feingefühl und Geist verraten — als
ihr eigentliches Objekt weder das Kunstwerk noch den Künstler, son-
dern die Psyche eines heutigen Betrachters, in der sich die Neigungen
des persönlichen Geschmacks mit den durch Erziehung und Zeitströ-
mung bedingten Vorurteilen, ja oft genug mit den vermeintlichen
Axiomen der rationalistischen Ästhetik werden kreuzen müssen ').
einer »Natur schlechthin«, die die Kunst entweder nachahmt oder nicht nachahmt,
beseitigt, und hat es dadurch erreicht, jeder Kunst eine eigene Weltvorstellung oder
Vorstellungswelt zu vindizieren, d. h. den alten Gegensatz zwischen naturähnlicher
und naturentstellender Kunst mit der Wurzel auszumerzen — Worringer ver-
ewigt im Grunde diesen alten Gegensatz, nur daß er die »Unnatürlichkeit' be-
stimmter Stile statt aus dem Nicht-Können aus dem »Nicht-Wollen« herleitet und
dadurch zu einer Vertauschung der Wertakzente gelangt. Gerade im Sinne Riegls
darf man nicht mit Worringer sagen: dieser Stil abstrahiert von »der« natürlichen
Wirklichkeit, sondern es müßte heißen: die Wirklichkeit dieses Stils entspricht
nicht unserem Begriff vom Wesen des Natürlichen«.
') Als ein Beispiel dieser Methode darf das in seiner Art gewiß bewunderns-
werte Werk von Theodor Lipps (Ästhetik 1903—1906) zitiert werden, das mit der
apperzeptionspsychologischen Einstellung durchaus klassizistische, ja puritanische
Wertungen verbindet (Ablehnung z. B. der plastischen Gruppen aus selbständigen
Einzelgestalten, der realistischen Augendarstellung, wie sie das Altertum, zuerst in
Ägypten, durch Einlassung von Halbedelsteinen oder Glaspasten durchgeführt hat,
der Karyatiden, insofern solche Figuren nicht, wie die des Erechtheion, als un-
mittelbare Stellvertreter der tektonischen Stützen auftreten usw.). Interessant ist
die Begründung, mit der Lipps (1, S. 2 ff.) diese Verquickung der psychologistischen
DER BEGRIFF DES KUNSTWOLLENS. 329
II.
Das Gefühl für die Unzulänglichkeit der im vorigen angedeuteten
Auffassungen hat denn auch bereits hier und da der psychologisti-
schen Ausdeutung des Kunstwoilens bis zu einem gewissen Grade
entgegengewirkt. Die Erkenntnis bricht sich Bahn, daß die in einem
Kunstwerk verwirklichten künstlerischen Absichten von den
gemütszuständlichen Absichten des Künstlers ebenso streng ge-
schieden werden müssen, wie von der Spiegelung der Kunsterschei-
nungen im Zeit-Bewußtsein oder gar von den Inhalten der Eindrucks-
erlebnisse, die das Kunstwerk einem heutigen Betrachter vermittelt:
daß, kurz gesagt, das Kunstwolien als Gegenstand möglicher
kunstwissenschaftlicher Erkenntnis keine (psychologi-
sche) Wirklichkeit ist.
Es ist nun kein Wunder, wenn das Kunstwollen in derjenigen
kritischen Untersuchung, die, wenn auch gleichsam nur im Vorbei-
gehen, diese Tatsache zuerst betont und damit eine Abkehr von der
psychologistischen Auffassung eingeleitet hat '), zunächst als ein bloßes
Abstraktum gedeutet wird: ist doch das Abstraktum die einfachste,
sozusagen in geradlinigem Gegensatz zur Wirklichkeit erfaßbare Form
des Nicht-Wirklichen. Allein die Definition in diesem Sinne (Kunst-
wollen ist die »Synthese aus den künstlerischen Absichten einer Zeit»)
scheint uns die methodologische Bedeutung dieses Terminus noch nicht
voll auszuschöpfen. Einmal deswegen, weil eine bloße diskursive
Zusammenfassung, wie sie durch eine »Synthese« geleistet wird, ledig-
lich die gleichsam von außen konstatierbaren Stilmerkmale unter einen
gemeinsamen Oberbegriff würde subsumieren können, also nur zu
einer phänomenalen Klassifizierung der einzelnen Stile zu führen ver-
möchte, nicht aber zur Aufdeckung von prinzipiellen Stilgesetzen, die,
mit der normativen Ästhetik rechtfertigt: »Gesetzt ich l<enne die Bedingungen für
die Erzeugung des Schönheitsgefühls, . . . dann kann ich auch ohne weiteres sagen,
welche Bedingungen erfüllt sein müssen, und was zu vermeiden ist, wenn das frag-
Hche Schönheitsgefühl ins Dasein gerufen werden soll, d. h. die Einsicht in den
tatsächlichen Sachverhalt ist zugleich eine Vorschrift.« Das Trügerische dieser Be-
gründung liegt nun darin, daß jener »tatsächliche Sachverhalt« seinerseits ein durch
tausend Umstände determiniertes subjektives Phänomen darstellt: das durch Ge-
schmack, Erziehung, Milieu, Zeitströmungen bedingte Eindruckserlebnis eines
empirischen Subjekts oder einer Mehrheit empirischer Subjekte — das Erlebnis
einiger Menschen, nicht die Eriebnisbedingung des Menschen schlechthin;
und es bedarf keiner Erörterung, daß diese letzlere, deien Erkenntnis allein die
Grundlage für allgemeine normative Sätze bilden könnte, einer reinen Erfahrungs-
wissenschaft, wie es die apperzeptionspsychologische Ästhetik ist und sein will,
niemals zugänglich werden kann.
') Tietze a. a. O. S. 13 f.
B.
330 ERWIN PANOFSKY.
allen diesen Merkmalen zugrunde liegend, den formalen und gehalt-
lichen Charakter des Stils von unten her erklären würden — sodann,
weil eine Definition des Kunstwollens im Sinne begrifflicher Synthese
der Anwendungsmöglichkeit dieses Ausdrucks auf die nicht epochal
begrenzten Kunsterscheinungen, insonderheit auf das Einzelkunstwerk,
nicht gerecht werden kann. Wenn Riegl nicht nur von einem barocken,
sondern auch von einem holländischen, Amsterdamer, ja rembrandti-
schen »Kunstwollens spricht, wenn wir in der Komposition eines ein-
zelnen Gemäldes, Bildwerks oder Baukomplexes in genau dem
gleichen Sinne eine »künstlerische Absicht« konstatieren wollen, so kann
uns eine Auffassung des Kunstwollens nicht befriedigen, die es rein
diskursiv als die Synthese aus den Äußerungen einer Zeit begreifen
will. Vielmehr muß der Inhalt des Kunstwollens oder der künstlerischen
Absicht durch einen Begriff bezeichnet werden können, der aus jeder,
wie immer begrenzten, künstlerischen Erscheinung, sei es
nun das Oesamtschaffen einer Zeit, eines Volkes oder einer bestimmten
Gegend, sei es das Oeuvre eines besonderen Meisters oder sei es end-
lich ein beliebiges Einzelkunstwerk, unmittelbar herausgewonnen werden
kann: durch einen Begriff, der nicht als ein durch Abstraktion ge-
fundener Gattungsbegriff die phänomenalen Charakteristika der betreffen-
den Erscheinung bezeichnet, sondern als ein die eigentlichste Wurzel
ihres Wesens bloßlegender Grundbegriff ihren immanenten Sinn
enthüllt. Damit ist die Definition angedeutet, die unseres Erachtens
das Kunstwollen methodologisch, d. h. soweit es als möglicher Gegen-
stand der kunstwissenschaftlichen Erkenntnis in Frage kommt, einiger-
maßen zutreffend bestimmen dürfte: das Kunstwollen kann — wenn
anders dieser Ausdruck weder eine psychologische Wirklichkeit,
noch einen abstrahierten Gattungsbegriff soll bezeichnen dürfen —
nichts anderes sein, als das, was (nicht für uns, sondern ob-
jektiv) als endgültiger letzter Sinn im künstlerischen Phäno-
mene »liegt«!). Von ihm aus können dann die formalen wie gehalt-
lichen Charakteristika des Kunstwerks nicht sowohl eine begriffliche
Zusammenfassung, als vielmehr eine sinngeschichtliche Erklärung finden
— die freilich nicht mit der genetischen Erklärung zu verwechseln
ist, wie sie uns die psychologistische Auffassung des Kunstwollens
trüglicherweise in Aussicht stellte. Denn das Eine setzt ja der Ge-
brauch wie die Bestimmung des Begriffes Kunstwollen voraus: daß
jedes künstlerische Phänomen für eine auf seine innere Bedeutsamkeit
') Um das Rodenwaldsche Beispiel aufzunehmen, würden wir in dieser Ter-
minologie sagen: Polygnot kann die Darstellung einer naturalistischen Landschaft
weder gewollt noch gekonnt haben, weil eine solche Darstellung dem imma-
nenten Sinn der griechischen Kunst des 5. Jahrhunderts widersprochen hätte.
DER BEGRIFF DES KUNSTWOLLENS. 331
abzielende Interpretation als eine Einheit erfaßbar sei: daß »formale«
und »imitative« Elemente — entgegen der Wölfflinschen Lehre von
einer »doppelten Wurzel des Stils« — nicht auf gesonderte und ihrer-
seits irreduzible Begriffe gebracht zu werden brauchen, sondern als
die verschiedenen Äußerungen einer gemeinsamen Grundtendenz be-
griffen werden können, einer Tendenz, die als solche zu erfassen eben
die Aufgabe wirklicher »Grundbegriffe der Kunstgeschichte« ist').
Ein Vergleich aus der Erkenntnistheorie mag die Bedeutung dieser
Definition zunächst erläutern: nehme ich irgendeinen Urteilssatz, z. B.
den durch Kants Prolegomena berühmt gewordenen: »die Luft ist
elastisch« als gegeben an, so bieten sich mir bei seiner Betrachtung
die unterschiedlichsten Methoden dar: historisch kann ich die Um-
stände feststellen, unter denen dieser Satz in unserem besonderen
Falle ausgesprochen oder niedergeschrieben wurde; psychologisch
kann ich die subjektiven Voraussetzungen ins Auge fassen, unter
denen er zustande gekommen ist oder zustande kommen kann — die
Funktionen der Wahrnehmung, den Ablauf des Denkprozesses, die
Art des Gemütszustandes, aus dem heraus ein solches Urteil fällbar
war; grammatikalisch-diskursiv kann ich seine Natur als Aussage
oder Fragesatz, Konditional- oder Koflsekutivkonstruktion bestimmen;
logisch-diskursiv kann ich ihn nach seinen formalen Kriterien als
positiven oder negativen, allgemeinen oder spezialen, assertorischen
oder apodiktischen ansprechen. Und endlich kann ich fragen, ob ein
analytisches oder synthetisches, ein Wahrnehmungs- oder ein Erfah-
rungsurteil in ihm ausgesprochen sei. Und indem ich nun diese letzte,
transszendental-philosophische Frage an ihn stelle, enthüllt sich
mir etwas, was ich das erkenntnistheoretische Wesen des Satzes
nennen könnte: das, was abgesehen von seinem formal-logischen Auf-
bau und abgesehen von seiner psychologischen Vorgeschichte, ja abge-
sehen von dem, was der Urteilende selbst »gemeint« hat, an reinem Er-
kenntnisinhalt in ihm liegt, indem ich feststelle, daß er, so wie er
') Wenn Wölfflin (Kunstgesch. Grundbegriffe 1915, S. 18) hierauf erwidert,
daß die formale Entwicklung ihre eigenen festen Gesetze habe (so daß die plastische
Stufe der malerischen mit Notwendigkeit vorangehe und nicht etwa umgekehrt), so
ist das ohne weiteres zuzugeben; allein es wurde ja nicht bestritten, daß die Ent-
wicklung der »Darstellungsmodi« eine gesetzliche sei, sondern daß die Gesetz-
lichkeit dieser formalen Entwicklung von der Gesetzlichkeit der inhaltlichen unab-
hängig wäre: die Entwicklung des »Imitativen« vollzieht sich ja mit ebenderselben
Notwendigkeit, wie die der ^ Darstellungsmodi«, und zwar in völlig paralleler Weise,
so daß z. B. eine Epoche der Landschaftsdarstellung ebenso eine Epoche der reinen
iV\enschendarstellung voraussetzt, wie die malerische Stufe die plastische; und eben
dahin gilt es zu gelangen, daß diese beiden Gesetzmäßigkeiten als Ausdruck eines
und desselben Prinzipes erkannt werden.
332 ERWIN PANOFSKY.
dasteht, nur ein Urteil enthält, in welchem »die Wahrnehmungen sich
nur gewöhnlich verbunden finden«, d. h. nur durch ihr gleichzeitiges
Lebendig-Sein in einem individuellen Bewußtsein, nicht aber durch den
reinen Verstandesbegriff der Kausalität »in einem Bewußtsein überhaupt«
verknüpft erscheinen, ergibt sich mir die Einsicht, daß der Satz »die Luft
ist elastisch« zunächst noch kein Erfahrungs- sondern nur ein Wahr-
nehmungsurteil in sich schließt: seine Geltung ist die einer Aussage
über das tatsächliche Verknüpftsein der Vorstellungen Luft und Elasti-
zität in dem denkenden Selbst des Urteilenden, nicht aber die eines
objektiven, allgemeingültigen Gesetzes, nach welchem die eine Vorstel-
lung die andere mit Notwendigkeit bedingt. Eine Geltung dieser
letzteren Art würde dem Satz vielmehr nur dann zugekommen sein,
wenn wir in ihm die beiden Vorstellungen statt durch das Band der
psychologischen Koexistenz durch das Band des Kausalitätsbegriffes
zur Einheit einer Erfahrung zusammengeschmiedet gefunden hätten.
— Indem ich also nachprüfe, ob dies der Fall ist oder nicht (und
wenn es der Fall gewesen wäre, hätte unser Satz etwa lauten
müssen: »wenn ich den Druck auf eine Luftmenge verändere, so be-
dingt das auch eine Veränderung ihrer Ausdehnung«), besitze ich ein
Mittel, um — ohne im übrigen 8en mir gegebenen Satz mit außerhalb
seiner liegenden Daten vergleichen zu müssen — das in ihm und
durch ihn Gültig-Gewordene zu erkennen. Und zwar haben mich
weder Überlegungen historischer oder psychologischer Natur, noch
ein Subsumptionsverfahren, durch das ich die formalen Kriterien des
in Frage stehenden Satzes mit denen anderer Sätze verglichen hätte,
zu dieser Erkenntnis geführt, sondern einzig und allein die Betrachtung
des gegebenen Satzes selbst — eine Betrachtung freilich, der, in
Gestalt des Kausalitätsbegriffes — ein das Ja oder Nein der Erfah-
rungseinheit entscheidender Bestimmungsmaßstab zugrunde lag, gleich-
sam ein a priori gegebenes Reagenz, das das zu untersuchende Objekt
veranlaßt, durch sein positives oder negatives Verhalten zu ihm über
sein eigentlichstes Wesen Aufschluß zu geben.
Kehren wir nun zu der Frage nach der Erfassung der künstle-
rischen Absicht oder des Kunstwollens zurück! Ganz wie dem Satz
»die Luft ist elastisch^ ein bestimmtes erkenntnistheoretisches Wesen
zukommt, das sich der Betrachtung sub specie des Kausalitätsbegriffes
(und nur dieser Betrachtung) entschleierte, so kann auch in den Objekten
der Kunstwissenschaft, in den weiter oder enger, epochal, regional oder
individuell begrenzten künstlerischen Erscheinungen, ein immanenter
Sinn — und damit ein Kunstwollen in nicht mehr psychologischer, son-
dern gleichsam auch transzendental-philosophischer Bedeutung — er-
schlossen werden, wenn sie nicht durch Beziehung auf etwas außerhalb
DER BEGRIFF DES KUNSTWOLLENS. 333
ihrer Liegendes (historische Umstände, psychologische Vorgeschichte,
stilistische Analogien), sondern ausschließlich in ihrem eigenen Sein be-
trachtet werden; betrachtet jedoch wiederum sub speäe von Bestim-
mungsmaßstäben, die, mit der Kraft apriorischer Grundbegriffe, sich nicht
auf das Phänomen selbst beziehen, sondern auf die Bedingungen
seines Daseins und So-Seins, und die sich daher zu allgemeinen Sub-
sumptionsbegriffen, wie »plastisch« und »malerisch«, und zu den bloß
formalen Klassifikationen von der Art der Wölfflinschen »Darstellungs-
modi« (flächenhaft-tiefenmäßig usw.) ungefähr so verhalten müßten, wie
der Begriff der Kausalität zu dem Begriff des formallogischen Hypo-
thesis- oder des grammatikalischen Konditional -Verhältnisses. So
gewiß es für die Kunstwissenschaft Aufgabe ist, über das historische
Verständnis, die inhaltliche Erklärung und die formale Analyse der
künstlerischen Erscheinungen hinaus das in ihnen verwirklichte und allen
ihren stilistischen Eigenschaften zugrunde liegende »Kunstwollen« zu
begreifen, und so gewiß wir feststellten, daß dieses Kunstwollen not-
wendigerweise nur die Bedeutungeines dem Kunstwerk immanenten
Sinnes haben kann — so gewiß muß es auch Aufgabe der Kunstwissen-
schaft sein, a priori geltende Kategorien zu schaffen, die, wie die der
Kausalität an das sprachlich formulierte Urteil als Bestimmungsmaßstab
seines erkenntnistheoretischen Wesens, so an das zu untersuchende
künstlerische I^hänomen als Bestimmungsmaßstab seines immanenten
Sinnes gewissermaßen angelegt werden können — Kategorien nun aber,
die nicht wie jene die Form des erfahrungsschaffenden Denkens, son-
dern die Form der künstlerischen Anschauung würden bezeichnen
müssen. — Der gegenwärtige Versuch, der keineswegs die Deduktion
und Systematik solcher, wenn man so sagen darf transzendental-
kunstwissenschaftlicher, Kategorien unternehmen will, sondern rein
kritisch den Begriff des Kunstwollens gegen irrige Auslegungen sichern
möchte, um die methodologischen Voraussetzungen einer auf seine
Erfassung gerichteten Tätigkeit klarzustellen i), kann nicht beabsichtigen,
Inhalt und Bedeutung derartiger Grundbegriffe des künstlerischen
Anschauens über diese Andeutungen hinaus zu verfolgen; immerhin
werden dieselben die Richtung bezeichnen können, in der sich eine
derartige systematische Untersuchung zu bewegen haben würde. Nur
das eine darf bemerkt werden, daß, soweit wir sehen, bisher (von den
unmittelbar durch ihn beeinflußten Forschern abgesehen) wiederum
Alois Riegl derjenige ist, der bei der Aufstellung und Anwendung von
Grundbegriffen der vorbezeichneten Bedeutung am weitesten gekom-
') Verfasser hofft jedoch, bei — vielleicht sehr viel — späterer Gelegenheit
auf das hier angeschnittene Thema zurückzukommen.
334 ERWIN PANOFSKY.
men sein dürfte: wie der Begriff des Kunstwollens selbst von ihm
geschaffen wurde, so hat er auch bereits Kategorien entdeci<t, die zur
Erfassung desselben in hohem Maße geeignet sind '). Zielen schon
seine Begriffe »optisch« und »taktisch« (in besserer Form: »haptisch«)
trotz ihrerallerdings noch psychologisch-empiristischen Formulierung dem
Sinne nach bereits durchaus nicht mehr auf die Gewinnung genetischer
Erklärungen oder phänomenaler Subsumptionen, sondern auf die Klar-
stellung eines den künstlerischen Erscheinungen immanenten Sinnes,
den er durch die Beziehung auf zwei grundsätzliche Möglichkeiten
des äußerlich anschauenden Verhaltens von Fall zu Fall charakte-
risieren zu können glaubte (Wölfflin wird daher den genannten Be-
griff spaaren nicht gerecht, wenn er sie, die doch die Begriffe »pla-
stisch« und »malerisch« fundieren wollen, nur als neue Termini für
diese selben Begriffe bezeichnet^)), so ist das später entwickelte Be-
griffspaar »objektivistisch« und »subjektivistisch« als Ausdruck für die
mögliche geistige Einstellung des künstlerischen Ich dem künstle-
rischen Gegenstand gegenüber, zweifellos dasjenige, das einer kate-
gorialen Geltung in dem oben gekennzeichneten Sinn bis jetzt weitaus
am nächsten zu kommen scheint. Die Schrift, in der Riegl diese
Begriffe des Objektivismus und des Subjektiv'smus entwickelt und
zuerst zur Anwendung gebracht hat, die Arbeit über das holländische
Gruppenporträt ^), zeigt an der Behandlung eines ganz bestimmten
künstlerischen Problems, mit welcher Eindringlichkeit und Elastizität
schon mit Hilfe dieser Begriffe der immanente Sinn der Kunsterschei-
nungen — von einem national und epochal begrenzten Gesamtphä-
nomen bis zu dem einzelnen Kunstwerk eines bestimmten holländischen
Malers — aufgefaßt und klargestellt werden kann *). Damit soll selbst-
') Die Begriffsbildung August Schmarsows ist ebenso wie die des ihm nahe-
stehenden Oskar Wulff trotz mannigfacher Berührung mit Riegischen Gedanken-
gängen im Grunde noch wesentlich psychologisch-ästhetisch orientiert.
2) Rep. XXXI, p. 356 f. Eine Fundierung der bisher wegen ihrer methodo-
logischen Vieldeutigkeit nur mit mancherlei Gefahren verwendbaren Begriffe des
Plastischen und Malerischen ist neuerdings auch durch B. Schweitzer, Zeitschrift
für Äsihetik usw. XIII, S. 259 ff. versucht worden.
') Jahrb. d. Kunstsamml. des Allerhöchsten Kaiserhauses XXIU, S. 71 ff. Die
erwähnten Begriffe spielen auch in den posthumen Veröffentlichungen Riegischer
Kolleg-Notizen (Filippo Baldinuccis Vita des Oio. Lorenzo Bernini mit Übers, u.
Komm, von Alois Riegl, ed. Burda und Pollak, 1912, und Die Entstehung der Barock-
kunst in Rom, 1908) eine bedeutende Rolle, während die frühere Arbeit über die
spätrömische Kunstindustiie nur erst mit den Begriffen optisch und taktisch operiert.
') Mit diesen Ausführungen will ich natürlich nicht bestreiten, daß sich
die Kunstbetrachtung nicht auch ohne Deduktion und Gebrauch apriorischer oder
wenigstens a priori fundierbarer Grundbegriffe, gewissermaßen ohne methodische
Bewußtheit, mit Glück um die Erfassung eines dem Kunstwerk immanenten Sinnes
DER BEGRIFF DES KUNSTWOLLENS. 335
verständlich nicht behauptet werden, daß nicht auch diese Begriffe
einer weiteren Deduktion fähig und bedürftig wären, und noch weniger,
daß sie bereits ohne weiteres alle künstlerischen Erscheinungen er-
schöpfend zu charakterisieren vermöchten. Die durch die beiden Pole
»Objektivismus« und »Subjektivismus« bezeichnete Linie bildet vielmehr
nur eine gleichsam eindimensionale Achse, auf der durchaus nicht alle
Punkte einer Ebne liegen können; die anderen lassen sich von dieser
Achse aus nur negativ bestimmen, indem man sie als außerhalb
ihrer liegende anerkennt und sich mit der bescheidenen Feststellung
begnügt, an welcher Stelle dieses »außerhalb« von Fall zu Fall
anzunehmen ist: die Kunst des Mittelalters, Rembrandts, Michelangelos
wird man z. B. nur dadurch kennzeichnen können, daß man ihre — je-
weils besondere — Stellung außerhalb der Linie Objektivismus-Sub-
jektivismus zu qualifizieren sucht.
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß eine derartige, sinngeschicht-
lich eingestellte Kunstwissenschaft die künstlerischen Objekte »auf be-
stimmte, von vornherein festgelegte Begriffe abhören« muß; aber es
ist keineswegs notwendig, daß sie deswegen, wie man befürchtet hat,
dazu führen müßte, »die Kunstgeschichte rein nur als Problem-
geschichte zu behandeln» '). Eine Methode, wie Riegl sie inauguriert
hat, tritt — richtig verstanden — der rein historischen, auf die Er-
kenntnis und Analyse wertvoller Einzelphänomene und ihrer Zusammen-
hänge gerichteten Kunstgeschichtsschreibung ebensowenig zu nahe,
wie etwa die Erkenntnistheorie der Philosophiegeschichte: die »Not-
wendigkeit«, die auch sie in einem bestimmten historischen Prozesse
feststellt, besteht ja — vorausgesetzt, daß der Begriff des Kunstwollens
methodologisch berichtigt ist — nicht darin, daß zwischen mehreren
zeitlich aufeinander folgenden Einzelerscheinungen ein kausales Ab-
habe bemühen können (wie umgekehrt auch die noch so methodisch auf Erforschung
dieses Sinnes gerichtete Darstellung wohl nie der Gefahr entgeht, gelegentlich,
mindestens in der Ausdrucksweise, ins Psychologische oder Historische abzugleiten):
auch bevor Kant die kategoriale Bedeutung des Kausalitätsbegriffes erkannte, sind
die tiefgehenden Wesensunterschiede der Urteilsarten gefühlt und mehr oder minder
deutlich ausgesprochen worden; nur wird solchen Untersuchungen stets die Sicher-
heit fehlen, mit der es das Phänomenale, historisch oder psychologisch Genetische
vom Sinnhaften zu unterscheiden gilt. So bietet z. B. eines der schönsten Bücher
in deutscher Sprache, Vöges »Anfänge des monumentalen Stils«, in dem der Wesens-
unterschied zwischen gotischem und romanischem Kunstwollen exemplarisch dar-
gestellt wird, dadurch dem Angriff eine Blöße, daß der Verfasser, nicht geneigt,
es bei der vorbildlichen Sinninterpretation seiner Beispiele bewenden zu lassen,
zwischen ihnen zum Teil auch historisch-genetische Zusammenhänge konstruiert,
die der Kritik nicht standgehalten haben.
') Ernst Heidrich, Beiträge zur Geschichte und Methode der Kunstgeschichte,
1917, S. 87.
336 ERWIN PANOFSKY.
hängigkeitsverhältnis konstatiert würde, sondern darin, daß innerhalb
ihrer, als in einem künstlerischen Oesamtphänomen, ein einheitlicher
Sinn erschlossen wird. Nicht die genetische Begründung des Tat-
sachenablaufs als einer notwendigen Aufeinanderfolge so und so vieler
einzelner Begebenheiten, sondern die sinngeschichtliche Deutung
desselben als einer ideellen Einheit zu unternehmen, ist die Absicht ').
Und wenn hier einer derartigen »transzendental-kunstwissenschaftlichen«
Betrachtungsweise das Wort geredet wird, so geschieht das keines-
wegs, um sie etwa an Stelle der rein historisch vorgehenden Kunst-
geschichtsschreibung anzupreisen, sondern nur um ihr ein Vorzugs-
recht auf den Platz an ihrer Seite zu vindizieren: es soll ledig-
lich gezeigt werden, daß die »sinngeschichtliche« Methode — weit
entfernt, die rein historische Arbeit verdrängen zu wollen — die
einzig berufene ist, sie zu ergänzen, berufener jedenfalls als die
psychologisierenden Überlegungen, die, das geschichtliche Bild nur
scheinbar vertiefend, in Wahrheit Künstler und Kunst, Subjekt und
Objekt, Wirklichkeit und Idee miteinander vermengen.
III.
Das Kunstwollen, so wie wir es vom Wollen des Künstlers wie
vom Wollen seiner Zeit unterscheiden mußten, findet also in der das
Kunstwerk literarisch (oder auch durch anschauliche Wiedergabe)
interpretierenden Überlieferung keineswegs seine ohne weiteres an-
nehmbare, das Phänomen direkt erklärende Formulierung, sondern
kann nur von apriorischen Kategorien aus durch eine Ausdeutung der
Phänomene erfaßt werden; dennoch ist jene Überlieferung, wie wir
sie unter dem Namen der »Dokumente« zusammenfassen können, als
heuristisches Hilfsmittel bei einer derartigen Sinndeutung von höch-
stem Wert, ja oftmals unentbehrlich: nicht zwar als unmittelbarer
Hinweis auf den Sinn selbst, wohl aber als Quelle derjenigen Ein-
sichten, ohne die die Erfassung desselben oft genug unmöglich ist. —
Wenn das erkenntnistheoretische Wesen des in einem sprach-
') Wo Riegl und seine Nachfolger ein Anderes, d. h. eine wirkliche kausale
Begründung bestimmter historischer Abläufe anzustreben scheinen, handelt es sich
um eine terminologische Unvollkommenheit, die damit zusammenhängt, daß Riegl
— wie schon bemerkt — sowohl das Kunstwollen, als die von ihm zu seiner Er-
fassung geschaffenen Begriffe noch vielfach psychologistisch auffaßte (wie denn z. B.
die von ihm eingeführten Begriffe »nahsichtig« und »fernsichtig«, vor allem in
bezug auf Rembrandts Kunst gebraucht, geradezu bedenklich sind): infolge seiner
eigenen historischen Stellung konnte er selbst sozusagen noch nicht vollkommen
erkennen, daß er eine die bisherige rein genetische Methode weit hinter sich
lassende Transzendentalphilosophie der Kunst begründet hatte.
I
DER BEGRIFF DES KUNSTWOLLENS. 337
lieh formulierten und textmäßig überlieferten Satze Ausgesagten er-
mittelt werden soll, so ist hierfür die erste Voraussetzung, daß das
in ihm Ausgesagte selbst, der positive Inhalt des Satzes, richtig
verstanden worden sei. Dieses Verständnis kann aber durch man-
cherlei Umstände getrübt oder verhindert werden, die sich ebenso
als objektive wie als subjektive darstellen können: durch einen
Druck- oder Schreibfehler oder durch eine nachträgliche Korrektur
kann der ursprüngliche Wortlaut des Satzes an und für sich entstellt
worden sein; ein darin vorkommender Ausdruck kann (gerade, wenn
es sich um einen alten Text handeH) seine Bedeutung gewechselt
haben; und endlich kann ein Lese- oder Gedächtnisfehler des auf-
nehmenden Subjektes die richtige Erfassung des Satzinhaltes unmög-
lich machen. Genau entsprechend muß auch das Kunstwerk, dessen
immanenten Sinn es zu erkennen gilt, zunächst in der sachlichen und
formalen Bedeutung seiner diesen Sinn in sich tragenden phänome-
nalen Erscheinung verstanden worden sein, und genau entsprechend
können sich auch hier einem solchen Verständnis Hindernisse in den
Weg legen; ja die Umstände, die solche Hindernisse zu bilden ver-
mögen, sind sogar den vorhin angedeuteten insofern völlig analog,
als die richtige Auffassung des künstlerischen Denkmals, genau so
wie die des sprachlichen Textes, durch die gleiche Dreiheit von Irr-
tümern oder Täuschungen gestört werden kann: durch Irrtümer über
die ursprüngliche Beschaffenheit des Objektes, wenn sach-
liche Veränderungen desselben vorgekommen sind, durch Irrtümer
über die ursprüngliche Wirkung des Objektes, wenn ein Wechsel
in der allgemeinen Kunstanschauung eingetreten ist, und endlich durch
Irrtümer über die gegenwärtige Beschaffenheit des Objektes,
wenn es durch Zufall hinsichtlich seiner positiven Daten verkannt
wurde. Wie der sprachliche Text durch fehlerhafte Wiedergabe oder
nachträgliche Korrektur seines ursprünglichen Inhaltes verlustig ge-
gangen sein kann, so kann auch das Kunstwerk durch irgendwelche
aus ihm selbst nicht mehr erkennbare spätere Veränderungen (Um-
bau, Übermalung, inadäquate Ergänzung) seine objektive Erscheinung
einbüßen; wie eine bestimmte Vokabel durch eine Wandlung des
Sprachgebrauches ihre Bedeutung gewechselt und dadurch den ganzen
Tenor des sprachlichen Satzes verändert haben kann, so kann auch
innerhalb des künstlerischen Gesamtorganismus irgendeine Einzelheit
(man denke z. B. an ein plastisches Monument, das an einer bestimmten
Stelle ursprünglich als dekorative Skulptur mit einem Gebäude zu-
sammenbezogen wurde, heute aber als selbständiges Mal aufgefaßt
wird) in der Gegenwart völlig anders als in der Vergangenheit ge-
deutet werden und dadurch die formale Wirkung des Ganzen für uns
Zeittchr. f. Ästhetik u. ailg. Kunstwissenschaft. XIV. 22
338 ERWIN PANOFSKY.
mißverständlich maciien; und wie endlich das Textverständnis durch
einen subjel<tiven Lese- oder Oedächtnisfehler unmöglich werden kann,
so kann auch das Verständnis eines künstlerischen Phänomens durch
einen materiellen Irrtum über seine Maße, seine Farbe, seine stoffliche
Bedeutung oder seine Zweckbestimmung in Frage gestellt oder gänz-
lich verhindert werden. Und hier nun ist die Stelle, wo auch die
auf Erkenntnis des immanenten Sinnes ausgehende Bemühung der
Hilfe der »Dokumente« bedarf, um zunächst das rein phänomenale
Verständnis der gegebenen künstlerischen Erscheinung sicherzustellen:
die Dokumente, seien es nun urkundliche Belege, kunstkritische
Würdigungen, kunsttheoretische Erörterungen oder endlich bildmäßige
Wiedergaben, vermögen jene objektiven und subjektiven Täuschungen
zu berichtigen, und zwar ist diese ihre berichtigende Funktion, wie
ohne weiteres ersichtlich wird, von dreierlei Art: das Dokument berichtigt
erstens rekonstruktiv, wenn es durch urkundliche Beglaubigung
oder bildmäßige Überlieferung einen verlorenen ursprünglichen Zustand
des zu betrachtenden Kunstwerkes wieder herzustellen ermöglicht —
zweitens exegetisch, wenn es durch Kundgabe einer bestimmten
ästhetischen Auffassung (äußere sie sich nun in irgendwelchen kriti-
schen oder theoretischen Formen oder etwa iii Gestalt einer das
Objekt im Sinne eines bestimmten künstlerischen Eindrucks wieder-
gebenden Darstellung) den Beweis dafür erbringt, daß ein Bedeutungs-
wechsel der Formkomponenten die Wirkung des Kunstwerks auf uns
Heutige verändert hat — und endlich korrektiv, wenn es uns durch
Hinweise irgendwelcher Art, die wiederum sowohl in schriftlichen
Bemerkungen als in bildlicher Wiedergabe bestehen können, dazu ver-
anlaßt, eine irrige Ansicht über die positiven Daten zu rektifizieren,
die die Erscheinung des Kunstwerks als solche bestimmen. Hinzu-
zufügen wäre nur das eine, daß die rekonstruktive oder korrek-
tive Berichtigung einer künstlerischen Vorstellung stets ohne weiteres
auch deren exegetische Berichtigung in sich schließt, da die Be-
seitigung eines Irrtums über die tatsächliche Beschaffenheit
des Kunstwerkes naturgemäß auch eine Berichtigung seines Ein-
drucks bedingen muß.
In allen diesen Fällen aber sichern, um es zum Schluß noch ein-
mal zu sagen, die Dokumente, mögen sie nun rekonstruktiv, exegetisch
oder korrektiv berichtigend wirken, nur die Voraussetzung zur Er-
kenntnis des Kunstwollens, nämlich das phänomenale Verständnis der
künstlerischen Erscheinungen; sie ersparen uns nicht das Bemühen
um die unter die Sphäre der Erscheinungen hinuntergreifende Er-
kenntnis des Kunstwollens selbst, wie es — in Gestalt eines den
Phänomenen immanenten Sinnes — nur von a priori deduzierten Grund-
^
DER BEGRIFF DES .KUNSTWOLLENS.
339
begriffen aus erfaßt zu werden vermag. Daß aber die Kunstwissen-
schaft — im Gegensatz zur Geschichte der Handlungen — nicht nur
die Aufgabe, sondern auch die Möglichkeit hat, zu solchen Grund-
begriffen vorzuschreiten, das darf (und dadurch erscheint ihr Ver-
gleich mit der Erkenntnistheorie ex post gerechtfertigt) von vornherein
als ausgemacht erscheinen: die Kunst ist nicht, wie eine den Wider-
spruch gegen die Imitationstheorie überspannende Ansicht heute viel-
fach glauben machen will, eine subjektive Gefühlsäußerung oder
Daseinsbetätigung bestimmter Individuen, sondern die auf gültige Er-
gebnisse abzielende, verwirklichende und objektivierende Auseinander-
setzung einer formenden Kraft mit einem zu bewältigenden Stoff.
I
■
XII.
Der Bau der Gedichte Hölderlins.
Von
Karl Victor.
In der sogenannten Stiluntersuchung hat die moderne Literatur-
wissenschaft eine komplizierte Methode ausgebildet, mit der sie den
sprachlichen Träger der Dichtung zu analysieren und zu bestimmen
sucht. Die Zahl derartiger Untersuchungen ist Legion, aber man kann
nicht sagen, daß ihre Ergebnisse die Wissenschaft dem Ziele wesent-
lich näher gebracht hätten, das sie heute mehr und mehr lockt: der
Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen dem, was man dichterische
Form und was man Inhalt der Dichtung nennt. Diese nur be-
grifflich herzustellende Trennung wird vom Betrachter zu gern in das
Wesen des Kunstwerks selbst verlegt, dadurch arbeitet die ganze
Untersuchung unter einer grundfalschen Voraussetzung, und die Er-
gebnisse sind nichts weiter als Teilergebnisse, die man, unkundig des
geistigen Bandes, in ratloser Hand hält. Manche derartige Unter-
suchung begnügt sich gar mit der bloßen Feststellung von Eigen-
tümlichkeiten der Dichtung, ohne diese Vorarbeit erst sinnvoll zu
machen durch den weiteren Schritt, der zu der Frage führen würde:
was sagt diese Beobachtung aus über die besondere Beschaffenheit
der betrachteten Dichtung, was über das individuelle Wesen der dichte-
rischen Persönlichkeit, aus deren schöpferischer Totalität sie floß? Es
muß verlangt werden, daß diese Art feststellender Analyse aufge-
geben wird zugunsten einer neuen Art, die sich ihren Stoffkreis viel-
leicht kleiner zieht, aber dann nicht an der Peripherie bleibt, sondern
es unternimmt, zum Zentrum des betreffenden Kunstwerks, endlich
in das der Persönlichkeit seines Schöpfers vorzudringen.
Das kann aber nur gelingen, wenn die Bedingungen der sogenannten
dichterischen Form aus dem sogenannten Gehalt abgeleitet werden,
und wiederum der Zusammenhang zwischen dem wechselnden Kunst-
werk und der konstanten künstlerischen Individualität des Dichters
hergestellt wird. Der Weg des analytischen Verfahrens geht dabei von
Außen nach Innen: aus den Einzelbeobachtungen an den Trägern der
dichterischen Idee ergeben sich Aufschlüsse, die in synthetischer Ver-
1
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS.
341
bindung mit einer Darlegung des ideellen Gehalts das Bild der dichte-
rischen Persönlichkeit zu gestalten gestatten. Über die Methode kann
man dabei verschiedener Meinung sein; nicht aber darüber, daß nur
dieser Weg und nicht der über das biographische Material zum Zentrum
der dichterischen Persönlichkeit führt.
Daß selbst die Untersuchung eines einzelnen Trägers des Kunst-
werks solche Ergebnisse haben kann, will der folgende Aufsatz zeigen,
der wenigstens in der Themastellung etwas Neues bringen wird. Die
Untersuchung ist einer zusammenhängenden Arbeit über das gesamte
lyrische Werk Hölderlins entnommen, in der die Erforschung des Baus
der Gedichte nur einer der Schnitte ist, welche durch den Organismus
des Kunstwerks gelegt wurden. War die Sonde richtig angesetzt,
so muß dieser Schnitt, wie die andern, durch die Mitte des kom-
plexen Kunstwerks laufen und in seinem Ergebnis von den andern
Schnitten bestätigt werden. Wiedergegeben ist hier nur der Teil der
Untersuchung, welcher die breite Masse der reimlosen Gedichte aus
Hölderlins fruchtbarsten Jahren zum Gegenstand hat. Die Hymnen in
freien Strophen (bekannter unter dem willkürlichen Namen »Nacht-
gesänge >) konnten ausgeschieden werden, weil ihr Bau sich nur als
jeweils verschiedener, dithyrambischer Tanz bestimmen läßt.
Die ersten Gedichte Hölderlins in antiken Strophenformen zeigen
gegenüber den bis dahin von ihm gepflegten Reimgedichten, den klassi-
zistischen Hymnen und Elegien, außer der metrischen Verschieden-
heit und den sich daraus ergebenden Umbildungen des sprachlichen
Materials, auch einen ganz neuen Bau. Die veränderte Einstellung
des Dichters, der jetzt nicht mehr der poetische Ausmaler einer enthu-
siastisch erfaßten, aber abstrakten Idee ist; sondern ein von höchst-
persönlichen Erlebnissen Bewegter und die umgebende Welt sinnlich
Erfassender, läßt jede Wendung, die den Ablauf des Gedichtes be-
stimmt, aus einem als unmittelbar gegenwärtig geschilderten Vorgang
und der Reaktion des Dichters darauf entstehen. Da ergibt sich gleich
bei den ersten Gedichten dieser neuen Art die bis dahin ungewöhn-
liche Erscheinung: daß der Ablauf sich in der Folge von Thema,
Gegenthema und einer Synthese beider vollzieht. Die Ode »Der
Sonnengott« (17Q7) z. B. zeigt diese Struktur: Geschildert wird rück-
blickend (Perfekt) der Untergang der Sonne; das Gegenthema wird
herangeführt durch Apostrophierung der Erde (Präsens) aus dem Ge-
meinschaftsgefühl heraus, das den Dichter mit ihr verbindet. (V. Q.
Dich lieb ich Erde . . .); und die Vereinigung beider wird vollzogen
durch die Aussicht, daß der gemeinsame Geliebte, der Sonnengott,
342 KARL VIKTOR.
wiederkehren werde. Der hier zuerst faßbare dreiteilige Aufbau ist in
größeren Gedichten dieser Zeit ebensowohl festzustellen, wenn er hier
auch nicht so klar herauskommt; z. B. der Mensch (1798): I. Thema 1
bis 17: epische Erzählung der Schöpfung (Imperfekt). II. Oegen-
thema 17 — 36: Verhältnis des Menschen zur Natur (gnomisches Präsens,
erklärend: denn, V. 18, 20)
1. 17—24: Lust und Trauer sind in ihm vereint;
2. 25—36: folgernd (darum, V. 25), daher seine Unrast.
III. Verbindung 37—48: begründende Definition.
Wesen des Menschen: selig-unsehg.
Logisch-antithetische Konjunktionen leiten stets weiter; jeder Kon-
statierung folgt ein begründendes >denn« (V. 18, 20, 37), »darum«
(V. 25), oder ein antithetisches »doch« (V. 32, 46). Ganz deutlich ist
der dreiteilige Bau ausgebildet in den kurzen Gedankengedichten,
welche die Hauptmasse der Lyrik dieser Periode ausmachen. Das
Gedicht Vanini (17Q8) z. B. stellt sich in seinem Bau so dar:
1 — 3 Historische These (Ausruf, entrüstete Feststellung, dann im-
perfektischer Bericht),
4 — 8 Frage nach den Gründen dieser historischen Tatsache,
Q — 12 Antwort, gnomisches Präsens: rechtfertigende Erklärung
(»doch«, aufgenommen durch »wie du«).
Hier trägt die Aufeinanderfolge der beiden Themen schon deut-
lich antithetischen Charakter: erschütternde Tatsache— erstaunte
Frage, Reaktion; und die Lösung ist eine Synthese, deren Inhalt eine
Resignation ist: Gutes und Böses ist vereint im Frieden der Natur.
In manchen Gedichten geht diese dreigeteilte Struktur bis in den ein-
zelnen Vers hinunter; »Sokrates und Alcibiades« z. B. gliedert sich
äußerlich als dialogischer Monolog (Präsens) in Frage und Antwort
(je eine Strophe), und in der diesmal ohne Konjunktionen vorgenom-
menen Entgegenstellung scheint sich das äußere Bild zu erschöpfen.
Aber über jeder antithetischen Setzung schwebt eine im sprachlichen
Material nicht ausgedrückte, geistige Synthese.
Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste,
Hohe Tugend versteht, wer in die Welt geblickt,
Und es neigen die Weisen
Oft am Ende zu Schönem sich.
Tiefstes-Lebendigstes, Tugend-Welt, Weisheit- Schönheit werden
hier durch die vorausgegangene Strophe, die diese Sentenz zu einer
Erfahrung des Sokrates macht, verbunden in drei Einheiten, deren Ge-
meinsames sich abstrakt etwa so sagen ließe: das Zentrum will zur
Peripherie, zum Zentrum kommt, wer in der Peripherie war (Tugend-
I
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS. 343
Tiefstes: Zentrum, Lebendiges-Welt: Peripherie). Eine ähnliche letzte
Verfeinerung des logischen Baus in der Strophe »Der gute Glaube«
(1798):
Schönes Leben! du liegst krank und das Herz ist mir
Müd vom Weinen, und schon dämmert die Furcht in mir;
Doch, doch kann ich nicht glauben,
Daß du sterbest, so lang du liebst.
Auf den Bericht des Befundes antwortet die schmerzliche Emp-
findung des Dichters, die mit einer heftig erzwungenen Synthese
(doch, doch) überwunden wird. Wo die Antithese eine polemische
Bedeutung hat, tritt sie nicht gern dogmatisch auf, sondern ist meist
eingeschränkt durch ein »vielleicht« oder »bald< (An die jungen Dich-
ter) ; oder ist statt in schroffe Verneinung, in Frageform gebracht (An
die Deutschen). Eine derartige Vorsicht ist charakteristisch für Ge-
dichte, die, wie das schon in dem an die zweite Person der Mehrzahl
gerichteten Aufruf liegt, aus dem persönlichen Bezirk heraustreten und
die sich an die menschliche Gemeinschaft wenden. Auch wo er
schroff-polemisch gegen die Umwelt empfindet, schränkt Hölderlin seine
Worte aus Demut und Verantwortlichkeit ein.
In Gedichten, die Formungen von Ich-bezüglichen Erlebnissen
sind, vollzieht sich der Ablauf dagegen völlig in dem dreigeteilten
Rhythmus von Thesis-Antithesis-Synthesis; Lebenslauf (17Q8):
Thesis: Hochauf strebte mein Geist,
Antithesis: aber die Liebe zog
Bald ihn nieder; das Leid beugt ihn gewaltiger;
Synthesi's: So durchlauf ich des Lebens
Bogen und kehre, woher ich kam.
Aus der Feststellung der Vergangenheit (Imperfekt) und der
Gegenwart (Präsens) ergibt sich eine beide vereinende Erkenntnis, die
das Gestern, das Heute und auch das Morgen zu einem ungeteilten
Organismus verbindet und damit »sich ins rechte denkt«. Die Art,
wie die Wendungen eingeführt sind, entspricht meist derjenigen der
formalistischen Logik, und geschieht durch »doch« und »aber«. Diese
logisch-gegensätzliche Anknüpfung wird zuweilen auch da benutzt,
wo inhaltlich nur eine Steigerung vorliegt; Ehmals und jetzt (17Q8):
In Jüngern Tagen war ich des Morgens froh.
Des Abends weint ich; jetzt, da ich älter bin,
Beginn' ich zweifelnd meinen Tag, doch
Heilig und Heiter ist mir sein Ende.
Die Synthesis beginnt eigentlich schon mit »jetzt«, und an Stelle
des »doch« erwartet man ein »und«. Umgekehrt »Ihre Genesung«,
1: Deine Freundin, Natur! leidet und schläft, und du Allbelebende
säumst? ... Hier steht ein einfaches parataktisches »und«, wo dem
344 KARL VIETOR.
Sinne nach eine antithetische Wendung einsetzt, die nach dem ge-
wöhnlichen Gebrauch durch ein »doch« eingeleitet sein müßte. Ebenso
»Abbitte«:
O vergiß es, vergib ! gleich dem Oewölke dort
Vor dem friedliciien Mond geh' ich dahin^und du
Ruhst und glänzest in deiner
Schöne wieder, du süßes Licht!
Hier ist alles schon positiv genommen, auch die Antithesis; daher
knüpft die Auflösung ruhig mit »und« an >). Aber trotz solcher Ver-
schiebungen im Ablauf bleibt der Dreischritt auch da unverkennbar,
wo logische Ausgleichungen stattfinden und jede konjunktionale An-
knüpfung vermieden wird; z.B. »Die Heimat« (1798):
Thesis: 1. und 2: Bild,
Antithesis: 3. Ich- Wendung: Gleichheit mit dem Bild, 4. Un-
gleichheit damit,
Synth esis: Str. 2 Doppelfrage nach der Möglichkeit des Aus-
gleichs der Ungleichheit.
Sehr fein ist hier der Gang: Wendung von Außen nach Innen:
Außen ist Glück und Heiterkeit, Innen Leid, also zurück nach Außen.
Aber die Hoffnung ist nicht fest, sondern zage, die Lösung nicht
positiv, sondern zweifelnd. So offenbart sich im Gange des Gedichts
erschütternd der tiefste Konflikt des Dichters. Oft ist die Synthesis
schwankend und zweifelnd, während sie ganz aufrecht und positiv
gelingt, wo es sich nicht um Zuversicht für die Lösung der eigenen,
sondern fremder Zerrissenheit handelt (Diotima, ed. Böhm II, 150).
Vereinzelt wird der gewohnte Ablauf auch verkehrt, ohne daß dabei
der typische dreiteilige Bau verloren ginge. In dem Gedicht »An ihren
Genius« {17Q8) ist die Thesis in die Antithesis hineinverarbeitet und
erscheint erst in der zweiten Hälfte des Gedichts. Der logische Gang
ist so:
T. : Diotima lebt in einer fremden, unverständigen Umwelt.
A.: Bitte an ihren Genius, mit seinen Gaben sie darüber hinwegzubringen.
S. : Bis sie im jenseits mit den Ihren vereint sein wird.
Der tatsächliche Gang des Gedichtes ist aber:
A.: Bitte an den Genius.
T.: Denn Diotima lebt in einer fremden Welt.
S.: Bis sie im Jenseits . . .
Dieser dreiteilige Bau wird mehr und mehr zu einem Charakte-
ristikum der Hölderlinschen Gedichte. Am klarsten ist er zu erkennen
') Ein ähnlicher Gebrauch : Menons Klage 45, An Eduard 9, Brot und Wein 46,
121, Empedokles 1.
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS. 345
in denjenigen Oden der Jaiire 17QQ,1800, die den Ciiarakter intimer
lyrischer Dichtung haben; so z. B. in »Des Morgens«:
Thesis (Str. 1 und 2): die Natur als etwas unbeirrt Voran-
eiiendes.
Antithesis (Str. 3 und 4): dagegen die Gebundenheit des
Dichters.
Synthesis: der erste Versuch ihrer Herstellung (V. 9 ff.) durch
die Bitte an die bewegte Natur, verweilend sich der mensch-
lichen Determiniertheit anzupassen, erscheint als abgewiesen
durch den unbeirrten Fortgang des Naturereignisses (aber,
V. 15). Die Beruhigung gelingt endlich (V. 16—20) durch
eine Art Selbstironie und Bescheidung auf menschliches Tun,
wozu denn die Natur helfen mag.
Den gleichen Ablauf hat das Kontrastgedicht, die »Abendphantasie«,
wo nach einer die Ruhe der Natur malenden Einleitung die Wendung
zum Subjekt das ruhelose Ich einführt (»aber«, versteckt V. Q), welches
sich endlich durch Erkenntnis seiner Beschränkung zu einer, wenn
auch stark resignierenden, Synthese durchfindet. Diese Beruhigung
gelingt auch erst nach zweimaligem Ansatz: der Versuch einer Lösung
des Kontrastes durch geistiges Aufgehen in der Natur scheint von ihr
selbst zurückgewiesen zu werden, und so muß der Schlaf als gegen-
wärtige, und das friedliche Alter als zukünftige, irdische Lösung gelten').
Scharf prägt sich in diesen beiden Oden die kontradiktorische
Entgegensetzung des menschlichen Geistes gegen die außer ihm
seiende Natur aus. Und die Art der Synthese offenbart, wie in dem
Gedicht »Der Zeitgeist«, wieder den demütigen Sinn des Dichters:
Thesis (Str. 1 und 2): der Dichter bricht unter der Macht des
Zeitgeistes zusammen.
Antithesis (Str. 3): sonst tat ihm derselbe Gott nur Gutes, so
möge er auch diese Erschütterung zum Segen wenden.
Synthese (Str. 4 und 5): Überwindung der Furcht durch Er-
kenntnis und Lobpreis des Geistes; er ist nicht brutal, son-
dern stark.
Der Inhalt dieses zunächst formal deutlichen Dreischritts ist, wenn
auch im wesentlichen auf das konkrete Erlebnis: Idyll in der Natur,
Ruhelosigkeit des Ich, Beruhigung durch Bescheidung zu reduzieren,
nicht eindeutig formulierbar. Der Geist erlebt sich als gegensätzlich
zur Natur, empfindet aber In diesem antithetischen Prozeß zugleich
schon eine Bewegung auf die Synthese hin, und muß diesem Triebe
') Eine ähnliche Bescheidung auf eine irdische Lösung ist »Unter den Alpen
gesungen«.
346 KARL VIETOR.
folgen, so oft er sich dichterisch ausspricht. In dem kleinen Gedicht,
>Die Entschlafenen« ist diese Bewegung besonders deutlich; das hier
zugrunde liegende Erlebnis sieht etwa so aus: der Dichter lebt im
Liebesverband der Seinen, aber der Tod entreißt sie ihm. Doch im
treuen Gedenken des überlebenden Dichters ist ihnen eine irdische,
und in der Seligkeit eine himmlische Unsterblichkeit gesichert.
Einen vergänglichen Tag lebt' ich und wuchs mit den Meinen,
Eins ums andere schon schläft mir und fliehet dahin.
Doch, ihr Schlafenden, wacht am Herzen mir, in verwandter
Seele ruhet von euch mir das entfliehende Bild.
Und lebendiger lebt ihr dort, wo des göttlichen Geistes
Freude die Ahemden all, alle die Toten verjüngt.
Der ganz knapp gegebenen antithetischen Themastellung folgt,
da hierauf der Nachdruck des Gedichtes ruht, eine breitere Ausmalung
der Synthese. Wie hier, erscheint die Erfüllung immer mehr in der
Zukunft zu liegen (z. B. auch in »Ermunterung«). Gelingt sie schon
gegenwärtig, so wird fast stets eine Resignation daraus i); und sie
klingt nur heiter und hell, wo sie auf ein bürgerlich-behagliches Da-
sein beschränkt bleibt (epischer Einschlag) ^). Das Problem der Schuld
an dem allesentzweienden Zwiespalt zwischen Geist und Materie, die
doch ihrem Wesen und Ursprung nach eine Einheit sind, bleibt für
Hölderlin eine quälende Unbegreiflichkeit. Aber niemals erscheint an
Stelle der noch so resignierenden Synthese ein Wort der Empörung
oder Anklage. Auch wo er nicht begreift, beugt sich der Dichter dem
göttlichen Walten').
So sehr ist Hölderlin in diesem stets gleichartigen Ich-Erlebnis
befangen, daß sich selbst in einem Widmungsgedicht (An die Prin-
zessin Auguste von Homburg) die gewohnte antithetische Einstellung
findet^). Ein den besonderen Zwecken der Ode entsprechender Ein-
gang und ein galanter Schluß umrahmen den Dreischritt, der über die
Antithese zwischen dem geheimnisvoll gärenden Zeitalter und der
Beschränktheit des Dichters hinführt zu einer Synthese in der Be-
hauptung seiner Würde als eines, dem ein Gott die Sprache gab.
Dabei sind Eingang und Schluß aber organisch mit dem Hauptteil
verbunden; ersterer durch konjunktionale Anschließung mit einem vage
antithetischen »doch« (V. 9), das aber erst in die Thesis führt; der
Schluß durch Weiterführung des synthetischen Gedankens vom Be-
sondern zum Allgemeinen.
') Z. B. »Rückkehr in die Heimat«.
2) Der Winter.
') Vgl. auch »An Eduard«.
*) Der Dichter schließt die Ode mit einem Wunsche für sich selbst, nicht
etwa für die Prinzessin, der ja die Vollkommenheit zugeteilt wird.
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS. 347
Die Weiterleitung von einer Stufe zur andern geschieht auch sonst,
wie schon früher, meist durch Konjunktionen, durch >aber, doch,
denn«. Letzteres wird vor allem auch — und dieser Gebrauch ist
geradezu ein besonderes Charakteristikum der gedanklichen Abwick-
lung in Hölderlins Gedichten — zur Überleitung vom Bedingten
zum Unbedingten, vom Anekdotischen zum Gnomischen benutzt, etwa
wie in der Ode »An die Fürstin von Dessau«:
»O theuer warst du, Priesterin! da Du dort
Im Stillen göttlich Feuer behütetest;
Doch theurer heute, da du Zeilen
Unter den Zeitlichen segnend feierst.
Denn wo die Reinen wandeln, vernehmlicher
Ist da der Geist, und offen und heiter blühn
Des Lebens dämmernde Gestalten
Da, wo ein sicheres Licht erscheinet.«
In dieser Funktion findet sich das zu einer allgemeingültigen Er-
kenntnis überleitende »denn« fast in jedem Gedicht dieser Periode.
Häufig werden solche Konjunktionen auch in der Konstruktion ver-
steckt; Gesang der Deutschen, V. Q:
»Du Land des hohen ernsteren Genius!
Du Land der Liebe: Bin ich der deine schon,
Oft zürnt' ich weinend, daß du immer
Blöde die eigene Seele läugnest;«
hier ist der logische Gang: wenn ich auch der deine bin, dennoch
zürnt' ich oft weinend, daß usw.
In derartigen hymnischen Gedichten gelingt die Synthese nicht
immer so rein wie in dem angeführten, wo sich das verkannte Deutsch-
land sogar dem strahlenden Hellas gegenüber behauptet, und ein letzter
Zweifel des Dichters sich nur in demütiger rhetorischer Frage kund-
zutun wagt. In dem andern vaterländischen Gedicht »An die Deut-
schen«, kommt aus der gleichen Antithese eine Synthese überhaupt nicht
zustande, und die Trauer behauptet sich zum Schluß. Solche ganz
negativ ausklingenden Gedichte bilden zwar durchaus eine Ausnahme,
aber es gibt doch, bei formal gleichbleibendem Dreischntt, einige
Synthesen, deren Inhalt nicht viel positiver ist. Die Ode »Mein Eigen-
tum« bringt es von der Gegensätzlichkeit der in ihrer Fruchtbarkeit
freudigen Landschaft und der Verlassenheit des Dichters nur zu einer
Bitte an die Götter, ihn wenigstens nicht geringer zu bedenken als
andere Menschen. Ähnlich schließt die zweite Fassung von »Die Heimat«
mit einer fast fatalistischen Ergebung in den unbegreiflichen Willen der
Götter. Diese Gedichte stammen sämtlich aus der an Depressionen
reichen Zeit vom Herbst 17Q9 bis zu dem des Jahres 1800 und zeugen
von dem harten Schicksal, das den Dichter gerade zu dieser Zeit heim-
348 KARL VIETOR.
suchte. — Gelegentlich hat der Bau der Gedichte, wenn er auch drei-
teilig bleibt, keinen synthetischen Charakter. So in »Die Götter<, wo
zwischen zwei gleichen, nur im Inhalt gesteigerten Sätzen, ein anti-
thetischer (moll) Zwischensatz steht. Oder in der Ode »Der gefesselte
Strom«, wo Aufforderung, Erfüllung und hymnische Deutung sich in
gleichmäßiger Steigerung folgen. Um diese ganze Erscheinung richtig
einzuschätzen, ist es notwendig zu wissen, ob der Bau der Oden Hölder-
h'ns als bewußte Gruppierung eines konstruierenden Geistes zu gelten
hat oder als spontaner Ablauf eines Gefühlserlebnisses, das sich stets
gleichmäßig bildet und sich vollzieht, in gleichartiger Bewegung über
die antithetische Stellung des dichterischen Subjekts gegen die objek-
tive Welt, bis zu einer Synthese, in der das Gedicht gipfelt?
Es ist bekannt, daß die Ode eine der wenigen lyrischen Kunst-
formen in der Geschichte der deutschen Dichtung ist, für welche die
theoretische und produktive Tradition einen bestimmten Aufbau for-
derte, während z. B. beim Liede dem Dichter darin völlige Freiheit
gestattet war. Eine Konvention für den Bau der Gedichte, die man
Oden nannte, gab es schon im 17. Jahrhundert '). Die als Kunstdich-
tung par excellence geltende »pindarische Ode« mußte stets dreiteilig
gebaut sein; Strophe, Antistrophe und Epode folgten sich-). Dieser
Odentypus, nach dem Vorbild der französischen, zeitgenössischen Lyrik,
vor allem dem Ronsards gebildet, fand in Andreas Gryphius seinen
klassischen Dichter. Er führte parallel mit der metrischen Gliederung
eine syntaktische ein; derart, daß eine in gehäuften Vordersätzen- mit
»sofern, wann« ausgesprochene Bedingung in einem unverhältnismäßig
kurzen Schluß ihre Lösung findet ^). Bei der Erneuerung dieser in
der Hofdichtung des 18. Jahrhunderts verflachten Form durch Gott-
sched und seinen Kreis ') wurde die starre Folge gelockert und er-
setzt durch einen Ablauf, der mehr dem aus spontanem Affekt in
') Dabei ist allerdings zu bedenken, daß Begriff und Typus der Ode im 17. Jahr-
hundert einigermaßen verschieden von denen um 1800 waren. Opitz verstand dar-
unter noch ein in Lied-Strophen abgeteiltes Gedicht, das nur durch kunstvollere
Reimstellung und gehobene Diktion als Ode gekennzeichnet w^ar.
'') Opitz, deutsche Poeterey, 49.
^) Diese Manier wurde von Christ. Weise (Der grünenden Jugend überflüssige
Gedanken, Neudruck 242, 122), Menantes und Joh. Georg Neukirch (vgl auch seine
Ablehnung dieser Dichtung der »Pedanten« in den »Anfangs-Oründen zur Reinen
Teutschen Poesie«, Halle 1724, 878 f.) parodiert. Vgl. Keppeler, Die pindarische
Ode in der deutschen Poesie des 17. u. 18. Jahrh. Diss. Tübingen 1911, S. 1 f.
*) Oden der Deutschen Gesellschaft in Leipzig 1728.— Das Muster war auch
hier wieder ein Franzose, Houdart de la Motte, dessen *Discours siir la poesie en
gene'ral et sur l'ode en particuUert (Amsterdam 1707) der Sammlung in einer Über-
setzung von Joh. Fr. May voranstand.
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS. 349
kühner Diktion {»hardlesse du langage*) zum Erhabenen (»subämet)
emporsteigenden Gefühl angepaßt war: an Stelle der klassischen Drei-
teilung tritt eine beliebig ausgedehnte Folge von breiten Reimstrophen,
und der innere Ablauf vollzieht sich so, daß einem aus rhetorischen
Fragen bestehenden erregten Eingang die Ausmalung des zu be-
singenden Objekts folgt, an der sich die Begeisterung des Dichters
neu entzündet; sie besinnt sich aber auf einen ersten Höhepunkt (»Wie
ist mir?«) und eilt dann zur höchsten Steigerung hin, mit der die Ode
schließt. Hier bestand der Bau also aus einer dynamischen Ver-
schiebung, da sie bestimmt wurde durch den größeren oder geringeren
Grad des Enthusiasmus.
Dieser modifizierte Typus der pindarischen Ode zeigt deutlich den
Einfluß einer Theorie, die in der Lockerung des Baus noch weiter
gegangen war und einen »beau desordre<!^ geradezu für den feinsten
Reiz dieser lyrischen Form erklärt hatte. Dieser glücklich formulierte
Gedanke Boileaus i) hat bis weit in das 18. Jahrhundert hinein dem
Odentypus und seiner Theorie die Richtung gewiesen. Die Geschichte
dieses Begriffs gipfelt in der Auslegung von Moses Mendelssohn
anläßlich seiner Kritik der Karschinschen Gedichte ''), wo dargelegt
wird: die Ordnung aller andern lyrischen Kunstdichtung sei im wesent-
lichen vom Intellekt bestimmt, möge sie nun historisch, topisch oder
lehrhaft sein. Die Ordnung der Ode hingegen sei die der begeisterten
Einbildungskraft. »So wie in einer begeisterten Einbildungskraft die
Begriffe nacheinander den höchsten Grad der Lebhaftigkeit erlangen:
ebenso und nicht anders müssen sie in der Ode aufeinander folgen.«
Die schöne Unordnung entstehe nun daraus, daß der Odendichter die
Mitfelbegriffe, »welche die Glieder miteinander verbinden, aber selbst
nicht den höchsten Grad der Lebhaftigkeit besitzen«, überspringt.
Der dynamische Charakter der Odenstruktur ist hier erweitert
durch ein rhythmisches Element. Es kommt nicht mehr allein auf
ein Anschwellen des Enthusiasmus bis zu einem Höhepunkt hin
an; sondern vor allem auch auf die in deutlichen Einschnitten spür-
baren Sprünge, welche dem Enthusiasmus eine progressive Steigerung
geben. Mendelssohn denkt sich aber auch diesen Ablauf als das Er-
gebnis eines konstruktiv vorgehenden Geistes. Die Schwierigkeit für den
Odendichter liegt für ihn darin, das »Werk der Begeisterung« mit dem
vernunftmäßig zurechtgelegten Plan der Ode zu vereinen. Somit stellt
sich der Charakter der in diese Tradition gehörigen Ode in ihrer rhyth-
misch-dynamischen Struktur wesentlich als ein architektonischer
') Art Poetique, II. Gesang.
•) 275. Literaturbrief, Ges. Sehr. 1844. 4, M. 431.
350 KARL VIKTOR.
dar, der das Zeichen der konstruierenden Vernunft deutlich in sich trägt.
Lessings prosaische Odenentwürfe sind ihr klassisches Beispiel.
Man erkennt sofort, daß es sich bei Hölderlin um eine grund-
sätzlich andere Art des lyrischen Ablaufs handelt. Hier treibt sich nicht
ein in seiner Richtung stets gleichbleibender Enthusiasmus in stetig
wachsenden Sprüngen zu einem Höhepunkt empor; sondern aus
einem Thema löst sich ein anderes, zum ersten kontrastierenden, bis
endlich ein drittes Thema beide zu einer Einheit bindet. Das dyna-
mische Verhältnis dieses Schlusses zu den beiden vorangehenden Teilen
ist jeweils verschieden: er kann Jubel und Feier, aber auch Resignation
oder Trauer sein. Ein derartiger Ablauf wird bestimmt durch har-
monische Verschiebungen, nicht durch rhythmisch-dynamische. Es
kommt dabei nicht auf dynamische Differenziertheit an, sondern auf
eine der Gefühlsfärbung. Nicht folgt ein stärkeres Element einem
schwächeren, und leitet zu dem nächsten wiederum stärkeren über;
sondern ein positives wird abgelöst durch ein negatives, ein trauriges
durch ein heiteres, ein chaotisches durch ein geformtes, bis eine Syn-
these beide vereinigt, den Kontrast löst und so das Gedicht beschließt
Dabei hebt sich jeder Teil formal und inhaltlich rein vom andern ab,
selbst dort, wo unmerkliche Übergänge weiterleiten i). Ihrem Wesen
nach ist diese Struktur musikalisch. Daß der dreiteilige Ablauf
sich inhaltlich immer gleichartig darstellt, liegt im Wesen Hölderlins be-
gründet. So decken sich hier das dichterische Erlebnis und seine sinn-
liche Form so vollkommen, wie es nur im höchsten Kunstwerk gelingt.
Für die Gattung der Ode war damit ein vollkommener Typus
erreicht. Die ursprünglich streng objektive lyrische Form war schon
in der Hand Klopstocks zu einem Ausdrucksmittel völlig subjektiver,
intimer Erlebnisse geworden; aber der allzu eigenwillige Enthusiasmus
sprengte hier schließlich die traditionelle Bindung, anstatt sie zu ent-
wickeln und zu ihrer Höhe zu führen, so daß auf dem Höhepunkt
von Klopstocks Dichten eine neue, hymnische Form von größerer
Lockerkeit sie ersetzte, und die Ode nur noch in der beschreibenden,
und trotz aller Emphase wesentlich gedanklichen Form weiterlebte,
wie sie Ramler und Voß nach dem Muster des Horaz pflegten. Erst
Hölderlin nimmt die Bemühungen Klopstocks wieder auf und führt
die reine Ode hinauf zu einem Typus, der seine Vollendung darin
hat, daß eine objektiv geschlossene Form zum völlig konformen dich-
terischen Ausdrucksmittel eines ganz subjektiven Erlebnisses wird.
Darin hat ihn kein deutscher Dichter übertroffen, auch Platen nicht.
1) Das bemerkte schon Volkelt (Im neuen Reich 1880. II, 385) richtig.
I
I
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS 351
Neben der Ode entwickelte Hölderlin jetzt vor allem eine weitere
lyrische Kunstform, zu der gleichfalls in der vorhergehenden Periode
die ersten Ansätze gemacht Worden waren: die Elegie. Daß diese
sehr umfangreichen Gedichte, die einen von der Ode völlig verschie-
denen gefühlsmäßigen und formalen Charakter haben, auch einen
andersartigen Bau zeigen, versteht sich von selbst. Epische und lyrische
Elemente lösen sich hier ab, der Erzählung eines Hergangs folgt ein
Oefühlsausbruch, der wieder zu objektiven Partien überleitet. In großen
Abschnitten, die teilweise selbst von Hölderlin numeriert sind, breitet
sich das Gedieht aus; jeder Teil steht zum Ganzen in dem Verhältnis
eines gesonderten, aber von einem gemeinsamen Zentrum ausgehenden
Strahles. Zwar stellen oft Konjunktionen, wie in den Oden, äußerlich
einen logischen Fortgang her (»aber, denn, so«)'). Aber ebenso oft
knüpft eine epische Erzählung ruhig an, oder springt ein Ausruf auf
einen neuen Teil über. In Wirklichkeit setzt meist jeder Abschnitt an
einem ganz anderen Punkte des gleichen Erlebniskomplexes ein, und
zwar so, daß jedes neu hinzukommende Glied aus einem andern Be-
zirk der sinnlichen Welt oder des Gefühls neue, innerlich aber ver-
wandte Elemente hinzuträgt. Diese Form — in der Geschichte der
Elegie durchaus neu — entspricht völlig der musikalischen Kunstform,
wie sie in der Sonate oder in der Symphonie vorliegt, die ebenfalls in
an sich verschiedenartigen und auch äußerlich getrennten Sätzen ein
zusammengehöriges Erlebnis zyklisch umfaßt.
Die umfangreichen Erlebniskomplexe dieser zyklischen Ge-
dichte Hölderlins sind in kompliziertem Aufbau gegliedert. Wie zu
erwarten, zeigen auch sie den gleichen Fortgang von der Thesis über die
Antithesis zur Synthesis, nur daß hier diese dreifache Gliederung nicht
so augenscheinlich ist wie in den durchsichtigeren Oden. Die Gegen-
sätzlichkeit von Natur und Geist, die sich endlich beruhigt, ist der
immer gleiche Kern von Hölderlins Erlebnissen, und wo er sich dichte-
risch formt, scheint überall dieses Zentralproblem durch. Die neun
Sätze von »Menons Klagen« stellen sich, von innen gesehen, so dar:
Einleitung. 1. Ruheloses Umherirren des trauernden Dichters.
2. Resignation will nicht gelingen, da die Hoffnung
wach geblieben ist.
Überleitung. 3. Denn das Bild des vergangenen Glückes leuchtet
ihm auch jetzt noch.
Thesis. 4. Schilderung des Liebesidylls. Daran wird die leid-
volle Gegenwart von neuem deutlich.
') S. Menons Klagen V. 43, 73, 109; Archipelagus V. 54, 86, 104, 125, 136, 179,
241, 278; Stutgard V. 19, 37, 55, 73; Brod und Wein V. 109.
352 KARL VIETOR.
5. Grund seines Unglücks: die Isoliertheit.
Antithesis. 6. Doch selbst die Oötterlosen wird einst die gött-
liche Gewalt zu schönerem Leben erwecken.
7. Diotima. Anrufung und Klage.
8. Ihre Vollkommenheit ist unwandelbar, an ihr richtet
sich des Dichters Enthusiasmus auf.
Synthesis. Q. Begeisterter Ausblick, Vision einer glücklichen Zu-
kunft.
Man sieht, jeder der drei Hauptabschnitte ist untergeteilt in je zwei
Themen, die miteinander kontrastieren, so daß überall eine lebhafte Be-
wegung zustande kommt.
Noch kunstvoller verläuft das wieder von der Thesis über die
Antithesis zur Synthesis sich bewegende Gedicht in der größten lyri-
schen Dichtung Hölderlins, dem »Archipelagus«. Hier ist vor allem
die breit ausholende Thesis, welche das Heldenleben des griechischen
Volkes erzählt, sehr fein aufgebaut; das Thema wird abgelöst durch
ein antithetisches Gegenthema, es folgt ein schwerwiegender Mittel-
satz, um den dieser ganze Teil gruppiert ist; und den Beschluß macht
das erste Thema, jetzt aber bedeutend verstärkt. Das große Gedicht
ist nicht, wie alle andern symphonischen Dichtungen, vom Dichter selbst
in Abschnitte eingeteilt; aber die einzelnen Teile heben sich sehr deutlich
voneinander ab^), und das Ganze stellt sich in seinem Aufbau so dar:
Einleitung. 1. Ewige Jugend des Archipelagus.
2. Immer junge Götterkräfte nähren ihn.
Überleitung. 3. Doch klagt der Einsame um seinen verstorbenen
Herrn.
Thema. 4. Das glückliche Griechenland.
Gegenthema. 5. Die Perser.
6. Ihr Anzug.
Mittelsatz. 7. Salamis.
8 \
„ ^ '] Neue Blüte Griechenlands.
Thema verst. 9. J
Antithesis. 10. Totenklage des Dichters.
11. Chaos der Gegenwart.
Synthesis. 12. Hoffnung auf schönere Zukunft.
Ausklang. 13. Bis dahin möge Griechenland schlafen und der
Archipelagus sei Bürge seiner Wiederkehr.
Wie in »Menons Klagen« beginnt das Gedicht nicht unmittelbar
mit der Thesis, sondern ist eingeleitet mit einem breiten lyrischen Satz;
H
n
c/>
') Die Hellingrathsche Ausgabe deutet die einzelnen Sätze durch Zwischen-
räume an. Ein weiterer Absatz ist vor V. 241 und 246 zu machen.
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS. 353
und lyrisch ist auch der Ausklang. Typisch für die Gleichförmigkeit
des Hölderiinschen Erlebnisses ist der Umstand, daß die Wendung,
welche das dichterische Subjekt als selbständiges Element einführt,
antithetischen Charakter hat; aber nicht auf das Ich beschränkt
bleibt, sondern — so sehr ist jedes wichtige Erlebnis jetzt eines der
Gemeinschaft — die ganze zeitliche und menschliche Gemeinschaft,
weicher der Dichter angehört, mit hineinzieht. Ähnlich, und noch klarer,
ist der Bau der »Heimkunft« und von »Brod und Wein«, während
der überwiegend epische Charakter von »Stutgard« (Herbstfeier) einen
wesentlich andern Aufbau zur Folge hat:
1. Schönes Wetter nach dem Regen.
2. Verlangen nach der Herbstfeier.
3. Aufbruch dazu.
4. Die Wanderung.
5. Ankunft in Stutgard.
6. Die Feier.
In rein erzählendem Fortschreiten werden hier nacheinander immer
neue Objekte des Enthusiasmus herangezogen (Heimat, Freunde,
Heroen, Götter) und in ihrer Versammlung erreicht er seinen Höhe-
punkt. Die Lösung aller Gegensätzlichkeit erspart die Bemühung um
eine Synthese, und so wird das Gedicht von einer Heiterkeh und
Leichtigkeit getragen, die bei Hölderlin durchaus ungewöhnlich isi
Der dreiteilige Bau ist, wie gezeigt wurde, sehr charakteristisch
für die Kunstform der Gedichte Hölderlins, und die Aufzeigung seiner
Inhalte gibt außerordentliche Aufschlüsse über die Psyche des Dichters.
Die Wichtigkeit dieser Erscheinung wurde bisher nur von Wilh. Michel
(Fr. Hölderlin, München 1Q12, S. 45—51) erkannt, der dem Dreischritt,
welchen er an Gedichten aus der Spätzeit (1800) feststellt, einen wesent-
lichen pantheistischen Grund und Inhalt gibt: Form-Chaos-Friede des
Alls. Man wird dafür besser Natur-Geist und vollkommene Einheit
beider als Inhalte dieses zunächst formal deutlichen Dreischrittes setzen.
Jedes Erlebnis in der Welt außer ihm zieht den Dichter nicht mit
in Befreiung, sondern wirft ihn auf sein Leben zurück, das sich
nicht in Einigkeit mit der Empirie empfindet und doch keine andere
Sehnsucht hat, als die nach Einigkeit mit allem Sein (für Hölderlin =
Natur). Das ist für ihn keine Aufgabe der Erkenntnis, der Bruch ist
nicht auf spekulativem Wege zu heilen; sondern ein impulsives Be-
dürfnis seiner Psyche verlangt immer wieder nach einer Versöhnung
mit dem außer ihm Seienden. Auffallend aber ist, wie sehr dieser im
Bau des einzelnen Gedichtes sich zeigende, immer wiederholte Ablauf
des zur Form werdenden Erlebnisses der Formel gleicht, welche die
dialektische Methode der zeitgenössischen Philosophie für die Selbst-
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 23
354 KARL VIKTOR.
bewegung der Begriffe fand. Diese Erl<lärung stellte den Versuch dar,
die Widersprüche des Denkens dadurch zu beseitigen, daß man sie
geradezu als die es bewegende Kraft ausgab, und damit identisch mit
sich selbst machte. Sie bildet bekanntlich den Kern der Hegeischen
Methode zur Erkenntnis schlechthin. Kants Antinomieniehre faßte
schon das Problem des Widerspruchs in ähnlichem Sinne, und bei
Fichte fand es zuerst seine klassische Formel: Thesis-Antithesis-Syn-
thesis. Bei ihm stehen sich Thesis und Antithesis freilich noch un-
verbunden gegenüber, nicht auseinander deduziert, sondern als selb-
ständige Prinzipien gegeben; seine Herstellung der Synthese durch
syntaktische Vereinigung der beiden Thesen in einem Doppelsatz er-
möglichte zwar eine widerspruchslose Verbindung, doch blieb sie sehr
schwankend und ohne letzte Auflösung. Schelling glaubte den seiner
Ansicht nach nur scheinbar existierenden Widerspruch durch Ein-
fügung des entsprechenden Mittelbegriffs beseitigen zu können. Bei
Hegel aber wurde der Widerspruch als Element der begrifflich-anti-
thetischen Bewegung selbst gefaßt; er wird absolut identisch mit sich
selbst, und so ist jeder Gegensatz überwunden. Der Begriff als al-
leinige Substanz vollführt mit seiner Selbstbewegung den einzigen
Prozeß des Geistes, der sich sogar objektiv vor dem Bewußtsein des
denkenden Subjekt abspielt, und zwar in der Folge: von der Thesis
über die Antithesis zur Synthesis'). Hölderlin hatte in Jena Fichte
gehört -) und war mit dessen Dialektik vertraut^*). Er wird die philo-
sophische Überzeugung mitgenommen haben, daß unsere Denktätigkeit
sich in der Bahn: Satz, Gegensatz, Zusammenschluß vollzieht; Hegel,
der in diesem Punkte offenbar Fichtes Schüler war, zeigt die Grund-
lage seiner Dialektik in seiner Jenaer Zeit deutlich ausgebildet^) und
im philosophischen Gespräch mit Hölderlin hat dieser Kern seines
Systems zweifellos schon die größte Rolle gespielt.
Zwischen diesem dialektischen Charakter der zeitgenössischen
Philosophie und dem gleichartigen Bau Hölderlinscher Gedichte be-
steht sicherlich eine wichtige Beziehung. Wie in der Form ist seine
Dichtung der Philosophie auch verwandt in den inhaltlichen Bedingt-
') Vgl. E. V. Hartmann: Über die dialekt. Methode, Berlin 1868. Diithey:
Jugendgesctiichte Hegels, S. 52 ff.; vgl. auch Georg Lassen: Was heißt Hegelianis-
mus?, Berlin 1916.
2) Vgl. seine Briefe an Neuffer, 19. Jan. 1895, Hegel 26. Jan. 1895, den Bruder
13. April 1895.
') Die wichtigsten hierhergehörigen Stellen in Fichtes Schriften sind: Sämtl.
Werke 1845 1. 113, 115, 224 ff., 336 f.
*) Vgl. Hegels erstes System, herausg. von Ehrenberg und Link, Heidelberg
1915. — Die hier veröffentlichten Entwürfe stammen zwar erst aus der Jenaer Zeit,
aber ihre Grundlagen reichen zweifellos weiter zurück.
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS. 355
heiten. Für die zeitgenössische Philosophie waren es im wesentlichen
diese: der giücic- und leidlosen, weil ungeistigen Natur, wird der Geist
als Gegenpart gegenüber gestellt, der im Gegensatz leidempfindlich ist,
und der es in der sittlich-religiösen Freiheit zu einer Synthese von
Natur und Geist bringen muß. Das war auch für Hölderlin der Kon-
flikt und die aufgegebene Lösung'). Natur war ihm im Grunde alles
außer ihm Seiende. Er liebte sie, verehrte sie mit religiöser Scheu;
aber er empfand auch in allen Erlebnissen den quälenden Zwiespalt
zwischen sich und ihr, den zu lösen ein schon einmal Geleistetes er-
reichen hieß: das griechische Menschheitsideal. Für ihn, wie für
Schiller war hier in Griechenland bei völliger Synthese von Natur und
Geist eine bisher unerhörte und späterhin verlorene Totalität erreicht
worden'''). Die Gegenwart ist durch diesen Zwiespalt zerrissen und
darum Chaos, während Griechenland alle Gaben der göttlichen Har-
monie halte. Der immer mehr mit seiner Zeit und der vaterländischen
Gemeinschaft empfindende Dichter versucht stets von neuem zu einer
Synthese zu gelangen zwischen diesen beiden Erlebnissen, die sich
doch aufeinanderhin zu bewegen scheinen. Meist scheint die Lösung
nur individuell durch den Enthusiasmus möglich zu sein, der sich
eine Vereinigung beider in goldener Zukunft ausmalt. Aber abgesehen
von dem wechselnden Ideengehalt nimmt Hölderlins Wesen fast in
jedem Gedicht die gleiche dreiteilige Bewegung, welche ebenso, wie
aus der gedanklichen Analyse, aus den formalen Trägern, hier aus
dem Bau, sichtbar wird; und so erkennen läßt, daß der charakteristische
dreiteilige Ablauf seiner lyrischen Gedichte nicht die bewußte Kon-
struktion eines intellektualistischen Geistes ist (wie etwa bei Lessing oder
gelegentlich bei Schiller); sondern: daß aus einem stets gleich-
artigen Erlebnisse, dem der Gegensätzlichkeit von Na-
tur und Geist, Chaos und Form und ihrer Synthese als
einer ewigen Aufgabe seines Wesens, ihm die spontane
Nötigung zu einer derartigen dichterischen Form immer
wieder erwuchs.
An dieser Einsicht wird der notwendige Zusammenhang der Ge-
dichtform Hölderlins mit seinem individuellen Wesen besonders
deutlich.
') Vgl. dazu Zinkernagel: Entwicklungsgeschichte von Hölderlins Hyperion,
Straßburg 1907, S. 202; vor allem S. 205 f.
') Über diese Idee im Hyperion, vgl. Zinkernagel, a. a. O. S. 199.
XIII.
Die Grade der lyrischen Formung.
Von
Friedrich Sieburg.
Dem Andenken Norberts von Hellingrat h.
Das Wesentliche meiner Aufgabe, das Gedicht zu erklären, um
damit Einsichten ins Formproblem überhaupt zu gewinnen, liegt vor
allem in der Beschränkung auf das, was wir als das eigentliche
dichterische Element ansehen, auf das Wort. Von den vielen Ver-
suchen, das Wesen des Dichterischen zu deuten, ist dieser der nächst-
liegende, wenn auch ungebräuchlichste. Die Gründe hierfür sind zahl-
reich und liegen in der Art heutiger, ästhetischer und geschichtlicher
Arbeit überhaupt. Der wissenschaftliche Apparat hat eine solche
Durchbildung erfahren, daß er beinahe zum Selbstzweck geworden
ist und seine eigentlichen Objekte und Zwecke, die Gestalten und
Gebilde, fast zu Anlässen herabgesunken sind. Hält man den Um-
stand dazu, daß diese Vermischung und Verwechslung von Wesen
und Beziehung weitaus am stärksten in der Geschichte und Erkenntnis
der Dichtung herrscht, so wird man sagen müssen, daß im deutschen
Bewußtsein das Gefühl für die Absolutheit des Wortes als des dichte-
rischen Elementes den gebührenden Platz nicht einnimmt.
Die Entwicklung.
Freilich liegen die Gründe hierfür in der Entwicklung der deut-
schen Versdichtung überhaupt. Der deutsche Geist hat sich seinen
Sprachkörper, der heute als etwas Selbstverständliches vor uns liegt,
erst in harter, bewußter Arbeit erobern müssen. Seitdem man durch
Luthers Tat überhaupt von einer einheitlichen deutschen Sprache
reden konnte, gingen Jahrhunderte mühsamer Tätigkeit dahin, in denen
brave Handwerker, kritische Ordner und wohl auch seltene, schwach
durchklingende Sänger durch Schaffung einer Literatur den Boden für
den dichterischen Sprachkörper vorbereiteten. Das Verdienst der so
öde anmutenden barocken und rationalistischen Jahrhunderte darf nicht
m
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG.
357
unterschätzt werden. Freilich, die große Gestalt, das große Erlebnis
werden wir in dieser Zeit vergebens suchen. Die beiden wichtigsten
Repräsentanten dieses Bildungszeitalters waren nicht von innen heraus
durch ein Erlebnis in Bewegung gesetzt, das sie sich zu entwickeln
zwang. Ihnen genügte es, nach außen zu greifen und einzubeziehen,
was schon geformt bei den Fremden vorlag, zu ordnen, was nach
dem Verlust des lebendigen Mittelpunktes durcheinander wirbelte. Sie
hatten es nicht mit dem Leben, sondern mit der Literatur zu tun, sie
suchten nicht das Lebendige, sondern die Regel. Opitz und Gott-
sched waren keine Gestalten, sondern lediglich Köpfe, die nicht durch
Begeisterung, sondern durch Vernunft bewegt wurden. Verstreute
einsame Poeten, Paulus Gerhardt, Flemming, Angelus Silesius, Günther,
die einen unmittelbaren, seelischen Kontakt mit dem Leben hatten,
konnten keine Repräsentanten werden und blieben Einzelfälle. Zwi-
schen Seele und Welt stand bergehoch ein Wust von halbfertiger
Bildung, nachbarlichem Einfluß, barocken Ornamenten und rationali-
stischen Vorstellungen. Kein dichterischer Charakter stand auf, der,
vom Erlebnis erschüttert, Kraft gehabt hätte, diesen Wust zu ver-
wandeln und die Welt zu formen. Was blieb übrig, als diese Lebens-
und Bildungswildnisse zu ordnen, und durch Aufstellung von Gesetz,
Regel und Muster eine Beziehung zu gewinnen. So konnte denn
auch mangels des Grunderlebnisses keine lebendige Sprachform ge-
boren werden. Aber an Stelle organischen Wachstums traten große
mechanische Gewinne. Die Bildungssprache gewann durch Begren-
zung, Ordnung und Vergleich an Ausdrucksfähigkeit, Reinheit und
Biegsamkeit im reichsten Maße. Freilich, das Göttliche, das nicht da
war, konnte durch keine noch so gründliche, kritische Arbeit aus dem
Vorhandenen abstrahiert werden, und so blieb die Entwicklung der
Sprache im Rahmen des Rhetorischen, wie die ganze mühevoll ge-
schaffene Literatur nur Allegorie blieb und ein relatives Dasein hatte.
Erst bei Klopstock bricht das Erlebnis durch, das ihn befähigte, die
rhetorische Sprache in eine lebendig dichterische zu verwandeln. Dia-
lektisch angebahnt durch Bodmer und Breitinger, setzte sein Auftreten
die Begeisterung, die dichterische Bewegung, das Weltgefühl wieder
in ihr ewiges Recht ein. Sein religiöses Seelenerlebnis einerseits und
sein antikes Formerlebnis anderseits befruchtete das Wort mit leben-
digem Feuer. Mit Klopstock beginnt die neue Form. Er erschuf den
dichterischen Sprachkörper; er, dem die Antike nicht ein Bildungs-
anhängsel, sondern ein Element seines Wesens und Erlebens war,
machte die deutsche Sprache fähig, organisches Wachstum zu treiben,
Verkörperung und Wesen zu leisten und Gebilde ewiger Geltung
hervorzubringen. Er hinterließ ein sprachliches Niveau, das noch heute
358 FRIEDRICH SIEBURG.
gültig ist. Das Erlebnis der griechischen Form war bei dieser Tat
ausschlaggebend, wie es auch seinen größeren und bewußteren Nach-
folger, Hölderlin, endgültig bestimmte. Dieser bildet in seiner äußersten
Anspannung des Sprachmöglichen, in seiner radikalen Handhabung
des einzelnen Wortes als dichterischer Einheit den Gipfel, den der
lyrische Stil nach raschem Aufstieg erreichte. Schwankungen blieben
mit dem Wechsel weltanschaulicher Bewußtseinsinhalte nicht aus. Die
Romantik schon verlies diese aus dem antiken Erlebnis gewonnene
Tradition gemäß ihrer christlichen Ideologie, indem sie durch die
Hervorholung der gotischen Vorstellungswelt einerseits und des Volks-
liedes anderseits ') auch den lyrischen Stil lockerte und die große
Form entsprechend ihrer auflösenden Tendenz zurückdrängte. Hölderlin
und der reife Ooethe auf der einen Seite und die Romantik auf der
anderen Seite können als Typen für den Widerstreit innerhalb des
dichterischen Sprachgeistes überhaupt gelten. Der Kampf, notwendig
durch Weltanschauung und Temperament, der natürlich auf der un-
gleich breiteren Grundlage des antiken oder christlichen Lebensgefühls
überhaupt geführt wurde, ist nie verstummt, wobei er in unseren
Tagen durch Nietzsche seine deutlichste Formulierung erhielt. Diesem
Bewußtseinsstreit parallel laufend hat sich der Sprachleib entwickelt
und abgestuft und zwar von Klopstock, Goethe und Hölderlin über
die Romantiker, Eichendorff, Platen, Hebbel, die Annette und C. F. Meyer
zu Stefan George, bis endlich die jüngste, die expressionistische Lyrik
ganz neue sprachliche Probleme stellte.
Das Objekt der Formung.
Um den wichtigsten Begriff der Untersuchung, das Wesen des
Wortes als des dichterischen Elementes, klarzustellen, ist es nötig weit
auszuholen. Wobei man sich hüten muß, Technik und Material zu
verwechseln. Ich setze Material gleich mit dem künstlerischen Element,
während der übliche Begriff des Materials für mich gleich Technik ist.
Geht eine Technik über das Material hinaus, ist der Bannkreis der
Kunst durchbrochen. Dies ist die Gefahr alles Barocken. Mit der
Gestaltung des Materials ist alle künstlerische Arbeit getan. Darüber
') Schon Herder inaugurierte eine einseitige Vorstellung von Lyrik, auf die
im wesentlichen noch immer die übliche populäre Anschauung zurückgeht. Er pries
als Kennzeichen der wahren Dichtung das naturmäßig Unbewußte und Ungebundene
und zwang auch der strengsten Kunstform diese Merkmale auf, indem er in Pindar,
Dante usw. das Dunkle, Rauschartige auf Kosten des Geformten in den Vorder-
grund rückte.
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 359
hinaus wirken hieße aus der Kunst ein Spiel, aus der Notwendigkeit
eine Not oder aus der Freiheit eine Willkür machen. Man muß sich
hüten, in diesen Gedankenkreis einen psychologischen Begriff hinein-
zutragen, die Verwirrung nähme sonst kein Ende. Die Begriffe des
Materials (d. h. des künstlerischen Elementes) und der Geformtheit
(d. h. des geformten Elementes) müssen genügen. Das Wesen des
Gedichtes also definiert sich folgendermaßen: das Wort ist das Material
des Dichterischen, d. h. das dichterische Element, seine Technik ist
die Syntax.
Das Gedicht ist die Gestaltung des Wortes, also nicht etwa des
Erlebnisses. Die Gestaltung eines Erlebnisses setzt immer eine Distanz
voraus zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen Seele und
Erlebnis, zwischen Wille und Welt. Diese Distanz besteht aber beim
lyrischen Dichter nicht. Dem Lyriker eignet die glücklichste und
primitivste Form des Schaffenden, schaltet doch seine Kunst von
vornherein jeden Abstand zum Erlebnis aus. Das Chaos als Objekt
existiert für ihn nicht. Der Lyriker ist an sich formhaft, sein seelischer
Zustand ist bereits geformt, seine Bereitschaft fällt mit dem Besitz
zusammen. Die ungeheure Arbeit, sich der Welt zu bemächtigen oder
die Welt zu durchdringen, die noch Dante und Shakespeare leisten
mußten, fällt für ihn fort. Er spürt die Welt nur, insofern sie in ihm
ist oder als Anstoß auftritt, um sein Ich in Vibration zu versetzen.
Wieviel von der Welt in ihm ist, das bestimmt seinen Wert, je mehr
er draußen fühlt als Problem, als Ungeformtes, als Lebensrätsel, als
Frage nach Gott, das bestimmt den Grad seiner inneren Geformtheit.
Deshalb blieb es erst dem Lyriker vorbehalten, den vom Altertum bis
zur Renaissance gehenden Zwiespalt zwischen Erlebnis und Bild
dadurch aufzuheben, daß er beides gleich setzte. Während dort noch
ausschließlich das Gewordene, das Sein in Frage stand, wird hier das
Werden, die Bewegung selbst wesentlich. Von eigentlicher Lyrik kann
man deshalb auch erst mit dem Abschluß des Rokoko sprechen. Dort
erst wurde es dem Dichter möglich, sein bewegtes Ich zum Mittel-
punkt zu machen, da ja mit der endgültigen Lockerung des gefügten
Kultur- und Weltbildes das Gewordene wieder zum Werden, das Sein
wieder zur Bewegung wurde. Die erst gebundene (Renaissance), dann
erstarrte (Rokoko) Welt löste sich wieder auf, im Bewußtsein strömte
die Welt wieder in alter Unbegrenztheit im gleichen Fluß wie das
bewegte Ich. Nun auch konnte die Sprache wieder im eigenen Geiste,
der ja die Bewegung ist, tönen. Keine Welt drängte sich mehr da-
zwischen und machte Bilder zu ihrer Bewältigung notwendig '). Lyrik
') Die eigentliche lyrisciie Bilderwelt hat anderen Sinn. Da bedeutet das Bild
360 FRIEDRICH SIEBURG.
in eigentlicher Bedeutung ist also erst möglich geworden in der
Moderne, die Klopstock einleitet. Diese ganze Entwicklung ist freilich
nur dann zu verstehen, wenn man sich die Tatsache, daß die lyrische
Bereitschaft immer schon Form sei, lebendig hält. Eine Weh land-
läufiger Vorstellungen wird hiermit weggeräumt: nicht das Erlebnis
ist der Stoff, sondern die Bewegung des Dichters als Sprache. Das
apriorische Verhältnis des Ich zum Erlebbaren, nicht was erlebt wird,
sondern wie erlebt wird, nicht weshalb die Seele bewegt ist, sondern
wie sie bewegt ist: das ist der Stoff des lyrischen Gedichtes. Schon
deshalb ist es untunlich, auf die Gestaltungsarbeit des Dichters, vom
Dichter her gesehen, also psychologisch, einzugehen. Die Fragestel-
lung nach der seelischen Verfassung des Dichters muß ja immer mit
der nach dem Gedicht selbst zusammenfallen. Da er selbst schon
die Form ist, müßte die Frage nach ihm immer auch gleichzeitig die
Frage nach dem Gedicht sein. Da das Wortgebilde nicht geformte
Welt sondern geformte Bewegung, nicht geformtes Erlebnis sondern
geformtes Verhältnis ist, so führt uns das Forschen nach dem For-
mungsprozeß auf den formenden Faktor: den Rhythmus, dessen Be-
griff man vorläufig hinnehmen mag. Das Verhältnis von Rhythmus
zu Wort ist also der eigentliche Kernpunkt.
Das Wort als dichterisches Element.
Das Wort ist ein zweifaches Phänomen. Man kann durch das
Wort etwas mitteilen. Man kann im Wort etwas verkörpern. Das
Wort ist ein so selbstverständliches Verkehrsmittel, eine so unbewußte
Möglichkeit, sich mitzuteilen, daß seine Eigenschaft als Naturphänomen
kaum ins Bewußtsein tritt. Und das ist zum Verständnis des Dichte-
rischen nicht wesentlicher, als einzusehen, daß das Wort ebensosehr
eine selbständige Tatsache ist, deren bloßes Dasein ein Leben, eine
Natur bedeutet. Die Getrenntheit dieser beiden Erscheinungen ') ist
keinen Umweg des Gefühls zur Welt, sondern ist lediglich eine Form der Schwingung.
Daher ist sie, auch wo sie ihre Umrisse aus fertigen Kulturen nimmt, immer im
Subjekt des Dichters gegeben. Hölderlins griechische Bilderwelt ist eben deshalb
ureigen, weil Hölderlin sie aus griechischem Erlebnis gebar. Er sah mit griechi-
schem Auge, nicht durch die griechische Brille. Seine Bilder sind nicht Objekte,
sondern Formen seiner antikischen Bewegtheit schlechthin. Anders der hellenisti-
sche Vorstellungsapparat des Rokoko. Während die Renaissance ihre Bilder erlebte
und Hölderlin sie gebar, hat das Rokoko sie erlernt. Sie dienten ihm zur Ver-
zierung, als Ornament, als Beziehung, während sie Hölderlin Gestalt, Daseinsform,
Wesen waren.
') Es kann hier nicht untersucht werden, welche von beiden Erscheinungen
die genetische Priorität besitzt. Doch wäre eine geschichtliche Untersuchung über
4
4 DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 361
unüberbrückbar. Für die Erfassung des Dichterischen gibt es kein
wichtigeres Gefühl als dieses, daß mit dem gesellschaftlichen Wort
etwas bezeichnet sei, mit dem dichterischen Wort aber etwas ver-
körpert sei. Nur mit diesem Wort, dem Wort, das Leib ist, haben
wir zu tun '). Nicht zufällig klingen hier religiöse Vorstellungen an.
Der wahre Charakter des Verses ist eben religiös, seine Bewegung
hat die Kraft der Beschwörungsformel, die den Dämon bannen soll.
Der gebundene Dionysos und das Wort, das Fleisch geworden ist,
sind im ganzen Reiche des Geistigen die einzigen Parallelerscheinungen
zur künstlerischen Form. Der künstlerische und der religiöse Leib
ist das gleiche Bild, vor dem die Hellenen beteten. Der Künstler
sucht immer Gott und findet immer das Bild. Im dichterischen Wort
ist das raumlose Denken zum räumlichen Sein, der Begriff zur Ange-
schautheit geworden. Die Immanenz des Wortes hat absoluten Sinn,
der nicht aufs Menschliche zurückzudeuten oder aufs Göttliche hinaus-
zudeuten braucht. In beiden Fällen saugt das Wort das Erlebnis end-
gültig auf, im ersten so, daß nichts mehr aus der schöpferischen und
erleberischen Sphäre ins Gebilde hineinragt, im zweiten so, daß noch
nichts den bildlichen Guß zu zersprengen sucht, um eines transzen-
dierenden Gefühles willen. Wo der wahre Charakter des dichterischen
Wortes begriffen wird, wird die restlose Verkörperung nie gestört,
das würde der Charakter des Wortes nicht zulassen, wohl aber treten
Verschiebungen nach dem ^rieben (dem Psychologischen) hin ein,
und ebenso über das Vollendete hinaus nach dem Göttlichen (Trans-
zendenten) hin ein und zwar durch den Rhythmus (dichterische Be-
wegung).
Das Gebilde steht also zwischen zwei Sphären. Unter ihm liegt
das Bereich des Erlebens, das typisch Menschliche. Es ist das Bereich
des ungeordneten Daseins, dessen sinnloses Durcheinander und Neben-
einander aller Dinge und Gefühle voll schweifender und ungebundener
Sehnsucht zur Gestaltung drängt. Hier im Gemüt ist das Leid zu
Hause, diese Sphäre und ihre Kategorien meiden wir, um der Psycho-
logie zu entgehen. Über dem Gebilde liegt das Bereich der Hin-
gebung, das typisch Göttliche. Es ist das Bereich der Ideen, in dem
ebensowenig Ordnung herrschen kann, weil dort die Dinge keinen
den gesellschaftlichen oder mystisch-religiösen Ursprung der Sprache wichtig. Viel-
leicht würde diese Untersuchung die prähistorische Kongruenz dieser Sphären lehren.
Lazarus Geiger hat Untersuchungen nach dieser Richtung hin angestellt.
') Der Begriff »Leib« in seiner prägnanten Bedeutung stammt von Friedrich
Qundolf, dessen lebendiger Begriffsbildung ich stark verpflichtet bin, was hier ein
für allemal dankbar festgehalten sei. Ich verweise auf seine beiden Hauptwerke
»Shakespeare und der deutsche Geist«, Berlin 1911 und »Goethe«, Berlin 1917.
362 FRIEDRICH SIEBURG.
Sinn mehr haben. Denn die Einmündung ins Grenzenlose will aller
Dinge entkleidet sein. Aber es gibt auch kein Bedürfnis mehr nach
Ordnung, weil die Ordnung schon überwunden ist. Dort im Geist
ist das Glück zu Hause. Diese Sphäre und ihre Kategorien meiden
wir ebenfalls, um der Metaphysik zu entgehen. Wir haben allein zu
tun mit der Ästhetik, deren Gegenstand das Zwischenreich ist, das
Reich der Form, des typisch Künstlerischen. Es ist das Bereich des
Leibes, in dem das wirre Leben spurlos zur Ordnung verkörpert, in
dem es weder Sehnsucht noch Hingebung gibt, sondern nur stolzes
Aufsichselbstberuhen im Gleichgewicht aller Kräfte. Hier ist die
Größe zu Hause. Diese Sphäre hat ihre eigenen Gesetze, die eine
eigene Welt beherrschen, eine Welt neben unserer Welt, ein Leben
neben unserem Leben. Nur dieser Welt kann das dichterische Wort
angehören, weil sein geschlossener und absoluter Charakter aller
Grenzenlosigkeit nach innen und außen spottet.
Der Rhythmus.
Wir sind somit zur Kenntnis der dichterischen Sphäre und des
Materials, des Wortes heraufgerückt und fragen nun, wodurch dies
Material aus seiner Bereitschaft herausgehoben und zum Werke, zum
Gedicht zusammengerückt wird.
Die an sich unbeweglichen Bestandteile des Gedichtes verlangen
zu ihrer letzten Formung natürlich eine Bewegtheit, und auch .vorhin
wurde schon angedeutet, daß die verschiedenen Gestaltungsschichten
nuanciert werden durch eine Bewegung, welche den Schwerpunkt
innerhalb des geformten Bildes zu verschieben sucht. Die antike
Mythologie bringt dieses von uns begrifflich zu bestimmende Phänomen
vollkommen zur Anschauung. Sie erzählt, daß Amphion die Baublöcke-
durch sein Saitenspiel bewegt und zur Mauer gefügt habe. In der
Tat gibt es keine klarere Veranschaulichung für die Funktion, die
unser neues Phänomen, der Rhythmus, inne hat. Der Rhythmus ist
das Korrelat der dichterischen Bewegung, welche nicht nur die Wort-
elemente zur Einheit verbündet, sondern auch das Eigentümliche jedes
einzelnen Gedichtes ausmacht. Der Charakter der dichterischen Be-
wegung ist also ein formender, und zwar in der Weise, daß er die
Worte aus ihrer generellen Absolutheit heraushebt und ihnen die Mög-
lichkeit gibt, in verschiedenen Gebilden verschiedenes Gewicht zu
haben. Denn an sich ist das Wort in seiner Selbständigkeit unwandel-
bar und kann als solches nur einem apriorischen Gedicht, dem Ge-
dicht an sich, zum Material dienen. Die dichterische Bewegung
(Rhythmus) aber ist ein Ordnen im Reich des Wortes, welche die Ele-
Tj
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG.
363
menfe in ein bestimmtes, tausendfach wandelbares und unerschöpf-
liches Verhältnis zueinander setzt und so den originalen (persönlichen)
Charakter des Gedichtes hervorbringt. Diese spezialisierende und
ordnende Tätigkeit des dichterischen Rhythmus zeigt deutlich, daß sie
eine Verwechslung mit dem musikalischen Rhythmus nicht zuläßt.
Durch Schopenhauer sind wir genügend über das Wesen der Musik
unterrichtet, um einzusehen, daß der musikalische Rhythmus niemals
ordnet und spezialisiert, sondern die Geschlossenheit des Bildes durch-
bricht. Der musikalische Rhythmus öffnet das Bild und gestaltet ein
Hin- und Widerfluten zwischen dem Bild und jener Welt, wo die
Urformen, noch nicht Ding geworden, schlummern. Die Selbstsicher-
heit der Gestalt, das runde. Vollendetsein wird aufgelöst und an den
Abgrund der Universalität getrieben, d. h. der heroische Charakter des
Bildes wird tragisch gelockert. Nietzsche hat vom Walten des Musi-
kalischen innerhalb der künstlerischen Gebilde bahnbrechend ge-
sprochen. Freilich stellte er nicht das Tragische als Form sondern als
Weltzustand und Lebensgefühl dar, und somit wurden seine Resultate
keineswegs ästhetische, sondern metaphysische und psychologische,
wobei er dann allerdings Erkenntnisse gewann, deren ungeheure Trag-
weite noch lange nicht völlig ins Bewußtsein gedrungen ist. Immer-
hin hat er ganz eindeutig verkündet, daß alles Bildhafte (Apollinische)
durch den Geist der Musik gefährdet wird und dies genügt uns,
um darauf zu dringen, daß die wesentliche Verschiedenheit von musika-
lischem und dichterischem Rhythmus klar bleibe. Zwar zeigt sich,
daß das Gleichgewicht der Form den größten Verschiebungen unter-
worfen ist, wodurch die Nuancen der »Art« entstehen, daß aber diese
Verschiebungen immer innerhalb des Gebildes verharren, der absolute
Charakter des Wortes also gewahrt bleibt, während der musikalische
Rhythmus ihn zerstört.
Die Plastik des Wortes.
Man darf die Erkenntnis von der Bildhaftigkeit des Wortes nicht
ins Stoffliche übertragen. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß das
Wort als Leib gleichzeitig auch eine möglichst deutliche Bildhaftigkeit
der Vorstellung im Leser hervorrufen müsse. Die Verleibungstätigkeit
des Dichters beruht keineswegs darin, sein Erlebnis nun auch mög-
lichst augenhaft darzubieten. Man vergesse nicht, daß nicht etwa das
Auge das wesentliche Organ zur Erfassung lyrischer Gebilde ist, son-
dern das Ohr. Nicht auf die Erzeugung von Bildern kommt es an
durch Vermittlung des Wortes, sondern auf Sichtbarmachung von Be-
wegung innerhalb des Wortes. Oder, mit modernen Schlagworten
364 FRIEDRICH SIEBURG.
ausgedrückt: es handelt sich nicht um Impression, sondern um Ex-
pression. Wohl gemeri<t, es steht hier immer nur der Idealtypus des
Gedichtes in Rede. Genaue Betrachtung wird ergeben, daß, je wesen-
loser das Wort in der dichterischen Reihe steht, um so farbiger, optisch
erfaßbarer die flüchtige Impression des augenblicklichen Naturzustandes
ist. Im Mittelpunkt meiner Erwägungen steht der gedachte Extrakt
aller ins Individuelle gebrochenen Besonderheiten und Unzulänglich-
keiten: das Gedicht an sich, dessen Vorstellung aus einer möglichst
breiten Kenntnis der gesamten Masse des Lyrischen gewonnen wird.
Damit sollen keineswegs ästhetische Postulate oder Rezepte aufge-
stellt werden, sondern nur wesentliche und lebendige Gesetze, durch
die der geschichtliche und ästhetische Ablauf seinen tieferen Sinn
offenbart. In der ganzen Fülle des wirklich Vorhandenen erfährt
gerade dieser Begriff der Bildlichkeit des Wortes seine weitgehenden
Veränderungen. Da die Formung durch den Rhythmus geschieht, und
nicht vom Auge her, so kann ihr Ziel schlechterdings nicht auch gleich-
zeitig die Plastizierung eines von außen her in den Sprachfluß hinein-
gerissenen Stückes Welt sein. Plastik der Sprache ist eine Eigen-
schaft eben der Sprache, deren Wesen Bewegung ist. Ihr Sinn kann
nicht Hervorrufung außersprachlicher Bilder sein. Wir erfahren z. B.
bei Lenau und Eichendorff, von denen später gezeigt wird, wie wenig
primär das Gefühl für Absolutheit des Wortes in ihnen wohnt, daß
gerade bei ihnen die augenmäßige Bildlichkeit ganz besonders freudig
quillt, daß sie mit allen Mitteln zur Versichtbarung ihres Zustandes
Impressionen von großer Eindringlichkeit hervorbringen, aber eben
nicht innerhalb der Wortmöglichkeit, sondern rein optisch, augenhaft,
farbig, eindrucksmäßig. Nein, Bildlichkeit der Sprache ist etwas
anderes. Bildlichkeit der Sprache entsteht da, wo der Dichter imstande
ist, das Wort selbst als Zweck zu begreifen und mit Sinnlichkeit zu
füllen '). Die Stücke der Palatinischen Anthologie stellen viel mehr
sehbare und ergreifbare Bilder vor unsere Augen als die Epinikien,
aber an Pindar gemessen ist der alexandrinische Sprachgeist doch
schon abgeleitet und degeneriert. Das Bestreben des noch nicht
völlig erblühten oder schon abklingenden Sprachgefühls geht dahin,
den sprachlichen Ablauf von der Zeit in den Raum zu versetzen,
hoffend, daß in der räumlichen Sphäre jene Bildhaftigkeit, die das Ich
') Wohl gemerkt wird Sinnlichkeit hier in anderem Sinne gebraucht, als sie
von Th. A. Meyer bekämpft wird, der darunter das empirisch Vorstellungsmäßige
versteht. Meyers Buch (Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig IQOl) macht den Ge-
danken, daß der Charakter des poetischen Wortes überanschaulich und die Sprache
kein Vehikel für Sinnenbilder sei, zur Grundidee scharfsinniger und radikaler Aus-
führungen.
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 365
noch nicht oder nicht mehr inne hat, sich einstelle, weil der Kategorie
»Raum« das dreidimensionale, das malerisch plastische Bild ja investiert
ist. Die geistige Gebundenheit des Sprachleibes ajjer wird dadurch
gelockert, und die impressionistische Erzeugung bewegt sich außerhalb
des Wortes. Plastik der Sprache beruht in der restlosen Erfassung
des Wortes als Einzelwesen, in der völligen Erschöpfung der inneren
Wortbedeutung selbst, kurzum im Gefühl für die Sprache als Zweck
und Stoff, nicht als Mittel, für die Absolutheit des Wortes. Dilthey^)
hat eine Erklärung gegeben, die natürlich von seinem Beispiele, Höl-
derlin, dem äußersten Sprachplastiker, aufs allgemeine ausdehnbar ist
und der nicht viel hinzugefügt werden kann: »So ist die erste Auf-
gabe innerhalb der Zergliederung der Form eines Dichters, die Mittel
zu erfassen, durch die er Worte wirksam zu machen weiß. Hölderlins
lyrische Kunst wirkt zunächst dadurch, daß sie durch eine eigene
Sparsamkeit mit dem Wort jedem einzelnen Wort einen stärkeren Eigen-
wert gibt. Wenn wir in der Regel beim Lesen forteilend das einzelne
Wort nur als Zeichen für den Zusammenhang des ganzen Wort-
gefüges benützen, so läßt uns hier die Sparsamkeit des Ausdruckes
bei den Worten verweilen. Das Gefühl tritt hinter seiner schlichten
Bezeichnung gleichsam nackt heraus.« Das ist es, »das Wort wirksam
machen,« es als Eigenbild bestehen lassen, seine ihm innewohnende
Bildkraft in sich selbst auswirken lassen, nicht das Wort wirkungslos
machen und dafür etwas anderes, die Impression, zur Wirkung bringen,
für die die Worte nur Mittel sind! Und Rudolf Borchardt sagt in
seinem grundlegenden »Gespräch über Formen« '^): »Wem zehn Worte,
die als das was sie sind, so und nicht anders im Verse beieinander
stehen, wem diese Unwiderruflichkeit der Formen nicht sinnliches,
geliebtes Dasein schlechtweg sind, der glaube nicht zu leben.'< Und
er ruft weiter warnend aus: »Liebe ich denn an einem Vers etwas,
was außerhalb seines Gefüges noch da wäre!« Und dies ist umso-
mehr richtig, da ja die Sprache als Material, ebenso die Syntax als
Technik, für alle menschliche Bewegung den angemessensten Gestal-
tungsraum bietet, weil sie ja mit dem menschlichen Geist identisch
sind, weil sie dem menschlichen innewohnt, nicht erst, wie die anderen
Materiale, wie Raum und Maß, durch Vorstellung erzeugt werden
muß, um in der Bewegung des Geistes wirksam zu werden.
') Dilthey, »Das Erlebnis und die Dichtung«.
■) Rudolf Borchardt, »Piatons Lysis deutsch und das Gespräch über Formen«
(Leipzig 1905).
366 FRIEDRICH SIEBURG.
Der artende Rhythmus.
Um nun in die Arten des lyrischen Gebildes selbst einzudringen,
erinnern wir uns zunächst an das, was vom Rhythmus als formender
Funktion gesagt wurde. Das Gedicht, so hieß es, ist ein Zustand,
der durch das Walten des Rhythmus geformt und geartet wird. Die
Art und der Grad der Formung, das, was den besonderen Cha-
rakter des Gedichtes in jedem einzelnen Falle ausmacht, wird durch
den Rhythmus hervorgerufen. Die Worte, d. h. die dichterischen
Elemente, werden durch den Rhythmus gefügt. Nächstes Problem
ist das VerhäHnis von Rhythmus zu Wortfügung. Wir stellen fest,
daß der Rhythmus erstens nicht jedes einzelne Wort durchdringt, daß
also die Reihe oder gar die Strophe über den Rhythmus Gewalt be-
kommt, zweitens ein völliges Gleichgewicht von Rhythmus und Wort-
fügung vorliegt, daß also Rhythmus und Wort oder, genauer, Wort-
gruppe (was ja dem Charakter der deutschen Sprache als einer Sprache
voll Partikel, Pronomina usw., d. h. von Worten verschiedener Schwere,
gemäß ist) sich gegenseitig gleichmäßig durchdringen, daß drittens
der Rhythmus stärker ist als die Wortfügung, daß er diese durch-
bricht und so die Worte auseinander reißt und isoliert. Dies ist zu-
nächst der Tatbestand, der sich rein äußerlich darstellt, wenn man
fragt, was eigentlich Heines Lied und Platens Gedicht und Hölderlins
Hymne zueinander in Gegensatz setzt. Daß diesen Gegensätzen auch
entsprechend unterschiedene geistige Inhalte parallel laufen, zeigt, sich
bei tieferem Eindringen. Wobei uns zu Hilfe kommt, daß Norbert
von Hellingrath drei fundamentale stilistische Begriffe des Dionysius
von Hallicarnaß (>^De compositione verborumi^) in einzigartiger Weise
wieder lebendig gemacht hat ^). Er ergreift die drei lyrischen Stufen,
die eben von der rhythmischen Seite her aufgezeigt wurden, von der
Wortfügung her und nennt sie glatte Fügung, wohltemperierte Fügung,
harte Fügung. Nehmen wir diese drei Begriffe, deren Sinn wohl
schon im wesentlichen geahnt werden kann, vorläufig hin, erkennen
wir endlich diese drei Stufen unter dem Namen von »Lied«, »Gedicht«
und »Hymne«, so haben wir einen dreifachen Ausgangspunkt für die
endgültige Klärung und Formulierung unseres Systems.
Das Lied.
Das Lied zeigt, wie gesagt, zunächst seine Eigentümlichkeit im
Verhalten des Rhythmus. Betrachten wir auf der einen Seite die Worte
') Norbert von Hellingrath, Hölderlins Pindarübertragungen. Prolegomena zu
einer Erstausgabe, Jena 1911.
I
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 367
und auf der anderen Seite den Rhythmus, so finden wir, daß der
Rhythmus das einzelne Wort nicht durchdringt, nicht im kräftigen Auf
und Ab in jedes einzelne Wort aus- und einströmt, sondern gleichsam
dünner und bedeutungsloser als dieses unter der Fügung hinfließt.
Der Rhythmus weist nicht auf das Wort hin, um ihm Zwang und
Notwendigkeit zu verleihen, sondern lenkt im Gegenteil von ihm ab.
Die innere Bewegung reicht nicht aus, um dem Wort die unerbittliche
Notwendigkeit seines Soseins an Ort und Stelle zu verleihen. Sie ist
nicht stark genug, um jedes einzelne Element zum Tönen zu bringen:
ganze Reihen haben nur einen Ton. Die Bewegung wird außerhalb
der Worte wirksam, nicht jedesmal im einzelnen dichterischen Ele-
ment, sondern meist erst in der ganzen Reimreihe, ja sogar oft erst
innerhalb mehrerer Reihen '). Der geringere Grad innerer Geformtheit,
der notwendig damit verknüpft ist, liegt zweifellos in der seelischen
Beschaffenheit des Lyrikers. Sein Ich ist nicht in dem Maße formhaft,
daß seine Bewegung das Material restlos zu durchdringen imstande
wäre. So erklärt sich auch, daß gerade die romantische Poesie fast
durchweg diese Eigentümlichkeit für sich in Anspruch nimmt. Der
Romantiker, dem »die Bewegung der Sprache um der Bewegung, nicht
um der Gestaltung willen« (Gundolf) da ist, macht auch hier seine
auflösende Tendenz geltend. Er sucht immer etwas, was über die
Kompetenz des Wortes hinausgeht, er bedient sich des Wortes als
Mittel, um durch dies etwas zu erzeugen. Und so ist der Begriff
»Stimmung« so recht sein ureigenes Produkt. Und wenn Nadler*)
meint, daß »die begabtesten Lyriker: Eichendorff, Brentano, Heine,
Storm, Mörike den Vers vom Rhythmus aus bauen, d. h. durchaus
volkstümlich und nicht nach hergebrachten Schemen«, so kann dem
nur entgegengehalten werden, daß eben dabei das eigentliche Element,
das Wort, nicht zu seinem Rechte gekommen ist und seine Absolut-
heit nicht durch das Vorherrschen des Rhythmischen, sondern durch
seine Isolierung oberhalb der Worte geschwächt wurde. Ein Drittes
wurde eben von diesen Lyrikern zur Geltung gebracht, was dem Wort
nicht eingeboren ist: Die Melodie.
') Wir finden dies bei Rainer Maria Rillte, der die Fähigkeit, ganze Reihen
auf einen Ton zu stimmen durch die fast unhörbare Zartheit seines Rhythmus bis
aufs äußerste ausgebildet hat. Ich setze ein Beispiel her, das charakteristischer-
weise nicht in Reihen abgesetzt sondern wie Prosa durchgedruckt ist: ». . . Fluß-
abwärts treiben die Blumen, welche die Kinder gerissen haben im Spiel; aus den
offenen Fingern fiel eine und eine, bis daß der Strauß nicht mehr zu erkennen war.
Bis der Rest, den sie nach Haus gebracht, gerade gut zum verbrennen war. Dann
konnte man ja die ganze Nacht, wenn einen alle schlafen meinen, um die gebrochenen
Blumen weinen.« (Das Buch der Bilder, Requiem, S. 181.)
') Josef Nadler, Eichendorffs Lyrik, Prag 1908, S. 115.
368 FRIEDRICH SIEBURG.
Die Worte, nicht mehr individualisiert durch den Rhythmus, werden
aus ihrem Einzelleben herausgehoben, sie fangen an, um des Zu-
sammenhangs willen zu existieren. Einfachster Satzbau, der sich dem
Verlauf der Umgangssprache dicht nähert, macht sich geltend, ja, ganze
Wortzusammenstellungen erstarren und treten immer wieder auf,
kurzum, das absolute Wort ist gelockert; worauf es jetzt ankommt,
ist, die Worte zusammenfließen zu lassen zu einer Melodie, aus dem
Gesamten der fast willkürlichen Worte (willkürlich vom Leser aus,
nicht vom Dichter aus) eine hinziehende Einheit emporsteigen zu
lassen, nicht dem einzelnen Wort verpflichtet, sondern über der Reihe
schwebend, schwimmend und ungebunden. Die scheinbare Wesen-
losigkeit, ja Banalität der Worte bei Heine, die ja in Wirklichkeit wohl
erwogen und mühevoll erarbeitet war '), hat ja gerade darin ihren
Sinn, daß ihrer Gesamtheit doch ein reiner Ton entschwebt:
Du bist wie eine Blume,
So hold so schön und rein . . .
Freilich zeigt gerade dieses Gedicht eine gewisse innere Bildlichkeit
dadurch, daß dem glatten Fluß schon eine geistige Vorstellung, ein
bildliches Urteil, nicht lediglich ein Duft, eine Farbe, eine Impression
entschwebt. Deutlicher Eichendorffs Strophe:
Kaiserkron und Päonien rot,
Die müssen verzaubert sein.
Denn Vater und Mutter sind lange tot.
Was blühen sie hier so allein? (Der alte Oarten.)
Hier zeigen sich deutlich alle Symptome beieinander: Fügung von
äußerster Glätte, d. h. Bedeutungslosigkeit des einzelnen Wortes,
flüssige schlichte, syntaktische Verknüpfung, größte Unauffälligkeit in
der Wortwahl, weiter von Reimzeile zu Reimzeile immer nur ein Ton,
denn zum einzelnen Wort dringt der Rhythmus gar nicht durch, und
dennoch: Welch eine hinreißend traurige und süße Strophe! Das
Geheimnis steckt eben nicht in den Worten, denn diese sind zu-
sammengezogen zur glatthinfließenden Zeile, aber darüber schwebt
ungreifbar und unbeschreiblich die Melodie. Ein anderes Beispiel:
Hörst du die Gründe rufen Die Nachtigallen schlagen,
In Träumen halb erwacht? Der Oarten rauschet sacht,
O von des Schlosses Stufen Es will dir Wunder sagen
Steigt nieder in die Nacht! — Die wunderbare Nacht.
(Die Nacht 4.)
Hier der gleiche Vorgang. Die Verszeile tönt einheitlich im flüchtigen
') Wie gründlich und innerlich er die stilistische Arbeit auffaßte, zeigen seine
vielen feinen Bemerkungen über Wort und Metrum z. B. in einem Brief an Immer-
mann über dessen Epos »Tulifäntchen«. (23. April 1830.)
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 369
Ablauf, schlichte Hauptsätze ziehen unauffällig vorbei, ja, die Vorstel-
lung kann eine gewisse Konvention nicht verleugnen. Die »Gründe
rufen«, »die Nachtigallen schlagen«, der »Garten rauscht« in der
»wunderbaren Nacht« wie so oft in der Romantik, nichts also ist da,
was uns irgendwie zwingen könnte, am Wort zu haften. Wenn trotz-
dem dies wunderbar duftige Gebilde entsteht, dessen Schönheit sich
niemand entziehen kann, so beweist dies, daß eben etwas anderes
erreicht werden soll als dem Wort selbst innewohnendes: Melodie
und damit also Stimmung. Daß dieser Begriff geradezu als ein be-
wußtes Postulat der Romantiker gelten kann, dafür bietet ja schon ein
flüchtiges Durchblättern der romantischen Schriften zahlreiche Belege,
nicht nur den geradezu komischen Satz des Grafen Loeben, der so
recht die Quintessenz einer nachgeäfften und auf die Spitze getriebenen
Romantik enthält '): »Man hat mir immer gesagt, daß die Sprache das
Element des Dichters sei, und ich bin mir doch oft recht poetisch
vorgekommen, wenn ich gerade sprachlos war.« In diesem Sinne ist
auch Nadlers Satz*) zu deuten: »Und schließlich kennt gerade die
Lyrik Kunstmittel, die weder sprachlicher noch metrischer Natur sind,
Kunstmittel, die gerade im Verschweigen bestehen.«
Dies Kunstmittel der Stimmungserzeugung eignet natürlich nicht
den Romantikern in ihrer Eigenschaft als Literaturgruppen allein.
Wenn es hier spezifisch romantisch genannt wird, so ist das eben
nicht zeitlich, sondern geistig zu fassen, als Stichwort für eine ganz
bestimmte seelische oder weltanschauliche Disposition. Dem plasti-
schen Menschen ist sein Dichten Befreiung durch Bannung, Bild-
machung in der Sprache (nicht im optischen Bilde), dem romantischen
Menschen ist sein Dichten Befreiung durch Auflösung. Der plasti-
sche Geist löst sein Erlebnis von sich los, er gibt ihm Form durch
den Rhythmus und dadurch absolutes Dasein, der romantische Mensch
löst sein Erlebnis auf, er gibt ihm Melodie, Stimmung, er bringt es
von sich weg in Bewegung. Während jener durch restlose Erfassung
des Wortes und durch die gleichmäßige Durchdringungsarbeit des
Rhythmus seine ordnende Tendenz darlebt, mischt der andere die
Worte zur Stimmung zusammen, entsprechend dem romantischen Be-
dürfnis, Abgrenzungen aufzulösen und Beziehungen herzustellen, das
z. B. bei Novalis im Taumel der Vermischung aller geistigen Elemente
zur Poesie wahre Orgien feiert. Hier drängt sich zum Vergleich die
Musik ohne weiteres auf.
Auch der musikalische Rhythmus arbeitet dem dichterischen
') Guido, Mannheim 1809, S. 196.
'-■) Eichendorffs Lyrik S. 14.
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV. 24
370 FRIEDRICH SIEBURG.
Rhythmus von Grund aus dadurch entgegen, daß er dessen speziali-
sierende Tätigkeit auflöst, daß er, aligemein gesagt, dem Oestaltungs-
drang seine zersprengende auseinanderflutende Tendenz entgegensetzt.
Haben wir auf der einen Seite den innewohnenden Verleihungsdrang,
die seelische Schwingung aus den Verstreutheiten in Natur und Er-
lebnisse im menschlichen Material der Sprache zusammenzuballen, so
finden wir auf der anderen Seite jene unheimliche Kunst, die nichts
Menschliches an sich hat, als daß sie ihre Gesetze dem logisch ab-
laufenden Intellekt entnimmt, also nach reinen Relationsgesetzen, nicht
lebendigen, organischen Gesetzen der bildhaften Geburt und des wesen-
haften Wachsens verfährt, die weiter alles Geformte in ihre Jenseitig-
keit aufsaugt und ohne Bindung aus dem Universalen redet. Der
wahrhaft musikalische Geist und der plastische Geist werden sich nie
verständigen können, denn der eine sucht auf, was der andere über-
windet, der eine strömt in das ein, was der andere in sich zusammen-
geballt hat: das Chaos. Erst der romantische Mensch fühlt hier Ver-
wandtes, liebt er doch auch um ihrer selbst willen die Sehnsucht, die
ins Ungebundene geht. Kein Wunder also, daß gerade und fast aus-
schließlich diejenigen lyrischen Gebilde komponiert werden, die wir
als Lieder, als Gebilde glatter Fügung bezeichnet haben. Denn in
diesen Gebilden ist ja schon ein Schritt zu dem getan, was die Musik
restlos besorgen wird, die Entstofflichung des Wortes, damit die Ver-
wandlung des im Sprachleib investierten Menschlichen ins Universale.
Und zwar ist dies geschehen durch die Melodie oder durch die Stim-
mungserzeugung, oder wie wir es immerhin nennen wollen, kurzum,
durch die unsinnliche Art, Worte zum Zweck der Erzeugung eines
dritten, inkommensurablen Faktors lediglich zu benutzen. Vergegen-
wärtigen wir uns das von Schumann vertonte Gedicht von Eichendorff :
Aus der Heimat hinter den Blitzen rot.
Da kommen die Wollten her.
Aber Vater und Mutter sind lange tot.
Es kennt mich dort keiner mehr.
Zerlegen wir das Gedicht dialektisch in Erlebnis und Formung, so
tritt ein recht komplizierter Gefühlsverlauf heraus, der begrifflich nicht
leicht zu formulieren wäre. Ich meine: Die seelische Situation ist
äußerst spezialisiert, einmalig und persönlich. In der Formung nun
erscheint dieser Verlauf schon wesentlich einfacher, denn durch die
ersten zwei Verse wird ein Ton angeschlagen, gewissermaßen der
stimmungsmäßige Grundakkord für die Situation. Wir haben die
Grundfarbe der Melodie. Der Übergang zur nächsten Melodieneinheit
verzichtet von vornherein auf jede begrifflich plastische Verknüpfung,
der verbindende Ton wird durch das Wort »aber« nur flüchtig ange-
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 371
schlagen, die Worte »Vater und Mutter« treten begrifflich ebenfalls
nicht ins Bewußtsein: Die süße und schmerzliche Melodie eih auf das
Wort »tot« hin, über die anderen hinweg, um dort zu schwingen,
auch ist der dargestellte Begriff durch die viel gebrauchte stereotype
Zusammenstellung »Vater und Mutter« von diesen Worten selbst un-
auffällig abgeleitet. In der letzten Reihe endlich derselbe Vorgang.
Wesentlich ist also, daß hier nicht ein Aufbau, sondern ein Ablauf
vor sich geht, >Bewegung der Sprache um der Bewegung, nicht um
der Gestaltung willen« (Oundoif). Aus dem, dialektisch gesehen, höchst
verwickelten, persönlichen Stimmungsvorgang, daß die Wolken an die
Heimat erinnern, daß diese Erinnerung aber nur um so größere Trauer
auslöst, da Vater und Mutter schon lange tot sind und ich hier allein
in der Welt bin, wird Verlassenheit schlechthin. Die Worte haben
zusammengewirkt, um diese weitgezogene allgemeine Stimmung als
etwas, was der Dichter mit den Worten selbst nicht geben will, um
diese Melodie zu erzeugen. Das wäre also die erste Auflösung des
»primär formhaften« Eriebnisses durch die Melodie. Nietzsche sagt
in der Geburt der Tragödie *) »das Wort, das Bild, der Begriff sucht
einen der Musik analogen Ausdruck und erieidet jetzt die Gewalt der
Musik an sich«. Er hat damit den soeben beschriebenen Auflösungs-
vorgang in seiner Art gekennzeichnet. Wieviel mehr aber erleidet das
Wort, das Bild, der Begriff die Gewalt der Musik an sich durch die
Komposition! Auf die erste Auflösung durch das dichterische Melos
erfolgt die zweite, endgültige durch das musikalische Melos. Im vor-
liegenden Lied hatten wir die Trauer der Verlassenheit als resultierende
Grundstimmung festgestellt, also immerhin noch ein Gefühl, das durch
den Grund seiner Entstehung determiniert ist und noch gewisse Merk-
male der Persönlichkeit an sich trägt. Schumanns Komposition löst
auch dieses noch auf. Zwar spüren wir noch in der Begleitung der
Melodie der ersten Verse den Versuch, das Bildliche der Worte zu
unterstreichen, was in diesem Fall insofern verständlich ist, als dem
Bilde bei äußerstem Nachspüren noch eine Spur akustisch erfaß-
barer Merkmale (Blitz, Wolken) anhaftet. Aber selbst dadurch wird
das Bild aus seiner Beziehung von Blitz und Wolke zu dem seelischen
Fall herausgenommen, außermenschlich gemacht und generalisiert. Bei
den übrigen Reihen aber hört jede Möglichkeit auf, dem Bilde parallel
zu laufen, und Schumann kann eben nur das musikalische Korrelativ
geben. Das im Wort geformte, spezielle, einmalige Gefühl wird nun
vollends aufgelöst und was übrig bleibt, ist eben Trauer schlechthin,
frei flutend, ohne Bindung, ohne Beziehung aufs Menschliche. Der
') Gesamtausgabe, Leipzig 1909,' Bd. I, S. 47.
372 FRIEDRICH SIEBURG.
Mensch wird in die Universalia ante rem hinausgestoßen. Die Trauer
an sich bleibt übrig. Die letzte, radikale Auflösung des Gebildes ist
erreicht. Die Verleibungsarbeit des Dichters ist aufgehoben.
Es liegt nahe, hier nach dem Volkslied zu fragen, das ja durch-
weg in die Kategorie des Liedes und der glatten Fügung gehört. Von
ihm sagt Nietzsche i): »Die Melodie ist also das erste und allgemeine,
das deshalb auch mehrere Objektivafionen in mehreren Texten an sich
erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere und notwen-
digere in der naiven Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die
Dichtung aus sich und zwar immer wieder von neuem.« Gerade aus
diesem Grunde glaubte ich mir ein näheres Eingehen darauf sparen
zu dürfen, weil hier ja einzig der Formungsprozeß verhandelt werden
soll. Das Volkslied aber ist anderem Drang entstanden als die Lyrik.
Nicht das Ich ist bei ihm primär, sondern die Melodie. Für die inne-
wohnende Melodie werden vom jeweils hinzutretenden Ich Worte ge-
sucht, um diese Melodie zu tragen. Daher sind die Worte nicht
einmal Mittel zur Verbildlichung wie beim Lied, sondern lediglich
Mittel zur Vermenschlichung: zunächst um es dem Menschen sangbar
zu machen, dann, um der Melodie jeweilige Beziehung zur seelischen
Situation des Singenden zu geben. Dementsprechend ist auch seine
Vorstellungswelt: stereotype Bilder von geringer Mannigfaltigkeit treten
immer wieder auf, und auch diese nie ins bildhafte Wort gebannt,
sondern im besten Falle durch ein Adjektivum belebt, da ja in der
Natur nicht der Bildwert, sondern lediglich der Gefühlswert gesucht
wird (Frau Nachtigall, lieben Sternelein usw.).
Im Liede dagegen ist die Melodie etwas Sekundäres, das erst
durch die Worte erzeugt wird und sich mit dem Begriff »Stimmung«
deckt. Man könnte anstatt Stimmung auch das »Poetische« sagen,
im ganz volkstümlichen Sinne. Was gemeinhin unter poetisch ver-
standen wird, ist gerade dies inkomensurable, was eben vom Wort
nicht umgrenzt werden kann. Damit verbunden fällt die stereotype
Vorstellungswelt des Liedes ebenfalls unter den Begriff des Poetischen,
das ganze Ahnungsvolle der Nacht, Schauer der Dämmerung, Mond-
schein, schwermütig rauschendes Lied der Wipfel, Liebesseufzer der
Sehnsucht, kurz alles Duftende, Melodische, Schwebende und Flüchtig-
Impressionistische. Es ist nicht mehr als folgerichtig, daß die Roman-
tiker diesen Begriff in den Mittelpunkt ihrer Kunstanschauung stellten,
vor allem Novalis, dem es Religion war, in die er sämtliche Geistes-
und Lebensäußerungen aufzulösen trachtete. Kein Wunder, daß ihm
der Wilhelm Meister, als ein »Candide gegen die Poesie gerichtet«
') Geburt der Tragödie S. 46.
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 373
vorkam '). Auch das naive Gefühl wird ohne weiteres Brentanos Lied
»Wie so leis die Blätter wehn« oder Heines »Lotosblume«, ja selbst
noch des jungen Goethe »O gib vom weichen Pfühle*)« als poetisch
anzusprechen, während es kaum darauf kommen dürfte, die Orfischen
Urworte oder die Marienbader Elegie so zu bezeichnen. Als poetisch
kann eben niemals das plastische Wort in ausgeglichener Fügung
gelten, sondern immer nur die von Stimmung oder Melodie gelockerte
Reihe. Es ist daher nicht paradox, zu sagen, daß, je mehr sich ein
Gedicht sinnlicher innerer Bildlichkeit nähere, es um so unpoetischer
werde.
Eins der bedeutsamsten Merkmale des Poetischen ist die Impres-
sion, die, wie schon früher gesagt wurde, auch dann gegeben werden
kann, oder gerade dann, wenn die Sinnlichkeit aus dem Wort zu
schwinden beginnt. Kann auch das Wort als solches mit seiner
inneren Bildkraft nicht wirksam werden, so können doch die glatt
und flüchtig gefügten Worte als weiteres Symptom des Ablaufs ein
augenhaft erfaßbares, bildmäßiges Korrelat zum als Melodie hinfließen-
den Erlebnis geben. Das Bild tritt hier nicht auf als etwas rund be-
grenztes, in das das Erlebnis gebannt wäre, sondern gleichsam als
Folie, als Illustration zum Erlebnis. Es ist eine Landschaft, durch die
das Erlebnis wie ein Buch hindurchfließt. Trotz der Erzeugung des
landschaftlichen Bildes ist der Gefühlsverlauf noch deutlich aufzeigbar
und spürbar. Das Bild spielt eine der Melodie parallele Rolle. Die
Schilderung selbst ist, entsprechend der untergeordneten Tätigkeit des
Wortes, wenig genau und eindringlich. Wenn trotzdem die Land-
schaft vollständig ist mit ihrem Schauer und Duft und Farbigem, so
zeigt das eben, wessen die glatte Fügung durch das Zusammengießen
der Worte — fast möchte man sagen: trotz der Worte — fähig ist.
') Den Begriff des Poetischen hat mit all seinen Konsequenzen und Auswir-
kungen Gundolf durchverfolgt, und zwar in »Shakespeare und der deutsche Geist«,
Berlin 1011, S. 328 ff., gelegentlich seiner Darstellung von Shakespeares Verhältnis
zur Romantik.
») Der »Nachtgesang« ist eins der wenigen reinen Lieder Goethes. Seinem
plastischen Geist konnte die glatte Fügung nur selten gemäß sein. Als besonderes
Kunslmittel tritt hier die verschlungene, häufige Wiederkehr derselben Reihe auf
und das Ineinandergreifen der Strophen durch eine wiederholte Reimzeile. Dadurch
wird das Tempo des Ablaufs beträchtlich verlangsamt, die Melodie wird getragener
und die Worte werden, da sie fast ausschließlich als musikalische Faktoren auf*
treten, noch unbewußter auf Kosten des Melos, das dadurch seine Vielstimmigkeit
und Feierlichkeit erhält und so als Korrelativ zur poetischen Situation der hehren
Sternennacht machtvoll wirksam wird. Auch Brentano handhabt dies dem Refrain
ähnliche Mittel zauberhaft in der »Spinnerin Lied« in »Einsam will ich untergehn!«
und vor allem in »Aus einem kranken Herzen«. In letzterem ist die fugenartige
Wiederkehr einfacher Töne wahrhaft erschütternd.
374 FRIEDRICH SIEBURG.
Mörikes Lied »Er ist's«:
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!
Das Lied bietet gewiß, am Worte gemessen, keine scharf umrissene
Schilderung, und doch ist der Eindruck der Frühiingsiandschaft restlos
in uns erzeugt. Oder Eichendorffs: »Der Soldat«:
Und wenn es einst dunkelt, Von den goldenen Türmen
Der Erd bin ich satt. Singet der Chor,
Durchs Abendrot funkelt Wir aber stürmen
Eine prächt'ge Stadt: Das himmlische Tor.
Auch hier kaum der Versuch einer eindringlichen Malung, im Gegen-
teil, die ganze für Eichendorffs Stil charakteristische, stereotype Vor-
stellungswelt, und trotzdem ein Bild von unheimlicher Tiefenwirkung:
es ist eben die Melodie, die in ihrer Eigenschaft als dichterisches
(nicht musikalisches) Melos nach Nietzsches Wort »fortwährend ge-
bärend Bilderfunken um sich aussprüht«. Endlich die »Mondnacht«:
Es war, als hätt' der Himmel Die Luft ging durch die Felder,
Die Erde still geküßt, Die Ähren wogten sacht,
Daß sie im Blütenschimmer Es rauschten leis die Wälder,
Von ihm nun träumen müßt'. So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus.
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Hier ist kaum der Versuch gemacht zu beschreiben, selbst das Zu-
ständliche ist noch gelockert und in Aktion verwandelt: Die Luft ging,
die Ähren wogten, es rauschten die Wälder. Schlichteste Syntax um
der Melodie willen, die angeführten Symptome des Landschaftlichen
geradezu abgegriffen und banal. Dennoch ist es nach Duft und
Atmosphäre und äußerst konkreter Vorstellung die geradezu klassische
Impression der Sommernacht. Die Beispiele ließen sich häufen, nament-
lich aus Heine, aber auch aus Storm und Lenau. Schwieriger stellt
sich das Verhältnis von Wortfügung und Impression bei der Droste.
Sie hat manches geschrieben, was zwischen glatter und harter Fügung
stark hin und her schwankt, z. B. »Durchwachte Nacht«:
. . . Betäubend gleitet Fliederhauch
Durch meines Fensters offnen Spalt,
i
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG.
375
Und an der Scheibe grauem Rauch
Der Zweige wimmelnd Neigen wallt.
Matt bin ich, matt wie die Natur! —
Elf schlägt die Uhr.
O wunderliches Schlummerwachen, bist
Der zarten Nerve Fluch du oder Segen? —
's ist eine Nacht vom Taue wach geküßt,
Das Dunkel fühl ich kühl wie feinen Hegen
An meine Wange gleiten, das Gerüst
Des Vorhangs scheint sich schaukelnd zu bewegen,
Und dort das Wappen'an der Decke Gips,
Schwimmt sachte mit dem Schlängeln des Polyps.
Hier offenbart sich einerseits das iiedmäßige Bestreben, die Impression
mit allem Atmosphärischen, allen Relativitäten, allem augenhaft Erfaß-
barem darzubieten, bei ihr noch unterstützt durch die geradezu un-
heimliche Fähigkeit, sämtliche Sinnesrezeptionen durcheinander zu
mischen und selbst den Geruchssinn zur Verdeutlichung einzu-
setzen. Anderseits steht ihr Rhythmus auf einem ganz anderen Ni-
veau als in der glatten Fügung. Er fließt ruckartig in jedes Wort
beziehungsweise jede Wortgruppe ein, diese dadurch aufs kräftigste
isolierend, wie wir es für das Gedicht, überhaupt die härteren Fügungen
forderten. Durch Wahl ungewöhnlicher, von Fall zu Fall mühsam
geborener Worte zwingt die Vorstellung aufs einzelne Wort hin, syn-
taktische Verschränkung lehnt die Wortgruppen abgegrenzt nebenein-
ander, so zum Verweilen zwingend. Kurz, wir haben Gebilde vor
uns, die fast der Kategorisierung spotten oder zum mindesten als
Übergang von der glatten Fügung zu der härteren betrachtet werden
müssen, weil sie einerseits das romantische Fluidum von Atmosphäre
und rätselhaft erzeugter Landschaft in unerhörter Eindringlichkeit be-
sitzen und weil anderseits die Melodie fast durchweg zum dichte-
rischen Rhythmus entwickelt ist und das Gefühl für die innere Bild-
haftigkeit des Wortes zutage tritt.
Überhaupt muß immer wieder betont werden, wie wenig mit diesen
Kategorisierungen ein Dichter gefaßt werden soll. Hier handelt es
sich ausschließlich um den dichterischen Stil, nicht um die dichterische
Person. Fast alle Lyriker, ob nun a priori bildhaft oder romantisch
gerichtet, haben Lieder glatter Fügung geschrieben, vielleicht allein
Klopstock und Hölderlin ausgenommen. Ebenso sind gerade die
Romantiker häufig zum gemischten Stil, zum Gedicht vorgedrungen,
man vergleiche Eichendorffs Sonettendichtung, der man um so we-
niger mißtrauisch gegenüber zu stehen braucht, als das Spielerische
der Romantiker diesem Dichter fremd war, seine Sonette also getrost
von vornherein als organisch gewachsene Formung angesehen werden
können, was ja auch bei tieferem Eindringen aufs schönste bestätigt
376 FRIEDRICH SIEBURG.
wird. Vergewaltigt wird der Lyriker einzig und aliein durch die
landläufige Meinung des breiten Haufens, der von Eichendorff nur
kennt, was Schumann komponierte, und durch Nichtkenntnis der
Sonette diesen Lyriker überhaupt nicht umfaßt, der von Heine nur
das sentimental Erotische oder journalistisch Zersetzende im Bewußt-
sein hat, aber sehr staunen würde, wenn man als Heines Höhepunkte
die »Frühlingsfeier«, »An die Jungen« oder »An die Mouche« nennen
würde, der die »Harzreise im Winter« doch recht dunkel, Klopstock
»für einen modernen Geschmack ungenießbar« und Hölderlins Hymnen-
werk symptomatisch für beginnenden Wahnsinn findet. Natürlich
darf eine stilistische Klassifizierung nicht das dichterische Lebenswerk
begrenzen wollen. Vom Dichter aus gesehen, ist gerade die Frage
nach der Art der Fügung untrennbar mit der Entwicklung verknüpft.
In Goethes lyrischem Schaffen sind alle drei Arten von Fügung auf-
zuzeigen. Nach der Mitte hin, der wohltemperierten Fügung, dem
Gedicht, tendieren fast alle von der einen oder anderen Seite her. Alle
Liedersänger schrieben Gedichte, alle Hymnensänger ebenfalls. Eichen-
dorff hat seine Sonette, Brentano sein »Wiegenlied eines jammernden
Herzens«, »Um die Harfe sind Kränze geschlungen«, »Ich weiß es
wohl, Du hast um mich geweint«, »Der Abend« usw. Platen hat die
Sonette und anderseits Oden, Stücke härtester Fügung, Hölderlin hat
seine bekanntesten Stücke in wohltemperierter Fügung, zum Teil unter
Ooetheschem Einfluß, »Hyperions Schicksalslied«, »Als ich ein Knabe
war«, dann den »Abend«, »Rückkehr in die Heimat«, der »Morgen«,
»Menons Klage«, überhaupt die ganze Dichtung um Diotima, und auf
der anderen Seite die Hymnen. In der Mitte, fast wandellos, stehen
allein Hebbel und C. F. Meyer: diese haben ziemlich ausschließlich
Gedichte geschrieben, entsprechend der Tatsache, daß besonders bei
letzterem das lyrische Werk von vornherein als etwas Fertiges feststand.
Das Gedicht.
Die Beschreibung der hierdurch nahegerückten zweiten Stufe des
lyrischen Stils, der wohltemperierten Fügung, des Gedichts, kann nun-
mehr wesentlich zusammengefaßter bewerkstelligt werden, da durch
genaues Eingehen auf die glatte Fügung, aufs Lied, bereits die Gegen-
sätze hergestellt sind, durch die diese zweite Fügungsart sich abgrenzt.
Im Gedicht ist zwar die absolute Eigenlebigkeit des einzelnen Wortes,
wie wir sie in der Hymne kennen lernen, noch nicht erreicht, das
Wesentliche ist aber, daß die Worte keinem weiteren Zwecke mehr
dienen, um Bild oder Melodie zu erzeugen, sondern ihre Wirkung
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 377
in ihnen selbst beruht. War im Liede die ganze Reimzeile oder
waren gar mehrere höhere Einheit, so sind hier im äußersten Falle für
jede Reihe einzelne Worte zu verschiedenen Einheiten zusammengefaßt.
Da dies im Charakter einer entwickelten, mit Bei- und Vorwörtern
arbeitenden Sprache durchaus gegeben ist, harmonisiert die wohl-
temperierte Fügung stets mit dem Geist des vorliegenden Sprach-
niveaus, mit dem sie unter allen Umständen in Gleichklang bleiben
will, ohne die Absicht, dessen äußerste Möglichkeiten anzuspannen
oder gar zu durchbrechen.
Voller Gefühl des Jünglings, / weil' ich Tage /
Auf dem Roß' /und dem Stahl', /ich seh des Lenzes/
Grüne Bäume froh dann, /und froh des Winters/
Dürre beblütet. / (Klopstock, Der Frohsinn.)
Wir sehen, die Bildung der höheren Einheit ist gegeben mit dem
syntaktischen Zusammenhang, in diesem Falle günstig unterstützt
durch das Metrum. Die einzelnen Wortgruppen selbst lehnen sich
nur lose aneinander, aber innerhalb der Wortgruppe ist die Einheit
gewahrt.
Mag jemand einwenden, daß solche Verhältnisse schon an sich
durch das Metrum notwendig seien, so kann dem nur entgegen ge-
halten werden, daß gerade das Umgekehrte richtig ist. Aus dem Geiste
dieser Fügungart ist das Metrum geboren, und die seelische Dispo-
sition, die den Dichter in mittlerer Fügung sich äußern ließ, hat auch
die Wahl des Metrums erzeugt. Letzteres ist also, wie durchgängig
im gültigen, ernstzunehmenden lyrischen Gebilde sekundärer Natur
und die organische Folgeerscheinung einer dichterischen Schwingungs-
art. Die Bewegung bestimmt das Metrum, nicht umgekehrt, was man
sich nicht tief genug einprägen kann. Unsere großen Lyriker haben
ihre trochäische Vierfüßlerstrophe, ihr alkäisches Maß, ihren Hexa-
meter nicht bildungsmäßig als etwas Gelerntes von außen an ihr Er-
lebnis herangetragen, sondern die jeweilige Besonderheit ihrer Lebens-
stufe machte dieses oder jenes Metrum von innen her notwendig.
Das romantische Erlebnis rief naturnotwendig die mit romantischen
Traditionen beladene trochäische Vierfüßlerstrophe hervor, wogegen
das Erlebnis der Antike selbstverständlich antike Metren mit sich
brachte. Aber das Erlebnis war das primäre, und die Bewegung trug
mit ihrem Bestreben, sich auszurollen, das Metrum schon in sich. Daß
auch nur in einem solchen Falle das Metrum das Merkmal innerer
Notwendigkeit und organischen Wachstums tragen kann, beweisen
alle Versuche, die selbständig gewordene Technik zu betätigen und
iein bildungsmäßig aufgegriffenes Metrum an einem ungemäßen Er-
lebnis oder ohne Erlebnis zu versuchen. Ich brauche nur den Meister-
378 FRIEDRICH SIEBURG.
sang zu nennen oder auf die zweideutige Rolle des Alexandriners in
der deutschen Dichtung hinzuweisen. Eine Diskrepanz zwischen
Gehalt und Metrum, freilich aus ganz anderem Grunde zeigen auch
Novalis' »Hymnen an die Nacht«, sofern man sie zur Lyrik rechnen
will. Sie haben ja auch lange genug, bis IQOl, wo Heilborn eine in
Verse abgesetzte Handschrift fand, als Prosa gegolten. So wie sie
vorliegen, treten sie mit dem Anspruch auf, Hymnen zu sein, also
einen gewaltigen Rhythmus zu verkörpern, der von Wort zu Wort
reißt. Aber gerade der wuchtige Rhythmus, man vergleiche »Wandrers
Sturmlied«, fehlt ihnen. Mit der glatten Fügung einer soziologisch
gebundenen (d. h. der Umgangssprache entnommenen) Syntax eilen sie
von Vorstellung zu Vorstellung, weit entfernt vom Wesen der An-
tike. Schlegel tat ihrem schönen Tiefsinn einen guten Dienst, als er
sie in Prosa druckte. Er folgte damit lediglich seinem dichterischen
Instinkt. Der freie Rhythmus, das ureigentliche Metrum hymnischer
Bewegtheit, hat überhaupt für solche Charaktere, die in ihm nicht
gemäß seiner antiken Ideologie höchste Gebundenheit, sondern höchste
Bequemlichkeit sahen, immer Verführendes gehabt, wofür nicht nur
das besonders krasse Beispiel von Arno Holz »Fantasus« zu Gebote
steht. Aber auch da, wo nicht Unform, sondern Spielerei zum unge-
mäßen Metrum verführte, sind die Beispiele zahlreich: Lenaus antike
Strophen sind sicher nicht seine besten Gedichte, Schlegels Sonette
sind durchweg unlebendig, Hölderlins spätes Reimgedicht vom De-
zember 1800 an Landauer trägt den Stempel äußeren Anlasses, selbst
Platens Ghaselen scheinen mir mehr Biidungs- als Urgedichte, von
den sogenannten »deutschen Oden« R. A. Schröders, einem traurigen
Dokument moderner Stilpfiffigkeit, ganz zu schweigen.
Es ist also kein Zufall, wenn im Gedicht, in der mittleren Fügung,
die durch eine Wortgruppe gebildete höhere Einheit fast immer schon
durchs Metrum bedingt ist:
Glanz und Ruhm ! / so erwacht unsere Welt /
Heldengleich / bannen wir Berg und Belt /
Jung und groß / schaut der Geist / ohne Vogt ,'
Auf die Flur / auf die Flut / die umwogt. /
All dies stürmt / reißt und schlägt / blitzt und brennt /
Eh für uns / spät / am Nachtfirmament /
Sich vereint / schimmernd still / Licht-kleinod: /
Glanz und Ruhm /^Rausch und Qual / Traum und Tod. /
(Stefan George, Traum und Tod.)
Nicht immer ist die höhere Einheit so klar aufzuzeigen, aber auch
hier nicht regelmäßig und nicht dauernd sich mit dem Metrum deckend.
Überraschend ist die scharfe Abgrenzung der einzelnen Wortgruppen
I
I
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 379
gegeneinander, die sich selten so einschneidend finden läßt Meist ist
die Naht der Anlehnung durch die Zäsur gegeben:
Heute fanden meine Schritte / mein vergeßnes Jugendtal /
Seine Sohle lag verödet / seine Berge standen kahl. /
(C. F. Meyer, Ewig jung ist nur die Sonne.)
Aber auch in zäsurlosen Gedichten ist das Aufeinanderkommen der
Einheiten durch einen leisen Einschnitt fühlbar, der sich natürlich nur
beim lauten Lesen erfassen läßt:
Bemeßt den Schritt!/ Bemeßt den Schwung!/
Die Erde / bleibt noch lange'jung! '
Dort fällt ein Korn, / das stirbt und ruht. /
Die Ruh ist süß. / Es hat es gut. /
Hier eins, / das durch die Scholle bricht. /
Es hat es gut. / Süß ist das Licht. /
Und keines fällt / aus dieser Welt, /
Und jedes fällt, / wie's Gott gefällt. /
(C. F. Meyer, Säerspruch.)
Ferner:
Schön wie der Tag / und lieblich wie der Morgen, /
Mit edler Stirn, / mit Augen voll von Treue, /
An Jahren jung / und reizend wie das Neue, /
So fand ich dich, / so fand ich meine Sorgen. /
(Platen, Sonette XLVI.)
Hier fühlen wir, wie berechtigt diese Art der Fügung wohltemperiert
genannt werden kann. Nicht allein völlige Deckung der Bewegung
mit dem äußeren Wortsinn ist erreicht, sondern vor allem Deckung
mit dem Rhythmus. Das Oleichgewicht von Fügung und Rhythmus
ist das Charakteristische des Gedichtes. Wort und Bewegung sind
gegeneinander ausgeglichen. Während im Lied der Rhythmus nicht
bis zum einzelnen Worte durchdrang und er in der Hymne über die
Worte hinausschießt, diese zerbrechend, durchdringt er hier gleich-
mäßig das Wort. Wort und Rhythmus stehen in dauernder Wechsel-
wirkung miteinander, wodurch die ruhig fortschreitende Harmonie, die
der Fügung den Namen gibt, erreicht wird. Der Rhythmus, der jedes
Wort ergreift, zwingt uns so auf das Wort hin, was freilich vom
Wort aus durch dessen Sinnlichkeit erreicht wird. Dadurch, daß die
Bewegung im Wort selbst wirksam wird, erhält dieses auch eine ganz
andere Bedeutung. Dauernd von neuem von Rhythmus erfüllt (nicht,
wie im Lied, übergangen), wird es auch von Fall zu Fall neu geboren.
Somit sind erstarrte Vorsteilungsarten, stereotyp gewordene Bild-
zusammenhänge unmöglich. Im Liede rief der Rhythmus lediglich den
losen Umriß der Reihen hervor, nicht etwa die Worte, die ihrerseits
wieder die Melodie hervorriefen. Hier gebiert der Rhythmus das Wort,
darüber hinaus gibt es nichts.
380 FRIEDRICH SIEBURG.
Dementsprechend fordert das Wort hier auch eine ganz neue
Lebendigkeit. Die Ausdehnung der Einheit wird nämlich durch die
assoziierende Schwingung des Wortes bestimmt. Das Wort ruft be-
stimmte Assoziationen hervor, die um so weiter schwingen, je allge-
meiner das Wort gehalten ist, je häufiger das Wort in bestimmten
Zusammensetzungen angewandt wird. Je präziser, geistig bildlicher
ein Wort sich anfühlt, um so geringer wird diese Schwingungsweite
sein. Im Liede erstreckt sich diese Assoziationsschwingung über die
ganze Reimzeile. Das Wort, welches die Schwingung hervorruft, ist
dementsprechend gewählt, von möglichster Unbestimmtheit und mög-
lichst belastet mit Vorstellungskomplexen, die durch Umgangssprache
oder literarische Tradition hervorgerufen sind:
Der Tod, das ist die kühle Nacht,
Das Leben ist der schwüle Tag.
Es dunkelt schon, mich schläfert.
Der Tag hat mich müd gemacht. (Heine.)
Tod — Leben — dunkelt — müd : diese Töne werden flüchtig ange-
schlagen und erzeugen durch die Weite ihrer mitschwingenden Vor-
stellung die Melodie die als Einheit über der Reihe liegt. Oder:
Von fern die Uhren schlagen,
Es ist schon tiefe Nacht.
Die Lampe brennt so düster.
Dein Bett lein ist gemacht.
Die Winde nur noch gehen
Wehklagend um das Haus.
Wir sitzen einsam drinne
Und lauschen oft hinaus... (Eichendorff.)
Uhren schlagen — tiefe Nacht — düster — Bettlein — Winde —
wehklagend — einsam — lauschen: jedes Wort schwingt enorm nach.
»Uhren schlagen«: man fühlt Stunde auf Stunde in der Totenstille
dahingehen, »Bettlein«: eine Welt voll Zärtlichkeit schwingt im Dimi-
nutiv mit, im übrigen verbinden sich mit bekannten Worten bekannte
Assoziationen, die dann jedesmal der Zeile ihre Einheit geben. Der
Reim, in möglichster Abgeschwächtheit, dient dazu, die einzelnen Ein-
heiten in ihrer Eigenschaft als Melodie miteinander zu verbinden. Die
Weite der Assoziationsschwingung fällt also mit der Einheit über den
Worten zusammen. Wenn nun die Einheit im Worte selbst gegeben
ist, oder wie beim Gedicht mindestens in der Wortgruppe, so ist es
klar, daß wir es im Gedicht mit solchen Worten zu tun haben, welche
ihre Bedeutung mehr in sich tragen und das, was sonst über dem
Wort mitschwingt, möglichst im Wort geben. Das Wort wird also
den Leser nicht in dem Maße loslassen wie im Lied, es wird seinen
geistigen Raum selbst ausfüllen, nicht es dem Leser überlassen, diesen
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 381
mit seinen Schwingungen zu bevölkern. Das Wort wird innere Bild-
lichkeit haben. Anderseits wird, im Falle solche Worte von weiter
Schwingung auftauchen, der Formenrhythmus in seiner unerbittlichen
Erfassung möglichst jedes Wortes diese Schwingung so begrenzen,
daß die innere Bildlichkeit nicht durch das Entstehen einer Melodie
gestört wird, genau so wie man eine Saite kürzer faßt, um die
Schwingung zu verringern und so einen höheren Ton zu erzielen.
Glanz und Ruhm! /so erwacht unsere Welt/ (George.)
Der Rhythmus hält mit dem Wort durchaus Schritt, er gestattet dem
Wort nicht, sich frei zu machen zu einer Schwingung, welche die
durch die Worte »Olanz und Ruhm« gebildete höhere Einheit durch-
brechen könnte. Gerade bei George können wir dies häufig beob-
achten: weitschwingende, mit reichen Vorstellungskomplexen beladene
Worte gebändigt durch einen darum um so bildlicheren und strenger
formenden Rhythmus:
Uns, die durch viele Jahre zum Triumpfe
Des großen Lebens ihre Lieder schufen,
Ist es Gebühr, mit Würde auch die dumpfe
Erinnrung an das Dunkel vorzurufen.
(George, Vorspiel.)
Hier spüren wir durch die Synthese von weitspannendem Wort mit
begrenzendem Rhythmus »die tiefsten Lebensgluten in schönster Bändi-
gung«. Im Liede wirkt der Rhythmus wesentlich in der Zeit, d. h.
er bewirkt den Ablauf des Gebildes, freilich paralysiert oder wenig-
stens gehemmt durch den Reim, der durch seine rückgreifende Ver-
bindung der Melodien eine gewisse zyklische Stetigkeit hervorruft. Im
Gedicht wirkt der Rhythmus wesentlich im Raum, d. h. er bewirkt den
Aufbau des Gebildes, unterstützt durch den Reim. (In der Hymne
wiederum wirkt die Reimlosigkeit bis zu einem gewissen Grade paraly-
sierend, da durch den Wegfall der tonlichen Wiederkehr die logische
Aufeinanderfolge ihre Richtung bewahrt.) Es stellt sich also Zeit-
rhythmus gegen Raumrhythmus.
Was nun von der Bildlichkeit der Sprache bei der Betrachtung
des Liedes gezeigt wurde, mag hier wieder ins Gedächtnis treten, um
den Gegensatz von der Impression zur sprachlichen Plastizität des
Gedichtes deutlich zu machen. Herder sagt in seiner Vorrede zu den
Volksliedern: »Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde;
seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft
oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck ,Weise'
nennen könnte. Fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, keine
poetische Modulation, keinen gehaltenen Gang und Fortgang des-
selben, — habe es Bild und Bilder und Zusammensetzung und Nied-
382 FRIEDRICH SIEBURG.
lichkeit der Farben soviel es wolle, es ist kein Lied mehr.« Dies läßt
sich — da Herder mit dem Wort Lied terminologisch nichts ver-
band — auf die lyrischen Gebilde überhaupt ausdehnen. Weiter
äußert sich Goethe in »Shakespeare und kein Ende« noch ein-
deutiger: »Das Auge mag wohl der klarste Sinn genannt werden,
durch den die leichteste Überlieferung möglich ist. Aber der innere
Sinn ist noch klarer und zu ihm gelangt die höchste und schnellste
Überlieferung durchs Wort; denn dieses ist eigentlich fruchtbringend,
wenn das, was wir durchs Auge auffassen, an und für sich fremd
und keineswegs so tiefwirkend vor uns steht.« Deutlich wird hier
gesagt, daß es nicht darauf ankommt, wie in der glatten Fügung, ver-
mittels der Worte eine Impression zu erzeugen, sondern die Bildlich-
keit im Worte selbst lebendig werden zu lassen. Nur der formhafte,
sinnliche Mensch spürt im Wort selbst das Plastische, das eben nur
in der Sprache wirksam werden kann, also mit eigenen Mitteln als
etwas Eigenes auftritt, während die impressionistische Bildlichkeit
immer nur versuchen kann, etwas Außersprachliches, das sich z. B. in
der Malerei viel vollendeter findet, darzustellen, ohne daß die Sprache
zu ihrem vollen Rechte käme. Man betrachte nur im Gedicht die
Stellung des Beiwortes oder der Metapher! Immer ist das Beiwort
bemüht, aus dem Hauptwort möglichst viel Geistiges herauszuholen,
seinen begrifflichen Gehalt abzugrenzen, klarzustellen oder auch zu
erweitern, besonders aber um es zu spezialisieren und es mit dem
Erlebnis in Beziehung zu setzen: Oede Welle, trauernde Woge, wilder
Lorbeerbusch, ihr lieben Inseln, Augen der Wunderwelt, das heilig-
nüchterne Wasser, die sehnsüchtigen Wasser, uralter Efeu, lebende
Säulen, liebende Nacht, heilige Nacht, schwärmerische Nacht, selige
Wolken, geschäftige Bäche, einsamharrender Strom, lebendiger Strom,
klagenbereitender Nordwind, diebische Tränen, schauendes Ufer, das
weiche Wild, edle Purpurröte usw. Immer ist das Wort selbst ver-
tieft, nie ist versucht, dem Worte mehr landschaftlichen Charakter zu
geben, als es selbst schon in sich trägt. Selten wird Beziehung zum
Atmosphärischen, sondern meist zum Erlebnis hingegeben. Im Mittel-
punkt des Gedichtes steht immer das vom Erlebnis bewegte Ich, und
deshalb kann die Wortfügung auch nie einen beschreibenden Cha-
rakter annehmen. Man lese C. F. Meyers Gedicht »Michelangelo und
seine Statuen«:
Du öffnest, Sklave, deinen Mund,
Doch stöhnst du nicht. Die Lippe schweigt.
Nicht drückt, Gedankenvoller, dich
Die Bürde der behelmten Stirn.
Du packst mit nerv'ger Hand den Bart,
Doch springst du, Moses, nicht empor.
1
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 383
Maria mit dem toten Sohn,
Du weinst, doch rinnt die Träne nicht.
Hier stehen die Worte einzig in ihrer begrifflichen Erfüiltheit ohne die
Absicht, malen zu wollen oder das Atmosphärische, das die Verdeut-
lichung der Statuen erleichtern könnte, zu vermitteln. Das Malerische,
Gegenständliche, das ja geschildert werden soll, wird ins sprachlich,
begrifflich Bewegte übertragen. Nicht Bild, sondern Bewegung wird
erzielt, doppelt bemerkenswert, da es sich ja um eine Schilderung
fertiger Kunstwerke handelt. So ist denn charakteristisch, daß der
Dichter nicht die Statuen darstellt wie sie vor ihm stehen, sondern
durchgängig das ausspricht, was sie nicht tun: »Doch stöhnst du
nicht . . .«, »nicht drückt dich . . .«, »doch springst du nicht empor . ..«,
»doch rinnt die Träne nicht...« Die Umrisse werden verschmäht,
statt dessen wird der geistige Kern bloßgelegt. Ein glänzendes Muster-
beispiel, in welcher Weise »beschreibende« Poesie, die dann eben
nicht mehr beschreibende Poesie ist, allein möglich ist. So allein
bleibt die innere Bildlichkeit des Wortes gewahrt, ohne auf Kosten
einer äußeren Bildlichkeit gesprengt zu werden.
Eine Vermischung beider Elemente stellt Hölderlins »Hälfte des
Lebens« dar:
Mit gelben Birnen hänget Weh mir, wo nehm' ich, wenn
Und voll von wilden Rosen Es Winter ist, die Blumen, und wo
Das Land in den See, Den Sonnenschein
Ihr holden Schwäne, Und Schatten der Erde?
Und trunken von Küssen Die Mauern stehn
Tunkt ihr das Haupt Sprachlos und kalt, im Winde
Ins heilignüchterne Wasser. Klirren die Fahnen ').
Im ersten Teil bricht das Ich des Dichters nicht durch, auch die
Fügung ist von ziemlich glattem jambischem Charakter, der rhythmische
Aufbau der einzelnen Zeile fällt ungefähr mit dem syntaktischen zu-
sammen. Entsprechend tritt auch das rein Malerische im Landschafts-
bild näher hervor. Im zweiten Teil ist das landschaftliche Element
vollkommen in die dichterische Bewegung mit hineingenommen, ohne
dadurch an Eindringlichkeit zu verlieren. Der optische Eindruck fehlt
vollständig, das Bild fließt im Erlebnis. Der Mensch steht in der
') Sehr charakteristisch für den Übergang von Liedstil zum Gedichtstil sind
die Umarbeitungen und verschiedenen Fassungen. Man vergleiche z. B. bei Hölder-
lin die drei Fassungen des Gedichtes »An Eduard« untereinander und mit diesen
wieder eine neue bisher unbekannte Bearbeitung »Die Dioskuren«, die leider Bruch-
stück geblieben ist (Gesamtausgabe ed. Hellingrath IV. Bd., Anhang S. 290). Nicht
minder lehrreich für die Stilverschiebungen sind C. F.Meyers Umarbeitungen, die
dieser bewußt nach einem härteren Stil hin vornahm. Vgl. darüber in dem hervor-
ragenden Buch von Franz F. Baumgarten »Das Werk C. F. Meyers«, München 1917,
S. 247 ff.
384 FRIEDRICH SIEBURG.
Mitte der Landschaft. Logischerweise tritt auch der Rhythmus stärlcer
durch und fügt die Worte härter aneinander, so daß die Kraft ihrer
Innerlichl<eit schon dadurch mehr zur Geltung kommt.
Ein wichtiges Stilelement des Gedichtes finden wir auch, wie hier
in Vers 8, in der Fragestellung. Die Fragestellung, die Anrede, der
Ausruf, alle jene Formen, die geeignet sind, den flüssigen Ablauf des
syntaktischen Zusammenhangs zu durchbrechen, werden in der glatten
Fügung des Liedes kaum vorgefunden, weil der Sinn durch sie von
der Melodie aufs Wort selbst hingezwungen würde. Im Gedicht aber
ist diese syntaktische Lebendigkeit bedeutsam. Sie wird vor allem
von Hölderlin, aber auch von Klopstock (dort häufig ins Rhetorische
umschlagend) und Hebbel angewandt. Diese Satzformen gehen mit
dem Gefühl für den formhaften Charakter des Wortes Hand in Hand.
Sie sind durchaus im Geist der Sprachbewegung, der an Stelle des
Zustandes die Bewegtheit setzt, an Stelle der Bezeichnung für ein
Gefühl den Ausruf setzt, den dies Gefühl im Munde des Menschen
hervorruft, an Stelle des Wortes »Schmerz« den Schmerzensschrei
selbst, des Wortes »Verlassenheit« den Klagelaut, des Wortes »Liebe«
die Anrufung der Geliebten. Die lebendige Vorstellung verlangt nach
einer prägnanten Bezeichnung, um das Wort restlos ausschöpfen zu
können, während die erstarrtere Vorstellungswelt des Liedes sich mit
der farbloseren Bezeichnung des Zustandes meist zufrieden gibt, um
die Melodie durch die Wortbewegung nicht zu hemmen *).
Dies Symptom, wie überhaupt die Wahl der Fügungsart hat seinen
Ursprung in der seelischen Disposition des Dichters schlechthin. Dem
Gedicht liegt der Mensch zugrunde, dessen Formhaftigkeit im Moment
des Produzierens absolut ausgeglichen ist. Keine Lockerung des Ge-
fühls zum Ich hin (wie beim Lied) oder zu Gott hin (wie in der
Hymne) ist zu spüren. Jedes Wesen hat seinen geistigen Raum, jede
Tat schafft ihn sich. Und Vollkommenheit ist da, wo dieser Raum
erfüllt ist. Die Hellenen haben ihren Raum nicht erfüllt, darum durfte
sie Nietzsche »dieses zum Leiden so einzig befähigte Volk« nennen.
Das hellenische Gedicht aber hat ihn beleibt, wie das Gedicht über-
haupt. Das Leibwerden gibt dem absoluten Geist erst die Möglich-
keit, existent zu werden. Das Gedicht ist beleibter, begrenzter Zustand.
Das Wesen seiner Objektivation ist äußerste Rundheit. In ihm ist
das Erlebnis verwandelt, und des Universalen, zu dem alle Bewegung
hindrängt, ist noch nicht gedacht. Seine restlose Verkörperung, die
sich selbst ganz erfüllt hat, läßt keinen Raum mehr für musikalische
Gewitterung, für impressionistischen Traum, für melodischen Rausch.
') Vgl. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung S. 431 f.
1
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 385
»Heilignüchtern« hat es sein Oleichgewicht. Und sind die Gedichte
Platens oder ßaudelaires darum weniger i<iare Gebilde und glückliche
Erfüllungen, weil sie einmal kranken und zerrissenen und wahnsinnigen
Erlebnissen entsprungen sind? Nein, die Saugkraft dieser pathetischen
Bildlichkeit ist vollkommen. Was auch in sie hineingehe, sei es ein
bukolisches Glück oder eine qualvolle Morgendämmerung in Paris, es
geht ganz hinein und läßt keinen Schrei mehr heraus und keine Melodie.
Die Hymne.
Und doch gibt es Gebilde die man tragisch nennen würde, wenn
die Lyrik überhaupt Vorgänge und nicht Zustände ausdrückte, ich
meine die Hymnen. Die Hymnen repräsentieren den eigentlichen
großen Stil der Lyrik. Sie stellen eine ungeheuere Formungsarbeit
dar, weil in ihnen eine ungeheuere Bewegung wirksam ist. Das Fest-
stehende ist auch hier das formhafte Ich des Dichters, aber sowohl
der Anstoß zur Schwingung wie auch der Grad der Schwingung sind
von solcher Macht und Ausdehnung, daß Gestalt und Formgesetz
kritisch kaum noch wahrnehmbar sind und sich der dialektischen Er-
fassung umsomehr entziehen, je stärker sie sich dem nachlebenden
Gefühl eindrücken. Daß nicht etwa die Unendlichkeit des Erlebnis-
grundes allein das Unendliche dieser hymnischen Bewegung ausmacht,
erhellt schon daraus, daß das unendlichste Erlebnis der Lyrik, Gott,
einen so verschiedenen Ausdruck hervorrief. Vom Kirchenlied des Paul
Gerhardt und Novalis bis zu Klopstocks »An Gott« und »Dem Allgegen-
wärtigen« und von Hölderlins Christus-Mythos bis zum orphischen
Urwort, welch ein Unterschied in Schwingung, Spannung und Bewe-
gung, aber doch hervorgerufen von einem Erlebnis, das zwar in sich
hundertfach geartet sein kann, kirchlich gebunden, mystisch vertieft
und pantheistisch gelockert, letzten Endes jedoch eine Wurzel hat.
Ganz gleichgültig ist freilich die Extensität des Erlebnisses selbst nicht.
Was schon daraus erhellt, daß es kaum ein Gebilde hymnischen Cha-
rakters und harter Fügung gibt, das man zur Liebeslyrik rechnen
könnte. Das Liebeserlebnis, als Erlebnis von Mensch zu Mensch,
von Zustand zu Zustand, von Ich zu Ich, könnte die dichterische Be-
wegung nie veranlassen, ins Universale, ins Unendliche zu dringen,
da Ursprung und Ziel der Liebesbewegtheit ja ein endliches ist, die
Geliebte. Das ist freilich nur psychologisch gesprochen richtig, denn
was in der Seele einen Zweck hat, ist in der Form zwecklos. Was
in der Seele den Besitz sucht, sucht in der Form die Bewegung, was
dort begehrt, ist hier wunschlos, was dort Ergänzung durchs Objekt
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwiuenschaft. XIV. 25
386 FRIEDEICH SIEBURG.
sucht, ist hier allein als Subjekt gültig, und während der Mensch die
Geliebte sucht, ruft der Dichter: »Doch liebt die Liebe!« (Hölderlin.)
Immerhin aber ist das Was des Erlebten mitbestimmend für das Wie
des Erlebens. Zwar kann das unendliche Erlebnis so zart schwingen,
daß diese Schwingung im Lied ihren Ausdruck sucht, selten aber wird
ein begrenztes Erlebnis so stark schwingen, daß es zur Hymne drängt.
Die Art der Schwingung ist das Ausschlaggebende.
Beim Hymnendichter ist die Kongruenz von Ich und Erlebnis
besonders deutlich. Er spürt keinerlei Distanz mehr zu seinem Er-
lebnis, kein Verhältnis, das überbrückt werden müßte. Sein bewegtes
Ich ist mit dem, was dieses Ich in Bewegung gesetzt hat, vollkommen
identisch. Es ist derselbe Vorgang, der sich in einer anderen Welt,
der der Mystiker, parallel ereignet: Im innersten, tiefsten Seelenpunkt
findet sich die Universalität (in diesem Falle Gott, in unserem Falle
das Erlebnis überhaupt) wieder. Was sich durch kein Ausströmen in
die Unendlichkeit fangen und erfassen ließ, bei der tiefsten Einkehr
ins Selbst taucht plötzlich das All in einem Punkte auf. Der Begriff
des Unendlichen wird gleich Null, die Parallelen schneiden sich, die
Distanz ist aufgehoben, »hier ist Gottes Grund mein Grund und mein
Grund ist Gottes Grund« (Eckehart).
Seelig, wer ohne Sinne
Schwebt, wie ein Geist auf dem Wasser,
Nicht wie ein Schiff — die Flaggen
Wechselnd der Zeit und Segel
Blähend, wie heute der Wind weht.
Nein, ohne Sinne, dem Oott gleich,
Selbst sich nur wissend und dichtend.
Schafft er die Welt, die er selbst ist.
Und es sündigt der Mensch drauf.
Und es war nicht sein Wille!
Aber geteilet ist alles.
Keinem ward alles, denn jedes
Hatt' einen Herrn, nur der Herr nicht;
Einsam ist er und dient nicht.
So auch der Sänger.
In diesem Gedicht Brefanos »Nachklang Beethovenscher Musik« ist
dies Zusammenfallen von Wille und Tat, von Seele und Gott, daß
wir in unserer Kategorie die Deckung von Ich und Erlebnis nennen,
vollkommen dargelegt. Das Erlebnis des Hymnendichters ist ebenso
einfach zu benennen wie es allumfassend und schwer zu begrenzen
ist. Der Gott Klopstocks schließt auch die ganze Natur und Kreatur
mit ein, umfaßt den Bibelgott und Christus ebenso wie Baidur und
Dionysos. Goethes Titanismus umfaßt sowohl sein Ichgefühl wie
sein Weltgefühl, seinen Drang sich auszuströmen, wie den, sich zu
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 387
erobern, seine Wallung wie sein Bild, sein Kosmos wie sein
Chaos, sein Sein wie sein Werden, Hölderlins Prophetie begreift das
Vaterland wie das Gottesreich, die Wiederkehr der Götter wie die
Reife der Welt zum Untergang, Christus wie den Vater Äther und
den Stromgeist, eigene Weisheit wie stummes Schicksal. Hier tritt
uns in reinster Form der Dichter als »gottgesandter Sprecher«, als
Seher, als *vates<t entgegen. Er ist der Hüter der tiefsten Geheim-
nisse, der Gott in sich trägt und deshalb die letzten Erkenntnisse von
Zukunft und Schicksal seherisch deuten kann. Keiner wie er kann
so »unmittelbar das Vaterland angehen oder die Zeit« (Hölderlin).
Das Lied hat Augenbiickscharakter, es ist persönlich begrenzt und
ein Einzelfall, das Gedicht ist durch seine Rundheit ohne Beziehung
weder vom Dichter her noch zur Menschheit hin, es ist zeitlos, die
Hymne aber gehört der Menschheit und dem Schicksal der Zeit, sie
ist im tiefsten Sinne religiös, weil sie ohne Gemeinde, ohne Volk ihren
wahren Kultcharakter nicht erfüllen würde.
Das unendliche Erlebnis wirkt im formhaften Ich als Schwingung.
Die Gewalt der Schwingung, die durch das Aufeinanderprallen dieser
Gegensätze und ihrer Durchdringungsarbeit hervorgerufen wird, wirkt
sich sprachlich entsprechend gewaltig, ja gewaltsam aus. Die dichte-
rische Bewegung, oder vielmehr ihr Formkorrelat, der Rhythmus, be-
kommt Gewalt über die Worte. Während im Lied die Wortreihe
stärker wirkt als der Rhythmus, ist hier der Rhythmus stärker als das
Wort. Er begnügt sich nicht damit, die Wortgruppe zu durchdringen,
sondern er reißt die einzelnen Worte so stark voneinander kts, daß
die Fugen klaffen: daher die Bezeichnung »harte Fügung« »). Das
Wort tritt hier recht eigentlich mit absoluter Selbständigkeit als das
dichterische Element auf. Selbst Worte geringerer Schwere, wie Par-
tikel und Pronomina werden vom übermächtigen Rhythmus erfaßt und
aus der harmonischen Gebundenheit innerhalb der Wortgruppe hinaus-
geschleudert. Verbindung zwischen den Worten existiert also kaum
noch, sie stehen hart nebeneinander. Sie können sich nicht mehr der
Melodie oder dem Sinn unterordnen, sondern wirken lediglich als
Wort selbst. Daher der schwere Gang der Hymne einerseits und ihre
sogenannte Dunkelheit anderseits. Drei Beispiele, zunächst:
Es tönet sein Lob Feld und Wald, Tal und Oebirg,
Das Oestad' hallet, es donnert das Meer dumpfbrausend
') Der reinste Vertreter dieser Stilart ist Hölderlin, daneben Klopstock, wo es:
ihm gelingt, rationalistische Reste und rhetorisch Lehrhaftes im Feuer einzuschmelzen,
ferner der titanische Goethe, von Pindar beeinflußt und, in seltenen Stücken, auch
Platen.
388 FRIEDRICH SIEBURG.
Des Unendlichen Lob, siehe des Herrlichen,
Unerreichten von dem Danklied der Natur!
(Klopstock, Die Gestirne.)
Oder:
Komm, leuchtender Gott! Reblaub in dem Haar, tanz uns
Weichfüßige Reihn, eh' vollends die Welt Staub wird:
Hier magst du dir Roms Asche sammeln.
Und mischen deinen Wein damit!
(Platen, Turm des Nero.)
Oder:
Denn izt erlosch der Sonne Tag
Der Königliche und zerbrach
Den geradestrahlenden
Den Zepter, göttlichleidend, von selbst.
Denn wiederkommen sollt es
Zu rechter Zeit. Nicht war' es gut
Gewesen, später, und schroffabbrechend, untreu.
Der Menschen Werk, und Freude war es
Von nun an.
Zu wohnen in liebender Nacht . . . (Hölderlin.)
Im Liede wurde der innere Ablauf des lyrischen Vorgangs im wesent-
lichen durch die Melodie vorwärts geschoben, die durch den eigenen
Ton der Worte niemals gestört werden durfte, im Gedicht erfolgte
diese Vorwärtsbewegung durch den Sinn der aus der Harmonie von
Rhythmus und Wortgruppe heraustrat. In der Hymne aber, wo der
starke Ton jedes einzelnen Wortes weder eine fortführende Melodie
zuläßt noch der Rhythmus zur Wortgruppe in einem ausgeglichenen
Verhältnis steht, so daß der Sinn die Oberhand gewönne, wird die
bewegende Kraft durch den Rhythmus gebildet. Dieser reißt uns,
den syntaktischen Bau vergewaltigend, hart von Wort zu Wort, weil
er eben, entsprechend der ins Grenzenlose drängenden dichterischen
Bewegtheit, ein gleichgewichtiges Sprachkorrelat kaum noch finden
kann. Der flüssige Zusammenhang einer logischen Sinnfolge ist nicht
mehr zu wahren, würde dies doch nur dann erreicht werden können,
wenn der syntaktische Bau einigermaßen der üblichen menschlichen
Wortfolge ähnlich bliebe und wenn sich Worte verschiedenen Bedeu-
tungsgewichtes in ihrer Abstufung behaupten könnten. Die Worte
haben, durch den Rhythmus zersprengt und absolutiert, keine Mög-
lichkeit mehr, sich zueinander ins Verhältnis zu setzen und so ein
logisches Ergebnis hervorzurufen. Schon die Behandlung der Syntax
läßt dies nicht zu: Subjekt und Verbum sind weit getrennt, der erklä-
rende Nebensatz ist plötzlich in einem Worte kristallisiert, dann werden
gedehnte Perioden von ihren Schachtelsätzen ruckartig abgeschnitten,
dann wird zwischen Artikel und Substantiv ein Satz, der das Adjektiv
ersetzt, eingepreßt. Kurzum, die äußersten stilistischen Möglichkeiten
I
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG.
389
arbeiten zusammen, um zu verhindern, daß die Worte mehr seien als
eben Worte, daß sie etwa als Faktoren eines »Inhalts« nur relativen
Sinn hätten. Ihre scheinbare Zusammenhangslosigkeit, erzeugt durch
den übermächtigen Rhythmus, offenbart auch ihren tiefsten Sinn: das
Wort als Leib. Ein großer Glaube an die absolute Macht des Wortes
liegt dem Hymnenstil zugrunde, eine tiefe, glühende, hellenische Sinn-
lichkeit, die im Wort die Fähigkeit spürt, eine eigene geistige Existenz
zu führen und als Bild in sich zu tragen, was andere durch außer-
sprachliche Melodie oder Impression zu erreichen suchen. Klopstock
hat sich über den Kampf zwischen dem glatten, logischen Ablauf, in
dem das Wort verkümmern muß, und der hymnischen Gewaltsamkeit
der Syntax gegenüber tiefe Gedanken gemacht. Sein Gedicht >Der
Kranz« beginnt:
Dank euch, Griechen, daß ihr, was der Verstand vereint,
Wie dem Freunde den Freund,
Wie dem Jüngling die Braut Liebe, gewaltsam trennt,
Wenn mit siegendem Reiz
Eure Sprache, wie Tau, euch von der Lippe träuft!
[Hier ist es ausgesprochen, daß die dichterische Sprache des sinnlichen
Hellenen »gewaltsam trennt, was der Verstand vereint«.
Besonders kraß und konsequent ist dies in Übersetzungen aus
Untiken Sprachen durchgeführt, wo die Überführung einer grenzenlosen
[Bewegtheit in eine nicht völlig adäquate Sprache doch adäquat erfolgen
jsoll. Ich nenne nur Hölderlins Pindarübertragungen, Schulbeispiele
ffür den hartgefügten Stil und die äußerste Anspannung der Sprache,
die sich denken läßt. Klopstock überträgt die berühmte Horazische
jOde »Aequam memento rebus in arduis servare mentetn . . .« folgender-
[ maßen:
Gesetztes strebe Schici<ung bei trauriger
Zu bleiben Geistes, wie bei der glücklichen.
Von zügellosen unbezwungenes
Freuden, o Jüngling, der einst auch hinwelkt.
Wer Klopstocks Sprachsinnlichkeit und seine Beherrschung der Kunst-
mittel kennt, wird sich nicht entschließen können, dies für eine Schrulle
zu halten, sondern wird die eigenlebige Kraft des Wortes wie die
übermäßige Gewalt des Rhythmus besonders rein spüren.
Das Übergewicht des Rhythmus über die Wortfügung hat zur
Folge, daß der bestimmte Faktor im Aufbau der Hymne nicht der
logische Ablauf ist, sondern die Assoziation. Wohl verstanden aber
wirkt nicht etwa das einzelne Wort durch die Weite seiner Schwingung
derart, daß einer der anklingenden Begriffe das gedankliche Element
zum folgenden ausmacht, da ja das Wort vom Rhythmus isoliert ist
390 FRIEDRICH SIEBURG.
und deshalb keine übergreifende Schwingung aufweist, sondern die
Assoziation geht von der dichterischen Bewegung aus und ist infolge-
dessen eine gehaltliche. Weder die rein logische Aufeinanderfolge noch
das Aufgreifen eines durchs Wort hervorgerufenen Stimmungskom-
plexes ruft das stoffliche Fortschreiten hervor, vielmehr wird der durch
die Begeisterung erzeugte Ideenkomplex aufgegriffen und der Fort-
führung zugrunde gelegt. Und zwar deshalb, weil die überströmende
Bewegung, die Rauschwoge, der Wirbel der Entzückung sowohl das
stimmungsmäßige Ausklingen des Wortes als auch die logische Kau-
salität ausschaltet. Bezeichnend ist der häufige Gebrauch des Wortes
:»aber« in der Hymne, der den jähen, logisch nicht begründeten
Wechsel des Gedankens einleitet: »Es reiche aber, des dunklen Lichtes
voll, mir einer den Becher . . .«, »Wo aber sind die Freunde?«, »Nun
aber sind zu Indiern die Männer gegangen«, >.Was bleibet aber, stiften
die Dichter«, »Es rauschen aber um Asias Tore . . .« (Hölderlin). Man
vergleiche auch die strophischen Übergänge in Goethes »Prometheus«:
der Gedankenkomplex des Götterneides (Vers 1 — 11) wird aufgegriffen
durch Vers 12: »Ich kenne nichts Ärmeres . . .«, »Kinder und Bettler«
(Vers IQ) leitet zu Vers 21 über: »Da ich ein Kind war . . .«, »Und
glühtest Rettungsdank« (Vers 35) deutet auf Vers 37: »Ich dich ehren?«
usw. Der Gedankenkomplex wirkt sich jeweils in einem Gedichtteil
aus, der als Strophe abgesetzt ist und auch tatsächlich so aufgefaßt
werden muß. Die freien Rhythmen sind strophisch gebaut, nur kann
hier nicht die Regelmäßigkeit und gleichmäßige Wiederkehr der Ge-
dichtstrophe gesucht werden. Im Gedicht war die Strophe auch von
außen leicht erfaßbar und das Wesentliche war gerade die Gleichheit
der Strophen unter sich. Dies entspricht dem zyklischen Charakter
des Gedichtes, das seinen geistigen Raum ebenmäßig erfüllt und durch
völlige Deckung von Bewegung und Fügung die symmetrische Rund-
heit der Strophe ohne weiteres erzielt. Die Hymne aber, die ihren
geistigen Raum durchbricht, deren Bewegung die Fügung überwältigt,
muß dementsprechend eine Strophenform haben, die von außen ge-
sehen durchaus nicht symmetrisch ist. Keineswegs ist die Absetzung
in Strophenteile hier willkürlich, vielmehr entzieht sich das innere
Gesetz, das sowohl im Metrum als auch im Aufbau wirkt, dem
bloßen Auge und tritt nicht nach außen in die Erscheinung. Wo die
Strophe sich absetzt, da liegt auch jedesmal ein Einschnitt in der Be-
wegung vor. Entsprechend dieser ungestümen Bewegung erfolgt je-
doch der Einschnitt unregelmäßig. Umgekehrt können wir beobachten,,
daß z. B. Klopstock häufig im Eingang seiner Hymne auch äußerlich I
die Symmetrie der Strophen zu wahren sucht, daß aber, je stärker der i
Rhythmus ihn mitreißt, auch das Aussehen der Strophen unregelmäßig
• DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 391
wird (»Dem Allgegenwärtigen«, »Die Frühlingsfeier«, »Die Lehrstunde«,
»Der Segen« usw.).
Das gleiche gilt vom Metrum. Je reiner als Typus die Hymne
ist, um so unregelmäßiger wird, von außen gesehen, das Metrum sein.
Bei Goethe z. B. läßt sich noch der Zweihebungsvers als Grund-
metrum aufspüren, auch bei Klopstock und Platen läßt sich das antike
Maß, von dem die Ode ausging, auch in ihren hymnisch gelockerten
Teilen noch durchfühlen. In Hölderlins freien Rhythmen ist dies
schon schwieriger, doch glaube ich Hellingrath ») zustimmen zu dürfen,
der neben den pindarischen Maßen den gelockerten Blankvers des
»Empedokles« zugrunde legt. Jedenfalls stellt Hölderlins Spätwerk
auch in dieser Beziehung den Höhepunkt der Hymnendichtung dar.
Bei ihm liegt das gesamte Metrum gesetzlich fest, während z. B. bei
Goethe noch vieles Metrische einfach durch die Auflösung der Ge-
dichtfügung bestimmt wurde. Wie innerlich notwendig das Versmaß
und die Absetzung in Reihen und Teile vor sich geht, empfindet man
deutlich, wenn man Achim von Arnims Abdruck*) von Hölderlins
»Patmos« liest. Arnim druckte die Hymne als Prosa ab und zwar
mit zahlreichen Entstellungen und Abweichungen. Der durchgehende
Prosadruck offenbart erst deutlich die Bedeutung der Verseinschnitte
und die völlige Veränderung die durch ihren Wegfall die Bewegung
der Hymne erfährt; auch die Abweichungen, die ganz im romantischen
Geiste gehalten sind, verändern das Gebilde erstaunlich nach der un-
antiken, mittelalterlichen, christlich-romantischen Sphäre hin.
Die höhere Bedeutsamkeit des Wortes in der Hymne ist schon
durch die Tätigkeit des Rhythmus gegeben. Dies bestimmt auch die
Wortwahl. Was hierüber bei der Betrachtung des Gedichtes gesagt
wurde, gilt für die Hymne in weit höherem Maße. Die Worte werden
so gewählt, daß sie möglichst wenig Raum lassen für Schwingungen.
Sie müssen den Leser') so fest halten durch ihre Eindringlichkeit und
Unerhörtheit, daß er gar nicht bis zum Zusammenhang durchdringt,
sondern sich vom Rhythmus von Wort zu Wort gestoßen fühlt. Galt
es im Liede Worte und Verbindungen zu bringen, die möglichst
wenig Aufmerksamkeit erregten, so kommt es hier gerade auf das
Überraschende und Prunkende und Auffallende an '). So sind denn
auch keine landläufigen Zusammensetzungen und Redewendungen wie
im Liede möglich, sondern fremde und erstaunliche Worte werden
') In «Hölderlins sämtl. Werke«, München 1916, Anhang S. 338.
*) Berliner Konversationsblatt, Berlin 1828, Nr. 33 u. 35.
') Oder vielmehr: den Hörer. Die lyrische Stilfügung, besonders die harte,
kann nur durch lautes Lesen erfaßt werden.
') Vgl. W. V. Humboldt, Werke ed. Albert Leitzmann, Pindar Bd. I, S. 428.
3Q2 FRIEDRICH SIEBURG.
zusammengekoppelt, um dann gerade in ihrer begrifflichen Verbindung
ihre rhythmische Oetrenntheit um so deutlicher zu machen. Jedes
Belastetsein mit Sprachgebrauch und fertigen Vorstellungen verschwin-
det, die Worte wirken, als wären sie eben gewachsen, und erklängen
zum ersten Male. Hier fällt höchste Künstlichkeit mit höchster
Ursprünglichkeit zusammen. Der Drang nach möglichst prägnanten,
eindrucksvollen und überraschenden Worten ruft auch gleichzeitig das
Bedürfnis nach deren möglichster Reinheit, Frische und Unabgegriffen-
heit hervor. Das gleiche Stilbedürfnis, das den Syntax der Hymne
so gewaltsam umbiegt, sucht auch das Wort selbst so ins Unerhörte
zu steigern. Sogenannte Schlichtheit wird man hier vergeblich suchen.
Der gewaltige Rhythmus braucht auch gewaltige Worte, wenn er über-
haupt in ihnen wirksam werden soll.
Eng damit zusammen hängt die Frage nach der Bildlichkeit des
Wortes. Auch hierüber ist bei der Betrachtung des Gedichtes das
Wesentliche schon gesagt worden, was sich freilich in der Hymne
konsequenter und unvermischter ausprägt. Im Gedicht fand man
häufig noch ein Nebeneinander von innerer Plastik und Impression.
Hier aber ist die innere Bildlichkeit des Wortes bis aufs äußerste
durchgeführt. Das Gefühl, daß die innere Anschauung um so sinn-
licher sich darstellt, je unmittelbarer sie Wort wird und in die Sprache
eingeht, daß das nackte, durch die Natur, nicht durch den Gebrauch
bestimmte Wort in sich mehr Plastik birgt, wenn es zentral aufgefaßt
wird, als eine noch so gehäufte, aber immer peripherisch arbeitende
Beschreibung, das ist hier ausschlaggebend. Auch hier ist ein Ver-
gleich zwischen den verschiedenen Fassungen Hölderlinscher Gebilde
sehr instruktiv für die geschärfte Auffassung des bildlichen Wort-
inhalts bei der Verschiebung nach dem härteren Stil hin. Man ver-
gleiche die »Chiron« betitelte Variante des »blinden Sängers, die
»Blödigkeit« genannte Umarbeitung von »Dichtermut«, »Ganymed«,
vorher »Der gefesselte Strom«, mit ihren ersten Fassungen. Das
Streben nach vermehrter innerer Plastik schuf die Worte folgender-
maßen um: »tritt bar ins Leben« statt »Wandle nur wehrlos fort durchs
Leben«, »es sei alles gelegen dir« statt »es sei alles gesegnet dir«,
»sei zur Freude gereimt« statt »sei zur Freude gewandt«, »Wir, die
Zungen des Volks« statt »Wir die Sänger des Volks«, »jedem gleich«
statt »jedem hold«, »und frierst am kahlen Ufer« statt »und säumst
am kahlen Ufer<, »in der Kluft der Lüfte geschärftes Spiel« statt »die
lebensatmenden Lüfte«, »tief quillts« statt »es quillt«, »im Zorne aber
reiniget sich der Gefesselte« statt »und nun gedenkt er seiner Kraft,
der Gewaltige«, »Zorntrunken« statt »im Zorne«, »dort und da« statt
»da und dort«, »schauendes Ufer« statt »schallendes Ufer«, »es hört
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 393
tief Land den Stromgeist fern« statt »es hört die Kluft den Herold
fern« und so beliebig weiter. Überali bemerken wir, wie das ge-
bräuchlictie Wort durch ein ungewohntes, wie jede zu glatt fließende
Wendung durch eine harte, Aufmerksamkeit erregende Zusammen-
setzung, wie jedes Wort, das zur optischen Erfassung drängt, durch
ein ähnliches, das mehr geistig gehaltvoll ist, ersetzt wird, wie die
Entfernung von der Umgangssprache immer größer und die Annähe-
rung an die fast verschollene Grundbedeutung der Worte immer enger
wird, wie jeder vage Ausdruck, der auch nur die geringste Freiheit
für die äußere Vorstellung oder gar Assoziation läßt, ausgemerzt ist
durch einen möglichst bedeutungstiefen präzisen, eindeutigen, der die
Vorstellung umfassend erschöpft. Kurzum, hier liegt der Drang vor,
die Bewegung möglichst unmittelbar und restlos durchs Wort zu ver-
leiben.
Was nun die Sprachplastik sowohl im Wort als in der Gesamt-
vorstellung angeht, so gibt hierfür das Wesen der Metapher und des
Beiwortes einigen Aufschluß. Von der Vorstellung, daß ein optisch
erfaßbares Bild erstrebt werde, haben wir uns endgültig befreit.
Demgemäß kann es auch der Metapher und dem Beiwort in der
Hymne nicht darauf ankommen, die Vorstellung augenhafter zu ge-
stalten, sondern sie wird im Gegenteil wesentlich dazu dienen, das
Wort begrifflich zu vertiefen. Vielleicht wird diese Vertiefung besser
Erweiterung genannt, und zwar Erweiterung im Sinne des grenzen-
losen, hymnischen Erlebnisses: »Mutter Erde! Du alles-versöhnende,
alles-duldende!«, »Eingeboren wie Feuer war in dem Eisen das, und
ihnen zur Seite ging wie eine Seuche, der Schatten des Lieben«, »Die
Wetter Gottes rollten ferndonnernd, männerschaffend«, »Wie Morgen-
luft sind nämlich die Namen seit Christus«, »Des Königes goldenes
Haupt«, »Die unbeholfene Wildnis«, »dunkles Licht«, »Gipfel der Zeit«,
»Im ungebundenen Abgrund«, »Im goldenen Rauche blühte schnell-
aufgewachsen mit Schritten der Sonne, mit tausend Gipfeln duftend
mir Asia auf« (Hölderlin). »Ihr seid rein wie das Herz der Wasser«,
»Wandeln wird er wie mit Blumenfüßen, »den Blumen-singenden,
Honig-lallenden«, »im schäumenden Auge«, »Wolkenwellen«, im
rollenden Triumphe«, »Flammengipfel« (Goethe), »Seht ihr den Zeugen
des Nahen, den fliegenden Strahl?«, »die herzerfreuende Traube«, »die
Höhen werden sich bücken« usw. (Klopstock). Überall sehen wir
hier eine überraschende Verknüpfung von sinnlichen und geistigen
Elementen, eine Versinnlichung des Geistigen und eine Vergeistigung
des Sinnlichen. Und zwar zielt diese Vergeistigung durchs Beiwort
vor allem darauf, den betreffenden Begriff in der Richtung des Erleb-
nisses zu erweitern, die Unermeßlichkeit der Bewegung auch ihm mit-
394 FRIEDRICH SIEBURG.
auteilen, aber nicht dadurcli, daß das Wort aufgelöst, sondern dadurch,
daß es innerlich vertieft und seine Bildlichkeit noch umfassender wird.
Es muß freilich bemerkt werden, daß gerade in der Hymne ein Nach-
lassen der dichterischen Anspannung gegenüber der Sprache nicht
selten vorkommt. Der ungeheure Atem, der ausreichen muß, um jedes
Wort sinnlich zu erfüllen, bricht nur zu oft ab. Dann wird die
Diktion rhetorisch, wie manchmal bei Klopstock, oder philologisch,
wie öfter bei Platen.
Es darf nicht wundern, daß die Hymne, vor allem in reiner Aus-
prägung, in unserer Lyrik so selten ist: die Hymne ist die höchste
Form der Lyrik, sowohl vom Erlebnis her, das ein religiöses oder
sittliches Weltgefühl voraussetzt, als auch von der Sprache her, die
hier höchste Wortsinnlichkeit voraussetzt. Wenige nur waren mit
solcher Sinnlichkeit begabt, daß sie ihre Oesamtexistenz ins Wort
bannen konnten, wenige nur wußten sich als Hüter des Geheimnisses,
als Zunge der Götter und des Volks als berufen
>Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand
Zu fassen und dem Voli< ins Lied
Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.« (Hölderlin.)
Die Kräfte der Götter, deren Geist im Geiste des Lieds vernehmlich
ist, zu fühlen und zu offenbaren in Geschichte, Zeit und Zukunft, das
ist das Amt der Seher, der vates, deren wir nicht allzuviele in der
Welt zählen können. Dem deutschen Bewußtsein, das so unendlich
reich an jener Lyrik ist, die, im Erlebniskern gleichsam unbeweglich,
über das Zuständlich-begrenzte des Liebes- und Naturgefühls kaum
hinausgeht, sind seine wenigen Vertreter des großen lyrischen Stils
kaum gegenwärtig, wenngleich das Dasein solcher Hölderlinscher
Prophetien wie »Germanien«, »Patmos« und »Der Rhein«, die in der
gesamten Weltliteratur höchstens noch an Pindar oder den Psalmen
gemessen werden dürfen, beweist, wessen die deutsche Sprache in
•einer schöpferischen Hand fähig ist. Herder sagt: »Der Dichter wird
uns, oft mit wenigen Worten, ein Ausleger, ein Anwender der Zeiten.
Sende uns, nachdem der thebanische Sänger sanft im Tempel ent-
schlief, die Muse solche Exegeten der Geschichte, und die müßig
gewordene lyrische Poesie wird wieder geheiligt').«
Schluß.
Heute will es scheinen, als habe die Tradition der Form ausge-
wirkt. George, der uns vor Jahren noch eine Wiedergeburt des Sprach-
') Herder, Adrastea VI. Bd., 1803, S. 35.
DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG.
395
liehen bedeuten konnte, erweist sich heute als Abschluß der Entwiclc-
lung. George ist die letzte Gestalt, die noch einmal das wortliche
Erbe reinigt, heiligt und neu lebendig macht. Seine bewußte Ab-
kehr vom Zeitalter, sein Streben, die dichterische Sprache aus den
»gesellschaftlichen« Bindungen zu erlösen und ins Religiöse, Kultische
zu heben, war das deutlichste Symptom einer entscheidenden Wende.
Inzwischen bricht zusammen, was er bekämpfte, aber die weltanschau-
liche Erneuerung ist noch nicht abzusehen. Der Abbau der von
Klopstock bis George erarbeiteten sprachlichen Hinterlassenschaft
hat nunmehr begonnen. Die Lyrik geht neue Wege. Der seit langem
heimlich wirkende Kampf gegen den Zwang der Erscheinungsformen,
gegen das »Als ob<, gegen die Wirksamkeit der Dinge als Relationen
untereinander, gegen Impressionismus und Psychologismus geht radikal
und in voller Öffentlichkeit vor sich. Das Vielfache des Erlebens,
nuanciert von Augenblick, Seele und Landschaft, der Zeit und Raum
gewordene Geist sind verpönt, der Schrei geht nach dem Geist an
sich, nach dem Leben als Quelle, nach dem noch nicht Ding geworde-
nen Göttlichen jenseits von Seele, Raum und Zeit. Dies neue Ethos
macht den Abbau der Sprache notwendig. Die Formseele des
Lyrikers, viel bedroht und zum letzten Male rein auftretend in
George, ist endgültig aufgelöst. Die Welt ist wieder Problem, das
Chaos Objekt geworden und steht dem Dichter gegenüber. Symbole
\zu ihrer Bannung und Bewältigung werden nicht gefunden*), wollen
nicht gefunden werden. Einzig und allein das neue Weltgefühl,
die unerhört neue, radikale Ideologie stehen als Schrei, als Ekstase,
als Pathos, als Tat der Welt gegenüber. Sie suchen den Menschen
wieder zusammen aus seinen Verstreutheiten und Zerstückelungen in
Bürger und Proletarier, in Dichter und Verbrecher, in Narren und
Helden. Nicht Einzelformen des Menschen, in seinem tausendfachen,
abgeleiteten Verhältnis zum Leben, zur Welt, nein, der Mensch, rein
und unvermischt, nicht als Funktion und Beziehung sondern als
Wesen, nicht, Quelle aller Qual, die relativen Seinsformen des Lebens,
der Staat, die Ehe, der Kapitalismus, die Großstadt, nein, das Leben
selbst, als Kraft, als Idee: darauf soll es ankommen. Die Neue
Menschlichkeit wird glühend empfunden, gesucht und gepredigt:
Nur in dem Gestirn der Freundschaft
Wird die Eide neu entstehn;
Laß im Duni<el ihrer Feindschaft
Wieder, JWensch, dein Antlitz sehn.
') Hier wäre der Punl(t, wo eine Untersuchung über den überraschend engen
Zusammenhang von Expressionismus und Barock, der in der Lyriif besonders deut-
lich ist, einzusetzen hätte.
396 FRIEDRICH SIEBURG.
Steigt, ihr Völl<er, aus der Blöße
Wieder auf zur Menschlichkeit;
In dem Anblick eurer Größe
Rettet die verlorne Zeit! (Hasenclever, An die Freunde.')
Der Dichter soll nicht mehr sein Ich aussingen, er kann es nicht
mehr, die Form seines lyrischen Wesens ist gesprengt, sein Individuum
ist verschlungen von dem heißen Atem der neuen Prophelenmusik,
allein die Erschütterung, das Programm, die neue Menschlichkeit singt
sich aus. Die Stellung des Lyrikers ist völlig verändert:
Der Dichter träumt nicht mehr in blauen Buchten.
Er sieht aus Höfen helle Schwärme reiten.
Sein Fuß bedeckt die Leichen der Verruchten.
Sein Haupt erhebt sich, Völker zu begleiten.
Er wird ihr Führer sein. Er wird verkünden.
Die Flamme seines Wortes wird Musik.
Er wird den großen Bund der Staaten gründen.
Das Recht des Menschentums. Die Republik.
(Hasenclever, Der politische Dichter.)
Neue Aufgaben fordern neue Formen. Es fragt sich, ob die Lyrik
wie wir sie kennen, durch die neue Weltanschauung nicht ausge-
schaltet wird 2), ob sie in der neuen Oeistigkeit überhaupt noch mög-
lich sein wird. Eine Weile noch wird die Berauschtheit an der neuen
Idee sich lyrisch ausströmen. Es ist ein Behelf. Der lyrische Sprach-
leib ist zerstört, man leistet mit den Trümmern des alten Baus trümmer-
hafte Gebilde. Hat aber der neue Mensch sich seine Weltanschauung
anverwandelt, ist sie seinem Wesen einbezogen als lebendige Funktion,
so wird auch an die Stelle des Ideenrausches, der reinen Revolutio-
nierungsfreude die Mission nach außen treten. Das Ethos wird aus
dem Ich heraustreten und die Welt ergreifen. Die Entwicklung geht
in Richtung auf Dostojewski]. Soll die Idee nicht anarchistisch zer-
fließen, sondern als geistige Politik sich des Daseins, der Erde be-
mächtigen, soll die Selbsterregung der menschlich-religiösen Pflicht
weichen, die ihre Aufgaben nicht in sich, sondern in Welt und Mensch-
heit sieht, so kann dies im Wort nur episch geschehen. Der Roman
ist die neue Form der Zukunft. Dahinter aber wächst schon als Ab-
bild der neuen Erde die Tragödie riesig empor.
') Dies und das folgende Stück aus: Walter Hasenclever, Tod und Auferstehung,
Leipzig 1917.
2) Werfel, der überragende Lyriker, schützt sich durch sein glühendes Christen-
tum gegen die Auflösung des Ich, während Johannes R. Becher als größter Sprecher
der Zeit die Zersprengung der Persönlichkeit bewußt zum Kern einer unerhört
neuen und kühnen Sprachform macht und so die härteste Fügung hymnischer Be-
rauschtheit noch übersteigert.
Bemerkungen.
über den Maßstab in der bildenden Kunst.
Von
Walter Thomä.
Einen »Beitrag zur Geschichte des Maßstabproblems« gibt Karl Neumann im
Repertorium für Kunstwissenschaft 1916 unter dem Titel: »Die Wahl des Platzes für
Michelangelos David« usw.
Der David Michelangelos war von den Auftraggebern ursprünglich für den
Florentiner Dom bestimmt. Kaum war die Arbeit fertig, so machte sich eine Be-
egung geltend, die Figur dem Dom zu entziehen und anderwärts aufzustellen, und
F-es ist zu vermuten, daß Michelangelo selbst der Vater dieses Gedankens war, nicht
nur in »politisch-moralischer Absicht«, wie Vasari behauptet, sondern aus künstle-
rischen Rücksichten. Sicherlich hat irgend jemand, wahrscheinlich aber er selbst
in seinem Bericht an den Rat gegen die Aufstellung am Dom Einspruch erhoben.
Auf diesen Bericht hin, der uns verloren gegangen ist, wurde ein Ausschuß aus
etwa dreißig florentinischen Künstlern gebildet und ihre Outachten wurden proto-
kolliert. Einige blieben bei der Aufstellung am Dom, andere waren für den Rats-
palast, einige für die Loggien. Aber immer wieder wurde der Ruf nach dem Autor
laut, der selbst am besten darüber entscheiden könne. Michelangelo nahm an der
Sitzung nicht teil, zeigte sich auch nicht und wartete anscheinend den Regierungs-
beschluß ab, der für die Aufstellung vor dem Ratspalast entschied. Mag er nun
dabei mitgesprochen haben oder nicht, das Ergebnis hat sicherlich seinen Wünschen
entsprochen. Auch war er der Überzeugung, daß Donatellos Judith, die auf dem
Platze stand, durch den David zu ersetzen sei.
Die künstlerischen Gründe für Michelangelos Verhalten sieht Neumann
in einer maßstäblichen Verrechnung der Figur mit ihrem architektonischen Hinter-
grunde, in einem Sieg antiker Gesinnung über die bisherige gotische. Die Alten
kannten am Gebäude nur die commodulatio der Teile, die Ootiker aber nahmen
Rücksicht auf menschliches Bedürfen. Hierin sah schon der Franzose Lassus (1845)
eine Verschiedenheit in der Maßstabempfindung beider Stilrichtungen, und die
Wiedergeburt des antiken Prinzips ist auch bestimmend für die Wahl des Platzes
zum David, und später noch für die anderen Maßregeln, welche mit der Anbringung
der Figuren an der sixtinischen Decke und an den Mediceergräbern verbunden sind.
Das Jahr 1504 aber ist nach Neumann der Zeitpunkt, an dem dies neue, dem
antiken verwandte Empfinden zum ersten Male in der neueren Kunstgeschichte zur
Geltung kommt.
Die Anschauungen über relativen und absoluten Maßstab bedürfen einer Nach-
prüfung. Ich liefere hier einen Beitrag dazu. Ich beginne mit den allgemeinsten
Grundsätzen, nach denen der Maßstab, vornehmlich in der Baukunst, sich eine Mit-
wirkung im Oesamteindruck sichert.
398 BEMERKUNGEN.
Die formale Wirkung eines Werkes der bildenden Kunst beruht auf den Orößen-
verhältnissen seiner Glieder untereinander. An einem Gebäude z. B. wirkt das Ver-
hältnis zwischen Höhe und Breite, zwischen geschlossener Mauerfläche und Mauer-
öffnung, zwischen Säule und Interkolumnium. Solche Größen werden relativ ge-
nannt; irgend ein kleineres oder mittleres Bauglied dient als Maßstab, mit dem das
Auge die übrigen mißt, z.B. die Säule oder der Quaderstein; oder es wird die
Breite an die Höhe angelegt, oder umgekehrt. Zu Zeiten klassizistischer Kunst-
erstarrung wurden die Maße sogar in feste Verhältnisse gespannt, als Maßeinheit
galt zeitweilig der untere Säulendurchmesser, und man nannte ihn den Modul.
Für das Auge dient niemals ein solches Abstraktum, sondern die allgemeine Er-
scheinung kleinerer Glieder, z. B. einer Säule, als Maßstab.
Die Wirkung eines Werkes der bildenden Kunst wird aber mitbedingt durch
seine sogenannten absoluten Maße, d. h. durch das Verhältnis seiner Größe zu
der Größe des betrachtenden Menschen oder derjenigen Dinge, welche an den
Menschen gebunden sind. Auch dieses Maß ist eigentlich etwas Relatives (keine
Größe ist ohne Relation verständlich), aber man nennt sie absolut, weil der Maß-
stab außerhalb des Werkes liegt, und wir wollen diesen Namen beibehalten.
Die einfachste Aufgabe der Baukunst ist der Wohnraum; auch er hat eine
absolute Größe, die seine Wirkung mitbestimmt. Diese richtig einzuschätzen, ist
nicht schwer, weil der Wohnraum genug anthropometrische Bauglieder enthält.
Denn abgesehen von den Personen selbst, welche sich im Räume befinden, und
von den eingestellten Möbeln, lind Türen und Fenster, Herde, Heizkörper, Brunnen
und dergleichen der menschlichen Größe angepaßt.
Die nächste Aufgabe der Baukunst ist eine Vergrößerung der Wohnung in der
Weise, daß viele Räume neben oder übereinander angeordnet werden. An
der Größenschätzung ändert dies nichts, denn an Türen und Fenstern wächst nicht
das Maß, sondern nur die Zahl, und in der Höhe entstehen die Geschosse.
Nun gibt es aber noch eine zweite Vergrößerungsaufgabe der Baukunst: das
Schema des Wohnraumes als eines Aufenthaltsortes für einen oder wenige. Men-
schen soll so vergrößert werden, daß ein Saal entsteht, ein Versammlungsort für
eine größere Menschenmenge, sei es für Zwecke der Religion, der Schauspielkunst,
der Musik, der Politik, oder der Gerichtsbarkeit. Dann sind zwei Prinzipien zu-
gleich wirksam, welche die Form des Saalbaus bestimmen: das Prinzip der rein
proportionalen Vergrößerung, und das der Beibehaltung der anthropometrischen
Bauglieder. Beide wirken neben- und ineinander; die Höhe und Breite des Raumes
nimmt zunächst zu, die Mauern werden stärker, dagegen bleiben Tische, Bänke,
Brüstungen und Treppenstufen unverändert, und was die Türen und Fenster be-
trifft, so wächst ihre Größe etwas und ihre Zahl etwas; ihre Größe wächst also
mit einer gewissen Zurückhaltung.
Diese beiden Prinzipien, das der rein proportionalen Vergrößerung und das
der Beibehaltung der anthropometrischen Bauglieder sind aber nicht die einzigen,
welche die Form des großen Gebäudes, des Saalbaus, modifizieren, es kommt noch
ein drittes, konstruktives Prinzip hinzu. Jede Pflanze, die wächst,- vergrößert sich
nicht rein proportional, sondern vermehrt durch Teilung die Zahl ihrer Äste und
Zweige, und jedes Wachstum am Gebäude führt aus konstruktiven Gründen eben-
falls zu einer Teilung, am meisten im Grundriß. Mit der Größe vermehren sich
nämlich die Schwierigkeiten der Raumüberdeckung, mag sie gerade oder gewölbt
sein, es kommt zur Teilung in Schiffe, zu Innenstützen, die außerdem mit der
Größenzunahme zahlreicher und schlanker werden, also zu einer Gliederung in
mittlere Räume und Bauglieder, die nicht wie beim Wohnhaus a s Addition aufzu-
BEMERKUNGEN. 3Q<>
fassen ist, sondern als Division. Auch Zahl und Größe der Türen und Fenster wird
dadurch mit beeinflußt, ganz unabhängig vom Einfluß des Gebäudezweckes, es
werden im allgemeinen schon aus konstruktiven Gründen mehr Türen und Fenster
werden, als unbedingt nötig sind, und die großen Fenster und Türen wieder werden
eine Untergliederung zeigen, weil man so große Glasscheiben und Türflügel nicht
anfertigen kann oder will. Alle diese konstruktiven Gründe wirken zurückhaltend
auf die rein proportionale Vergrößerung, wirken also in einem ähnlichen Sinne, wie
die Beibehahung der Größe der anthropometrischen Bauglieder.
In welcher Weise erhält man an dem so entstandenen großen Gebäude die
absolute Größe ihrer Mitwirkung? Sie kann eine solche nur erhalten, wenn
sie dem betrachtenden Menschen zum Bewußtsein kommt; er muß in der Lage
sein, sich selbst oder überhaupt menschliche Körpergröße und menschliche Spiel-
räume an das Werk anzulegen. Ist also der Raum menschenleer, so sind es die
anthropometrischen Bauglieder, welche als Maßstäbe dienen, und die stärkere
Gliederung des Baus kommt dieser Messung zu Hilfe, das Gebäude erscheint in
der wahren Größe und wirkt dadurch monumental.
Aber auch an einem solchen gut konstruierten und praktisch entworfenen Ge-
bäude kann, wenn es sehr groß ist, der Maßstab verloren gehen, die Maße
wirken unsicher und schwankend, ein Glied beeinflußt das andere und umgekehrt,
es entsteht Wechselmessung. Außerdem aber geht bei großen Gebäuden zuweilen
die Größenwirkung verloren, es erscheint zu klein. Das hat einen eigenen Grund.
Die kleinsten anthropometrischen Bauglieder nämlich genügen nicht mehr zum
Messen, sie sind selbst relativ zu klein, es fehlt an mittleren Maßstäben,
die zwischen die kleinen und das Ganze eingeschoben sein müßten. Der Bau-
meister tut dann gut, durch Gruppierung und unter Benutzung der konstruktiven.
Großgliederung solche mittlere Maße zu schaffen, also von unten herauf die Ad-
dition, von oben herab die Division an den Gebäudeteilen zu Rate zu ziehen. Er
muß dem Auge Gelegenheit geben, von der Tür, der Treppe, dem Tisch auf einen
nächst größeren Rahmen und von diesem auf das Ganze zu schließen. Dieser
Zweck ist also ein Wahrheitszweck, er dient als Korrektur; es ist einleuchtend, daß
die gleichen Mittel auch der Täuschung dienen können, z. B. die Größe zu über-
treiben, etwas zu kleines zu vergrößern; indessen hat die Täuschung stets den
Nachteil, daß ihr leicht eine Enttäuschung folgt, wenn der Beschauer den richtigen
Standpunkt gefunden hat.
Der Maßstab in der gotischen Baukunst.
Die christliche Kirche gotischen Stils ist ein Saalbau, bei dem alle die er-
örterten Prinzipien wirksam' gewesen sind. Einmal hat die proportionale Vergröße-
rung stattgefunden: Je größer die Kirche, desto größer werden die Arkaden, desto
stärker die Pfeiler, desto größer im allgemeinen auch die Portale und Fenster, wenn
auch diese mit dem Wachstum der Kirche nicht ganz Schritt halten. Sodann sind
alle Erfordernisse der Liturgie, alle Kultglieder im größeren Gebäude in der ur-
sprünglichen Größe beibehalten worden: Altäre, Lesepulte, Taufsteine, Brüstungen,
Bänke und Treppenstufen; sie konnten gar nicht anders werden als sie schon waren.
Zurückhaltend wirkt dieses Prinzip auch noch auf die Mitvergrößerung der Portale,
indem diese ihren Sinn als Menschendurchlässe behalten.
Dazu kommt drittens die Änderung der Proportionen aus konstruktiven Gründen.
Es entstehen mehr Schiffe, also auch mehr Pfeiler, die Pfeiler bekommen mehr
Dienste, die Maßwerkfenster erhalten mehr Glieder. Eigentümlich ist hier noch
die Betonung der Vertikalteilung; sie führt dazu, daß der Pfeiler keinen zusammen-
400 BEMERKUNGEN.
fassenden Kämpfer hat, sondern viele kleine Kapitale, gleichsam Verkröpfungen des
gemeinsamen Kämpfers. Die Folge ist, daß die Kapitale und ihre naturalistischen
Blattreihen sich nicht wesentlich vergrößern. Aus demselben Grunde werden die
Basen der Pfeiler nicht wesentlich höher.
Fragen wir also nach der Größenwirkung des christlich gotischen Kirchen-
baus, so gilt, daß sie dem Betrachter zum Bewußtsein kommt, weil die kleinsten
Maßstäbe erhalten bleiben, und es auch nicht an Zwischenmaßstäben fehlt. Am
Äußeren der Kirche spielen die Turmgeschosse mit ihren Galerien eine Vermittler-
rolle. Ich glaube aber kaum, daß der gotische Baumeister diese Mittel bewußt oder
aus einem eigenen -Maßstabempfinden« heraus angewendet hat; sie ergaben sich
aus bautechnischen Notwendigkeiten.
Der Maßstab am griechischen Tempel.
Etwas anders als bei der gotischen christlichen Kirche liegen die Dinge beim
griechischen Tempel. Auch dieser hatte die Form eines Saalbaus, aber sein »prak-
tischer Zweck« war ein solcher, bei dem die Beziehung zum Menschen fehlte.
Er war kein Kultgebäude, kein Versammlungsort, sondern das Haus des Gottes;
eine richtige Empfindung seiner absoluten Maße haben wir zunächst nur, wenn er
mäßig groß ist. Nun kommt es aber auch hier vor, daß die Aufgabe besteht, ein
größeres Gebäude zu errichten; nicht einer größeren Besuchermenge zuliebe, son-
dern als Selbstzweck, vielleicht um den Gott mehr zu ehren, günstiger zu stimmen,
vielleicht auch um den Reichtum des bauenden Stadtstaates den Fremden zu Oemüte
zu führen, ein Zweck, der gewiß auch in der Gotik nicht ganz ausgeschaltet gewesen
ist. Dann treten nicht drei, sondern nur zwei formbildtnde Prinzipien auf, erstens
die rein proportionale Vergrößerung und zweitens die Änderungen der Proportionen
aus konstruktiven Gründen.
Die rein proportionale Vergrößerung ist dieselbe wie in der Gotik. Die Räume
werden höher und weiter, die Stützen, die Säulen, werden stärker und höher zu-
gleich; Basis und Kapital, die nicht senkrecht gegliedert sind, wachsen entsprechend
mit, der Haupteingang wird größer, als hätte man sich den Gott größer vorgestellt,
und die Stylobatstufen sind »nicht für menschliche Schritte«, also in ihrem Wachstum
ganz unabhängig.
Die Änderungen der Proportionen finden aus konstruktiven Gründen genau
wie in der Gotik statt, und wieder am stärksten im Grundriß. Allzugroße Raum-
weiten lassen sich nicht überdecken, es entstehen mehr Schiffe, also auch im Innern
mehr Säulen, desgleichen im Äußeren, aus dem Monopteros wird der Dipteros usw.
Was den Aufriß betrifft, so ändert sich infolge der Zunahme der Zahl der Säulen
ihre Schlankheit. Sie werden zwar, absolut gemessen, dicker, aber nur wenig, sie
werden dann je höher, desto schlanker'):
Korinth. . . . Höhe 7,11 m Verhältnis 1 : 4,06
Propyläen ... „ 8,86 „ „ 1 : 5,6
Nemea .... „ 9,917,, „ 1:6,5
Also bleiben die Proportionen, ebenso wie in der Gotik, am großen Tempel nicht
genau dieselben wie am kleinen.
Wichtiger als diese Tatsache ist aber am griechischen Tempel die, daß es an
anthropometrischen Baugliedern rituellen Ursprungs fehlt, vor allem
an der als Durchgang aufgefaßten Türe. Es lag für den griechischen Baumeister
kein praktischer Grund vor, von den langsam entwickelten und fein ausgedachten
') Nach Durm, Baukunst der Griechen 1910.
BEMERKUNGEN. 401
Proportionen abzuweichen; er baute ja das Haus mehr für den Oott als für die
Menschen'). Deshalb mußte an größeren Bauten, z.B. am Didymaion zu Milet,
der Maßstab verloren gehen, und wir können vermuten, daß uns das Gebäude
zu klein erschienen wäre. Sollten aber die Griechen nicht dasselbe Gefühl gehabt
haben? Wir kennen die Ausstattung und Umgebung ihrer Tempel zu wenig.
Sicherlich hätten sie, wenn ihre Entwicklung ungehemmt weitergegangen wäre, für
solche Riesenbauten die Mittel, Maßstäbe bzw. Zwischenmaßstäbe zu schaffen, auch
noch gefunden. An Einzelversuchen dazu fehlte es nicht. So hat z. B. das Arte-
mision zu Ephesos einen mit Figurenreliefs geschmückten Schaft und Säulenstuhl.
Hier ist eine Lösung gefunden, wenn ich auch zugeben muß, daß der Gedanke
anderen Ursprungs ist, und schon dem älteren und kleineren Tempel eignete. Ich
bezweifle aber gar nicht, daß das Arteniision im Unterschied vom Didymaion auf
Grund dieser Eigentümlichkeiten den richtigen monumentalen Orößeneindruck
machte.
Ich glaube also, daß das rein künstlerische »Maßstabempfinden« der Griechen
und Gotiker keineswegs diametral entgegengesetzt war, sondern daß derOebäude-
zweck allein schon zur Erklärung des Unterschiedes ausreicht, wozu
noch kommt, daß die Gotik vertikale Glieder betonte und keine Balken, sondern
Bogen und Gewölbe hatte. Griechen und Gotiker gingen in dem, was allgemein
und selbstverständlich ist, nicht auseinander; beide wußten genau, was die Ver-
größerung für Änderungen bedingt.
Der Maßstab in der Baukunst der Hochrenaissance.
Die Baumeister von St. Peter seit Bramante standen unter dem Einflüsse zweier
Prinzipien, die sich bekämpften, dann miteinander verbanden, aber niemals harmo-
nisch zu verschmelzen vermochten: man hat sie das christlich-mittelalterliche und
das antike Prinzip genannt. Verschieden ist bei beiden die Auffassung des Gebäude-
zwecks und dann auch die Kunstanschauung. Das christliche Prinzip verlangte eine
Kultkirche, möglichst vom Grundriß der Basilika, und künstlerisch eine Unter-
ordnung aller Tendenzen unter diesen Zweck. Das sogenannte antike Prinzip war
nicht an den Griechen, sondern an den Römern orientiert, ignorierte den Kultzweck,
verlangte nach dem Zentralbau, strebte also mit dem Bau ein Denkmal zu er-
richten, vielleicht der völkerbeherrschenden Kirche, vielleicht auch der Religion, viel-
leicht auch der eigenen Kunst. Dieses Denkmal hatte viel von einem Kunstexperi-
ment, von einem Phantasiegebilde mit Selbstzweck, und dazu gesellt sich eine neue
Kunstanschauung, der Drang nach dem Starken und Mächtigen, nach einem Mit-
sprechenlassen der absoluten Größe, welcher dann schließlich zu unmotivierten
Massenanhäufungen und damit zum Barock geführt hat. Dieses »antike« Prinzip
ist also nicht dasselbe, das den griechischen Tempel baute und dem Didy-
maion seine Größe gab. Der Tempel bleibt ein Haus des Gottes und enthält seine
Koiossalfigur an zentraler Stelle. In St. Peter dachte man niemals daran, etwa eine
Kolossalfigur Christi über den Hauptaltar zu stellen, so oft auch heilige Personen
gemalt und gemeißelt in Überlebensgröße vorkommen. Demnach ist St. Peter, auch
soweit es aus antikem Prinzip entstanden ist, etwas vom griechischen Tempel Ver-
schiedenes, einmal in der Erfüllung des Zwecks, und zweitens in dem Größen-
bestreben; denn mit St. Peter verglichen ist auch das Didymaion kein Riese mehr,
am allerwenigsten an Höhe und Großräumigkeit. Infolgedessen ist auch dort der
Maßstab verloren gegangen, es fehlt nicht an kleinen, wohl aber an mittleren
') Es war allerdings mehr ein Gehäuse als ein Haus.
Zeitsclir. f. Ästhetik u. alle. Kunstwisseiischatt. .\1V. 26
402 BEMERKUNGEN.
Gliedern, und hier sind die Mißverhältnisse zwischen Schein und Wiriclichkeit
schreiend, die Kirche erscheint zu klein, erst eine Menschenmenge läßt St. Peter
wachsen.
Dieser Fehler ist, so scheint es, erst der folgenden Generation zum Bewußtsein
gekommen, und dieser blieb nichts übrig, als geeignete Bauglieder mittlerer Größe
nachträglich hinzuzufügen. Bernini fand zwei Aufgaben vor, nämlich dem Kuppel-
raum und der Fassade ihren Maßstab zu geben. Im Kuppelraum wählte er das
selbst schon kolossale Tabernakel, und für dieses die gewundene Säule, nicht nur
des Reichtums wegen, sondern weil die Säule dadurch für das Auge in Stücke zer-
fällt, und dadurch noch mehr geeignet wird, zwischen der Menschengröße und der
des Raumes zu vermitteln. Ganz scheint er seinen Zweck nicht erreicht zu haben,
denn heute noch wirkt St. Peter zu klein, und es hat daher C. Neumann die Mei-
nung ausgesprochen, daß er mit der »Eigenwilligkeit« seiner Formen alle Verhältnis-
vergleichung habe unmöglich machen wollen'). Zugegeben, daß er den Raum
etwas mit Spektakel füllt, und dadurch von der Kuppel ablenkt; aber wenn dies
sein einziger Zweck gewesen wäre, hätte er doch der Kirche einen schlechten
Dienst geleistet. Vielmehr ersetzt hier nur der Reichtum die Größe -), oder unter-
stützt sie. Die andere Aufgabe war, die Fassade in der richtigen Größe, allerdings
nur der richtigen Höhe, wirken zu lassen; das Mittel waren die Kolonnaden mit
Säulen von etwa der halben Höhe. Die Breite wünschte Bernini nicht zu betonen,
da sie genügend zur Geltung kam. Also auch in der Hochrenaissance ist das Ver-
sagen der Maßstabempfindiing eine vorübergehende Erscheinung, ein Irrtum gleich-
sam, sonst hätte man nicht schon so bald nach einer Korrektur gesucht. Anders
wäre die Sache, wenn der Fehler viel länger unbemerkt geblieben wäre.
Der Maßstab in der Figurenkunsf.
Auch die Wirkung der Figur beruht auf Verhältnissen, und auch an ihr wirken
die absoluten Maße mit, und zwar in zweierlei Weise: Schon am lebenden Menschen
haben wir, also im Bereich des Möglichen, das Normale, das Hünenhafte und das
Zwerghafte. Außerdem haben wir an der Kunstfigur, also über den Bereich des
Möglichen hinaus, die Lebensgröße, die Über- und die Unterlebensgröße. Hieraus
ergeben sich auch zweierlei Reflexionen messender Art.
Haben wir einen lebenden Menschen unbekleidet und isoliert vor uns, so
gibt es bestimmte Körperteile, die wir glauben, am richtigsten beurteilen zu können
und die wir deshalb als Maßstäbe anlegen, so z. B. den Kopf. Hat der Körper
mehr als eine gewisse Zahl von Kopflängen, so erscheint er groß, in kräftiger Form
hünenhaft; man denkt nicht daran, daß ja der Kopf selbst unternormal sein könnte.
Am Kopf wiederum ist es die Nase oder die Augenbreite, die als Maß dient, da-
nach erscheint das Gesicht lang und breit. Sehen wir vom Kopf ab, so wird bei
Beurteilung der Breite des Körpers die Länge als Maßstab genommen, mitunter
aber auch das Umgekehrte. Eine größere Breite läßt den Menschen kleiner er-
scheinen, eine größere Schlankheit größer als den Durchschnitt, oder ein großer
Mensch erscheint zu schmal, ein kleiner zu breit. Auch hier also beeinflussen sich
die Glieder gegenseitig, es findet eine Wechselmessung statt.
Haben wir aber Kunstfiguren vor uns, so entstehen zwei messende geistige
Tätigkeiten: wir beurteilen die absolute Größe der Figur unter Einschalten der Vor-
stellung, daß es ein lebender Mensch wäre, also unter Übertragung seiner Maße
') A. a. O. S. 21.
») Vgl. Gurlitt, Barockstil in Italien S. 335.
BEMERKUNGEN. 403
in die Lebensgröße; sie ist dann wieder hünenhaft oder zwerghaft. Oder wir be-
urteilen die absolute üröße der Figur, wie sie ist, also ohne Einschalten dieser
Vorstellung, sie ist dann monumental oder intim, und dergleichen. Eine solche
Trennung in zwei Reflexionen hat in der Baukunst keinen Sinn, denn das Gebäude
ist ein Gebilde von eigenem Leben, die Figur aber ist ein Bild, ein vergrößertes
oder verkleinertes Bild des Menschen, und der Mensch hat mittlere Körpermaße
von mäßigen Schwankungen.
Uns interessiert hier nur die zweite Frage, wie die überlebensgroße Kunst-
figur ihre absolute Größe zur Geltung bringt, welche Maßstäbe geeignet
sind, zwischen dem betrachtenden Menschen und der Figur zu vermitteln. Sie
können nicht wie in der Baukunst Teile des Gebildes sein, sondern nur außerhalb
seiner liegen, wenn sie auch der Kleidung, dem Schmuck angehören sollten.
Die Kolossalfiguren der Antike hatten solche Maßstabelemente. Die Athene
Parthenos hatte eine kleine Nike in der Hand, ihr Schild trug figürliche Reliefs, ihr
Helm war vielteilig; diese Mittel genügten völlig, die Größe der Figur zum Be-
wußtsein zu bringen. Über nackte antike Kolossalfiguren sind wir nicht ausreichend
unterrichtet. In der christlichen Kirche fiel dieses Hauptbild fort, also sind es
religiöse Anschauungen, welche hier der Monamentalplastik den Boden abgraben!
dagegen ließen sich Mosaiken und Glasfensterliguren recht gut in großem Maß-
stabe ausführen. Erst in der Hochrenaissance und dem beginnenden Barock er-
greift die allgemeine Vergrößerungssucht auch die Figuren, und jetzt erst wird die
Frage aktuell, wie man diese zum Menschen ins richtige Verhältnis zu bringen habe.
Bei einer nackten Kolossalfigur, wie dem David Michelangelos, kamen als
Mittel nur der Sockel und der Hintergrund in Betracht. Sollte die Figur richtig
wirken, so mußte sie vor einem vielgliedrigen Gebäude stehen, das selbst schon
Maßstäbe an sich trug, z. B. dem gotischen Dom zu Florenz. Sollte sie größer
wirken, so gehörte sie in einen einengenden Rahmen, eine Nische z. B., oder der
Hintergrund mußte selbst durch täuschende Mittel baulicher Art größer erscheinen.
Sollte aber die Größe der Figur unterdrückt werden, so gehörte sie vor eine Kolossal-
architektur im Stile von St. Peter. Endlich kam noch die kahle Mauer als Hinter-
grund in Frage, die an sich neutral wirkt, und infolgedessen die Figur in der
Größenwirkung gleichsam sich selbst überläßt; die Kolossalfigur mußte dann
mangels genügender .Maßstäbe zu klein wirken, außerdem aber mußte die Orößen-
schätzung unsicher werden.
Die Künstler von Florenz haben Gutachten für diese und jene Aufstellung ab-
gegeben, aber sie vergaßen hinzuzufügen, von welchem Grundsätze sie ausgingen:
ob sie der Figur ihre Größe lassen oder sie unterdrücken wollten; und von Michel-
angelo selbst ist nicht überliefert, ob er einen solchen Grundsatz jemals ausge-
sprochen hat. Wenn er aber den David nicht am Dom, sondern vor dem Rats-
palast aufzustellen wünschte, so kann er nur die Absicht gehabt haben, seine Größe
nicht zu betonen — das ist eine negative Absicht — , vielleicht sogar etwas zu
unterdrücken, besser noch: ihre Wirkung für den Beschauer offen zu lassen, sie zu
neutralisieren. C. Neumann nennt es »normalisieren«, doch glaube ich, daß diese
Wirkung durch den Palast afs Ganzes ausgeübt wird. Viellefcht sollte das verhüllt
Unruhige, das beginnend Barocke der Figur dadurch zur Geltung kommen.
Der Maßstab in der graphischen Kunst.
Auch bei einem graphischen Blatt, z. B. einer Federzeichnung, ist natürlich die
absolute Größe für die Wirkung mitbestimmend. Die absolute Größe wird aber
nur richtig empfunden, wenn im Blatte selbst unveränderliche Elemente enthalten
404 BEMERKUNGEN.
sind, die zwischen dem Mensciien und dem Ganzen vermitteln, nur als Maß-
stäbe dienen können. Solche Elemente sind in der Strichzeichnung (wozu auch
Holzschnitt, Kupferstich und Radierung gehören) die Linien, die man aus der
üblichen Betrachtungsentfernung sehr wohl zu sehen und zu empfinden pflegt.
Diese Linien, die sich, man kann sagen, periodisch wiederholen (besonders im
Kupferstich ist dies der Fall), haben eine bestimmte übliche, vom Werkzeug und
der menschlichen Hand abhängige Größe, sowohl Dicke als Länge; die Dicke be-
trägt durchschnittlich '/a— '/e mm, die Länge ist nicht größer, als es der Hand
bequem ist, den Strich zu ziehen. Dadurch, daß diese Linien periodisch wiederkehren,
wirken sie etwa wie die Quaderschichten einer Mauer, z. B. einer Ziegelmauer,
deren Elemente die Normalziegel sind, sie vermitteln zwischen der Empfindung des
Menschen und der Größe des Blattes.
Wenn nun das Blatt eine gewisse Größe überschreitet, so sind diese Linien
relativ zu klein, um noch als Maßstäbe zu dienen, und der Größeneindruck wird
unsicher. Es bleibt dann nur der Ausweg, mittlere Maßstäbe einzuschalten, indem
man die Linien irgendwie zu größeren Gruppen zusammenfaßt, wozu ja der Gegen-
stand der Darstellung mitunter Gelegenheit gibt. Da dies aber nicht immer der
Fall ist, so führt die genannte Beobachtung (neben anderen Ursachen) dazu, die
Maße graphischer Blätter in gewissen Grenzen zu halten, sie nicht über eine
gewisse Größe auszudehnen.
Wenn also ein Künstler eine Strichzeichnung (Federzeichnung) angefertigt hat,
und entdeckt, daß sie zu groß beziehungsweise zu leer ist, daß die Linien sich in
der Fläche verlieren, so muß er die Federzeichnung wiederholen, und zwar mit der-
selben Feder in kleinerem Maßstabe, ohne die Strichzahl zu verringern, oder in
gleicher Größe mit stärkerer Feder; dadurch stellt er die Beziehung zwischen dem
Element und der Blattgröße wieder her. Anderseits kann er durch Wahl einer
kleineren Feder bei unverändertem Maßstab das Blatt größer wirken lassen, wenn
die Linien etwas gruppiert sind.
Eine hierzu reziproke Wirkung aber tritt ein, wenn die Strichzeichnung, wie
dies im Buchgewerbe üblich ist, photographisch, also proportional verklei-
nert oder vergrößert wird. Dann ändert sich das Verhältnis zwischen Element
und Blattgröße nicht, aber das Element, die Linie, verliert ihre Beziehung
zum Menschen, ihren Charakter als Maßstab, und es entsteht wieder eine Un-
sicherheit. Man hat Strichzeichnungen von Menzel sowohl verkleinert (kleine Aus-
gabe des illustrierten »Zerbrochenen Krugs«) wie vergrößert (Illustrationen zu Kuglers
Friedrich dem Großen). Beides ist nicht ohne Verlust abgegangen, und zwar be-
trifft der Verlust das Herausfühlen des Persönlichen, Handschriftlichen des Künst-
lers. Die Kunstübung der Strichzeichnung hängt zu innig mit der des Schreibens
oder Stechens zusammen, als daß der Betrachter sie völlig absolut verstehen könnte.
Darum ist auch die Sgraffitomalerei keine einwandfreie Kunst, obschon sie unter
anderen Bedingungen entsteht, sie ist etwas wie eine photographische Vergröße-
rung einer Handzeichnung. An modernen Plakaten wird man niemals Tonlinien
als Schattenangabe finden. Die absolute Größe des graphischen Blattes, die natür-
lich seine Wirkung beeinflußt, muß dann an anderen Maßstäben gemessen werden,
die außerhalb des Blattes in der Umgebung zu suchen sind.
BEMERKUNGEN. 405
Das sichtbare Unsichtbare.
Von
Mela Escherich.
In der Kunst kann die Darstellung Gottes nichts anderes sein, als die Darstellung^
des Menschen. Manche Religionen sind vor dieser Konsequenz zurückgeschreckt
und stellten deshalb die Forderung auf: Du sollst dir von Gott kein Bild machen.
So am schroffsten der Islam, dessen religiöse Kunst daher ganz auf Symb ol ik an-
gewiesen ist. Mehr oder minder aber gipfelt jede hochentwickelte Gottesverehrung
in dieser Forderung: Buddhismus, Neuplatonismus, Gnosis, christliche Mystik. Es ent-
spricht dagegen der Größe des christlichen Gedankens, daß die zu völliger Ver-
geistigung gesteigerte Gottschauung, wie sie Meister Eckhart fordert, wie sie Dante
schildert, als unentbehrliche Begleiterscheinung eine materienfrohe Sakralkunst
zeitigt. Die Zulassung der Kunst liegt im Haupldogma des Christentums begründet.
Dem Satz: Gott ist ein Geist, steht gegenüber: »Das Wort ward Fleisch und wohnte
unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit.«
Dieses Dogma der Gottessichtbarkeit ist die Sanktionierung der der mensch-
lichen Vorstellung eigenen Umbildung des Unsichtbaren in sichtbare und menschliche
Erscheinung. Es ist zugleich eine Aufforderung an die Kunst, sich mit dem reli-
giösen Problem zu beschäftigen. Gleichwohl gab die Entstehung des Christentums
nicht sofort den Auftakt zur Entwicklung einer neuen Kunst. Das geistliche Pro-
blem war inmitten der alternden Antike etwas so Unerhörtes, daß es vieler Jahr-
hunderte bedurfte, bis sich die neuen Ideen so weit geklärt und beruhigt hatten,
daß sie zu künstlerischer Ausdrucksgestaltung gelangen konnten.
Der Hauptgegenstand der christlichen Kunst wurde Christus. Christus der
Mensch. Christus als Kind, als Lehrer, als Leidender, als Toter, als Auferstandener.
Bis zum 16. Jahrhundert herrschte — mit Ausnahme von Konrad Witz, der in seinem
Genfer Altarwerk eine spirituale Auffassung des Johannesevangeliunis versucht -
kein andrer Begriff, als den Gottmenschen ausschließlich menschlich darzustellen.
Wichtig ist darüber Dürers Ausspruch: -Plinius schreibt, daß die alten Maler und
Bildhauer, als Apelles, Protogenes und die andern, gar kunstvoll beschrieben haben,
wie man ein wohlgestaltetes Gliedermaß der Menschen machen soll. Nun ist es
wohl möglich, daß solche edle Bücher im Anfang der Kirche unterdrückt und aus-
getilgt worden seien, um der Abgötterei willen. Denn sie haben gesagt, der Jupiter
soll eine solche Prrportion haben, der Apollo eine andere, die Venus soll so sein
und der Herkules so; desgleichen mit den andern allen. Sollte dem also gewesen
sein und wäre ich zu derselben Zeit zugegen gewesen, so hätte ich gesprochen:
O lieben heiligen Herrn und Väter! um des Bösen willen wollet die edle erfun-
dene Kunst, die da durch große Mühe und Arbeit zusammengebracht ist, nicht so
jämmerlich unterdrücken und gar töten, denn die Kunst ist groß und schwer, und
wir mögen und wollen sie lieber mit großen Ehren in das Lob Gottes wenden;
denn in gleicher Weise wie sie die schönste Gestalt eines Menschen ihrem Abgott
Apollo zugemessen haben, also wollen wir dieselben Maße brauchen zu Christo
dem Herren, der der schönste aller Welt ist.«
Schon die Mystik rühmt Jesus als den schönsten Menschen, den lieblichen, minnig-
lichen Bräutigam der Königin Seele. Die Mystikerinnen loben sein Antlitz, seine
Gesialt, seine Hände, seine Füße. So schildert ihn die Kunst, bald in zierlicher,
bald in heldischer Erscheinung; aber immer rein menschlich.
406 IJEMERKUNGEN.
Den ersten Versuch der Vergöttlichung unternahm Grunewald in seiner Isen-
heimer Auferstehung. Vielleicht reizte ihn zumeist das koloristische Problem: die
Lösung von Form und Farbe im Licht. Daraus ergab sich eigentlich von selbst
das seelische JVtotiv, die Entmaterialisierung. Die Gestalt beginnt im Augenblick des
Auffahrens in ihren oberen Teilen in Olanzlicht überzugehen. Ein Versuch, der
mehr Interessiert als befriedigt. Man hat Im Grunde — trotz aller bezaubernden
Schönheit des Bildes! — das Gefühl, daß hier die Mittel des Mittelalters über-
schritten und andre doch noch nicht gefunden sind. Und betrachtet man z. B. da-
gegen Raffaels Verklärung, wo das Wunderbare ohne jedes Ringen nach neuen
Mitteln geschildert ist, so fällt das Urteil nicht zugunsten Grünewalds aus. Aus
Raffaels Christus weht uns trotz kernfester Körperlichkeit das Göttliche an,
während bei Grünewald eher eine zauberhafte Wirkung erzielt Ist.
Was Grünewald wollte — sofern wir uns anmaßen dürfen zu raten, was ein
Künstler will! — hat Rembrandt erreicht. Dank einer anderen Techijik konnte er
durch Lichtgebungen Wirkungen erzielen, die vorher nicht ausdrückbar waren. Diese
Technik, vereint mit der ergreifenden Sprache des Herzens, machte Rembrandt zum
einzigartigen Darsteller des Ethischen. Das Göttliche deckt sich bei ihm allein mit
dem Sittlichen. Aber trotzdem läßt es sich nicht verhehlen, daß auch Rembrandt die
Grenze vom Göttlichen zum Zauber- und Spukhaften des öftern überschritt. Die große
Auferweckung des Lazarus Ist nicht frei von theatralischem Pathos. Das Wunder-
licht, das die Grabeshöhle füllt, könnte dem Apparat eines Magiers entstammen.
Auch die Emausszene (Radierung von 1654) steht unter Zauberstimmung. Im »Opfer
Manoah's« aber, wo die Erscheinung des Übernatürlichen glaubhaft wirkt, ist aus
dem Himmlischen eine Spukgestalt geworden. Der Engel des Herrn ein Gespenst!
Wenn nicht die tiefe, innige Andacht der beiden Knienden die Szene erklärte,
würden wir sie ganz anders auslegen. Rembrandt hat den Kontakt mit der Märchen-
gläubigkeit des Mittelalters, die das Übernatürliche natürlich behandelte, völlig ver-
loren. In seiner »Verkündigung an die Hirten« flüchten die Hirten samt dem Vieh
in heilem Schrecken vor den Engeln. Und selbst in der legendär erzählten Tobias-
geschichte geht der Engel mit seinen übergroßen Flügeln gespenstisch um, und als
er plötzlich auf und davonfliegt, bellt ihm des Toblas Hund wütend nach. Es ist
kein Friede mehr zwischen Gott und Weif.
Befriedigender, ästhetisch wie religiös, ist gegenüber Rembrandt die mittelalter-
liche Auffassung. Das Übernatürliche ist nur natürlich darstellbar. Eine leise Ab-
neigung macht sich darum bei manchen mittelalterlichen Künstlern schon gegen den
Heiligenschein geltend. Sie materialisieren ihn: machen dicke Tellerscheiben aus
ihm oder goldfunkelnde Räder oder juwelenbesetzte Reifen. Und schließlich lassen
sie ihn ganz weg.
Auch Unnatürliches, wie z. B. die Himmelfahrt, suchen die mittelalterlichen
Meister, besonders die Deutschen zu umgehen. Den, nicht wie bei den Engeln
durch Flügel motivierten Vorgang des Aufschwebens eines menschlichen Körpers ver-
decken sie mit Vorliebe durch eine Wolke, die nur die Füße des Auffahrenden
sehen läßt. Nicht allein aus religiösen, sondern auch aus künstlerischen Gründen
bürgerte sich die Darstellung des leidenden Christus stärker ein als jene des trium-
phierenden. Die Kunst suchte den Gottmenschen da auf, wo er am allermensch-
lichsten ihr entgegentrat.
Ungleich befangener stand sie den beiden andern göttlichen Personen gegenüber.
Gottvaters sichtbare Erscheinung hört eigentlich da auf, wo die Welt anfängt.
Nach dem Sündenfall wird sie selten, nach der patriarchalischen Zeit außerordentlich.
Im Neuen Testament erscheint Gottvater nicht mehr persönlich. Nur zweimal, bei
I
BEMERKUNGEN. 407
der Taufe und bei der Verklärung Christi erschallt seine Stimme. Die Kunst be-
schränkte sich zunächst -- bis zum 13. Jahrhundert — auf seine in Wolken er-
scheinende Hand. Die Hand ist in der altchristlichen Symbolik Verbildlichung des
Wortes, eine Aufgabe, die später das Spruchband übernimmt. Bei Christi Taufe,
Verklärung, Gebet am Ölberg, Auferstehung und Himmelfahrt zeigt sich Gottvaters
Hand: sprechend, segnend oder sogar herabgreifend, wie auf der Auferstehung eines
altchristlichen Sarkophags in Lyon oder einem Elfenbeinrelief des 5. oder 6. Jahr-
hunderts im Münchener Nationalmuseuni. Endlich aber erscheint Gottvater in
menschlicher, zuerst in halber, daim in ganzer Gestalt. Im Mittelalter entwickelte
sich dann die Vorstellung einer väterlichen Erscheinung. Sobald dieser Typus ge-
wonnen war, verlor sich die Befangenheit. Die Kunst hatte die Menschwerdung
Gottvaters gewagt. Nun wandelte der göttliche Greis auch bald unter den Menschen;
wir sehen ihn bei der Grablegung und Beweinung sich in den Kreis der Trauern-
den mischen — Beweinungen von Jean Malwel, Hans Pleydenwurff, Hans Balduiig— ,
er beschränkt sich nicht mehr, wie auf den Darstellungen der Verkündigung Maria,
Taufe, Kreuzigung und Kreuzabnahne Christi, auf das Herabschauen aus seinem
Wolkenfenster. Und zu herrlicher Entwicklung gelangt nun das gottväterliche Wesen
in den Gnadenstuhlbildern, den feieriichen Glorifikationen der Trinität.
Ungleich schwieriger war die Verkörperung der dritten Person, deren Bezeichnung
»Heiliger Geist« an sich die Körperiichkeit ausschließt. Geister sind zwar auch die
Engel, in denen die Kunst eine so unermeßliche Mannigfaltigkeit von Typen schuf.
Aber eben diese Mannigfaltigkeit gab ihr die Freiheit. Hier konnte die Kunst er-
finden, während ihr der dogmatischen Gestalt des göttlichen Prinzips gegenüber die
Phantasie gebunden war. Versuche, den Heiligen Geist als Engel darzustellen,
wurden wohl gemacht, befriedigten aber nicht; ebensowenig wie — entsprechend
der Verkörpenmg der menschlichen Seele als kleines Figürchen — die Darstellung
des Heiligen Geistes als Kind. Die Kunst fand für den Heiligen Geist keinen end-
gültigen menschlichen Typus und behielt deshalb im wesentlichen das Symbol bei,
die Taube.
So entstand die Merkwürdigkeit, daß inmitten der vermenschlichten Welt des
Himmels ein Wesen künstlerisch unerlöst blieb und, gleich dem jüngsten Bruder im
Märchen von den sieben Schwanen, Vogel bleiben mußte.
Auf manchen Dreieinigkeitsdarstellungen finden wir, entsprechend dem Dogma
von der Gleichheit der göttlichen Personen, diese als drei völlig gleiche Gestalten
gebildet, meist mittleren Alters mit kurzen Spitzbärten; manchmal erscheint der
Heilige Geist als Jüngling.
Daneben aber wird immer wieder die Symbolik zu Hilfe gezogen und es
entstehen eigenartige Vermischungen von Bilddarstellung und Symbolik, wie z. B.
Gottvater als Mensch, Gottsohn als Lamm, der Heilige Geist als Taube; Gott-
vater drei Ringe haltend; drei laufende Männer, die sich an Schopf und Hacken
packen, zu einem Dreieck vereinigt; Kreuz (als Sohn), darüber Taube und Brust-
bild Gottvaters.
In zahlreichen Versuchen beschäftigten sich die Künstler auch damit, einen be-
stimmten figüdichen Trinitätstypus zu schaffen: Kopf mit drei Gesichtern, die zu-
sammen nur zwei Augen haben (12.— 14. Jahrhundert). Kopf mit drei Gesichtern,
zuweilen in den drei Lebensaltern (böhmisch, russisch, deutsch). Dreiköpfige Figur
(spanisch, italienisch, französisch). Drei zusammengewachsene Halbfiguren (Wand-
gemälde in Bozen). Halbfigur mit vier Augen in drei nebeneinanderstehenden
Köpfen (französische Miniatur von 1524).
Versuche, die an die Ungeheuerlichkeiten von Götzenbildern erinnern, und wohl
408 BEMERKUNGEN.
schon ihrerzeit, als dem christlichen Gefühl nicht genügend, im allgemeinen abge-
lehnt wurden.
Selbst eine so sinnige Lösung wie das französische Mantelmotiv, wo die drei
göttlichen Personen mit einem einzigen Mantel bekleidet erscheinen, wodurch das
Dreifache in dem Hervorquellen der göttlichen Personen aus dem faltigen Oewoge
des Mantels angedeutet wird, konnte sich keine dauernde Volkstümlichkeit erwerben.
Das populäre Dreieinigkeitsbild wurde : Gottvater in kaiserlich päpstlichem
Ornat, Gottsohn als Erlöser, der Heilige Geist als Taube. Also eine Verbindung
von Bild und Symbolik; aber wenigstens für die beiden ersten göttlichen Personen
eine alles Unnatürliche meidende Vermenschlichung.
Das Ergebnis ist folgendes : Für das Übernatürliche muß zur künstlerischen
Verkörperung eine natürliche Erscheinungsform gefunden werden. Abweichung von
der Natur, Erfindung mehrköpfiger Wesen und dergleichen wirkt nicht über-, sondern
bloß unnatürlich, und ist überdies auch meist aus ästhetischen Gründen verwerflich.
Aber ebenso wird auch das Hereinziehen von Stimmungen, Lichteffekten leicht zur
Klippe, die selbst von den größten Meistern nicht immer glücklich umschifft wurde.
Schließlich bleibt jeder Versuch auf diesem Gebiet problematisch und — letzten
Endes überflüssig. Denn was die Kunst über das Göttliche zu sagen hat, dazu be-
darf sie keiner neu zu schaffenden Typen.
»Was sichtbar ist, das ist zeitlich. Was aber unsichtbar ist, das ist ewig.«
(2. Kor. 4, 18.)
Das Göttliche, das Geistige, das Ewige — es ist der Kunst Ziel ; aber das Zeit-
liche, das Körperliche, das Menschliche ist der einzige Weg dazu.
Besprechungen.
Dvoi'äk, Max, Idealismus und Naturalismus in der gotischen
Skulptur und Malerei. München und Berlin 1918, R. Oldenbourg.
Die Gotik ist längst wieder modern. Sie war es in der Neuzeit zum erstenmal
im beginnenden 19. Jahrhundert, dank der Romantik, und blieb es weiterhin lange
Zeit in der niederen Form einer äußerlichen Stilnachahmung, jener unzähligen Back-
steinkirchen, die es beinahe fertig gebracht haben, den Zeitgenossen die alte, echte
Backsteingotik zu verleiden. Jetzt handelt es sich darum nicht mehr, sondern um
eine neue Art Romantik, den Expressionismus. Die zeitliche Spirale ist in einer
späteren Windung wieder in dieser geistigen Gegend angelangt, und die junge Be-
wegung ergreift nicht bloß die gegenwärtige Kunst, sondern auch die Kunstwissen-
schaft und die Kunsfschriftstellerei. Man braucht nur die Schriften über Gotik von
Worringer, Joris K. Huysmans und Karl Scheffler zu nennen. Wie man von einem
Renaissancismus der Mitte des vorigen Jahrhunderts gesprochen hat, kann man von
einem heutigen Ooticismus reden. Der »gotische Mensch« soll den Weg zur
deutschen Kultur der Zukunft weisen. Die italienische Renaissance hat schon lange
keine Monopolstellung mehr in der Kunstliteratur oder im Bildungsinteresse breiterer
Schichten, so oft das auch noch immer behauptet werden mag Sie, die das Glück
hatte, in Deutschland in Herman Grimm, Jakob Burckhardt und Wölfflin Interpreten
und Propheten zu finden, und deshalb wohl auch in anderen Forschungskreisen
einigen Neid erregte, herrscht mit ihren Maßstäben längst nicht mehr einseitig vor.
Ja, sie ist eigentlich »überwunden« oder gar »erledigt«, nachdem so grimme, wenn
auch zum Teil etwas donquichotische Recken, wie wieder Scheffler oder F. F. Baum-
garten oder Richard Benz, gegen Renaissancismus zu Feld gezogen sind, von älteren
wie Carl Neumann oder Franz Bock in diesem Zusammenhange zu schweigen. Es
ist bereits eine ganze Weile — nicht ohne Einfluß nationalistischer Wallungen —
in einem gewissen Schrifttum guter Ton geworden, auf die italienische Renaissance
und ihre Rezeption in Deutschland ähnlich zu schelten, wie man sonst die Re-
zeption des römischen Rechtes verpönt hat; wogegen nun wieder vor allem Con-
rad Burdach, aber auch Hans Delbrück und Walter Goetz sich mit Recht und guten
Gründen gewendet haben. Auch Dvofäk glaubt einleitend noch Verwahrung ein-
legen zu sollen, weil man die mittelalterliche Kunst nach Gesichtspunkten einer weit
zurückliegenden Vergangenheit (der Antike) oder einer viel späteren Entwicklung
(Renaissance und Barock) beurteile : »Im Grunde genommen ist es der Standpunkt
der italienischen Kunsttheoretiker der Renaissance- und Barockzeit, der da noch
immer eine Rolle spielt«; — wirklich, immer noch? Aber gleichviel, das Bestreben,
auszumitteln, »was nur der mittelalterlichen darstellenden Kunst eigentümlich war,
worin ihre Eigenart und die grundsätzlich neue Wendung bestand, die sie dem pla-
stischen und malerischen Schaffen gab«, wird jeder billigen.
Man darf indessen nicht glauben, daß Fehlerquellen nicht auch in modernen
Verwandtschaftsgefühlen der Gotik gegenüber liegen können. Wenn Dvotäk an der
Romantik, die bis zu gewissem Grad eine einheitliche und lebendige Auffassung des
410 BESPRECHUNGEN.
Oesamtcharakters dieser Kunst gehabt habe, bemängelt, daß diese Auffassung phan-
tastisch und einseitig aus geistigen Gegenwartsströmungen entstand, so ist damit
auch eine Gefahr des heutigen Expressionismus bezeichnet, der zugleich doch auch
mancherlei Verwandtschaft mit dem Barock zeigt. Dvofäk kritisiert freilich selber
Worringer, den der Expressionismus inzwischen zu einem seiner Kronzeugen ge-
macht hat: In willkürlicher Beschränkung auf einen sehr charakteristischen Zug der
mittelaherlichen Kunst habe er einen völkerpsychologischen Begriff des gotischen
Formwillens zugrunde gelegt, der wichtige Erscheinungen unserem Verständnis
näherbringe, doch dem vielfältigen geschichtlichen Sachverhalt gegenüber noch phan-
tastischer sei als die abstrakten Stilbegriffe der Romantiker. (Man könnte die geistigen
Verfahrungsweisen, die hier Worringer vorgehalten werden, ganz wohl als expressio-
nistisch bezeichnen.) Auch Dvofäk selber geht freilich von den allgemeinen geistigen
Grundlagen der mittelalterlichen Kunst aus, darin mit Worringer einig und sich von
Wöltflins Art unterscheidend. Ich weiß nicht, glaube aber, daß ein bewußter Bezug
auf Wölfflin vorhanden ist, wenn der Verfasser sagt: Die Kunstgeschichte könne
gewiß das Wichtigste zur Erklärung der geistigen Kultur des Mittelalters leisten, wenn
sie ihre eigensten Aufgaben erfülle und künstlerische Bestrebungen und Ausdrucks-
mittel in ihrer immanenten und autonomen Entwicklung beobachte: »Das besagt
aber durchaus nicht, daß man sich im stolzen Gefühl einer Lösung der kunsfge-
schichtlichen Probleme im eigenen Wirkungskreise, wie sie in der letzten Zeit zu-
weilen verlangt wurde, Erkenntnissen verschließen müßte, die zur Beurteilung der
allgemeinen geistigen Situation des Mittelalters, sei es aus der fortschreitenden Er-
forschung anderer Gebiete des mittelalterlichen Geisteslebens, sei es aus dessen ur-
sprünglichen liierarischen Denkmälern, herangezogen werden können.« Das ist un-
anfechtbar, nur sagt es natürlich nichts gegen Wölfflins Methoden und Ziele. Ich
möchte dies etwas näher dartun.
Kunst ist nur »von außen« her zu verstehen; denn nur die Beziehung der Form
zum Ausdruck, die vom Äußeren her das Innere erschließt, ist eindeutig, nicht aber
die umgekehrte. Der Gehalt des Kunstwerks ist ja überhaupt nicht vor dem Werke da,
sondern entwickelt sich erst im Werden seiner Form ; was vorher in anderer geistiger
Form vorhanden war, ist etwas anderes; die Form kommt nicht wie ein Gefäß da-
zu, sondern entfaltet sich in der Selbstentwickelung des Ciehaltes zu immer größerer
Bestimmtheit. Es ist nie vorauszusagen, noch hinterher zu beweisen, daß bei einem
inhaltlichen Tatbestand gerade diese Form entstehen mußte, die er angenommen hat;
dagegen ist mit wissenschaftlicher Sicherheit zu erklären, daß umgekehrt die Form
gerade so und nicht anders wirkt, daß sie solchen Gehalt oder Ausdruck enthält.
Zwingend ist daher auch nur der Weg des unmittelbaren künstlerischen Er-
lebens, nicht der kulturhistorisch konstruierenden Wissenschaft. Zum Innern, zur
Seele des Kunstwerkes dringt man lediglich durch die Sinne. Es ist Einbildung zu
glauben, man könne, indem man die Sinne überspringt, liefer ins Innere gelangen.
So las ich kürzlich diese Sätze : »Aus allen Kunstwerken weist ein geheimer unter-
irdischer Kanal zu dem Allgemeingeistigen, aus dem sie ihren Ursprung nahmen.
Der Künstler ist nur der Individualisator dieser breiteren seelischen, geistigen Grund-
lagen. Wenn es uns daher möglich wäre, von diesen aus dem geistigen Kanal
nachfolgend in das Werk einzudringen, so würde man, von innen her kommend (?),
gleichsam von selbst zum Verständnis des Ausdrucks gelangen.« (Kunstwart,
zweites Märzh. 1919, S. 151.) Das ist ein Irrglaube. Die Feststellung, daß der Künstler
nur der Individualisator allgemeiner seelischer, geistiger Kräfte sei, ist schon
unglücklich ausgedrückt, denn seme Individualität und des Werkes Einzigkeit wird
damit nicht erklärt. Und wenn man an Kunstwerke so herantritt, wird nicht nur der
BESPRECHUNGEN. 41 1
Kombination, sondern auch dem Geschwätz leicht die Tür geöffnet. Auf diese Art
kommt man nicht »von innen her« zum Verständnis des Ausdrucks, sondern höchstens
von hinten herum, aus dem, was hinter dem Kunstwerke h'egt, auf »metaphysischec
Weise; kurz, man gerät wieder in die Bezirke einer spekulativen Ästhetik. Was
■>von außen« nicht zu lösen ist an dem Geheimnis eines Kunstwerkes, das interes-
siert eben künstlerisch nicht mehr; derartiges gehört zur Kategorie des künstlerisch
nicht Wissenswerten. Soweit aber auf jenem andern Wege ein wissenschaftlicher
Fortschritt möglich ist, wird er sich nur in ziemlich allgemeinen Formen halten
können, wie es auch bei Dvorak meist geschieht. Und auch dieser Fortschritt kann
zujjleich in andererer Minsicht einen Rückschritt bedeuten, solern derlei Erkennt-
nisse eine zu große Rolle im heutigen Erleben der Kunst beanspruchen. Sodann:
Die Ziele der anderen, kurzgesagt einmal der Wölfflinschen, Methode sind ja zum
Teil auch andere, als z. B. Dvorak in dieser Schrift verfolgt. Wölfflin ist einzig als
Pädagoge des künstlerischen Sehens und Verstehens. Er will Quellen nicht nur
«les historisch vermittelten Verständnisses, sondern auch des künstlerischen Genusses
erschließen. Ihm ist die Wissenschaft mindestens nicht in allen seinen Büchern
wichtiger als die Kunst. VVissenschaftlich erschöpfen kann einen Gegenstand
natürlich nur, wer alle Quellen benutzt; aber das künstlerisch Spezifische und
Wesentliche kann unter Umständen stärker herauskommen, wenn man sich auf die
künstlerischen Quellen beschränkt! Möglich, daß auch das Künstlerische dann nicht
immer allseitig erschöpft wird, aber seine Eigenart als ästhetisches Phänomen kann
unmittelbarer zur Geltung kommen und überzeugen. Daß dieser Weg gerade bei
der mittelalterlichen Kunst besonders schwierig wäre, ist zuzugeben, und auch
Dvofäk meint ja, daß die großen Hauptperioden der Kunst eine verschiedene
wissenschaftliche Behandlung erfordern. Dennoch ist nicht zu zweifeln, daß die
Wölfflinsche Methode (im allgemeinsten Sinne) auch der Gotik neue und reiche
Aufschlüsse abzugewinnen vermag.
Dvofäk räumt ein, daß man in der Anwendung der mehr abseits liegenden
Hilfsmittel nicht immer glücklich gewesen ist, und er weist einige der dadurch be-
ilingten irrtümlichen Auffassungen ab: Zum Beispiel, daß man etwa, wie in Sclinaases
Zeit, künstlerische Erscheinungen in ursächlichen Zusammenhang mit der Ent-
stehung neuer wirtschaftlicher, sozialer, religiöser Zustände bringe, was längst als
unfruchtbar erkannt sei. Unter dieses Urteil fallen Taine und modernere, marxistische
Kunstbetrachler, aber auch einseilig soziologische Ästhetiker, manche katholischen
Kunsthistoriker, doch auch andere Kunsttheologen, die z. B. in die sixlinische Decke
und die Vedizeergräber allerlei Dogmatik hinein geheimnissen, wovon der Kunst-
betrachter gar nichts zu wissen braucht. Dvofäk dagegen will nur erfassen, was
allen Strömungen der Zeit und geschichtlichen Tatsachen gemeinsam war, die von
<ler, ihnen zugrunde liegenden, mittelalterlich christlichen Weltanschauung beeinflußt
worden sind. Es handelt sich eben nur um eine Wurzel und allerlei Zweige des-
selben Baumes oder um verschiedene Erscheinungsweisen desselben Wesens, —
wenn man will, um einen Parallelismus. Die spätmittelalterliche Kunst z. B. ist
nicht »versteinerte Scholastik«, sondern beide sind Parallelwirkungen eines tiefer
liegenden allgemeinen Kulturzuges Dvofäk will in den Werken der großen mittel-
alterlichen Denker nur den »theoretischen Kommentar zu der Wiedergeburt einer
idealistisch monumentalen Kunst im Mittelalter sehen. Wie weit freilich ein Kommen-
tar künstlerisches Erleben vermitteln oder fördern kann, das wird problematisch
Dieiben und nur von Fall zu Fall zu entscheiden sein; vielfach wird sich bloß ein
inhaltliches und bei der Form nur ein theoretisches Verständnis ergeben. Auch bei
Dvofäk ist es zumeist so. Bei ihm spielt der abstrakte Kommentar immer wieder eine
412 BESPRECHUNGEN.
überwuchernde Rolle. Er meint freilich, daß im Mittelalter sich formale Aufgaben
den allgemein geistigen Inhalten weithin haben vollständig unterordnen müssen, und
daß daher durch die diesem Inhalt (nicht als Kunsigehalt natürlich) gewidmeten
Werke der großen Theolojjen »mindestens zum Teil« auch Aufklärung über die
künstlerischen Ziele, ihre Wandlungen und die Zusammenhänge in der Geschichte
der Kunst gegeben werden könne. Indessen, bei aller Verschiedenheit der Kunst-
epochen wird am Ende bestehen bleiben, daß eine menschliche Betätigung Kunst
nur in dem Maße ist, wie ein Inhalt Form geworden ist, und es muß erlaubt sein,
auch bei einer Untersuchung wie der vorliegenden zu fragen, in welchem Grade
uns die mittelalterliche Kunst durch jene Betrachtungen wirklich als Kunst näher
gebracht werden kann, nnd zwar nicht allein unserer wissenschaftlichen Erkenntnis
dieser Kunstrichtung allgemein, sondern auch unserem künstlerischen Verständnis
ihrer einzelnen Werke. Kurz : Was gewinnt der Kunstfreund für die Gegenwart aus
diesen Belehrungen, die des Kunsthistorikers Einsicht in die Vergangenheit be-
reichern?
Hier sei zwischendurch ein besonders zweifelhaftes Beispiel angeführt, das
nicht von Dvofäk stammt, sondern aus dem kürzlich deutsch erschienenen Buche des
Franzosen Huysmans über die »Geheimnisse der Gotik«. Dort wird — in Fort-
setzung der Lehre, die Viktor Hugo in seinem Buche Notre Dame« verkündet hat.
wonach das Gotteshaus im Mittelalter für die zahlreichen Analphabeten Bibel und
Katechismus gewesen ist — dargelegt, daß z. B. das Dach der Kirche die christ-
liche Barmherzigkeit »bedeute«, die Dachziegel die Soldaten, die das Gotteshaus
gegen Überfall der Heiden sichern, die drei Portale an der Turmfront die Drei-
einigkeit; der Grundriß des Gebäudes soll der Gestalt des gekreuzigten und ge-
marterten Christus entsprechen, das Querschiff seinen Armen, der Altar dem Haupte
Jesu, die Apsis der Dornenkrone, die Türen des großen Eingangsportales den Wun-
den seiner nägeldurchbohrten Füße ... Ja, angenommen selbst, das alles ließe sich
wirklich feststellen, — was hätten heutige Menschen davon? Und wie die Zeitge-
nossen der Erbauer diese Dinge empfunden haben, werden wir schwerlich noch
genau ermitteln. Sind das also »Geheimnisse der Gotik«, auf die wir begierig sind?
Meinen wir derartiges Zeug, wenn wir von den Rätseln der Gotik sprechen? Ich
denke, wir meinen tiefere Dinge als diese angebliche »Tiefenforschung< . Aber diese
Bestrebungen sind nicht vereinzelt und richten sich nicht bloß auf die Gotik; so sagt
z- B. gegen ähnliche Versuche, die an der venezianischen Malerei angestellt worden
sind, Karl Woermann in der 2. Auflage seiner »Geschichte der Kunst aller Zeiten
und Völker«: »Freilich bemüht die neuere Kunstwissenschaft sich, fast allem, was
von Burckhardt als , Existenzmalerei' bezeichnet, in der venezianischen Kunst nur
seiner malerischen Wirkung wegen da zu sein schien, seine Herkunft aus der Dichtung
oder der Geschichtschreibung nachzuweisen. .Unbestimmte Gegenstände malte man
damals in Venedig nicht', sagt auch Schubring im Anschluß an Wickhoff. Aber sei
dem, wie ihm wolle; die meisten jener unsicheren und ,papierenen' Deutungen
tragen nicht dazu bei, unsere Freude an den Bildern zu erhöhen. Wir werden da-
her kein besonderes Gewicht auf sie legen.« Auch in dem Buche von Heinrich Brock-
haus über »Deutsche städtische Kunst und ihren Sinn«, das mit dem Anspruch auf-
tritt, nun erst alle Einzelheiten in ihrer eigentlichen Bedeutung entschleiert zu haben,
ergibt sich etwas künstlerisch zumeist vollständig Gleichgültiges. Dvofäk steht auf
anderem Niveau. Doch eine gewisse kunstferne Trockenheit eignet auch ihm.
Seine Schrift ist auch ihrer formalen Haltung nach nicht auf ästhetische Päd-
agogik eingestellt. Sie ist in einem Stile geschrieben, der nicht leicht zugänglich,
sondern nur mit scharfen begrifflichen Zangen faßbar ist, begrifflich allerdings stets
BESPRECHUNGEN. 413
sehr bestimmt und sauber wirkt. Recht viele der langen und geschachtelten Sätze
muß man mehrmals lesen. Es sei erlaubt, einige Beispiele zu geben: »Es ist zweifel-
los richtig, wenn man auf den didaktischen Sinn der mittelalterlichen Skulptur und
Malerei, der Bibel ,der Armen im Geiste', als auf einen ihrer wichtigsten Züge hin-
weist, man darf jedoch nicht vergessen, daß neben dem historischen und dogma-
tischen Inhalte ihrer Darstellungen auch überall die auf einer, wenn der Ausdruck
gestattet ist, metaphysischen Transsubstantion aller formalen Elemente und Bindungen
beruhende Veranschaulichung der Souveränität der geistigen Einsicht und Offen-
barung gegenüber der an sich , unreinen' und ,irreführenden' sinnlichen Wahr-
nehmung, der lex Dei gegenüber der lex naturae, auf den Beschauer erhebend
wirken sollte.« — »Die spätantike Auflösung der Form in farbige Werte, in Licht und
Schatten, die äußerste Grenze, zu der die klassische Kunst in dem Streben nach der
Objektivierung der Naturphänomene gelangte, indem sie sie als durch die transi-
torischen Raunifaktoren und die Stellung des Beschauers zu denselben bedingt er-
kannte und dadurch ihre eigene Vergangenheit und das Arkanum ihrer Bedeutung
vernichtet hat, konnte zwar mit der altchristlichen, jenseits aller materiellen Güter
stehenden Ekstase und bis zu einem gewissen Grade auch noch mit dem frühmittel-
alterlichen Verzicht auf jeden objektiven Formeninhalt verknüpft werden — in der
vollständigen Auflösung des geistigen und gesellschaftlichen Aufbaues zum schranken-
losen Subjektivismus und Spiritualismus bestand die Brücke, die von der alten Welt
zur neuen führte — , doch in dem Maße, als man begonnen hat, wie in allen Lebens-
bezügen so auch in der Kunst, über den ursprünglichen, von der Welt der mate-
riellen Werte ganz losgelösten Gefühlsradikalismus hinaus diese in das neue, nicht
auf natürlicher Kausalität beruhende System einer geistigen Weltordnung einzufügen,
mußte der alte, auf sensueller Überzeugungskraft allein beruhende illusionistische
Stil gerade vom Standpunkte der (neu verstandenen) künstlerischen Wahrheit und
Wirkung jeden Sinn und Wert verlieren und unbrauchbar werden, wie z. B. umge-
kehrt eine mittelalterliche auf übernatürlicher Verbindung der Erscheinungen be-
ruhende Darstellung für die Zwecke der modernen wissenschaftlichen Illustration
nicht zu brauchen wäre.« — »Sie bestand darin, daß einerseits in diesen Gebieten
eine Welt übernatürlicher, vom zeitlich und räumlich begrenzten Geschehen unab-
hängiger, für alle Menschen, Zeiten und Verhältnisse geltender, religiöser, sittlicher,
geschichtlicher Mächte verkörpert, andererseits aber mit dem Glauben an solche Ge-
walten das Bestreben verbunden war, mit ihm sowohl das klassische Vermächtnis
eines durch Beobachtung der natürlichen Gesetzmäßigkeit systematisch geschulten
Denkens und Sehens als auch die aus den ungeheuren Energien neuer, von der
Kraftentwicklung und vom Phantasieleben junger Völker getragenen sozialen und
politischen Bildungen und geistigen Kulturen sich ergebenden Forderungen und Ge-
sichtspunkte zu verweben und in Einklang zu bringen.« — »Die Mauer, vor der die
Statuen stehen, wird, wenn sie überhaupt zur Geltung kommt, möglichst gegliedert,
wobei die Proportionen der Figuren keine Rücksicht auf die der zumeist wie die
landschaftlichen Hintergründe in den Gemälden im Verhältnis zu den Gestalten
disproportionierten Motive dieser Gliederung nehmen, wohl aber im Einklang mit der
durchgehenden, freiräumlichen Disposition des Baues stehen.« Diese Sätze spiegeln
ein ernstes Ringen um Bestimmtheit, das nirgends verschwommen bleiben möchte,
aber weitaus keine einfache Klarheit erreicht. Daß dieser Stil den Sinn haben sollte,
der Gotik ebenso zu entsprechen, wie etwa der Wölfflinsche Stil der italienischen
Renaissance kongenial ist, und daß er daher ebensoviel wie dieser zur Kennzeichnung
der behandelten Kunstepoche beitrage, wird wohl nicht behauptet. Auch darin zeigt
sich ein großer Unterschied von Wölfflin, dessen kunstpädagogische Verdienste zum
414 BESPRECHUNGEN.
Teil in der saftvolien Gefühlsnälie seiner Sprache begründet liegen, und der auch
in seiner Form, in Disposition und Dil<tion nicht etwa nur der Renaissance, sondern
viel weiteren geistigen Welten, im besonderen allerdings den hellenischen und latei-
nischen Kulturkreisen verwandt erscheint. (Ich zweifle freilich, wie bereits gesagt,
nicht, daß er mit seinen Mitteln auch über die Gotik sehr wesentliche Dinge zu
sagen vermöchte.) Dagegen kann man zweifeln, ob der Stil von Dvofäk etwa als
besonders deutsch anerkannt werden müßte. Dieser Stil stimmt nur zu der ganzen
Denkweise des Verfassers, die stark abstrakt ist und auf die Möglichkeiten leichter
Aneignung und rezeptiv-ästhetischer Verwertung der gefundenen Ergebnisse wenig
achtet. Wie weit seine Aufstellungen zur ästhetischen Einstellung verhelfen, wie
weit sie dem Leser die Werke künstlerisch näher bringen, danach scheint zumeist
nicht gefragt zu sein. Der Verfasser bewegt sich eben überwiegend in den Theorien
der Dinge.
Es läßt sich nicht leugnen, daß auch diese Art der Kunstbetrachtung und Dar-
stellung jetzt wieder sehr modern zu werden begonnen hat. Die unmittelbare Hin-
wendung zum Werke, zur Sichtbarkeit wird neuerdings, namentlich in der expres-
sionistischen Lehre, zugunsten einer Kunstphilosophie zurückgedrängt, wie in der
expressionistischen Kunst die Bedingungen der Schaubarkeit zugunsten — weniger
des Gefühls, wie der Name behauptet, als — des Denkens vernachlässigt werden.
Wenn die Ästhetik noch vor zwanzig Jahren Mißtrauen zu überwinden hatte, wie-
wohl sie längst Wissenschaft geworden war, so ist das jetzt ganz anders geworden,
obgleich sie in den bezeichneten Kreisen vielfach unwissenschaftlich, mystisch oder
auch okkultistisch geworden ist. Das Phantasieren über Kunst steht bei den Adepten
der neuen Offenbarung in höchstem Ansehen, und es folgt der Kunst nicht nur
nach, sondern geht ihr voran. Dvoi'äk liegt nun ein Liebäugeln mit bloßer Mo-
dernität fern. Er hat Gedanken, wo jene oft nur Phrasen finden, aber auch er läßt
das Gefühl ebenso wie die Sinnlichkeit weit weniger sprechen als den Verstand.
Er strebt nach schärfster philologisch historischer Genauigkeit. Allein, es ist eine
Frage, wie weit er mit seiner Methode überhaupt ähnlich bestimmte und konkrete
Ergebnisse erreicht, wie es Wölfflin mit der seinen gelungen ist. Denn Wölfflin
bedeutet — ganz abgesehen von den Inhalten seiner Feststellungen und von der
Frage, ob er persönlich nur eine Hochrenaissancenatur ist oder nicht und ob seine
Methode bloß auf beschränkte Abschnitte der Kunstgeschichte anwendbar ist —
er bedeutet eine Annäherung an exakte Wissenschaft auf einem der höchsten Gebiete
des Geisteslebens. Gewiß, es gibt auf diesem Felde nur eine ungefähre An-
näherung an das Ideal der Exaktheit, aber Wölfflin hat eine Annäherung vollbracht.
Dvoi^äk hat im ersten, mir vorliegenden Teile seiner Arbeit nur das eine
der beiden im Titel genannten Themen ausführlich behandelt, den Idealismus. Er
breitet eingehend und vertiefend die mittelalterliche, kirchlich spiritualistische Geistes-
verfassung aus, gewinn- und genußbringend zu lesen, doch von Kunstgeschichte in
der ganzen geistigen Haltung ziemlich entfernt bleibend, mehr in der Art, wie etwa
Geschichte der Philosophie oder auch der Theologie betrieben werden kann. Be-
stimmtere formale Fragen oder gar Beispiele aus der Kunst werden auf 40 Seiten
gar nicht gegeben, auf den letzten 20 sind dann wenigstens einige Formprobleme
erörtert, aber ebenfalls ohne Beispiele. Ich muß mich auf die Hauptlinien be-
schränken.
Wir können uns, sagt der Verfasser durchaus zutreffend, nicht leicht in eine
Welt hineindenken, die alle Wirklichkeitswerte, alles durch die Sinne oder durch den
BESPRECHUNGEN. 415
Verstand Faßbare nur im Spiegel des Absoluten, Ewigen, Unendlichen, nur als
Manifestation des sinnlich und verstandesmäßig unfaßbaren göttlichen Gedankens
sieht. In der Tat, heute können Expressionisten zwar davon reden, daß sie ähn-
lich empfänden, aber wenn schon ihr Verhältnis zur Religion problematisch ist, so
ist es ihre angebliche Verwandtschaft mit der Gotik noch viel mehr. Die Schrift
von Dvorak könnte dazu helfen, das Geschwätz vom gotischen Menschen als Führer
in die Zukunft einzudämmen, falls jene Propheten des Geistes so schwere geistige
Lektüre läsen. Nicht einmal jede starke Religiosität ist ohne weiteres mit Gotik ver-
wandt: »Nicht in dem religiösen Charakter allein, auf den immer hingewiesen wird,
liegt das Eigenartige der mittelalterlichen Kunstentwicklung - die Kunst der Gegen-
reformation war zum Beispiel nicht minder religiös und doch trotz mancher Be-
rührungspunkte sehr weit von der gotischen entfernt - sondern in dieser Allgegen-
wart einer jenseits des materiellen Erlebens liegenden geistigen Konstruktion, deren
Einfluß so groß war, daß jedes unvermittelte Zurückgreifen auf sinnliche Erfahrung
in geistigen Dingen . . . als ein unsinniger und zu verdammender Verstoß gegen die
Wahrheit und den Menschenverstand aufgefaßt wurde.« Das war damals unver-
brüchlich echt und original, heut ist eine Wiederholung bei europäischen Völkern
unmöglich. Vielleicht, daß junge, etwa östliche Kulturvölker noch eine ähnliche
Stufe, wenn auch'natürlich in vielen Hinsichten unvermeidlich anders, erleben können;
Europa aher vermag etwas dergleichen wohl nur in der Vergangenheit zu suchen,
aus Romantik. Denn wie es immer wieder eine klassizistische Kunst gegeben
hat, so findet sich auch immer wieder eine archaistische, die nicht aus formalem Ar-
chaismus zu entstehen braucht, sondern auch aus innerer Romantik stammen kann.
Dvoi'äk sagt mit Recht: >Dle gotische Kunst war selbständig und eine in sich ab-
geschlossene Phase der allgemeinen Kunstentwicklung wie die allorientalische,
klassische oder moderne.^' Ihre modernen Nachbeter aber — fügen wir hinzu —
werden sich vielfach, von der geschwollenen Phraseologie abgesehen, nicht anders
zu ihr verhalten, als sich der von ihnen verachtete Renaissancismus des 19. Jahrhun-
derts zur Renaissance verhielt, oder als die Stilhetze des 19. Jahrhunderts, die ein
kiinstgeschichtliches Repetitorium war. Solange man in so großen, eigenartigen und
fernen Epochen wie der mittelalterlichen Kunst nicht das der eigenen Zeit Fremde
empfindet, hat man sie schwerlich verstanden und in ihrer Eigenart gewürdigt.
Wenn das frühe Mittelalter nach Dvorak zu einem »barbarisch-vulkanischen, grauen-
haft revolutionären Verzicht der neuen Völker und der neuen Kultur auf sinnliche
Schönheit führte bis zur Vernichtung aller alten Kulturbegriffe-, so passen die Worte
freilich auch auf manche Erscheinungen der Gegenwart ; aber wenn dergleichen bei
frischen Völkern naturhaft vorkommen kann, wird es bei alten, zum Teil kultur-
niüden Nationen von Perversität nicht frei sein, wovon es in jenen frühen Epochen
wahrscheinlich nichts enthielt.
Die Gotik hat nach Dvofäk »alle realen Substanzen und Zusammenhänge durch
neue Begriffe des für die Menschheit geistig Wertvollen durchdrungen und umge-
staltet«. Überhaupt spielt nach seiner Vorstellung der Begriff in der Gotik eine
größere Rolle als vielleicht in irgendeiner anderen Kunst. Die gotische Kunst ging
nicht vom Sinnlichen zum Geistigen hin, wie alle »naive» Kunst, sondern umgekehrt
vom Geistigen zum Sinnlichen nach Art »sentimentalischer« Kunst (zu der ja auch
der Expressionismus gehört). Begriffliche Bezüge wurden auch für die Formen-
beziehungen maßgebend, es entstanden dadurch »neue formale Ziele und Gesichts-
punkte«. Es ergab sich zum Teil eine Art Bilderschrift, die Aufnahme dieser Kunst
war mehr dem Lesen verwandt als dem Schauen. Wollte man indessen solche Kunst
unter spezifisch ästhetischen Gesichtspunkten auf eine höhere Stufe stellen etwa als
416 BESPRECHUNGEN.
die griechische Kunst, so verfiele man einem Irrtum, einer Hegelei im üblen Sinne,
wenn man sich dabei auch, wie Dvoi'äi« zeigt, mit der Selbsteinschätzung der Gotik
begegnete. Wenn Dvofäk weiter sagt: »Der Begriff Aer forma substantialis als Ab-
glanz der verborgenen, von allem Veränderlichen unabhängigen und nur der intel-
ligenten Erkenntnis erfaßbaren Urschönheit und Synthese der geheimen, nur dem
,geistigen Auge' sich entschleiernden Ursachen und Wirkungen spielt, aus der neu-
platonischen Philosophie übernommen und auf die christliche Weltanschauung über-
tragen, in der mittelalterlichen Literatur von Augustin bis Thomas und darüber hin-
aus in fortschreitender Vertiefung und Weiterentwicklung eine ähnliche, nur noch
viel wichtigere Rolle wie das klassisch-materielle Schönheitsideal in den Kunst-
theorien der Neuzeit«, — so bleibt zu fragen: Hatte diese Literatur wirklich Einfluß
auf die Kunst der Steinmetzen? Der Verfasser behauptet das nicht, und im übrigen
ist sein gelehrtes Material höchst interessant und es vertieft zweifellos das Bild der
gotischen Welt, aber es fehlt eben dieser Denk- und Forschungsart stellenweise
allzu sehr die konkrete Beziehung zur Kunst. Er hat gewiß recht, wenn er gerade
bei der gotischen Skulptur und Malerei noch etwas anderes als die struktiven und
ästhetischen Voraussetzungen der gotischen Baukunst zur Erklärung des Form-
schemas heranzieht. Ob aber ein unmittelbar ästhetisches Verständnis der Gotik
wirklich alle seine kulturhistorischen und geistesgeschichtlichen Hilfen braucht? Ich
vermag mich nicht davon zu überzeugen. Und ist denn etwa die formale Ana-
lyse der Gotik schon erschöpft? Mag die gotische Kunst lange verkannt, unter-
schätzt und falsch gewertet worden sein, man lernt sie allmählich wohl unbefangener
und gerechter auffassen, auch ohne daß man ein ihr vergleichbares religiöses Emp-
finden oder gar theologische Kenntnisse zu haben braucht. Wie vielen wäre sonst
überhaupt noch ein nahes und frisches Verhältnis zu ihr möglich? Tut man dem
künstlerischen Verständnis dieser Kunst einen Gefallen, wenn man es hinter in-
tellektuellen Dornenhecken und metaphysischen Bedingungen als schwer erreichbar
hinstellt ? Wenn Dante auch, worauf sich Dvorak beruft, gesagt hat : non e se non
splendor di quella idea usw., nun so ist er selber ein Beispiel, daß eben doch noch
gewaltig viel anderer Glanz in seinem Gedicht ist, das mit seinem unvergleichlichen,
erhabenen und wahrhaft weltenrichterlichen Ton jedem allgemein literarisch emp-
fänglichen, ästhetisch hellhörigen Modernen ziemlich mühelos erreichbar ist, und
davon wollen wir uns auch durch die Vertiefung in mittelalteriiche Kunsttheorien
nicht ablenken lassen. Es gibt auch zu denken, daß ältere Übersetzungen seines
Gedichtes, etwa die von Streckfuß, nicht nur einfacher und klarer, sondern auch
dem Original näher sind als die Versuche eines so großen Künstlers wie Stefan George,
der mit moderner Mystik Verwandtschaft hat und intellektuellen Überlegungen wie
denen von Dvorak nicht abgeneigt sein dürfte.
Dvorak selber fragt nach seiner Darstellung jenes geistigen Systems, worin das
alles nun künstlerisch zum Ausdruck kommt. Aber in der Antwort bleibt er
wieder recht abstrakt. Zunächst führt er an: Ein angeblich bewußtes Sichabwenden
von Naturnachahmung und Naturtreue. Aber vielleicht entspricht diese auf die Spitze
getriebene Formulierung mehr der geistigen Haltung heutiger, programmatisch ein-
gestellter Künstler als denen früherer Jahrhunderte. Sollte wirklich etwas so Nega-
tives bewußt die damaligen Maler und Plastiker geleitet haben? Im frühen Mittel-
alter wird ja der christliche Gegensatz zu Natur und Sinnlichkeit mitgewirkt haben,
aber er dürfte in der Kunst wohl mehr zu einem Vernachlässigen der Natur als zu
ihrer ästhetischen Bekämpfung geführt haben. Vielleicht sah der Künstler in ihr ein
BESPRECHUNGEN. 417
I
souverän zu behandelndes Material, wie es auch Dvoi'äk an einer anderen Stelle
darstellt. Das erscheint einleuchtender als eine damalige Losung »gegen die Natur«
oder »weg von der Natur«. Ein immerhin unmittelbares, wenn auch negativ ge-
färbtes Verhältnis mancher Künstler jener Zeiten zur Natur mag in einer Art anti-
pathischer Einfühlung bestanden haben. Einfühlung ist ja keineswegs immer sym-
pathisch; man kann etwa, um moderne Beispiele zu nehmen, die perversen Szenen
in Puccinis »Tosca« oder aus der Schillingsschen »Mona Lisa« stark erleben, indem
man sich dagegen sträubt, und man mag sie gerade dadurch noch lebhafter emp-
pfinden ! Vielleicht ist es gotischen Künstlern mit manchen Erscheinungen der Natur
ähnlich ergangen; nur wird man gut tun, das Verhältnis nicht zu sehr zu rationali-
sieren. Soweit man aber die künstlerische Abstraktion im Mittelalter mit der theologischen
Erkenntnistheorie zusammenbringt, der alles Sinnen wesen Schein war, wei-den moderne
Menschen sie schwer nacherleben können, wenn es auch nicht unmöglich ist, daß
sich noch heutigen Betrachtern im Anblick solcher Werke Regungen einer inbrünstigen
Oeistesliebe einstellen; es wäre engstirnig, das zu leugnen. Aber es kann eine
ziemlich formale geistige Inbrunst sein, die uns z. B. auch vor heutigen Erschei-
nungen starker katholischer Qeistigkeit nicht selten ergreift; was dann selbst Un-
gläubige erschüttert, ist nur der unbedingte Vorrang des Geistigen und Seelischen
vor dem Körperlichen und Sinnlichen, — und das ist nun allerdings dem gotischen
Orunderlebnis verwandt. Nach dieser psychologischen Seite hat Dvoi'äk leider nicht
versucht oder nicht verstanden, die OeistigkeU der Gotik dem außerwissenschaft-
lichen modernen Bewußtsein näherzubringen.
Daß der mittelalterlichen Kunst in ihrer Haltung zum Geistigen eine gewisse Selbst-
verständlichkeit fehlt, daß sich mehr Anstrengung, ja krampfhafte Anspannung in ihr
findet, wird festzuhalten sein; in der Askese des Miftelalters, auch der Kunst, ist
vielfach noch ein ängstliches Bemühen, sich des Geistes zu bemächtigen, wie es bei
jungen und rohen Völkern, die erst vergeistigt werden sollen, begreiflich, natürlich
und wertvoll ist, aber für spätere Stufen, zumal der Kunst, kein Ideal mehr darzu-
stellen braucht, übrigens dann auch kein Heil gegen Veräußerlichung und Materiali-
sierung bietet. Die mittelalterliche Qeistigkeit ist bei aller Großartigkeit befangen,
nicht bloß in der Scholastik infolge der kirchlich von vornherein festgesetzten Er-
gebnisse des Denkens, auch auf anderen Gebieten, in der Grundhaltung des Zeitalters
zum Geistesleben : Es ist ein Ringen, das ethisch und auch intellektuell von hohem
Wert gewesen ist, von höherem als eine satte und blasierte Fertigkeit; aber die
Feindschaft gegen die Sinnlichkeit, die ethisch erhaben sein kann , wird ästhetisch
kaum je erhaben wirken, — während allerdings ein Sichhinwegsetzen über alltägliche
Natürlichkeit gepaart mit freier Überlegenheit dem Wesen des Erhabenen und Mo-
numentalen durchaus entspricht.
Zuzweit gibt der Verfasser einen positiven Hinweis für die künstlerische Er-
scheinungsweise des mittelalterlichen Geistessystems, der aber auch in etwas Nega-
tives ausläuft, nämlich in die Abstraktion. Es handelte sich sozusagen um Illustra-
tionen zu Zwecken der Demonstration — «etwa wie man sich noch heute in einer
wissenschaftlichen Darstellung einer linearen Abstraktion und Betonung des ,Wesent-
lichen' mit Ausschluß aller anderen Elemente der sinnfälligen Erscheinung zu be-
dienen pflegt«. Das »Wesentliche«, das vor allem interessiert, ist eben der Inhalt
eines verbalen Berichtes, der zugrunde liegt, oder die theosophische, hagiographische,
liturgische Bedeutung der dargestellten Personen. Alles wird in Abkürzungen,
einer Art Stenographie gegeben, ein Baum z. B. durch ein paar Blätter, ein Bau durch
Zdtschr. f. Ästhetik u. Mg. Kunstwissenschaft. XIV. 27
418 BESPRECHUNGEN.
einige Bauteile — pars pro ioto, wie dergleiciien auch im primitiven Denl<en vor-
kommt. Nun gibt es aber viele Grade und Arten von Abstraktion in der Kunst,
irgendwie abstrahiert jede Kunst, und manche kann es sehr stark tun, ohne gerade
unter so geistigen Gesetzen zu stehen wie die Gotik. So hebt auch Dvorak an
anderer Stelle hervor, daß die altägyptische Kunst viel mehr hieratisch gebunden
war als die gotische; jene hat Typen autoritativ festgelegt, — wohl lediglich aus kon-
servativen Gründen, um die Ehrfurcht vor der Überlieferung auszunutzen (»was
grau \ox Alter ist, das ist ihm heilig«). Oder, ein anderes Beispiel, »die idealen
Normen der höchsten griechischen Blütezeit«, die auch Dvorak einmal in gewissem
Sinniei zum Vergleiche für die Gotik heranzieht , entspringen allgemein stilistischen
Gründen und dem Streben nach einer Erhöhung der menschlichen, auch innerlichen
Haltung. Oder Giotto und Masaccio sehen zugunsten der monumentalen Erzählung
von allem Zuständlichen ab, und lV\ichelangelo wird von Bäumen und Gebäu-
den abgelenkt durch seine Freude am Menschenleibe, um dessenwillen er alles
andere vernachlässigt. Dagegen hatte die Gotik, wie gesagt, allgemein geistige
Gründe für ihre Abstraktion. Für sie ist also nicht so sehr die Stärke der Abstrak-
tion bezeichnend wie deren besondere geistige Art.
Aber trotz alledem steht diese Kunst deshalb, weil sie so sehr und so geistig
abstrahiert, nicht etwa in scharfem Gegensatze zu aller Einfühlung. Abstraktion und
Einfühlung sind ja überhaupt keine ausschließendea Gegensätze, sondern der nega-
tiven, abstrahierenden Tätigkeit steht als positives Komplement gegenüber die Ein-
fühlung. Auch in der gotischen Kunst! Wenn man damals körperliche und seelische
Schönheit unterschied, jene z. B. Jesus wie etwas Unwürdiges absprach und sie in
der Kunst vernachlässigte, weil die =wahre« Schönheit nicht durch die Sinne »er-
kannt« werden könne, so legte man den Akzent der Einfühlung eben auf die
seelische Schönheit, von der auch der Körper einige »berechtigte« Schönheit durch
den Ausdruck der Unsterblichkeit erhielt. Das Ausgemergelte der Leiber wurde als
Durchgeistigung empfunden, wie später wieder in den Ekstasen des Barock. Heutige
Menschen können freilich nicht immer umhin, in jener Schlankheit etwas Beängsti-
gendes zu sehen; wie Schwindsucht eine sublime Schönheit eigener Art entwickelt,
so finden wir manche krankhafte Verfeinerung in gotischen Körpern, die in der Tat
ja oft durch Askese erschöpft und verzehrt, mehr Nerven als Fleisch und Knochen
sein sollten. Das sind Erscheinungen eines seelischen und geistigen Durchbruchs, und
so könnte die Gotik weltgeschichtlich gesprochen am Ende eine große notwendige
Entwicklungskrankheit genannt werden, ohne daß damit etwas gegen den Wert
ihrer Kunst gesagt wäre. Das sind Seiten, die Dvofäk nicht beachtet hat. Die
gotische Kunst ist doch reicher und noch durch manche anderen Instinkte außer
den geistigen, mindestens infolge von diesen, bestimmt. Wenn man sich mehr an
die Kunst selber hält als Dvofäk, und wenn man sich mehr psychologisch als logisch
einstellt, läßt sich wohl ein noch runderes Bild der Werte geben, die die Gotik hat
und die ihr fehlen. Der moderne Betrachter wird gotische Werke bisweilen mit
einer Art antipathischer Einfühlung aufnehmen, also z.B. mit gerade entgegen-
gesetzten Bewegungen und Körperhaltungen darauf antworten, als der Haltung der
Werke entspricht, — ohne daß man sagen könnte, daß ein Werk, zu dem man sich
so verhielte, nicht »verstanden« oder nicht «erlebt« wäre.
Was aber außerhalb der Einfühlung, der sympathischen und der antipathischen,
und neben der Freude ob der Gestaltungskraft dieser Kunst an ihr erlebt wird,
schwankt mindestens für den heutigen Betrachter häufig vom Symbol hinüber zur
Allegorie. Die so besonders geistigen Inhalte der Abstraktion und auch die Be-
ziehung zu den erwähnten asketisch erkenntnistheoretischen Überzeugungen mußten
BESPRECHUNGEN. 410
diese Kunst leicht zur Allegorie führen. Es ist eine Kardinalfrage, die ihr gegenüber
zu stellen bleibt, wie weit sie zu ihrer eigenen Zeit symbolisch verstanden worden
ist und wie weit sie auch noch von uns so zu verstehen ist, oder wie weit sie von
jeher allegorisch aufgefaßt wurde und jetzt nur noch so zugänglich ist Dvoi'äk
kritisiert nun nicht, Kritik findet sich in dieser Arbeit bloß in philologisch-histo-
rischer Form. Er stellt nur objektiv fest, daß man die alten Formsymbole begriff-
lich verwendet hat: »die ikonographischen Zentraltypen der christlichen Kunst des
Mittelalters haben sich in der ersten Periode der mittelalterlichen Entwicklung in
abstrakte und zunächst im Vergleich zu ihrer ursprünglichen Form beinahe form-
lose Begriffssymbole verwandelt.« Man benutzte sie formelhaft wie einen kon-
ventionellen Wortschatz und so, wie man sich auch der alten Sprache bediente^
Daß dieses Verfahren künstlerisch und auch geistig nicht immer hoch stand, dürfte
ruhig ausgesprochen wtrden. Wenn man selbst neue formale, räumliche Anord-
nungen oft begrifflich, spintisierend verwendet, z. B. Apostel auf den Schultern
von Propheten stehen läßt, so ist das doch ein ziemlich dürftiger Sinn solcher
^sinnvollen« Raumbeziehung.
Dem weniger rationalen Erleben näher kommt der Verfasser, als er fest-
stellt, daß keine geringere Rolle fals Erkenntnisprobleme das Bestreben gespielt
hat, durch bildliche Erfindungen Gefühle und Vorstellungen einer
vollständigen Loslösung vom realen Sein zu erwecken, und als er Pinders
Untersuchungen über die Rhythmik romanischer Innenräume heranzieht. Man
atmet auf nach dem Gestrüpp scholastischer Philosopheme, die man an sich
hoch schätzen kann, aber als Führer zur Kunst — auch zu der ihnen gleich-
zeitigen — doch nicht sehr geeignet zu finden braucht. Hier kommt man
endlich vom Intellekt los zur Stimmung, von der bloßen Allegorie weg zum Symbol,
über die begrifflich vermittelten Erlebnisse hinaus zu unmittelbareren. Wie der Bau-
kunst gesteht Dvor-äk auch der Malerei und Plastik zu, daß sie nicht bloß als Be-
griffsdarstellungen wirken, »sondern auch den Seelen durch die Dynamik einer
abstrakten künstlerischen Organisation eine feierliche und andächtige Stimmung«
übermitteln sollen. Die Formen, um die es sich da handelt, bleiben also abstrakt,
aber ihr Ausdruck ist doch konkret gefühlsmäßig; und die abstrakt-gesetzmäßigen
Ausdrucksmittel gewannen mit ihrem subjektiven Gehalt in der Gotik eine Selb-
ständigkeit gegenüber dem objektiven Darstellungsinhalt, wie sie in der Antike sie
nie besessen haben. Das verbindet diese Kunst mit den besten Erzeugnissen des
modernen Expressionismus. Nur soll man nicht meinen, daß ihr Erleben oder ihre
Absicht um jener Abstraktionen willen immer vorwiegend intellektuell, begrifflich,
allegorisch sein müßte, und daß man zu ihrem Verständnis eine spekulative
Ästhetik brauchte, sei es eine vergangene oder eine gegenwärtige; sondern diese
abstrakt elementaren Wirkungsmittel sind vielfach einfach ornamental zu ver-
stehen. Das Ornamentale ist ja sehr tiefer Wirkungen fähig, selbst im sogenannten
Kunstgewerbe und auch, ja gerade bei den einfachsten Motiven wie Kreis oder
Quadrat und dergleichen; das gilt vom geometrischen Stil der Primitiven bis zu
Peter Behrens. Diese Grundelemente der räumlichen Formenwelt entfalten häufig,
auch in der Gotik, eine »elementare« Wirkung nicht bloß im Sinne der Einfachheit,
sondern auch der Intensität. Nur gerade eine »höhere« Bedeutung im geistigen
Sinne haben sie nicht immer! Die Sache ist also vielfach gar nicht so geheimnisvoll,
oder besser: diese Kunst gibt mit ihren abstrakt elementaren Formen zwar aller-
dings geheimnisvoll starke Wirkungen, aber sie liegen nicht immer oberhalb der
420 BESPRECHUNGEN.
>natürlichen Gesetzmäßigkeit der organischen Bildungen«, die eben l<omplizierter
und differenzierter ist, sondern vielfach auch darunter. Kurz, die i<ünstlerischen
Geheimnisse der Gotik dürften zwar nicht flacher sein, als Schriften wie die Dvofäks
sie darstellen, aber schlichter, primitiver, als es da erscheint. Und erst recht lieg^
es so bei dem modernen Expressionismus im Vergleich zu seinen geschwollenen
Theorien. Durch diese Einsicht kann in beiden Fällen das ehrliche und wirklich
künstlerische Verhältnis zu der Kunst nur gewinnen.
Natüriicheren Boden betritt man vor allem wieder im letzten Teile der Schrift,
wo sie — endlich! — sich formalen Problemen zuwendet. Drei Kompositions-
elemente werden genauer betrachtet, die aus dem Streben nach übersinnlichen Verbin-
dungen erklärt werden: Die Reihung der Figuren, ihre Bewegung und ihr Verhältnis
zum Raum. Das Motiv der Reihung ist der Gotik nicht etwa eigentümlich, es ist uralt
nnd in der modernen Kunst wieder beliebt. Man braucht nur an Hodlers Paral-
lelismus zu erinnern. Wenn Hodlers Bilder oft eine santa conversazione in nicht-
kirchlicher Bedeutung darstellen, ohne Handlung, ohne dramatischen oder epischen
Inhalt, vielmehr lyrisch oder metaphysisch, so nahmen auch die Heiligenscharen,
die eine gotische Kathedrale schmücken, nicht an einem zeitlich oder örtlich be-
stimmten Ereignis teil, und ihre Gruppenbildung ist nicht dadurch bedingt, sondern
lediglich durch eine rhythmische Reihung. »Wie magisch festgebannt stehen die
Figuren in der Massenkomposition als im wesentlichen gleichwertige vertikale
Schemen nebeneinander oder zuweilen auch in mehreren Reihen übereinander als
koordinierte Glieder, ohne jede einer realen Situation entsprechende Vereinigung,
zuweilen zu Akkorden und Akkordfolgen verbunden, doch ohne abschließende for-
male Begrenzung, so daß die Reihen in der EinbildungsKraft ins unendliche fort-
gesetzt werden können.-- Auch das gilt wieder von jenen Bildern Hodlers. Als
Ursache will der Verfasser einen konstruktiven Zwang mit Recht nicht gelten lassen
(die Reihung kommt ja eben auch ohne ihn vor), wohl aber einen geistigen Zwang
— man sollte wohl besser sagen einen ästhetischen ^, der vom ganzen Bau aus-
gehe. Die Skulpturen seien der Stellvertretung für architektonische Bauteile fähig
geworden, natüriich nicht im rein konstruktiven Sinne, sondern dank einer gemein-
samen Bedeutsamkeit. Es gibt wohl noch eine dritte Beziehung, nämlich die for-
male Annäherung zwischen Statuen und Pfeilern. Auch Dvofäk sagt einmal: »Die
Statuen nehmen die Form von Pfeilern an, weil dies der Weg war, ihren höheren,
über Körpernachahmung stehenden künstlerischen Zweck zu erfüllen.« Im Grunde
also eine ganz einfache Sache, um die der Verfasser wieder nur unnötig viel
geistigen Aufwand macht! Die Komposition beruht nach ihm »auf der Annahme
einer transzendenten Einheit, zu der die Körper jenseits ihrer natüriichen, mechani-
schen und organischen Funktion und Verbindung in Beziehung gebracht wurden«.
Man tut dem lebendigen künstlerischen Verhältnis zu der gotischen Kunst keinen
Gefallen durch diese einseitige, unausgesetzt hochgeschraubte Betrachtungsart.
Sehr gute Worte findet der Verfasser für die gotische Bewegung, die er
keineswegs bloß aus Ausdrucksmotiven erklärt, aber auch nicht, mit Vöge, einfach aus
der Notwendigkeit ableiten will, bewegte Figuren in der gegebenen Blockform
unterzubringen; sondern er verweist auf den ganzen Zusammenhang des Baustils
und seines Vertikalismus, der auf die Arbeiten der Steinmetzen abfärbte. Ein Ein-
wand ergibt sich dem Referenten hier nur in einer Hinsicht. Unter vielem Rich-
tigen und Feinen, das Dvofäk zu der Darstellung des Schwebens beibringt, sagt er
nämlich: »Es war ein Vermächtnis der altchristlichen Kunst, göttliche und heilige
Gestalten, wenn sie in monumentaler Erhabenheit als Vertreter des Waltens
übernatüriicher Mächte den Beschauer zu sich emporziehend erscheinen sollten, in
BESPRECHUNGEN. 421
traumhafter Entmaterialisierung schwebend darzustellen.' Meines Erachtens wird
man das Schweben mit keiner theologisierenden Dialektik für besonders monumental
ausgeben können. Es ist eher das Gegenteil davon. Das Leichte und Schwankende
widerspricht dem Dauernden und Wuchtigen, das notwendig zum Wesen des Monu-
mentalen gehört. Auch bleiben trotz Dvofäks metaphysischen Bemühungen für
den sinnlich empfindlichen Betrachter des Schwebens oft peinliche Assoziationen un-
vermeidlich. Die Figuren ohne feste Standhaftigkeit der Füße erscheinen eben nicht
selten wie aufgehängt oder angeklebt, denn sie bestehen nun einmal aus Stein, und
keine irgendwie geartete künstlerische oder außerkünstlerische Seelenkraft kann das
ganz übersehen lassen. Zumal wenn sie an geneigten Bögen angeheftet sind, den
Beschauer gleichsam körperlich mit ihrem Sturz bedrohend, mag ja vielleicht zu-
weilen eine albdruckartige religiöse Wirkung beabsichtigt oder auch »genossen«
worden sein, ebenso wie ein schreckhafter Eindruck bei den schwindelnd, in großer
Höhe und auf abschüssigem Boden, vorgereckten Wasserspeiern angestrebt und
erreicht ist; aber Skulptur ist nicht Malerei, Stein läßt sich nicht spotten; d.h. was
er technisch noch lange aushält, kann ästhetisch schon unmöglich wirken, und die
Empfindung, daß jene Wesen fallen können, ist nicht so legitim, wie die von den
bleckenden Fratzen der Fabeltiere ausgehende Beklemmung. Gewiß ist ja auch in
den wasserstrahlenartigen oder nadelwaldähnlichen Wirkungen der »Pfeilerwälder«-
der pikante Gegensatz dieser Vorstellungen zu der des Steines und die Spannung
dazwischen beabsichtigt und genossen worden, aber eine Gefühlsweise, die alle
diese Dinge von gewissen Punkten ab als verkehrt oder gar pervers empfände,
dürfte sich schwer widerlegen noch als verständnislos erweisen lassen. Es bleibt
also bei jenem Schweben eine »kitzliche«, oft sicher absichtlich prickelnde, spannende,
aufregende, mit ihrer Mischung von Geistigkeit und Nervenschock zweifellos höchst
raffinierte Wirkung, die natürlich in ihrer Art genau gewollt und gekonnt war, aber
nicht mit den Worten »statuarisch« und »monumental« in Verbindung gebracht
werden sollte, wie das Dvorak an diesen Stellen ohne Ausnahme tut. Und das-
selbe gilt in gewissem Grade auch von den beiden anderen Hauptthemen der
gotischen Bewegung, der geschwungenen, sich hinaufwindenden Körperlinie und
dem »widernatürlichen Kontrapost«.
Dvofäk glaubt freilich, von einem neuen Begriff und Sinn der statua-
rischen Monumentalität reden zu können, der nicht eine Rückkehr zum klas-
sischen war, »sondern seinen Schöpfern als der Antike übergeordnet erscheinen
mußte«. Nun gibt es natürlich nicht bloß einen, eng zu umschreibenden Begriff
der Monumentalität, sondern es gibt z. B. eine mehr körperliche und eine mehr
seelische und geistige Art, also graduell verschieden verinnerlichte Ausprägungen.
Aber auch die Ruhe und Würde der klassischen Monumentalität ist immer schon
stark seelisch, weit mehr als etwa die der ägyptischen, die übrigens, rein als Mo-
numentalität genommen, schwerlich einer späteren weichen dürfte; ohne Ruhe und
Würde aber, ohne eine wirkliche innere Gelassenheit ist wohl keine Monumentalität
denkbar. Inbrunst und Überschwang, seien sie an sich noch so wertvoll, können
sie nicht ersetzen. Es gibt eben gewisse gemeinsame Grundzüge jeder Monu-
mentalität. In diesem Sinn ist ein Wort Dvoraks zu beanstanden, da wo er von
»den künstlerischen Absichten und Problemen der statuarischen Kunst, wie sie der
griechische Geist erfunden hats spricht: Erfunden hat der griechische Geist darin
nichts, nur sehr vieles gefunden oder entdeckt, was eine dauerndere Geltung im
Bereiche des Monumentalen behält. Sätze aber wie: »Man konnte nie mehr (seit
dem Mittelalter) in dem Maße wie in der Antike das monumental Bleibende als
objektiv und substantiell außerhalb unserer geistigen Stellungnahme verkörpert
422 BESPRECHUNGEN.
darstellen, nachdem man gelernt hat, es im letzten Grunde aus der ideellen Er-
kenntnis der über das Einzelobjekt hinausgehenden Zusammenhänge abzuleiten und
auf das innere Leben der IWenschen zu beziehen« — erinnern zwar an Kants Auf-
stellungen über das Erhabene und dessen subjektive Faktoren, auch an Hegels
weltgeschichtliche Entwicklungslinien der Kunst, wollen wohl auch so etwas wie
ein Romantisch-Monumentales neben^das Klassisch-Monumentale stellen; aber ein-
facher hätte man sagen können, daß das Monumentale vom Mittelalter ab innerlicher
«ind in der Gotik im besonderen religiös geworden sei. Daraus jedoch eine höhere
(nicht bloß spätere) Entwicklungsstufe zu konstruieren, erscheint allzu sehr im Geiste
der Gotik selber gedacht und ist Gotizismus. Das Religiös-Monumentale und auch
das im prägnanten Sinne Seelisch-monumentale sind doch nur Unterarten des Mo-
numentalen überhaupt und künstlerisch nicht ohne weiteres die höchsten. Die
geistigen Kreise, die sich bei uns seit einiger Zeit für eine höhere Geltung der
gotischen Kunst einsetzen und zu diesem Zwecke die hellenische und die Renais-
sancekunst von ihrem Sockel stoßen wollen, weil diese der Anerkennung anders-
artiger Kunst im Wege stünden, sollten nicht den umgekehrten Fehler begehen und,
im Sinne mittelalterliehen Naivität, die gotische Kunst über die Antike erhaben
glauben. Das wäre die Beseitigung einer Vorherrschaft nicht zugunsten der Gleich-
berechtigung, sondern einer anderen Hegemonie. An einer späteren Stelle erkennt
denn auch Dvofäk an, daß die monumentale Skulptur der gotischen Periode da be-
ginnt, wo die Figuren »als kubische Körper erfunden wurden, die auch als
solche in ihrem Verhältnis zum Raum wirken sollen«, der nun seinerseits nicht mehr
bloß ein genereller, ein ideeller Raum, sondern ein wirklicher, dreidimensionaler sei.
Er spricht da von Nachwirkungen der romanischen Kunst mit ihrer Stofflichkeit und
materiellen Räumlichkeit der Formen, ihrem ruhigen Beharren, die teilweise zu einer
neuen Annäherung an die klassische und byzantinische Kunst geführt haben:
»Standmotive, welche geeignet waren, Figuren als eine im kompakten Vo-
lumen gegliederte und bewegte Einheit zu veranschaulichen, die spezifischen
Probleme der Plastik« wurden da wieder lebendige Faktoren. Nun also-: das
wirklich Statuarische läßt sich eben in der monumentalen Plastik nicht ersetzen.
Übrigens könnte man diesem Hinweis auf eine neue Annäherung an die Antike
hinzufügen, daß die christliche Kunst, wenn sie monumental sein wollte, auch in der
Malerei gern zu klassischen Formen gegriffen hat, z. B. in der Zeichnung des Cor-
nelius, der christlichen Inhalt in antike Formen goß und zwar doch wohl nicht bloß
aus einer klassizistischen Mode heraus, sondern aus einem tiefen Verständnis für
Monumentalität, und der, nebenbei gesagt, damit auch etwas für unsere ganze neu-
zeitliche Kultur Symbolisches und Typisches unternommen und zum Teil auch ge-
leistet hat.
Und noch eins: Die Werke der gotischen Plastik sind monumental in der
Hauptsache nur als Teile von größeren Monumenten, aber selten selber Monumente.
Man muß ja selbständige und unselbständ:ige Monumentalität unter-
scheiden. Die eigentliche und volle Monumentalität ist die erstere. Sie besitzen
z. B. die Werke der * Griechen und auch der Renaissance, von denen Dvofäk selber
sagt: »Ein Bildwerk der Renaissance, eine Statue von Donatello, ein Gemälde von
Raffael oder Tizian sind ein Mikrokosmos, eine Welt für sich nicht nur in dem
Sinne, daß ihr Wert und ihre Wirkung nicht wesentlich von der Wirkung des
Baues abhingen, für den sie bestimmt waren, sondern auch dadurch, daß der
größte Teil ihres künstlerischen Inhaltes autonom war und ohne Beziehung zu
einem übergeordneten künstlerischen System verstanden und genossen werden
konnte. Davon kann bei gotischen Bildwerken oder Gemälden keine Rede sein.»
I
BESPRECHUNGEN. 423
Nun wohl, die Selbständigkeit ist aber ein wesentliches Merkmal der reinen, nicht
teilweise dekorativen Monumentalität. Wenn DvoMk meint, die Gotik sei in der
Verwendung von Bildwerken und Gemälden bei den Bauten weniger dekorativ
gewesen als die Renaissance, deren Bildwerke jedesmal eine Welt für sich bedeuten,
während die gotischen »einen integrierenden Teil der Fassade- bildeten, dekorative
Kunstform aber eben ein Aggregat darsteile, das auch weggelassen werden könnte,
ohne daß die Grundform ihre formale Bedeutung verlieren würde, — so darf man
sich nicht irremachen lassen. Jene selbständigeren Bildwerke sind eben deshalb
für sich monumental, mögen sie auch im Verhältnis zum Bau akzessorisch sein: an
sich sind sie sehr wesenhaft; wogegen in der Gotik nur das Ganze monumental ist,
die Bildwerke aber unselbständige Teile eines Monumentes sind, insofern also der
eigenen Monumentalität ermangeln und nur an der des Ganzen teilnehmen oder
also bloß eine geliehene, eine abgeleitete Monumentalität besitzen. Wenn Dvofäk
den Ursprung und Sinn einer neuen monumentalen Skulptur und statuarischen Kunst
darin sieht, daß, wie schon erwähnt, die Statuen die Formen von Pfeilern annehmen
und stellvertretende künstlerische Funktionen von Bau gliedern übernehmen, so
ist das nicht in jedem Sinne ein »höherer künstlerischer Zweck«, wie er meint,
sondern nur insofern, als er »über der Körpemachahmung steht« und sein Ziel in
einem größeren Ganzen hat. Der Teil aber büßt dabei an Selbständigkeit und
damit an eigener Monumentalität ein. Es ist das alte und immer neue Problem des
Gesamtkunstwerkes, das jedem seiner Teile durch den umfassenden Zusammenhang
neue Wirkungen zuführt, zugleich aber andere Wirkungen stört oder aufhebt, na-
mentlich den Teilen die Selbständigkeit nimmt. Jedes Gesamtkunstwerk gibt und
nimmt zugleich, und das tut auch die Gotik. Sie geht bisweilen mit dem Menschen
ähnlich um wie etwa der Impressionismus, wenn er Porträts als bloße Farbenflecken
behandelt, nur daß in der Gotik das beherrschende Prinzip, ganz im Gegensatze
zum Impressionismus, sehr vergeistigt und die Unterdrückung der Selbständigkeit
geistlich war. Aber neben aller seelischen Vertiefung der gotischen Auffassung ist
doch an der sozusagen rücksichtslosen Verwendung der Menschenleiber mehr de-
koratives als monumentales Empfinden beteiligt, während die griechische Skulptur
der Monumentalität — für so viele Verschiedenheiten diese auch Raum läßt —
günstiger gewesen ist. Es ist bezeichnend, daß man gotische Figuren in einem
photographischen Ausschnitte, der die einzelnen Gestalten ganz, aber ohne Um-
gebung widergibt, nicht hinlänglich auffassen, genießen und beurteilen kann, sondern
nur in einem größeren Zusammenhange des Baues, in dem sie leben und ohne den
sie leicht verzerrt erscheinen. Die Bewegung der Figur erhält durch die Bewegung
der Pfeiler und anderer Formen unter, über und neben ihr Resonanz und Schwung,
wie sie selber umgekehrt jenen allgemeinen Bewegungen Akzente gibt. Dieses
Verhältnis scheint mir ein gotisierender Künstler der letzten Gegenwart, der ver-
storbene Lehmbruck, grundsätzlich verkannt zu haben; bei allem Gelingen im ein-
zelnen hat er doch wohl den allgemeinen Fehler begangen, den Stil jener alten
Domskulpturen auf freie Einzelfiguren zu übertragen. Wo die Gotik solche selb-
ständigen Figuren gab, blieben sie immer noch in einer den Kathedralen ähnlichen
architektonischen oder innendekorativen Umgebung', die einem modernen Werke
fehlen muß. In diesem ist dann alles auf die geistige oder seelische Wirkung ab-
gestellt, ohne die Hilfe von weniger geistigen und seelischen Zusammenhängen, die
jene eingänglich und selbstverständlich machten. Deshalb hat man bei Lehmbrucks
Gestalten bisweilen ein ähnliches Gefühl wie bei Museumswerken, die deutlich die
Umgebung vermissen lassen, in der sie heimisch gewesen sind.
Zweifel habe ich endlich auch bei der Deutung des Verhältnisses der Figuren
424 BESPRECHUNGEN.
zu ihrer räumlichen Umgebung. Daß die Gemälde wie eine Flächendekoration auf
Wiedergabe der räumlichen Tiefe verzichten, soll als absichtliche Verneinung des
wirklichen Raumes besonders geistig wirken. Ob man sich aber wirklich »bemühte,
jede räumliche Vertiefung des Bildes nach Möglichkeit auszuschalten«? Die Er-
klärung aus einem Mangel an Können wird ausdrücklich abgelehnt, und es ist ja
auch sicher nicht bloßes Nichtkönnen gewesen, was dazu geführt hat, obwohl die
Perspektive erst später, in der beginnenden Neuzeit, entdeckt und mit viel Fleiß
ausgebaut werden mußte. Daß man sie früher gefunden hätte, wenn man es ge-
wollt hätte, läßt sich nicht beweisen; vielleicht hat man es nicht gewollt, aber auch
die Folge eines Nichtwollens ist eben ein Nichtkönnen. Gewiß ist Mangel an
Können keine letzte Erklärung, weil man zweifellos zu verschiedenen Zeiten manches
gekonnt hätte, wenn man es rechtzeitig erstrebt und sich darin geschult hätte ; aber
daß man unter dieser Bedingung zu allen Zeiten alles gekonnt hätte, ist ein
ungeschichtlicher Irrglaube, dem diejenigen nicht fern sind, die überhaupt nicht
mehr von Können und Nichtkönnen reden mögen. Heut erscheint manchen Leuten
schon die Annahme, daß ein Naturvolk irgejidetwas nicht gekonnt habe, wie eine
Beleidigung. Das »Kunstwollen« Riegis hat sonderbare Blüten getrieben, indem es
absolut und in einem mystischen Sinne frei von historischen Bedingtheiten wurde,
wie das zu gewissen geistigen Neigungen unserer Zeit paßt. In Wahrheit ist auch
dieses Wollen nicht immer eine letzte Erklärung. Denn man kann eben nicht zu
allen Zeiten alles wollen, und hinter dieser Einsicht beginnen neue Probleme. Un-
leugbar hat man es sich lange viel zu bequem gemacht mit der Erklärung früherer
Kunststufen aus einem Mangel an Können, jetzt aber ve. fällt man bisweilen in das
umgekehrte Extrem, wie ja auch in unserer zeitgenössischen Kunst das Können
ziemlich gering geachtet und dementsprechend viel Nichtkönnen an ihr beteiligt ist.
Heute sagt man einfach: was die Leute nicht können, das wollen sie nicht; und von
dem auf solche Weise gefundenen »Kunstwollen« aus stellt man dann fest, daß sie
alles erreicht haben, was sie wollten. Und in der Kunstgeschichte wird nicht nur alles,
was vielleicht als Mangel erscheinen könnte, als gewollte Beschränkung angesehen,
sondern auch noch mit tiefen Geheimnissen erfüllt. So werden die Unterschiede
der Raumdarstellung, die einst Riegl und Wickhoff am Übergang von der Spät-
antike zur frühchristlichen Kunst entwickelten, und die dann Schmarsow in seinen
»Grundbegriffen« mit psychologischem Scharf- und Tiefblick durchleuchtet hat, jetzt
nicht psychologisch, sondern spekulativ, weniger kunstwissenschaftlich als kunst-
philosophisch erklärt; nicht möglichst einfach, sondern möglichst metaphysisch,
nicht durch Zurückführung auf elementare Erlebnisse, sondern im Gegenteil durch
Anknüpfung an möglichst komplizierte geistige Erscheinungen; nicht gebärdenhaft
vom lebendigen Menschen aus, der Leib und Seele und beides in einem ist, son-
dern einseitig intellektualistisch; nicht ausdrucksmäßig, sondern expressionistisch,
was keineswegs dasselbe ist. Wenn z. B. von dem neutralen Raumhintergrund der
mittelalterlichen Malerei die Rede ist, so soll der Raum nach Dvorak »eine ideale
Hintergrundsfolie, der Ausdruck einer Tiefenorientierung sein, die als eine abstrakte
Tiefenbewegung im unbegrenzten Raum erscheint, in welchen die Figuren ein-
gestellt werden, um, indem sie die Bewegung für einen Augenblick hemmen, in
einer traumhaft unkörperlich lebendigen Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit den Blick
des Beschauers zu fesseln, oder die abstrakte räumliche Umgebung der Figuren
soll dienen, alles am körperlichen Dasein und Sinnenleben Haftende der neuen
psychozentrischen Auffassung unterzuordnen, die, von dem Glauben an einen über-
sinnlichen Zusammenhang der Dinge ausgehend, auch in der Kunst nach abstrakter
und supranaturaler Gesetzmäßigkeit und Bedeutung auf aiitimateriellen Grundlagen
BESPRECHUNGEN. 425
streben müßte . Nun mag sich gewiß in derartige anderweitige Zusammenhänge
auch die Raumbehandiung förderlich eingereiht haben, aber für sich allein wirltt sie
noch nicht so, und anderseits hat sie auch rein ästhetische Folgen. So war z. B.
auch Michelangelo bei der Vorliebe für abstrakte Raumumgebung seiner gemalten
Figuren vielleicht noch von einem Nachhall der Gotik beeinflußt, kam aber vornehmlich
als Plastiker und durch sein persönliches, einseitiges Interesse am Menschenleibe
dazu. Und so ist auch der altchristliche Rhythmus zwischen Figuren und Intervallen
schon sinnlich reizvoll, im Wechsel von Licht und Schatten, von Körperhaftigkeit
und leerer Räumlichkeit, von Fläche und Fülle, noch ohne alle metaphysischen oder
mystischen Beziehungen. Und diese Werte sind wohl schon damals empfunden
worden. Auch in der Zeit der Gotik lebten Menschen und nicht bloß Seelen oder
Geister.
Dvofäk dürfte eben von einem, selbst der Gotik gegenüber allzu einseitigen
Sinn für die Geistigkeit beherrscht sein. Doch er kündigt eine weitere Arbeit an,
die offenbar den zweiten Teil seines Themas behandeln soll, über die »Einbeziehung
natürlicher Daseinswerte«, und man darf gespannt sein, wie er diese etwas anders-
artige Aufgabe anfassen wird. Die Besprechung des ersten Teiles seiner Schrift
soll aber nicht beendet werden ohne einen besonderen Hinweis auf den schönen
der Glasmalerei gewidmeten Schluß.
Leipzig. Erich Everth.
Wilhelm Waetzoldt, Deutsche Malerei seit 1870. Leipzig 1918, Quelle-
Meyer. Wiss. und Bildung, Nr. 144, 88 S. mit 53 Abb.
Das Büchlein will laut Vorwort den Entwicklungsgang unserer Malerei in diesen
fünf Jahrzehnten schildern und besonders die Stilwandlung vom Impressionismus
zum Expressionismus verständlich machen. Nichts konnte uns willkommener sein
als eine solche Darstellung von Seiten eines ästhetisch geschulten Kunstforschers.
Das wird eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Verfasser rechtfertigen,
als sie der Umfang des Büchleins zu erfordern scheint. Erwarten und beanspruchen
durften wir von ihm eine Klärung und Würdigung der Tatsachen und Zusammen-
hänge der modernen Malerei, unbeeinflußt von dem Tagesstreit ihrer verschiedenen
Richtungen in der allgemeinen Kunstschriftstellerei. Daß der Verfasser diese seine
Absicht nur halbwegs erreicht hat, daran trägt nicht am wenigsten die mit Recht
von der Kritik schon anderwärts bemängelte Anlage und Betrachtungsweise die
Schuld. Hier gilt es vor allem auseinanderzusetzen, warum sie grundsätzlich ver-
fehlt ist und wie ihr vielleicht bei einer Neuauflage abzuhelfen wäre.
Waetzoldt hat den Versuch unternommen, die Entfaltung des malerischen
Schaffens während des gesamten einbezogenen Zeitraums nicht etwa aus der Zeitfolge
und Wirksamkeit der führenden Künstlerpersönlichkeiten oder dem Nebeneinander
der Schulen und geographischen Kunstkreise noch aus dem Wechsel gegensätzlicher
stilistischer Strömungen zu entwickeln, sondern an der Hand von vier beziehungs-
weise fünf Bildgattungen abzulesen, in die er den Stoff einordnet. Er sucht ihn in der
Einleitung damit zu rechtfertigen, daß in der deutschen Malerei das Gegenständliche
zu Unrecht von dem die Anschauungswerte einseitig pflegenden Impressionismus
unterschätzt worden sei. Die Stilwandlung glaubt er innerhalb der einzelnen Bild-
gattungen in ihren übereinstimmenden Entwicklungsstufen verfolgen zu können,
sieht sich jedoch genötigt, den vier Kategorien des erzählenden Bildes, des Bild-
nisses, der Landschaft und des Stillebens noch eine fünfte des Wandbildes anzu-
hängen, die nicht durch den Gegenstand, sondern durch die bloße Stilfordenmg
bedingt ist.
426 BESPRECHUNGEN.
Waetzoldts Versuch mußte mißglücken, weil er den obersten Einteilungsgrund
für das Oesamtschaffen der modernen Malerei nicht ihrem eigentlichen Wesen,
sondern ihrem Darstellungsgehalt entnimmt. Die Entwicklung jeder Kunst verwirk-
licht sich aber fraglos in der Wandlung der Ausdrucksmittel, auf denen ihre eigen-
tümlichen Wirkungen beruhen, wenngleich nicht unabhängig von dem Vorstellungs-
inhalt. Jeder malerische Zeitstil ist demgemäß durch den doppelten polaren Gegen-
satz bestimmt, der durchgehends innerhalb der künstlerischen Anschauungsweise
und der Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei überhaupt besteht. Die Entwicklung
schwingt in längeren oder kürzeren Zeitabschnitten einerseits inbezug auf den
Formausdruck zwischen einem formklärenden plastisch-linearen (beziehungsweise
zeichnerischen) und einem formauflösenden, rein malerischen Stil, anderseits in-
bezug auf die Farbengebung zwischen einer dekorativ koloristischen und einer
illusionistisch tonigen Bildgestaltung. Zwischen der künstlerischen Anschauungs-
weise und dem Bildstoff (beziehungsweise dem Darslellungsgehalt) besteht nun aller-
dings eine Spannung, die in einem weiteren Gegensatz malerischer Stilbildung zur
Erscheinung kommt. Allein dieser Gegensatz bleibt nicht auf die Malerei, ja nicht
einmal auf die bildenden Künste beschränkt. Er entspringt aus dem Verhalten des
gestaltenden Künstlers zum Gegenstande seiner Kunstschöpfung und führt zur Unter-
scheidung eines mehr nachbildet;den (imitativen) und eines sich frei auswirkenden
(dynamischen), mehr umbildenden Stils, oder in moderner Zuspitzung: des Impres-
sionismus auf der einen und des Expressionismus auf der anderen Seite. Beide
Grundrichtungen steigen und sinken unter dem Einflüsse der allgemeinen Zeit-
stimmung ziemlich gleichmäßig sowohl in der Malerei wip auch in der Dichtkunst,
die mit der ersteren den reichsten Vorstellungsgehalt gemein hat und in der Ge-
samtbewegung meist die eigentliche Führung übernimmt. Wollte Waetzoldt den
Entwicklungsgang der modernen Malerei schildern — sei es auch nur im Sinne
einer fortlaufenden Wellenbewegung und nicht eines stetigen Fortschritts zu einem
Höhepunkt der Vollendung, wie er offenbar den Entwicklungsgedanken in der Kunst
mit Recht versteht — , so mußte er die leitenden Gesichtspunkte nicht nur für die
Betrachtungsweise, sondern auch für ihre Folge den obigen Voraussetzungen abge-
winnen. Nur so konnten die genetischen Zusammenhänge bloßgelegt und die zeit-
genössischen Schlagworte auf ihre Berechtigung nachgeprüft werden. Das ist leider
nur in beschränktem Maße erreicht worden, vielmehr wurden die verschiedenen
Richtungen des repräsentativen und des naturalistischen Stils des Impressionismus
und des Expressionismus nach chronologischer oder geographischer Folge in die
oben genannten Bildgattungen eingeordnet. Aus der Brechung des allgemeinen und
des individuellen Kunstwoliens in den einzelnen Bildgattungen lassen sich aber weder
die inneren Zusammenhänge des Stilwandels erkennen noch abschließende Urteile
über Wert oder Unwert der neuesten Bestrebungen ableiten, für die der Verfasser
lebhaft eintritt. Daß Waetzoldt diese Zusammenhänge nicht erkennt, soll damit keines-
wegs behauptet werden. Im Gegenteil — er sieht alle wesentlichen Beziehungen.
Um so mehr aber ist es zu bedauern, daß es infolge ihrer gewaltsamen Zerreißung
nicht zur klaren Erfassung und noch weniger zur befriedigenden Darstellung der
aufeinanderfolgenden und sich kreuzenden Strömungen kommt. Vor allem aber
fehlt das einigende Band einer durchgehenden Würdigung derselben unter dem
Gesichtspunkt der künstlerischen Anschauungsweise. Dieses findet nur bei den
jüngeren Richtungen die gebührende Berücksichtigung. Die durchgängige Bewer-
tung nach dem gegenständlichen Gehalt aber bietet dafür keinen ausreichenden
Ersatz, führt vielmehr zu ungleichartiger Beurteilung.
Da Waetzoldt in der Betrachtung der verschiedenen Bildarten den Zeitablauf
BESPRECHUNGEN. 427
der Entwicklung einhält, stellt er das von der Malerei der siebziger Jahre bevorzugte
erzählende Bild weltlichen und religiösen Inhalts an die Spitze. Besser hieße es
vielleicht das Handlungsbild. Im Unterschied von dem dramatischen Stil dieses
Jahrzehnts, in dem noch die Kampfstimmung des Krieges nachhallt, kennzeichnet
er das folgende als dasjenige des Naturalismus und einer streng sachlichen Auf-
fassung. In diesem Sinne erscheint ihm nun die Wirklichkeitsschilderung eines
Menzel und LeibI nicht nur mit dem Schaffen Gebhardts, sondern auch mit der
frei schöpferischen Gestaltung Feuerbachs und Böcklins, Marees' und Thomas trotz
aller künstlerischen Gegensätze mehr oder weniger gleichgerichtet. Die letzteren
sind fast nur auf das die Deutschrömer beschäftigende Raumproblem hin heraus-
gearbeitet, noch weniger aber das Gemeinsame der malerischen Anschauungsweise
dieser beiden Jahrzehnte. Nur die neuen Bestrebungen zur Aufhellung der Palette
in den Arbeiten Liebermanns und Uhdes aus den ersten achtziger Jahren werden
aus der Hinwendung zur impressionistischen Freilichtmalerei erklärt. Aber auch
der Impressionismus in seiner Reife und Fortbildung bis in das neue Jahrhundert
wird in diesem Abschnitt doch vorwiegend aus der Abwendung von dem bedeu-
tungsvollen Bildstoff zum alltäglichen abgeleitet. Einige Andeutungen über Lieber-
manns früh erwachtes Streben nach Bewegungsdarstellung und kurze Ausführungen
über die fortschreitende Entwertung der Figur in seinen Werken ergänzen diese
Charakteristik. Verständlich wird aber seine individuelle Entwicklung und das Auf-
kommen des Impressionismus in Deutschland doch erst aus dem die Landschafts-
malerei behandelnden dritten Abschnitt, wohl dem bestgelungenen des Buches.
Nicht die Synthese von Menzel und Altholland, sondern seine zunehmende Be-
tätigung auf diesem Felde bietet den Schlüssel.
Daß Waetzoldt ihr nicht die gebührende Bedeutung beimißt, erhellt aus der
auffallenden Nichterwähnung der Netzeflickerinnen, eines Hauptwerkes der ersten
Schaffensperiode des Meisters, das zumal an der Hand der Vorstudien bereits die
bewußte Zusammenfassung der künstlerischen Einzelabsichten erkennen läßt. Die
menschliche Gestalt ist hier in sicher erfaßter Augenblicksbewegung unter einheit-
lichem Blickpunkt dem weiten Freilichtraum eingefügt, wenn auch glücklicher-
weise noch nicht entwertet. Sie beherrscht sogar noch durch den Bewegungs-
eindruck die Raumgestaltung des Bildes, während das Augenmerk des Künstlers
noch nicht vorwiegend auf die Tonwerte der Beleuchtung gerichtet ist. Der Be-
deutung des Impressionismus für die Erweiterung der Raumanschauung und die
Freilichtmalerei wird der Verfasser erst in der Erörterung über das Landschaftsbild
einigermaßen gerecht, nachdem er in der Fortsetzung des ersten Kapitels das Wesen
der impressionistischen Kunstrichtung im Gegensatz zum Expressionismus treffend
als malerische Höchstleistung einer strengen Beobachtungskunst und folgerichtiges
Endergebnis des Naturalismus bestimmt hat. An keiner dieser Stellen aber gewinnt
man eine ganz klare Vorstellung, wie die impressionistische Richtung in der deut-
schen Malerei entstanden und wie weit sie zu einheitlicher Zielsetzung gelangt ist,
obgleich es Waetzoldt nicht an Verständnis dafür fehlt. Würdigt er doch zuerst
die dem Schaffen Liebermanns vorhergehenden Bestrebungen des Knausschülers
Ernst te Peerdt nach dem Freilichtraum im Landschaftsbilde, wie er auch die voll-
kommene Erfüllung der Grundforderung des Impressionismus in den Arbeiten des
Landschafters August Deußer erkennt. Faßt man diese Forderung so, daß der
Maler das gesamte Sehfeld unter einheitlicher Einstellung des Blickes, also gewisser-
maßen vermöge nur einer Fixation wiederzugeben habe, so wird man freilich leicht
noch mehr selbständige Anläufe dazu in der deutschen Malerei entdecken. Dann
wäre vor allem Menzels Bild der Abreise König Wilhelms zur Armee 1S70 heran-
428 BESPRECHUNGEN.
zuziehen. Zum mindesten nähert es sich mit seinen bis zu den wehenden Fahnen
und Taschentüchern optisch abgestuften Anschauungswerten, unbeschadet einiger
nebensächlichen Vordergrundsfiguren, durch die der Beschauer zwar zu sehr be-
schäftigt, sein Blick aber weitergeleitet wird, dem einhelligen Seheindruck, den.
Waetzoldt darin vermißt. Sucht man gar nach Vorstufen impressionistischer Land-
schaftskunst im Sinne der Freilichtmalerei, so hätte man (nicht nur mit dem Ver-
fasser) manche Studie aus jeder Lebenszeit Menzels hierher zu rechnen, sondern
auch einzelne Frühwerke von Knaus, — Kar! Blechen und andere Vertreter der älteren
Generation nicht zu vergessen. Allein der Impressionismus in der obigen um-
fassenderen Begriffsbestimmung bleibt schon in der deutschen Malerei der siebziger
und achtziger Jahre nicht auf die Landschaft beschränkt. So überraschend es klingen
mag, — er hat meines Erachtens in der Bildnismalerei vor Liebermann einen Bahn-
brecher in Lenbach. Man tut, wie Waetzoldt, dem heute doch sehr unterschätzten
Meister Unrecht, wenn man nur einen »Kunstgriff« darin sieht, daß er die Aufmerk-
samkeit des Beschauers ganz durch den Blick des Dargestellten in Anspruch nimmt,
was nicht einmal allgemein zutrifft. Vielmehr hat Lenbach im Laufe seiner Ent-
wicklung wohl immer bewußter durch die genauere Ausführung des Kopfes und
seiner nächsten Umgebung den Eindruck der einheitlichen Fixation zu erzielen ge-
sucht, in der die äußeren Teile des Sehfeldes undeutlicher gesehen werden. Seine
grundsätzliche Übereinstimmung mit dem Impressionismus braucht ihm darum gar
nicht zum Bewußtsein gekommen zu sein. Dem wissenschaftlichen Urteil stellt
sich auch in dem Gegensätze der künstlerischen Tagesparteien das gleichgerichtete
Kunstwollen einer Zeit als solches dar. Ein Liebermann aber erzielt die lebendige
Wirkung seiner trefflichsten Bildnisse wie z. B. des eigenen durch eine ganz ent-
sprechende Abstufung der Behandlung, wenn auch sein Pinsel selbst im Antlitz un-
gleich breiter arbeitet. Wie Liebermann hingegen im Porträt des redenden Naumann
an der Wiedergabe des bewegten Ausdrucks scheitert und wie vollends die jüngeren
Impressionisten darüber die Charakterzeichnung als eigentliche Aufgabe der Bildnis-
kunst aus dem Auge verlieren, weiß der Verfasser in eindringlicher Weise aus-
einanderzusetzen. Überhaupt beweist er nicht nur in dem Kapitel über das Bildnis,
für die Kunst der letzten drei Jahrzehnte ein tieferes Verständnis als für die Er-
rungenschaften der siebziger und achtziger Jahre.
Die Vertrautheit des Verfassers mit dem zeitgenössischen Schaffen kommt be-
sonders der Beurteilung der expressionistischen Richtung zugut. Was sich zu ihrer
Rechtfertigung geltend machen läßt, wird von ihm in ansprechender Begründung
vorgetragen. Waetzoldt erblickt im Expressionismus die Offenbarung eines der deut-
schen Kunst tief eingewurzelten Ausdrucksverlangens, das nicht wie alle naturar
listische und impressionistische Kunst ein Spiegelbild der Außenwelt, sondern mit
Linien und Farben das eigene Innenleben des Künstlers in der Erscheinung der
Dinge wiederzugeben sucht. Diese Bestrebungen erscheinen ihm dem Schaffen
eines Böcklin und Marees verwandt. Kart Hofer ist ja sogar aus dem Kreise der
Deutschrömer hervorgegangen. Daß einzelne Expressionisten wie Weißgerber und
Jäckel in der Tat bedeutende Werke aus freier Einbildungskraft geschaffen haben,
berechtigt vielleicht noch mehr zu einem solchen Vergleich. Allein ihre wahren Weg-
weiser haben die Pechstein, Noide und andere Spitzführer des deutschen Expressionis-
mus doch unleugbar in van Gogh, Gauguin und Picasso. Der strenge Stilwille, in;
dem der Verfasser ein zweites Wesensmerkmal der neuen Richtung erkennt, hat
nicht allzuviel mit der raumgestaltenden Plastik Marees' gemein, um so mehr hin-
gegen wieder mit dem aus dem Auslande herrührenden Kubismus. Auch wird
man schweriich mit Waetzoldt in dem Zurückgreifen auf die unentwickelten Kunst-
1^
BESPRECHUNGEN, 429
I
formen der Negervölker oder der SOdseeinseln und selbst des griechischen Archais-
mus und des Mittelalters eine Art Romantik sehen dürfen. Wie zwischen der
ungewollten Naturfremdheit unentwickelter Kunstformen und dieser bewußten
Schematisierung des Naturgebildes ein tiefer Gegensatz besteht, braucht nach der
einschneidenden Kritik des Expressionismus von Fr. Landsberger (Der Cicerone 1919)
hier nur angedeutet zu werden. Im Grund hat es der Expressionismus doch mehr
auf die Erfüllung einer Theorie abgesehen, wenn uns diese Malerei gar die nackte
Linien- und Farbensymbolik möglichst unter Abstreifung des gegenständlichen und
stofflichen Augenscheins der Dinge erleben lassen will und einen Verzicht auf eine
Seite malerischen Sehens, die wir nun einmal im gerahmten Tafelbilde beanspruchen.
Wieviel eindrucksvoller vermittelt uns doch der blaue Dämmer, der in Böcklins
Pietä den fahlen Leichnam Christi, den weißen Marmor und die Rosen einschließt,
den Stimmungswert der Farbe, als es die im Widerspruch mit ihrer Naturfarbe in
Blau gefärbten Tier- oder Menschengestalten irgend eines Expressionisten vermögen.
Den stereometrischen Raumgehalt des menschlichen Körpers aber erfassen wir in
der Verhüllung seiner natürlichen Bildung bei Marees gewiß ebenso sinnfällig und
dabei ungleich wohltuender als in der kubistischen Umbildung. Die Stilisierung
der Farbe und zumal der Form führt eben jenseits einer gewissen Grenze in der
Malerei hinaus in das Ornamentale wie aus der Plastik ins Architektonische. Frucht-
bare Aussichten bietet der Expressionismus daher nur für die dekorativen Aufgaben
der ersteren, und in dieser Richtung fehlt es ihm auch nicht an selbständigen An-
sätzen in der deutschen Kunst, — die Waetzoldt freilich kaum als solche bewertet.
Was L. v. Hofmann im Figurenbilde und vor allem was Leistikow in seinen stili-
sierten Landschaften gibt, ist wohl ebenso berechtigter und sogar gesunderer male-
rischer Expressionismus wie die Landschaftphantasien der Pechstein und Genossen.
Reinere Befriedigung als die Mehrzahl der letzteren vermag weit eher das expres-
sionistische Stilleben mit seinem Hauptvorwurf, dem Blumenstück zu gewähren.
Hier aber nähert sich wieder die Malerei am meisten der rein dekorativen Wirkung
der Farbe.
In dem einschlägigen guten Kapitel sowie für die Landschaft weist der Ver-
fasser mit feinem Verständnis nach, wie die farbige Übersteigerung der Wirklich-
keit sich bereits in dem aus dem technischen Verfahren der Farbenzerlegung ent-
springenden Neoimpressionismus anbahnt, der auf deutschem Boden in P. Baum
und C. Herrmann eigenartige Vertreter gefunden hat.
Das Schlußkapitel, das von dem Wandbild und nicht von einer gegenständ-
lichen Bildgattung handelt, läßt wieder mehr als die drei mittleren die Klärung der
entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge vermissen, — seltsamerweise, da
Waetzoldt hier die leitenden Gesichtspunkte nun doch den Stilforderungen dieser
Art von Malerei entnimmt. Wie und warum sich aber die monumentalen Schöpfungen
des letzten halben Jahrhunderts auf die beiden Grundmöglichkeiten der Betonung
der raumabschließenden Bedeutung der Wand oder ihrer illusionistischen Durch-
brechung, wenngleich unter rhythmischer Belebung der Fläche, beziehen, wird nicht
erschöpfend auseinandergesetzt. So treten die Gegensätze nicht deutlich genug
und nicht einmal durchweg zutreffend hervor. An dieser Unklarheit trägt die Ab-
sonderung der Betrachtung von der des erzählenden Bildes, das gerade der Wand-
malerei den bevorzugten Gegenstand der Darstellung liefert, die Hauptschuld. Die
Einheitlichkeit der malerischen Anschauungsweise der führenden und zumal der
frei gestaltenden Künstler, vor allem der Deutschrömer, wird dadurch geradezu ver-
dunkelt. Wie im ersten Kapitel offenbart sich hier am fühlbarsten die eigentliche
Schwäche des Buches, daß nämlich eine Fülle treffender und geistvoll ausgedrückter
430 BESPRECHUNGEN.
UKeile über Kunstwerke, Künstler und Kunstströmungen nicht unter selbständig
durchdachten theoretischen Leitbegriffen in große entwicklungsgeschichtliche Er-
kenntniszusammenhänge gebracht, sondern in das Schema der gegenständlichen Bild-
gattungen eingepreßt sind. An einer solchen ließ sich die Entwicklung durch den
ganzen Zeitraum eben nur da einigermaßen befriedigend abhandeln, wo die male-
rischen Anschauungswerte und nicht der Bildstoff die Hauptaufgabe der künstle-
rischen Gestaltung ausmachen wie in der Landschaft und im Stilleben, oder wo
dieser sich gleich bleibt wie beim Bildnis.
Sprechen wir nach der vorhergehenden kurzen Auseinandersetzung mit dem
Verfasser nunmehr die Forderungen aus, die wir an eine Neuauflage des anregen-
den Büchleins zu stellen hätten'). Um den Stilwandel der deutschen Malerei seit
1870 verständlich zu machen, hätte nicht die Unterscheidung der Bildgattungen nach
dem gegenständlichen Inhalt, sondern der Gegensatz der künstlerischen Anschauungs-
weise den übergeordneten Gesichtspunkt der Betrachtung hergeben müssen. Das
Schaffen der einzelnen Künstler als der Träger des malerischen Ausdrucks brauchte
darum keineswegs im Zusammenhange durch den ganzen Zeitraum verfolgt zu
werden, sondern könnte immer noch eine vergleichende Würdigung innerhalb der
verschiedenen Bildgattungen finden, nur müßte auch mit den letzteren gemäß ihrer
jeweiligen Bedeutung öfters gewechselt werden. Eine solche stilgeschichtiiche Dar-
stellung bringt freilich weit höhere Anforderungen an die Durcharbeitung des Stoffes
und an seinen Aufbau mit sich als die einfache Aufteilung desselben in fünf Ab-
schnitte nach den Bildarten. Mehr noch als ihre Schwierigkeit mag jedoch den Ver-
fasser der Zweifel geschreckt haben, ob die deutsche Malerei des letzten halben Jahr-
hunderts überhaupt eine geschlossene selbständige Entwicklung aufzuweisen habe.
Daß für sie wie für andere europäische Schulen die sich in Frankreich vollziehende
malerische Stilbildung mehrfach den Antrieb zu neuen Bestrebungen gegeben hat,
wird selbst der befangenste Beurteiler zugeben müssen. Ebensowenig ist aber zu
verkennen, daß in ihr schon die gleichgerichteten Ansätze zu diesen vorhanden
waren, und daß der französische Einfluß somit nur fördernd und nicht einmal immer
unmittelbar auf sie eingewirkt hat. Überdies kommt in ihr zur illusionistischen rein
malerischen Oberströmung im Wirken unserer Malerdichter eine ganz eigenartige
fast gleich starke koloristische Unter- oder Nebenströmung hinzu. Diese Doppel-
entwicklung läßt also zweifellos auch eine selbständige Betrachtung zu.
Versuchen wir nun, uns den Entwicklungsgang, wie er sich anscheinend dem
Verfasser selbst im wesentlichen darstellt, mit ein paar Andeutungen und Er-
gänzungen klar zu machen. In der Hauptlinie zeigt die moderne deutsche Malerei
unverkennbar zum mindesten bis um 1910 einen stetigen Fortschritt von einer noch
halbzeichnerischen Auffassung bis an die Grenze malerischer optischer Illusion, —
allerdings nicht erst seit 1870. Vom stilgeschichtlichen Gesichtspunkt bedeutet das
Kriegsjahr keinen Wendepunkt und keinen neuen Anfang. Man müßte zum minde-
sten noch die sechziger Jahre hinzuziehen, in denen nach einem gewissen Schwanken
im vorhergehenden Jahrzehnt der vorherrschende Kartonstil mit seinem Kolorismus
in formauflösende malerischeAnschauungsweise umgesetzt wird, wenngleich diese
schon in der ersten Jahrhunderthälfte kaum bemerkt und doch in vollkommener
') Die Besprechung war in der vorliegenden Gestalt bereits abgeschlossen und
im Satze fertig gestellt, als der Unterzeichnete von dem Erscheinen einer zweiten
vermehrten Auflage Kenntnis erhielt. Da die Anlage des Buches aber in ihr keine
durchgreifende Umgestaltung erfahren hat, behalten die hier ausgesprochenen Wünsche
ihre Geltung für die folgende.
BESPRECHUNGEN. 431
Reife aus den Werken eines Kaspar Friedrich, Blechen, Menzel und anderer hervor-
bricht. Ihre spätere Fortbildung vollzieht sich seither ohne Riß, und doch zeigt
ihr Verlauf einen bedeutsamen Einschnitt, nach dem sich die Betrachtung in zwei
Entwicklungsstufen gliedern ließe. Bezeichnet wird er durch den vollen Einbruch
der impressionistischen Freilichtmalerei um 1800. Am illusionistischen Gestaltungs-
prinzip gemessen (siehe oben), besteht zwar ungeachtet des heißen Kampfes der
verschiedenen Richtungen in der damaligen Künstlerschaft kein tiefer Gegensatz
zwischen ihr und der vorhergehenden Stilphase, die Waetzoldt als die naturalistische
kennzeichnet, sondern nur eine etwas veränderte Zielsetzung. Wollen wir aber die
letztere auf einen gleichartigen Begriff bringen, so werden wir das Kunstwollen der
siebziger und zumal der achtziger Jahre vielleicht am treffendsten als Aufstieg zur
Tonmalerei begreifen. Auf das Zusammenstimmen der Farbenwerte der Natur zum
Einheitston richtet sich das Hauptbemühen eines Leibl so gut wie eines Knaus,,
dessen Spätwerke in dieser Hinsicht neben Menzel mehr Beachtung verdient hätten,
als ihm Waetzoldt zuteil werden läßt. Was diese Meister aber noch mittels feiner
neutraler Übergangstöne zu erreichen suchen, strebt der malerische Impressionis-
mus durch die allgemeine Aufhellung der Palette an. In ihren Frühwerken arbeiten
jedoch auch Liebermann und Uhde wenigstens im Innenraum noch reichlich mit
gebrochenen Farben, und besonders der letztgenannte ringt noch wie seine Vor-
gänger mit den Tiefenschatten. Wie sie, so schreitet vollends der frühere Weg-
genosse Leibls Trübner ohne Sprung zu der farbenfreudigeren Freilichtmalerei
fort, die jener nicht mehr erreichte, wie er auch noch in der formzersetzenden
Pinselzeichnung hinter den anderen zurücksteht. Im Gegensatz zur illusionistischen
Hauptströmung richtet sich das Schaffen der Malerdichter dieser ersten Entwick-
lungsstufe auf die koloristische Stilisierung der Erscheinungswelt und auf die Klä-
rung ihrer plastischen Werte sowie des Raumes durch die letzteren und nicht durch
seine optische Vereinheitlichung. Die Deutschrömer unter sich und Hans Thoma
weisen aber erhebliche Unterschiede auf, und diese treten auch in ihren monumen-
talen Schöpfungen entsprechend hervor. Am fernsten hält sich Feuerbach von einer
zerfließenden malerischen Formengebung. So hat er denn auch als Nachzügler der
Kartonmalerei im Gastmahl des Plato das letzte und wohl bedeutendste Wandbild
des raumabschließenden Flächenstils geschaffen, dessen Zersetzung sich bereits in
Kaulbachs Berliner Treppenfresken vollzieht. In der Folge vermag aber auch er
sich nicht ganz dem Einfluß der erstarkenden malerischen Anschauungsweise zu
entziehen, die sogar in den Wandmalereien Böcklins und Marees' zur Geltung
kommt. Alle ihre Versuche, einen neuen Monumentalstil zu schaffen, wie auch die
Arbeiten eines Prell und anderer mehr zielen nur auf die farbige Rhythmisierung
der Wand ab, die Marees im Neapler Fischerbilde am vollkommensten erreicht.
Dieselbe Zwiespältigkeit des Kunstwollens — sie entspricht einer allgemeinen
kunstgeschichtlichen Gesetzlichkeit ') — zeigt nun auch die jüngste deutsche Malerei
auf ihrer zweiten Entwicklungsstufe seit den neunziger Jahren. Wie sich die form-
auflösende Anschauungsweise in der Freilichtmalerei (und nicht minder in der Be-
handlung des Innenraumes) über Liebermann und die jüngeren Impressionisten wie
Slevogt, Dettmann, Corinth und andere bis in den Neoimpressionismus hinein zu-
spitzt und erschöpft, hat Waetzoldt mit verständnisvoller Beobachtung an den ein-
zelnen Bildgattungen zu erfassen gewußt. Die Gedankenmalerei dieses Zeitraums
steht nicht in ganz eindeutigem Gegensätze zur illusionistischen Hauptströmung.
') Siehe meine Grundlinien u. krit. Erörterungen zur Prinzipienlehre d. Kunst-
wissenschaft 1917, S. 64.
432 BESPRECHUNGEN.
Die kurzlebige symbolistische Richtung, vertreten durch Fr. Stucl< und geringere
Böckhn-Nachahtner, wie Hengeler, teilt mit ihr die malerische Behandlung der
Form, hat aber mit der zweiten, stärkeren Nebenströmung die koloristische Stili-
sierung der Farbengebung gemein. Diese bedeutsamere Richtung nimmt die Wen-
dung der Deutschrömer zur plastischen Anschauungsweise auf, obgleich ihr Bahn-
brecher Klinger vom Impressionismus herkommt. Es ist bezeichnend, daß Waetzoldt
■dem Maler der blauen Stunde erst beim Wandbild gerecht wird. Und doch ist Klinger
nicht nur in der Quelle (Dresden) und in der Pietä (ebenda), in der sich die Form
bereits zu voller Schärfe verfestigt hat, sondern sogar in der Kreuzigung mit ihrem
gesteigerten Kolorismus noch ein echt impressionistischer Freilichtmaler. Mit dem
Christus im Olymp und in den allegorischen Wandgemälden für Leipzig und Ham-
burg kommt dann zur Plastik der Gestalten ihre reliefmäßige Aufreihung in einem
Plan hinzu, die landschaftlichen Hintergründe aber bewahren bis zuletzt die illusio-
nistische, wenngleich durch helle Luft und Wasserflächen gebundene Raumanschau-
ung. Neben Klinger hätten als Malerplastiker Oreiner zum mindesten Erwähnung,
Schneider, Haider und Bohle mehr Berücksichtigung verdient. Es sind zugleich die
starken Zeichner dieser Zeit. Einen weiteren Schritt zum dekorativen Linienspiel
bedeuten die Weimarer Museumsfresken Hofmanns und Klimts Wiener Allegorie
und den ersten zur Wiederbelebung des Flächenstils. Eine Fortbildung des letzteren
dürfen wir vielleicht von den Expressionisten erhoffen, wenn sie auch erst ver-
einzelte Anläufe dazu genommen haben wie H. Nauen in den Wandmalereien auf
Burg Drove. An der farbigen Rhythmisierung der Wand halten hingegen die
Illusionisten fest wie A. Kampf in seinem Beriiner Aulabilde, — nicht etwa im Gegen-
sätze zu Marees' Neapler Fresken, wie der Verfasser meint, sondern in grundsätz-
licher Übereinstimmung mit ihm.
Um den angedeuteten stilgeschichtlichen Entwicklungsgang übersichtlich zu
machen, wäre die Betrachtung etwa in folgender Abwechslung gemäß der Bedeutung
des Gegenstandes für das jeweilige vorherrschende Kunstwollen der Bildgattung an-
zustellen. Ich möchte sie nur als Vorschlag einer leicht durchzuführenden Umteilung
des Stoffes dem Verfasser zur Erwägung unterbreiten. Im ersten, die siebziger und
achtziger Jahre umfassenden Teil sollte die Darstellung ihren Ausgang von dem
Handlungsbilde einschließlich des monumentalen nehmen. An dieses wäre das
Bildnis und dann wohl am besten das Stilleben anzuschließen, das als Vorwurf den
Gegenpol bezeichnet, mit ihm aber die nahräumige Anschauung gemein hat. Die
Landschaft, in der die rein optische Spiegelung der Erscheinungswelt sich dem
Weitraum zuwendet, wäre zuletzt abzuhandeln, — im zweiten Teil hingegen an
erster Stelle, so dass sie in geschlossenem Zusammenhange in den Mittelpunkt der
Oesamtbetrachtung rücken würde, wie es ihrer Rolle in der malerischen Stilbildung
der impressionistischen Richtung entspricht. Die Entfaltung der letzteren in den
anderen Bildgattungen müßte dann in rückläufiger Folge durchgeführt werden.
Auch die Abspaltung der expressionistischen Strömung und der gegenwärtige Stand
<ier Dinge würde dann wieder im Handlungsbilde am klarsten herausspringen. Die
Hoffnung, daß dem Expressionismus aus dem Völkerringen mächtige neue Antriebe
monumentaler Gestaltung erwachsen würden, kann sich nicht mehr erfüllen. Sie
werden ersterben, wie in unserer Kriegslyrik. Ist unsere Kunst im Niedergange be-
griffen oder im Aufstieg als Verkünderin einer Zeit strenger Selbstzucht und harter
Arbeit? Das ist die Schicksalsfrage, die wir an die Kunst wie an unsere gesamte
Kultur zu richten haben.
Berlin-Steglitz. O. Wulff.
ZEITSCHRIFT FÜR ÄSTHETIK
y
^Br UND
ALLGEMEINE KUNSTWISSENSCHAFT
HERAUSGEGEBEN
VON
MAX DESSOIR
FÜNFZEHNTER BAND
MIT TAFEL I— III
A
A
^
%i-^
^^\
STUTTGART
VERLAG VON FERDINAND ENKE
1921
x>
Drack der Union Deutsche Verlafsgesellschaft in S«utlg«rt.
rr.
Inhaltsverzeichnis des XV. Bandes.
Abhandluneren.
" Seite
I. Hugo Ooldschmidt, Tonsymbolik 1—42
II. Charlotte Bühler, Erfindung und Entdeckung. Zwei Grund-
begriffe der Literaturpsychoiogie 43—87
III. Konrad Lange, Bewegungsphotographie und Kunst .... 88—103
IV. Kurt Theodor, Die Darstellung auf der Fläche 129 — 164
V. Wilhelm Waetzoldt, Die Begründung der deutschen Kunst-
wissenschaft durch Christ und Winckelmann 165—186
VI. Hermann Glockner, Philosophie und Dichtung. Typen ihrer
Wechselwirkung von den Griechen bis auf Hegel 187—204
VII. Hans Klaiber, Die lyrische Stimmung 241—271
VIll. Willy Drost, Über Wesensdeutung von Landschaftsbiidern, ge-
zeigt an der holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahr-
hunderts 272-304
IX. Paul Zucker, Kontinuität und Diskontinuität. Grenzprobleme
der Architektur und Plastik 305—317
X. Georg Marzynski, Zwei Darstellungsprobleme der bildenden
Kunst. Psychologische Untersuchungen 353—373
XI. Otto Höver, Kunstcharaktere südabendländischer Völker . . . 374—403
XII. F. Adama van Scheltema, Beiträge zur Lehre vom Ornament.
Mit Tafel 1-111 404—453
Bemerkungen.
August Schmarsow, Zur Bedeutung des Tiefeneriebnisses im Raum-
gebilde 104—109
Fritz Hoeber, Sachliche Kunstbetrachtung und persönliche Kunstpclitik 205—211
Heinrich Merk, Probleme der literarischen Kritik bei Aug. Wilh. Schlegel 211—220
Heinrich Mey er-Be nf ey, Ziele und Wege der Literaturwissenschaft 318—327
Otto Ernst Hesse, Psychoanalyse und Kunstphilosophie 328—336
Johannes Wolf, Hugo Goldschmidt 454—456
J. J. de Urries y Azara, Über das System der Künste 456—459
Rolf Wolfgang Martens, Über das Komische und den Witz . . . 459—467
Besprechungen.
Vom Altertum zur Gegenwart.— Das Gymnasium und die neue Zeit
Bespr. von Max Dessoir 221
Walter Curt Behrendt, Der Kampf um den Stil im Kunstgewerbe und
in der Architektur. Bespr. von Emil Utitz 338—339
/ IV INHALTSVERZEICHNIS DES XV. BANDES.
Seite
Rudolf Bernauer, Die Forderungen der reinen Schauspielkunst. Bespr.
von Robert Klein 222-223
Walter Brecht, Konrad Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner
Gedichtsammlung. Bespr. von Alfred Baeumler 468—470
Max Deri, Die Malerei im 19. Jahrhundert; Entwicklungsgeschichtliche
Darstellung auf psychologischer Grundlage. Bespr. von Emil Utitz 1 13—115
Melitta Gerhard, Schiller und die griechische Tragödie. Bespr. von
Erich Aren 476-480
Otto Orautoff, Formzertrümmerung und Formaufbau in der bildenden
Kunst. Bespr. von Georg Schwaiger 339—344
Ferdinand Qregori, Der Schauspieler. Bespr. von Max Dessoir. . 224
Adolf V. Grolman, Fr. Hölderlins Hyperion. Stilkritische Studien zu
dem Problem der Entwicklung dichterischer Ausdrucksformen.
Bespr. von Alfred Baeumler 470—472
Hans Hildebrandt, Wandmalerei, ihr Wesen und ihre Gesetze. Bespr.
von Emil Utitz 224—225
Max Hochdorf, Zum geistigen Bilde Gottfried Kellers. Bespr. von
Alfred Baeumler 472—474
Hugo Kehrer, Zurbarän. Bespr. von Alfred Werner 112—113
Theodor A. Meyer, Die ästhetische Erziehung in der Schule. Bespr.
von Willy Moog 221—222
Hans Joachim Moser, Geschichte der deutschen Musik in zwei Bän-
den. Bespr. von Gurt Sachs 351 — 352
Aus Natur und Geisteswelt. Bespr. von Max Dessoi, 337—338
Carl Robert, Archäologische Hermeneutik. Bespr. von Margarete Bieber 225—226
W. Stein, Die Erneuerung der heroischen Landschaft nach 1800. Bespr.
von Georg Schwaiger 226 — 232
Hans Lorenz Stoltenberg, Reine Farbkunst in Raum und Zeit und
ihr Verhältnis zur Tonkunst. Bespr. von Margarete Calinich . 349—351
Max Theuer, Der griechisch -dorische Peripteraltempel. Bespr. von
Bernhard Schweitzer 344_349
E. Troeltsch, Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilo-
sophie des Positivismus. Bespr. von Robert Petsch .... 474—475
Johannes Volkelt, Das ästhetische Bewußtsein; Prinzipienfragen der
Ästhetik. Bespr. von Emil Utitz 475_476
E. Wald mann, Albrecht Dürers Handzeichnungen. Bespr. von Georg
Schwaiger 110—112
Ottomar Wichmann, Piatos Lehre von Instinkt und Genie. Bespr.
von Willy Moog 115
Schriftenverzeichnis für IQIQ.
Erste Hälfte 116—128
Zweite Hälfte 233-240
I.
Tonsymbolik.
Von
Hugo Goldschmidt.
Unter Symbol wird ein »Kennzeichen, ein Sinnbild, d. h. ein An-
schauliches, Sinnliches, Besonderes« verstanden, >das ein Abstraktes,
Übersinnliches, Geistiges, einen Sinn vertritt, bedeutet, lebendig dar-
stellt und ausdrückt« '). Es ist im ersten Augenblick völlig unver-
ständlich, wie die Musik es anfängt, ein Abstraktes zu versinnbildlichen,
etwra die Begriffe Ehrgeiz, Zerknirschung, Reue, Frieden. So wie die
Tonmalerei ohne die Hilfe des Wortes, der Dichtung, des Pro-
gramms oder der Mimik, nur in einem kleinen Kreise akustischer
Nachbildungen sich betätigen kann, so ist die Tonsymbolik sogar fast
ausschließlich auf ein Zusammengehen mit den anderen Künsten oder
dem Programm angewiesen. Als absolute wird die Musik nur in
seltenen Fällen imstande sein, ein Symbol zu geben. Zu ihnen zählt
Bachs Begriffsbestimmung des Chaos durch ungeregelte Tonfolgen.
In Verbindung mit den anderen Künsten aber, insbesondere mit
der Dichtung, ist der Symbolik ein weites Gebiet der Betätigung er-
öffnet. Es ergibt sich schon hieraus, daß die Musik, wo sie sich
einem Symbol gegenüber sieht, sich an die Verstärkung derjenigen
Vorstellungen halten muß, auf denen es beruht. Wenn die Kantaten-
dichter Bachs von der Zerknirschung des Sünders oder seiner Reue
sprechen und diesen Begriff an die Vorstellung des wankenden Schrittes
des vor Gott erscheinenden Sünders anknüpfen, so kann der Ton-
künstler eben nur dieses Bild des unsteten Schreitens durch Ton-
bildungen zu lebhafterer Anschauung bringen, als es die Dichtung
allein vermag. Dann stehen wir vor dem Übergreifen der Tonmalerei in
das Symbolische. Über diese Gattung der an Vorstellungen geknüpften
Symbolik hinaus kennt aber die Dichtung, insbesondere die religiösen
Inhalts, Symbole, die nicht auf so gearteten Vorstellungen beruhen,
also von keiner optischen oder akustischen Analogie begleitet sind.
Nehmen wir eines der berühmtesten Beispiele der kirchenmusikalischen
') Eisler, Handwörterbuch der Philosophie unter Symbol.
Zeitichr. f. Ästhetik u. alle. Kunstwissenschaft. XV.
HUGO GOLDSCHMIDT.
Literatur: die Einsetzung des Abendmahls in der Matthäuspassion >).
Der Bibeltext geht aus von der Statuierung der Sendung des Herrn
als Erlösers. Bach war auch hier bemüht, die textliche Substanz zu
stärken. Dies geschieht durch eine charakterisierende Tonbildung
durch •eine auf Versinnbildlichung unmittelbar gerichtete.
1. ^
itj
Ich wer -de von nun an nicht mehr
Diese Gattung der Tonsymbolik beruht, im Gegensatz zu jener
mit Tonmalerei verknüpften, auf einem bewußten, aber freien, von
äußeren Vorgängen unabhängigem Charakterisieren. Ein logisch
nachweislicher Zusammenhang zwischen dem Symbol der Textvorlage
und der ihr entfallenden Tonbildung besteht nicht*). Trotzdem ver-
stehen wir, oder besser fühlen wir die Beziehungen des musika-
lischen Elements zum Begriff, zum Gedanken, zum Sinn der
Dichtung.
Ebenso wie der eigentlichen Tonmalerei sind die Prozesse der
Aufnahme ton symbolisch er Bildungen in erster Linie solche des
Verstandes. Das erhellt für diejenigen tonsymbolischen Komplexe,
die mit der Tonmalerei kompliziert sind, ohne weiteres. Um bei
dem obigen Beispiele zu bleiben: Der Schluß von dem tonmalerisch
geschilderten Verhalten, von dem Bilde des schwankenden Schrittes
auf den Begriff: Reue, oder Zerknirschung ist ein verstandesmäßiger.
Der Denkvorgang ist der, daß die Tonreihen, wie jede Musik, durch
Anschauung apperzipiert, gleichzeitig aber verstandesmäßig als Schilde-
rung des im Texte gegebenen Vorganges des schwankenden Schrittes
erkannt werden. Nun wird endlich aus dem erkannten Bilde des
schwankenden Schrittes durch Kontinuitätsassoziation auf den Begriff
Reue, Zerknirschung geschlossen. Nicht viel anders wird diejenige
Tonsymbolik erfaßt, die auf freier Charakteristik beruht. Auch hier
wird die Beziehung der Tonphrase auf Abstrakta: Begriffe, Gedanken,
oder Sinn, durch einen Akt des Intellektes festgestellt. Der Hörer
bemerkt und versteht, daß die Tonreihen mehr sind, als ein Sinnlich-
Schönes und ein durch das Sinnlich-Schöne hindurch Charakteristi-
sches. Er bemerkt, daß der Künstler intentional mit ihnen auf jene
Abstrakta der Dichtung hat hinweisen wollen. Das Symbol als
•) Eulenburg S. 7.
') Abert, Die Musikanschauung des Mittelalters (179), nimmt an, daß die sym-
bolisch-allegorische Ausdeutung der musikalischen Elemente, wie sie das frühe
Mittelalter entwickelt hatte, in einzelnen Anschauungen sich bis in die Zeiten Bachs
fortgepflanzt habe!
TONSYMBOLIK.
I
solches wird natürlich in erster Linie dem Texte entnommen, und
die Töne werden dann, nachdem das Symbol als solches erkannt ist,
als auf dieses hin gerichtet, erkannt. Die Tonphrasen der Einsetzung
des Abendmahls (siehe Nr. 1) werden verstandesmäßig in Beziehung
gesetzt zum Symbol, wie es der Bibeltext enthält. Eine andere Frage
ist, ob diese Töne auch wirklich zur Versinnbildlichung beitragen.
Der Intellekt vermag nur festzustellen, daß der Tonkünstler eine Ver-
sinnbildlichung gesucht hat, und daß die von ihm aufgestellten Ton-
reihen auf ein Symbol der Dichtung sich beziehen. Ob und wie weit
der Anschluß an das Symbol des Textes erreicht ist, das zu beurteilen
ist wiederum nur Sache des musikalischen Gefühls. So wie sich
das Problem des Überganges der Tonphrase aus dem Sinnlich-Schönen
ins Charakteristische der Lösung durch den Verstand entzieht, so
auch dasjenige der Fähigkeit der Musik die Versinnbildlichung eines
Symbols, das im Vorwurf gegeben ist, zu vollziehen. Daß sie vor-
handen, ist ohne Frage und lehrt uns die tägliche Musikerfahrung.
Schon das 17. Jahrhundert mit Schütz und das 18. mit J.S.Bach ist
des Zeuge. Beide Meister können in vielen Stellen ganz nur von
dem verstanden werden, der ihre sehr weitgehende Symbolik ver-
standesmäßig und mit dem Gefühl aufnimmt, und diejenigen
Bachinterpreten, die wie H. Kretzschmar und Heuß ') das Verständnis
nach dieser Seite zu fördern sich bemühten, haben sich um die Bach-
sache besonders verdient gemacht. Nach Bach, schon mit der Gene-
ration seines Sohnes Philipp Emanuel, mit den Klassikern der Wiener
Schule und ihren Epigonen tritt die Symbolik auch in der kirchlichen
Musik auf einen sehr bescheidenen Platz zurück. Erst die neuere
Zeit, vor allem aber die Programmmusik, billigt ihr ein größeres Feld
der Betätigung zu. Am weitesten geht auch hier wieder Rieh. Strauß,
wenn er beispielsweise in »Zarathustra« (1895) uns zumutet, in den
Tönen der Trompete
sehr breit
■i^i
feierlich
das Symbol der Natur oder das Welträtsel zu erkennen^).
So wie im Bereiche der Tonmalerei kann sich auch in der Ton-
symbolik die Musik nicht ausschließlich auf diese Funktion des
') Matthäuspassion.
') Vgl. Klauwell, Geschichte der Programmmusik S. 251. Neuester Zeit hat
Friedrich Klose in seinem Oratorium »Der Sonne Oeist« im chorus mysticus des
IV. Teiles den Sopran auf c festgelegt, als Symbol der ewigen Wahrheit. Nach
Neue Zur. Ztg. 139. Jahrg., Nr. 308 (5. März 1918).
HUGO GOLDSCHMIDT.
Charakterisierens zurückziehen; und wie die tonmalerischen An-
lagen, insbesondere die S. Bachs und der neueren Musik, überall
gleichzeitig gefühlserfüllte sind, so auch die tonsymbolischen.
Wenn Bach Reue und Zerknirschung in Anlehnung an das Bild des
Textes versinnbildlicht, so erfüllt er die zur Veranschaulichung des
schwankenden Schrittes und zur Symbolisierung der Reue bestimmten
Tonphrasen nicht nur überall mit einem sinnlicher Schönheit ver-
haftetem Gefühlsgehalt, er bettet sie noch überdies sorgfältig in weitere
musikalische Komplexe ein. Mit anderen Worten: ebensowenig wie
die Tonmalerei der neueren Musik, nach Bach, abgelöst erscheint von
einem Gefühlsinhalt — es sei denn im Rezitativ — ebensowenig die
Tonsymbolik. Sie ist überall mit einem gefühlsmäßigen Inhalt
verwachsen. Bach versinnbildlicht in unserem Beispiel nicht allein
den Begriff Reue, Zerknirschung durch Abbildungen des äußeren Ver-
haltens des Schwankenden. Er verknüpft mit dieser tonmalenden
Symbolik das Reuegefühl des Sünders, der demütig und tief erschüttert
vor Gott tritt. Und so groß auch der Tonsymboliker Bach ist,
so bewundernswert sein Feinsinn, und die überzeugende
Kraft seiner veranschaulichenden Motive sind, seine arioni-
schen Wundertaten liegen doch mehr noch in der tiefen
Innerlichkeit, in der unerschöpflichen, immer wieder frisch
springenden musikalischen Erfindungsquelle, und den ihr
entsteigenden Gefühlsinhalten.
Es ist kein Zufall, daß ich mich bisher überall auf die kirch-
liche Musik berufen habe; ist doch die geistliche Dichtung und
vor allem die Bibel selbst von Symbolen erfüllt. Das allein aber
würde noch nicht die Tatsache erklären, daß Bach so große
und ernste Anstrengungen macht, sie in die Musik einzubeziehen.
Andere Meister seiner Zeit und der größte unter ihnen, Händel, haben
vor der Symbolik halt gemacht. Die Gründe für Bachs Schaffens-
weise liegen in seiner zur Mystik geneigten Frömmigkeit einerseits und
dem seine gesamte Kunst durchziehenden Bestreben anderseits, ver-
möge seiner Musik dem gedanklichen Inhalt des Textes zu erhöhter
Anschaulichkeit zu verhelfen. Man vergesse nicht, daß seine geist-
lichen Kantaten, wie Passionen, nicht auf ein rein ästhetisches Er-
leben abgestimmte Kunstwerke vorstellen, vielmehr auch auf außer-
musikalische Wirkungen ausgehen: die Erweckung und die Er-
höhung religiöser Gefühle i). Es kam Bach sehr darauf an, sie seiner
Gemeinde in größter Anschaulichkeit zu vermitteln. Er hat das ver-
') Eine ausführliche Erörterung der Stellung der außerästhetischen Faktoren
im Kunstwerk gab Utitz »Außerästhetische Faktoren im Kunstgenuß«, Zeitschrift f.
Ästhetik VII, S 619 ff.
TONSYMBOLIK.
möge eines großartigen Kunstverstandes und einer musikalischen Be-
gabung ohne Gleichen vermocht, ohne die Grenzen der Musik als
einer Kunst des Sinnlich-Schönen zu überschreiten, oder hat sie doch
nur in Ausnahmefällen überschritten. Wenn er, wie übrigens bereits
Schütz, und in noch höherem Grade sein Zeitgenosse Telemann,
indessen dennoch hie und da zu weit gegangen ist, und gerade in
der Symbolik zu Mitteln der Verdeutlichung gegriffen hat, die bereits
außerhalb der Kunst liegen, wie wenn er das moralische Chaos vor
Erlaß der zehn Gebote durch beabsichtigte Unordnung der musika-
lischen Gestaltung wiedergibt, so muß das eben jenem Bestreben, das
ihn überall bestimmte, zugute gehalten werden. Vergessen wir auch
nicht, daß selbst dieser so unabhängige Geist überall, insbesondere in
Leipzig, durch Gottscheds Vermittlung dem französischen Ratio-
nalismus bis zu einem gewissen Grade angeschlossen war. Hatte
doch schon der so maßvolle Boileau im ausgehenden 17. Jahrhundert
als das oberste Prinzip der Schönheit die Deutlichkeit erklärt, und in
die Aufklärung der Vorstellungen das Schwergewicht verlegt. Im
Kunstwerk soll sich vor allem Wahrheit verkünden (rien liest beau,
que le vrai) und dem bedeutendsten und einflußreichsten Vertreter
dieser Philosophie, dem La Motte-Houdard bedeutet Kunst schließlich
nichts mehr, als eine schöne Form für die Gedanken der Wahrheit ').
Für die Musik fordert diese Schule die Gleichstellung mit den bilden-
den Künsten, Nachahmung der Natur. Musik, die nicht malt, ist
inhaltslos, gleicht einer aufgeblähten Rede. Bietet sich kein Modell
der äußeren Natur, so halte sie sich an die Affekte und ihren Nieder-
schlag in der Sprache. Dieser Ästhetik entstanden nicht nur unter den
Literaten (Crousaz, Pluche), sondern vorzüglich unter den Praktikern
(Lalande, Couperin, Henry du Mont) Gegner, die sehr wohl die Un-
haltbarkeit der Lehre einerseits, das wahre Lebensprinzip der Musik
anderseits erkannten. Unzweifelhaft hat Bach die französische Irrlehre
und noch dazu in der verknöcherten Form der Vorträge des Leipziger
Literaturprofessors genau gekannt. War sie doch überdies Gemeingut
aller Gebildeten jener Tage. Ob ihm dagegen die gegnerischen
Ansichten bekannt geworden sind, ist fraglich; denn die erste Oppo-
sition in Deutschland mit der Rede J. Elias Schlegels in der Oottsched-
schen Redegesellschaft von 1741 kam für ihn zu spät. Überdies ver-
langten die Theologenkreise Leipzigs, daß die kirchliche Musik
ihre Hauptaufgabe in der Verdeutlichung des Textwortes, in der Ver-
stärkung vor allem ihrer verstandesmäßigen Elemente suche. Aber
') Ecorcheville (f 1915), Esthtftique musicale de Lully ä Rameau, Paris 1906,
und meine Musikästhetik des 18. Jahrhunderts S. 33 ff.
HUGO GOLDSCHMIDT.
wenn schon ein Talent zweiten Ranges, wie Scheibe, sich gegen Gott-
scheds Zumutung, die Musik zu einer Hiifskunst der Poesie herab-
zudrücken, ablehnend verhalten hatte ^), so war das Genie Bachs durch
diese Leugner des musikalischen Lebensprinzips nicht aus seiner Bahn
zu werfen. Trotzdem und alledem hat der Sonnenwagen der Bach-
schen Kunst seinen Weg verfolgt, und Gottsched war kein Zeus, ihn
zur Entgleisung zu bringen. Das aber ist eines ihrer hohen Wunder,
daß in ihr Platz war sowohl für die Bildungen, die in der Vergangen-
heit und der Übung des 17. Jahrhunderts fußten, als für die, die jener
Tendenz und jenen ästhetischen Überzeugungen Rechnung trugen,
die die Musik ausschließlich als eine deskriptive Kunst ansahen.
Bach hat seine deskriptiv gemeinten Tonkombinationen, tonmalende
wie tonsymbolische, in solchem Grade als musikalische Ingredenzien
dem Gesamtablaufe einzustellen gewußt, daß sie nicht mehr, wie die
seiner Vorgänger, ja vieler seiner Zeitgenossen einen Fremdkörper im
musikalischen Ablaufe vorstellten. Sie erfüllten ihren Zweck, dem
Textwort höhere Anschaulichkeit zu verschaffen, ohne das musika-
lische Gleichgewicht zu stören.
Ist das schöne Verhältnis dieser Faktoren, der Tonmalerei und
der Tonsymbolik, zur freien Betätigung der Musikempfindung, zum
Schönen und Charakteristischen der Musik anzuerkennen, so ist die
innere Arbeit an jenen deskriptiven Teilen, und gerade den ton-
symbolischen, doch nicht überall freizusprechen, einmal von einer
gewissen Übertreibung in dem Bestreben zu verdeutlichen, dann aber
auch von einer gewissen Wahllosigkeit der Mittel, mit denen das
geschieht. Glücklicherweise sind die so gearteten Bildungen in einer
bescheidenen Minderheit! Sie sind zweifellos der allgemeinen ratio-
nalistischen Befangenheit der Gebildeten jener Tage zur Last zu
schreiben. Wer da weiß, welch' starken Nachklang die französische
Literatur und Gottscheds Lehre in Deutschland, insbesondere in dem
geistigen Leben besaß,, in wie breiten Schichten diese Ästhetik wie
ein Dogma herrschte, wird eben nicht erstaunt sein, selbst in dem
Schaffen unseres Altmeisters Spuren ihres Einflusses zu finden. Hierzu
kommt, daß der bekanntlich in erheblichem Maße rückwärts gewandte
Bach bereits bei seinem großen Vorbilde Schütz eine dieser Ästhetik
genäherte, reich entwickelte Tonsymbolik vorfand. Ihr gegenüber er-
scheint diejenige seines Nacheiferers Bach bereits nicht nur in erheh»-
lich geringerem Grade realistisch, sondern in weit höherem Grade
Gestaltqualität: also eine völligere, höhere Verschmelzung von Ton-
schönheit, Gefühlsgehalt und symbolischer Qualität. Und diesem Fort-
') Meine Musikästhetik des 18. Jahrhunderts S. 82 ff., 278 ff.
I
TONSYMBOLIK.
schritt entspricht der Prozeß, der sich für die Tonmalerei nachweisen
läßt. Realistii< und Treue der Tonmalerei macht abbildlich
freiereren, aber in höherem Grade tonsinnlich-schönen und
gefühlsmäßig kräftigeren Bildungen Platz, die damit auch zum
ganzen Ablauf des Tonstückes in ein harmonischeres Verhältnis treten.
Dieselben Entwicklungen bezeugen die tonsymbolischen Bil-
dungen. Die des Schütz sind gut realistisch, aber zu realistisch,
um durchweg den Erfordernissen zu entsprechen, die das Tonsinn-
lich-Schöne stellt. Sie fügen sich nicht völlig und nicht überall in
den musikalischen Ablauf ein. Man spürt denn doch allzu sehr
das 17. Jahrhundert mit seiner aufdringlichen Wortmalerei und seiner
Realistik, die sich an der Freude der Nachahmung nicht genug tun
kann. Bei Bach eine innigere Verschmelzung der überall noch vor-
trefflich abbildlichen Phrasen mit Tonschönheit und Gefühlsinhalt.
Die Stilisierung der charakterisierenden Tonkomplexe hat in der
Periode nach Schütz bis zu Bach, vorzüglich aber durch Bach erheb-
liche Fortschritte gemacht.
Wir verfolgen nun zunächst die auf Tonmalerei begründete
Symbolik, und ziehen als Beispiele in erster Linie die geistliche
Vokalmusik Schützens und Bachs an.
Leichtverständlich und deshalb ungemein häufig ist der Schluß
aus einem körperlichen Verhalten auf einen psychischen
Zustand. Der Musiker tonmalt jenes und legt so dem Hörer den
Schluß auf diesen nahe. Je kräftiger die Nachbildung, desto leichter
wird der Schluß von dem erkannten Bilde auf den Begriff vonstatten
gehen, selbstverständlich nicht ohne den Anhalt, den Text oder Pro-
gramm an die Hand geben. Bach liebt es vor allem, den Schritt
des Menschen als ein Symbol seines Gemütszustandes zu nehmen.
Den schwankenden Schritt des vor Gott erscheinenden, mühselig Be-
ladenen und Zerknirschten nimmt er zum Ausgange des Symbols der
Lebensmüdigkeit 1), der Reue und Zerknirschung*). Ein erheblich
stärkerer Anspruch an die verstandesmäßige Apperzeption ist dort ge-
stellt, wo dieselbe tonmalende Unterlage des schwankenden Schrittes
zum Symbol: schwankender Glaube oder selbst Unglaube sich aus-
weitet. Hier muß die Tonmalerei ein sehr starkes Schwanken, ja ein
völlig haltloses Wanken schildern, will sie in jenem tonsymbolischen
Sinne verstanden werden. Es liegen denn hier in der Tat auch einige
Bildungen vor, die eine solche Realistik der Abbildlichkeit aufsuchen,
daß sie sich einer musikalischen Einordnung in das Ganze entziehen,
') Ghoralvorspiel »Herrgott, nun schleuß den Himmel auf« (V, 24). Siehe
Schweitzer, Jean S. Bach S. 348, ähnlich V, 9 und V, 39.
')^Z. B. Kantate, Herr Christ der ein'ge Gottessohn (96, XX[I, S. 137).
g HUGO GOLDSCHMIDT.
SO daß jene schöne Harmonie, die eben gerühmt wurde, jenes schöne
Verhältnis von deskriptiven Themen zur musikalischen Anordnung
gelockert ist. Das trifft, um hier ein Beispiel vorauszunehmen, zu
für die Kantate »Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben«
(109 XXlll, S. 233), von der Schweitzer i), wohl etwas übertreibend,
aussagt, sie sei dem Ohr unerträglich. Das Gleiche läßt sich be-
haupten für die Choräle über das Heilige Abendmahl (VI, 30) und
über die Taufe (VI, 17)'''). Den festen, un beirrten Gang nimmt
Bach zum Ausgange für die Symbole: Glaubensfestigkeit und -freudig-
keit^), dann der psychischen Kraft und Entschlossenheit'), selbst der
göttlichen Macht ■•) und der Unfehlbarkeit des göttlichen Versprechens'').
Indessen sind diese Tonphrasen nicht mehr von besonders tonmale-
rischer Treue. Man kann gerade noch von leichter malerischer Inspi-
ration sprechen. Damit ist aber ihre tonsymbolische Funktion nicht
bestritten, die unverkennbar vorliegt. Leugnet man die ton male-
rische Unterlage, so muß man diese tonsymbolischen Gestaltungen
der freien Charakteristik zurechnen, auf die wir bald zu sprechen
kommen.
Als Gegensatz zur Bewegung dient die Ruhe, das Verharren
als Modell tonsymbolischer Malerei und zwar schon längst vor Bach.
Das italienische Madrigal zeigt für die Begriffe: *ostinate«, ^stabile*,
»w non mutoi^ überall langgehaltene Töne '), die in der Ausführung
natürlich in der Tonstärke feststehen, nicht etwa an- oder abgeschwellt
werden. In Luca Marenzios Motetten stehen zwei schöne Beispiele
für dieselbe Versinnbildlichung der unerschütterlichen Festigkeit der
Kirche durch langgehaltene Töne, zu den Worten: »Et supra hanc
petram.'t und ^Qui aedificavit domum suam supra petrani«^ "). Das-
selbe Symbol gibt Vittoria, indem er den Tenor in vier-, ja achtfachen
Notenwerten in Longis und Minimis anhält, während die anderen
Stimmen ihre Bewegungen fortsetzen ■'). Die neuere Musik nach 1600
kann sich gleichfalls der Ausnutzung dieser Analogie für tonsymbo-
lische Zwecke nicht entschlagen. Der Beispiele sind Legion in der
') A. a. O. S. 340.
2) Schweitzer a. a. O. S. 340.
4 Schweitzer a. a. O. S. 273.
*) Schweitzer, ebenda.
*) Ebenda.
«) Ebenda S. 395.
') Kroyer, Anfänge der Chromatik im Madrigal S. 24.
s) Leichtentritt, Gesch. der Motette S. 183.
') Leichtentritt a. a. O. S. 375. Es handelt sich um die Motette: »/s/^ sanc-
ius pro lege dei sui certaviU und den Worten y>Fundatiis enim erat supra firmam
petramii.
TONSYMBOLIK.
Oper ') wie in der geistlichen und weltlichen Kantate ■). Für Schütz
und Bach verweise ich auf Pirros (Schütz«) und Wolfrums (»Se-
bastian Bach«) Zusammenstellungen. Die Mehrzahl dieser Komplexe
versinnbildlichen Ruhe, Friede der Seele, Festigkeit des Entschlusses.
Nur hüte man sich vor dem Irrtum, als ob solch langgehaltene Töne
ausnahmslos in symbolischer Funktion erschienen. Der Stellen bei
Bach sind zahlreiche, in denen die Textwendungen gar kein so
geartetes Symbol aufweisen und doch musikalisch langgehaltene Töne
führen. Eines der merkwürdigsten Beispiele von Mehrsinnigkeit
der Bachschen Motive enthält die erste Altarie des Weihnachts-
oratoriums »Bereite dich Zion« (V, 2 S. 32) und zwar der Mittel-
satz. Hier ist die Singstimme auf die Worte »Eile, den Bräutigam
sehnlichst zu lieben« auf einen langen Ton festgelegt!
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le,
.rt:
l^i?^
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le den Bräu - ti - gam
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I
Eine im 17. Jahrhundert ungemein beliebte Symbolik stützte sich
auf die Analogie der weiten Entfernung der Töne untereinander,
der großen Intervalle der Singstimme, insbesondere in aufsteigender
Richtung, den Begriff der räumlichen Entfernung anzugeben '). Überall
wo das Wort lontananza auftritt, stellen sich weite Sprünge der Sing-
stimme ein: Septimen, Nonen, ja Undezimen vielfach als verminderte,
oder übermäßige. Den Ausgang aber nimmt die Symbolik von der
schmerzlichen Empfindung, die eine räumliche Trennung den
Liebenden auferlegt. Diese ist es, die die weiten Intervallensprünge
zunächst andeuten. Ihr schließt sich dann die symbolische Beziehung
an. Deshalb findet man auch für diesen Zweck niemals Konsonanzen
') Beispiel bei Draghi Achille in ScirO'.. Siehe Beihefte der Denkmäler der
Tonkunst in Österreich (1913, Adler) S. 181, wo eine durch dreiundeinhalb Takte
liegende Note das Symbol des langen Dauerns angibt. Eine ähnliche Symbolik in
Steffanis ^Alarico (1, 19), Denkmäler der Tonkunst in Bayern Bd. 21, S. 56 (Rie-
mann).
■) Benevoli deutet dasselbe Symbol an durch falsobordonartiges Rezitieren auf
demselben Tone, in der großen Messe a. 16. v.
') Riemann, Handb. der Musikgesch. II, 2 S. 225 und Schmitzs Geschichte der
weltlichen Kantate S. 60.
10 HUGO GOLDSCHMIDT.
verwendet, die wohl den Begriff der Entfernung zu versinnbildlichen,
nicht aber den Schmerz der Trennung zu charakterisieren fähig
wären. Übrigens verschwindet diese Art der tonmaierischen Symbolik
etwa mit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Ich finde sie noch in den
i^Echi di riverenza^ des Legrenzi von 1678 •), nicht mehr bei Alessan-
dro Scarlatti. Die Riesensprünge der Stimme in den Opern und Kan-
taten der Neuneapolitaner haben keine charakterisierende Funktion.
Nicht nur die Bewegungen des Individuums, auch die der Massen
dienen als Ausgang zur Versinnlichung eines Gedankens. In Verfol-
gung italienischer Anregungen hat Schütz in seinem Frühwerk, den
italienischen Madrigalen des Ouarini von 1611, auf den Text ^Fuggi,
o mio cuoret eine Fuge mit raschen Semikromen gelegt, die eine eilige
Flucht von Menschen nachahmt, in der Absicht, daß von diesem
Bilde der Gedanke sich ablöse: »Das Herz gibt seine Liebe auf, und
verzichtet schmerzerfüilt« ').
Es lag nahe, auch an die zahlreichen oben geschilderten Nach-
ahmungen von Naturvorgängen symbolische Beziehungen an-
zuknüpfen und zwar entweder so, daß in der Anknüpfung an den
Text ein Naturvorgang, wie der der Bewegung der leicht gleitenden
Wellen, zur Versinnbildlichung eines Begriffes des Friedens oder der
höchsten Seligkeit diente, ein Verfahren, von dem bereits oben mehr-
fach die Rede war, oder aber so, daß dort, wo der Text keinen Anlaß
zu einem tonmalenden Bilde gibt, doch die Phrase, die Bach regel-
mäßig für die Schilderung eines Naturvorganges benutzt, in dem
Sinne erscheint, daß sie den in der Realität diesem regelmäßig ange-
schlossenen Begriff versinnbildlicht. So erscheint in der Kantate »Es
ist nichts Gesundes an meinem Leibe« (25, V) dort, wo das Wort
Friede ausgesprochen ist (S. 165), die Musikwendung, mit der Bach
eine ruhige Wellenbewegung wiederzugeben pflegt, obwohl hier das
Bild einer Wellenbewegung im Texte gar nicht enthalten ist. Es ist
mir indessen zweifelhaft, ob Bach in diesen und ähnlichen Fällen auf
die intellektuelle Aufnahme der Wendung in ihrer ton malen den
Funktion wirklich gerechnet hat. Ich neige zu der Annahme, daß er sie
überhaupt allgemein charakterisierend verstanden wissen wollte. Stimmt
man dieser Ansicht zu, so gehört diese Art Symbolik in die zweite
Kategorie und dem Verfahren an, das für die Versinnbildlichung der
Begriffe lediglich analogielose Tonkomplexe aufstellt. Hingegen
') Vgl. meine Lehre von der vokalen Ornamentik S. 45.
') Pirro »Schütz« S. 160. Über die Ausnutzung des Kanons und der Fuge für
tonsymbolische Zwecke ist weiter unten zu handeln. Beispiele für tonmalerische
Darstellungen einer Flucht sind zahlreich in der instrumentalen Programmmusik, so bei
Couperin und Kuhnau (erste biblische Sonate). Siehe Mies Bd. VII d. Zeitschr. S. 585.
I
TONSYMBOLIK. 1 1
sind die folgenden Symbolbezeichnungen in Wendungen niedergelegt,
die einer wirklichen Tonmalerei verdankt werden: der Begriff
Satan wird von Bach bezeichnet durch die kriechenden Bewegungen
der Schlange '), der Begriff Sünde durch fallende Intervalle als Malerei
des Falles Adams. In der Choralbearbeitung des »Fall Adams< (V, 13)
ist die tonmalerische Grundlage zur freien Charakteristik ausgebaut:
Die Rhythmik und die fallende Tonbewegung schildern den Vorgang
des Fallens, die verminderten Septimen dagegen haben natürlich nichts
Tonmalerisches, sind vielmehr eine freie Charakteristik des Begriffes
Sünde. Auch diese Wendung gehört also zu einem Teil in die freie
Charakteristik tonsymbolischer Art.
Häufig wächst die symbolische Tonreihe aus einem Bilde heraus,
das nur noch auf eine sehr leichte tonmalerische Inspiration zurück-
geführt werden kann. So wenn Auf- und Abwärtsbewegungen,
Skalen und Sechzehntelgänge in Bewegung gesetzt sind, sich bildenden
und wieder rasch verschwindenden Nebel zu malen, das alles, die
Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Irdischen nahe zu legen '-). Den-
selben Begriff trifft Bach sicherer in dem Chor »Wer weiß wie nahe
mir mein Ende, Hin geht die Zeit, her kommt der Tod« der gleich-
namigen Kantate (27, V, 1, S. 219), in dem in den Bässen, mit dem
Choral kombiniert, ein deutliches Ticktack der Uhr durchgeführt ist.
Folgte ich Schweitzer und Wolfrum, so müßte ich noch eine große
Anzahl von ihnen zufolge symbolisch gemeinten, tonmalerisch ange-
legten Bildungen hier anführen. Indessen bin ich der Ansicht, daß
beide Autoren, nicht anders wie Pirro, in seinen Schriften über Schütz
und Bach, in ihrem Bemühen in Bach den Maler zu finden, Tonmalerei
auch dort feststellen, wo in Wirklichkeit kein Verstand der Verstän-
digen mehr sie einwandfrei zu erkennen imstande ist. Begnügen
wir uns also, den unzweifelhaft tonmalerisch-symbolischen Bildungen
nachzugehen.
Die für die Tonmalerei, wie wir sahen, so wichtige fiktive Gleich-
stellung von Tönen größerer Schwingungszahl mit hohen, denen
kleinerer mit tiefen, besitzt auch für die Symbolik eine ungemein ver-
breitete, allen Zeiten und Stilen geläufige Bedeutung, und zwar so
verwendet, daß entweder die Tonhöhen als absolute, also schlechtweg
hohe oder schlechtweg tiefe fungieren, oder ein Übergang von hohen
zu tiefen oder umgekehrt von tiefen zu hohen eingestellt ist. Das
') Schweitzer a. a. O. S. 363.
■') Schweitzer a. a. O. S. 343.
]2 HUGO GOLDSCHMIDT.
Verharren in hohen und tiefen Tonlagen ist aber, wie wir bereits fest-
stellten, in der praktischen Musik kombiniert mit der Ausnutzung des
Timbre der angewandten Instrumente. An sich kommt ja, wie wir
wissen, der Höhe der Töne und ihrer Tiefe eine bestimmte Bedeu-
tung nicht zu, und wir steilen gegen Wundt fest, daß tiefe Tonlagen
insbesondere durch das Klangkolorit der ausführenden Fagotte und
Baßtuben ins Komische, ja Groteske übergehen. Dasselbe gilt für
hohe Tonlagen. Im Lohengrinvorspiel ergibt erst das Zusammen-
wirken der äußerst hohen Tonlagen und des Violinkolorits die An-
schauung eines in leichten Höhen Schwebenden, unsagbar Hehren,
Heiligen. Die Beziehung der Töne auf den Oral ist selbstverständlich
erst dem feststellbar, der den Inhalt des Dramas kennt. Ersetzt man
die Violinen etwa durch Flöten, wie das die Bearbeiter für Militär-
orchester zu tun genötigt sind, so stellt sich jenes Gefühl und jene
Anschauung ebensowenig ein, wie bei einer Klavierübertragung. In
der Programmmusik gilt dasselbe. Der älteren Musik ist aber die kolo-
ristische Charakteristik noch nicht geläufig, und auch nicht die Kombi-
nation extremer Tonlagen mit Klangfarben und ihren Nuancen. Immer-
hin hatte doch schon Schütz in den Psalmen von 1619 die hohen
Stimmen der capella, d. h. des großen Vokalchores, durch Trompeten
verstärkt, um den Gedanken zu geben 'Gottes Güte währet ewiglich«.
Die Bewegungen aufwärts oder abwärts werden von den Vorgängern
Bachs und von ihm selbst reichlich für die Symbolik genutzt, und
erhalten sich in der kirchlichen Musik und in der Programmmusik in
dieser Bestimmung bis in die neuste Zeit. Aufwärtsbewegungen,
in mehr oder weniger energischem Anstreben, dienen Bach zu der
Versinnbildlichung der Auferstehung im >>Et expecto resurrectionem<.
der H-Moll-Messe, in der Tenorarie »Ich lebe, mein Herze«, der
Osterkantate »So du mit deinem Munde bekennest« (145, XXX, S. 104),
in der Kantate »Halt im Gedächtnis; (67 XVI, S. 217), dann in dem
Gebet der Kantate »Schwingt freudig euch empor« (36 VH, S. 223),
endlich zu den Worten »Der Glaube schafft der Seele Flügel« in der
Kantate »Wer da glaubet und getauft wird« (37 VII, S. 264), ange-
schlossen an die Vorstellung, daß die Seele sich zum Himmel empor-
schwingt 1).
Abwärtsgerichtete Tonfolgen benutzt Bach, um die folgenden
Symbole tonlich zu verlebendigen. Vermöge des Niederfallens vor
Gott, des Sinkens in die Kniee: das der tiefsten Ergebenheit in Gottes
Ratschluß. So in der Kantate »Ich habe in Gottes Herz und Sinn«
(92 XXII, S. 35) und in der Kantate »Ich habe meine Zuversicht«
') Schweitzer a. a. O. S. 366—367.
TONSYMBOLIK. 13
(188 XXXVII, S. 1Q5). Dann die Selbsterniedrigung vor Gott, durch
fallende Septimen wie wir sie oben kennen gelernt haben in der Kan-
tate »Die Himmel erzählen« (76 XXVII, S. IQl). Ähnlich ist in der
Kantate »Tue Rechnung Donnerwort< (168 XXXill, S. 14Q) der Begriff
der Demütigung der Seele vor Gott gegeben in der Arie »Herz, brich
die Ketten Mammons«. Auf- und Abwärtsbewegungen sind vereinigt,
wo das Symbol des Falles der Menschheit und ihres Strebens sich
von ihm zu erheben, auf Grund einer tonmalerischen Inspiration des
Sinkens und Steigens in Frage steht. So in der Arie »Wir waren
schon zu tief gesunken«, der Kantate »Es ist das Heil uns kommen
her« (Q I, S. 261). Noch kühner erweist sich die Wiedergabe des Sinnes:
»Wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden« in der Kantate
»Wer sich selbst erhöhet« (47 X, S. 241) durch die gleichen Kombi-
nationen.
Besonderer Erwähnung verdient die immer wiederkehrende Nutzung
der tonmalerischen Vorstellung der vom Himmel auf die Erde
sich herabsenkenden, göttlichen Gnade, vorzüglich für das
»Benedictus qui veniU der Messe, aber auch an anderen Stellen. Schon
bei Obrecht, der überhaupt mehrfach malerischen Vorstellungen nach-
gibt, läßt in der Messe über yFortuna disperata^ die Oberstimme ihr
^qui venit nomine DeU sieben Mal immer von demselben Ton aus
anstimmen und immer tiefer hinunterführen. Zuerst heißt es:
ii^^^i^=i """"^ %
^
3r:il 1 -H — ^
und »so geht es allmählich die ganze Skala hinab in immer längeren
Strecken bis endlich das kleine f erreicht ist« i), eine tonmalerisch und
tonsymbolisch ebenso klare wie musikalisch schöne und charakte-
ristische Wendung. Daß der neue kirchliche Stil nach 1600
solch poetisch-musikalische Hilfsmittel der Veranschaulichung nicht
ungenutzt ließ, lag schon in seiner allgemeinen Tendenz, der von
Ästhetik und Praxis gewünschten engeren Beziehung zum Leben. Ich
greife hier nur ein Beispiel heraus. In den kleinen geistlichen Kon-
zerten von 1636 »Fürchte dich nicht, denn ich bin dein Gott« des
Schütz-') steigt die Tonphrase, welche zuerst diesen Trost ausspricht,
in den Wiederholungen in immer tiefere Tonlagen hinab, um zu ver-
anschaulichen, wie sich Gottes Hilfe vom Himmel herabsenkt, bis sie
dem schwachen und bedrückten Menschen zu eigen werde. Durch
bloße Wiederholung ein und derselben sinkenden Tonbewegung
■) Kretzschmar, Führer II, 1, S. 153.
-•) Nr. 15. Vgl. Pirro a. a. O. S. 201.
14 HUGO GOLDSCHMIDT.
' '^ u ' ; ^'f ^
schließt Bach in dem Accompagnato »Der Heiland fällt vor seinem
Vater nieder« in der Matthäuspassion den Gedanken an: Jesus
schwebt zu uns in seiner göttlichen Gnade nieder und hebt uns
wieder auf zu Gottes Gnade. Ich bekenne mich zu der Interpretation
der Stelle durch Heuß '). Die Analogie des Bildes des vom Himmel
herabschwebenden Gottessohnes, auch der Malerei der großen Italiener
so geläufig, bewährt sich in der musikalischen Literatur als so symbol-
kräftig, daß sie nunmehr vielfach und selbst dort erscheint, wo man
sie nicht gesucht hätte. So hat Cherubini, der bekanntlich im be-
wußten Gegensatz zu seinem Zeitgenossen und Kollegen am Konser-
vatorium in Paris, Le Seur, der Beeinflussung der Phantasie durch
äußere Vorstellungen entschieden feindlich gegenüber stand, im
Credo seiner schönen D-Moll-Messe von 1821 das »descendit de coelis^
malerisch-symbolisch aufgefaßt und ausgeführt -). Endlich sei noch
an Beethovens ^Missa solemnis« und das Motisf der Solovioline im
»Benedictus« erinnert, das beiden Unterarten dieser tonmalerischen
Symbolik angehört. Die hohe Lage, in der das Instrument sich zu-
nächst bewegt, in Kombination mit seinem zarten, überirdischen Klange
vertreten den Begriff der göttlichen Gnade des Himmels, der allmäh-
liche Übergang in tiefere Lagen, den Gedanken, daß sie sich zu dem
heilsbedürftigen Sterblichen herabsenke. Verstärkt wird diese Dar-
stellung des Heilssymbols noch durch das Verhalten der anderen
Instrumente und der Stimmen, die »diese süße Tonerscheinung mit
verhaltenem Atem nur in leisen, murmelnden Lauten, wie ein Wunder,
begrüßen« ■^).
Die Richtung, welche die Musik nach Bach einschlug, lag nicht
auf der deskriptiven Seite. Die Operngeschichte des 18. Jahr-
hunderts ist zwar im wesentlichen der Prozeß des Durchbruchs des
Charakteristischen, und des Sieges über das rein Tonsinnlich-Schöne,
wie er sich in der Überwindung des Pergolese- Hasse- Typus durch
die Dramatiker Jommelli-Traetta, Majo und andere auf italienischer
Seite, durch Gluck auf deutscher Seite darstellt. Aber diese Charakte-
ristik besteht auch noch bei Mozart, im wesentlichen in jener Zu-
sammenstimmung des Gefühlsgehaltes der Dichtung und der Musik,
') A. a. O. S. 86.
') Krefzschmar, Führer II, 1, S. 223.
') Kretzschmar a. a. O. S. 213.
I
TONSYMBOLIK. 15
die auf einer wesentlich gefühlsmäßigen Apperzeption beruht. Ihr
gegenüber behauptet die Charakteristik, die auf Analogien zum Außen-
leben begründet ist, nur eine sehr zweite Rolle, und überall mehr im
Komischen als im Tragischen. Von der Oper aus ging diese Enthal-
tung von tonmalerischer, tonsymbolischer und gefühlsbezeichnender
Charakteristik auf die Kirchenmusik über, auch auf die Passionen und
Oratorien. Welch ein Unterschied etwa in der Anlage zwischen den
Passionen Bachs und Orauns »Tod Jesu«! Man lese die einschlägigen
Abschnitte in Kretzschmars Führer (II, 1), um zu sehen, wie stark
diese Art des Bezeichnens auch in der kirchlichen Musik nachläßt.
Indessen hat die Tonmalerei für sich eine gewisse Bedeutung be-
hauptet; sie nahm sogar zeitweilig, von Bendas Melodramen aus,
mit Haydns Schöpfung« und »Jahreszeiten« einen gewissen Auf-
schwung. Aber alles in allem genommen war die Zeit der Tonmalerei
und vor allem die der Tonsymbolik vorüber. Sie haben in Schütz'
und Bachs Werken ihre Klassizität und ihren Höhepunkt erreicht.
IH Diese Ausführungen erklären, daß der Beispiele für die Tonsym-
'^bolik und insbesondere selbst für die so stark verbreitete, so tief in
unser Bewußtsein verankerte Vorstellung: hoch-tief, in der neueren
Vokalmusik nicht allzu viele sind. Es gehören hierher Beethovens
»Ihr stürzt nieder, Millionen« und »Über Sternen muß er wohnen«.
In Schuberts Liede »Letzte Hoffnung« (Winterreise Nr. 15) steht eine
feine und ergreifende auf Tonmalerei basierte Verdeutlichung des Ab-
fallens des letzten Blattes vom Baume als das Symbol des trostlosen
Unterganges auch der letzten Hoffnung. Dann finden sich feine Züge
in Rob. Schumanns »Hebräischen Gesängen«. Ferner wäre anzumerken
die Skala in den Faustszenen »Wer immer strebend sich bemüht«.
Voll tiefster Symbolik ist, den Worten Goethes angeschlossen, der
dritte Teil dieser Szenen: Fausts Verklärung. Für die Gesänge des
Pater Ecstaticus deutet sich die Begleitung aus der Vorstellung des
Auf- und Niederschwebens als Symbol der Verklärung.
Wir verlassen nun das Gebiet der tonmalerischen Symbolik,
und wenden uns derjenigen zu, die sich ausschließlich allge-
meiner und freier Charakteristik bedient, ohne Analogien
anzurufen. Ihre Eigenart im Schaffensakt wie in der Apperzeption ist
bereits behandelt worden. Daß die Musik nun die Fähigkeit in der
Tat besitzt, auch ohne jede Analogie, auf der die bisher behandelten
symbolischen Bildungen beruhten, ein Abstraktes zu veranschaulichen,
ja selbst einen Gedanken, dessen ist die Geschichte der Musik Beweis
^^ und die Bachs vorzüglich. Ästhetisch stehen wir hier allerdings vor
^keinem nicht minder dichten Vorgange, wie dem, der uns den Einblick in
^B die Beziehungen des Sinnlich-Schönen zum Charakteristischen verwehrte.
16 HUGO GOLDSCHMIDT.
Ebensowenig wie verstandesmäßig erfaßt und in Worten ausge-
drückt werden kann, warum diese oder jene melodische Phrase dieses
oder jenes Gefühl gut bezeichnet, ebensowenig wie jemand sagen kann,
warum die Motive Wagners das Gefühlsleben seiner Gestalten so
plastisch eröffnen, ebensowenig kann intellektuell erfaßt und durch die
Sprache fixiert werden, warum gerade diese Tonwendung einem in
der Dichtung gegebenen Symbol entspricht. Wer will sagen, warum
der in ihrer Glanzzeit so eifrig um sie bemühte Telemann so weit
hinter Bach zurück blieb! Warum bezeichnen Bachs Tonbildungen
dort, wo die Dichtung vom Kreuzigen spricht, das Symbol der Er-
rettung des Menschengeschlechtes durch Jesus Christus so unend-
lich tiefer und kräftiger als die der Werke dieses Stils anderer Meister?
Aber kann die Wissenschaft auch hier nicht mehr aufdecken als die
gröberen Züge: Rhythmik, Tempo, Dynamik, Kolorit, bleiben ihr die
feineren Einzelheiten dieser Symbolik auch unzugänglich, sie kann ihre
Existenz nicht in Abrede stellen.
Bereits das Madrigal des 16. und die kirchliche Musik des 17. Jahr-
hunderts war in der freien analogiebaren Symbolik bis an die äußersten
Grenzen gegangen, die solchen musikalischen Äußerungen gezogen
sind, ja sie hatte sie sogar mehrfach bereits überschritten. Konsta-
tieren wir zunächst ein Vergehen dieser Art in Orlando di Lassos
Madrigalen '). Dieser Meister gibt hier seiner mit dem Alter zuneh-
menden Abneigung gegen die Antidiatonik dadurch Ausdruck, daß er
»chromatische Neubildungen und dergleichen«, wie die Folge H-Dur,
H-Moll, Fis-Moll, Cis-Moll, mit Vorliebe auf Worte wie cangiar l'usato,
nemico, error, distorto usw. anbringt. Es ist hier also der Gedanke
der Mißbilligung der chromatischen Schreibweise durch Töne versinn-
bildlicht. Dem Hörer ist zugemutet, diese chromatischen Neubildungen
als Verspottung der Chromatik und somit ihrer selbst anzusehen.
Gewiß der höchste Grad der Verstiegenheit, den die Tonsymbolik er-
reicht hat! Dieser grellen Spannung und Verkennung des musikalischen
Ausdrucksvermögens ließen sich noch andere derselben Epoche und
desselben Stils nachweisen. Begnügen wir uns zu zeigen, daß selbst
der größte deutsche Tonkünstler des 17. Jahrhunderts, Schütz, solche
Ausschreitungen der Vergangenheit übernommen und somit gut ge-
heißen hat. Der Versinnbildlichung des Gedankens »Denn Gottes
Güte währet ewiglich« durch hohe Trompetenklänge war bereits eine
Kühnheit besonderer Art, denn koloristische Mittel wurden damals
noch nicht in den Dienst der Charakteristik gestellt. In unserem Falle
') V Libro de Madrigali a. 5. v, und die Madrigali a, 4, 5 e, 6 von 1587. Vgl.
Sandberger, Einleitung zu Bd. II der Ges. Ausgabe S. XXIV.
TONSYMBOLIK.
17
sind die Bezieiiungen durchaus klare, und ihm stehen andere Steilen
zur Seite, gegen die Einwendungen nicht erhoben werden können.
Indessen kommen doch auch nicht wenige tonsymbolische Wendungen
vor, die einmal selbst unsere heutigen an ganz andere Dinge gewöhnte
Ohren verletzen, dann aber eine solche Unklarheit der verstandes-
mäßigen Beziehungen aufweisen, daß sie in Gefahr laufen, überhaupt
unverstanden zu bleiben. Im 127. Psalm ist der Gedanke »Wenn
der Herr die Stadt nicht bewacht, ist die Wache des Stadtwächters
vergeblich«, so in die Musik einbezogen, daß das Hörn über den
Vokalstimmen einigemale, den Rhythmus störend, einen einzelnen Ton
hineinbläst, die Stimmen sich aber in ihren Gängen nicht stören lassen.
Was besagen will: der Hornruf ist vergeblich *). Eine höchst bedenk-
liche, ja verwerfliche Bildung, da sie einmal auf Kosten der musika-
lischen Schönheit zustande gebracht ist, dann aber für den Hörer
intellektuell vollständig unverständlich ist. Ich kann in ihr nur eine
gefährliche Spielerei finden. Und schlimmer noch steht es um die-
jenigen Tonkomplexe, die überhaupt Kenntnisse voraussetzen, welche
außerhalb der Musik liegen. Geht doch Schütz einmal sogar so weit,
bei seinen Hörern ein Stück Musikgeschichte als bekannt anzu-
nehmen und zwar in dem zweiten Teile der »Symphoniae sacrae^
von 1647, in der Motette: »Freuet euch des Herrn«, zu den Worten
»Singt dem Herrn ein neues Lied«. Hier erscheint ganz uner-
wartet ein Tremolo der Geigen. Dieses war bekanntlich ein kurz
zuvor von Monteverdi erfundenes, und im Accompagnato angewandtes
Mittel, heftige Affekte zu schildern. Hier aber erscheint es nicht in
dieser Funktion, sondern den Gedanken zu veranschaulichen, daß
dem Herrn eben ein neues Lied gesungen werde. Einem neuen
Lied frommt aber eine neue Weise der Vertonung. Schütz setzt also
voraus, daß seine Hörer die Entstehungsgeschichte dieses Geigen-
tremolos kennen, und wissen, daß es eine neue Erfindung sei, und
überdies noch, daß sie sich dieser ihrer Wissenschaft in dem gegebenen
Moment erinnern. Nun könnte man einwenden, diese Beziehung der
Töne zum Text brauche ja gar nicht bemerkt zu werden. Das ist
aber nicht der Fall. Wird sie nicht bemerkt, so bleibt etwas Unver-
ständliches zurück. Das Tremolo ist nämlich als musikalisches Aus-
drucksmittel hier durchaus fehl am Platz und erhält seinen Sinn eben
erst durch seine symbolische Bedeutung. Sie ist also hier durch eine
Beugung des musikalischen Elementes, ja durch eine musikalische
Widersinnigkeit gewonnen. Ganz ähnlich hatte bereits früher die
') Vgl. Pirro »Schütz. S. 216, der, wie Leichtentritt Motette S. 346, diese Sym-
bolik nicht als Ausartung betrachtet.
Zeitschr. f. Ästhetik u. all^. Kunstwissenschaft. XV. 2
18 HUGO GOLDSCHMIDT.
Motette und das Madrigal des 16. Jahrhunderts den Be-
griff: neu durch Chromatik angedeutet, eben aus dem Gesichts-
punkte heraus, daß die Chromatik damals in der Musik etwas neues
war. Eine ähnlich verfehlte Symbolik enthält dann Luca Marenzios
bekanntes Madrigal »O voi, che sospirate* im zweiten Buche der
Madrigal a. 5. v. Der Dichter ruft den Tod an, er möge doch einmal
seine alte Weise ändern , er solle aufhören zu betrüben , befreien
solle er statt zu trennen. Dieser neuen Auffassung des Todes als
Befreier glaubt der Komponist nur beikommen zu können durch noch
nie gehörte Tonfolgen. In der Tat, die Modulationskette von C nach
E durch alle B-Tonarten, C, F, B, Es, As, Des, Ges (Fis), H bedeutet
ein bisher nicht geübtes Durchlaufen des Quintenzirkels. Aber die
Zumutung an den Hörer, er solle diese musikalische Neuerung auf
die Stelle im Text beziehen, die von der neuen Auffassung des Todes
spricht, ist abgeschmackt i). Ich erwähne diese seltsamen Anomalien,
weil sie, typisch auch noch für andere ähnliche Bildungen, einen Anhalt
dafür geben, daß der auch hier rückwärts gewendete Bach sich zu
Tonbildungen symbolischer Natur hat bestimmen lassen, die selbst
seine begeistertsten Verehrer als Ausschreitungen tu bezeichnen sich
gezwungen sehen.
Hatten wir schon für die an die To n maierei angeschlossene
Symbolik überall auf den stark betonten Gefühlsgehalt der ihr ent-
fallenden Tonverbindungen hinweisen können, so dürfen wir für die
jetzt in Frage stehende Symbolik geradezu behaupten, daß sie sich
aus dem gefühlsqualitativen Inhalt der Steile sozusagen loslöst. Bach
gibt, wo keine Analogien statthaben, den Gefühlsinhalt der Dichtung
noch viel intensiver als dort, wo Analogien herrschen. Wenn also
das Symbol lautet: festes Gottvertrauen, so geht er regelmäßig aus
von der innigen Freude, die dieses Gottvertrauen einschließt. Er
ergreift zuerst den Affekt der Freude, und zwar sehr häufig durch
Tonfolgen, die er regelmäßig gerade für diesen lAffekt bevorzugt. Die
französische Schule und Wolfrum sprechen von »Freudenmotiv«. Aus
den Tonreihen der Freude wächst dann die symbolische Akzidenz
hervor. Die Musik bedeutet dann festes Gottvertrauen. Wir wollen
nun diese Verquickung von Gefühlscharakteristik und Symbolik noch
an einigen Beispielen Bachscher Musik des näheren erläutern. Die
tiefe und weittragende Symbolik der Matthäuspassion ist weit besser
als von den Franzosen von Heuß^) in den Einzelheiten aufgedeckt
und besprochen worden. Man braucht sich seinen Auslegungen nicht
') Vgl. Kroyer a. a. O. S. 136.
") Matthäuspassion.
TONSYMBÜLIK. IQ
durchweg anzuschließen und wird sie doch als durchweg geistreich
und anregend bezeichnen. Aber auch Heuß betont die tonmalerische
Qualität der Bachschen Tonphrase im allgemeinen und ihre symbo-
lische im besondern doch zu stark, so daß sich schließlich der Ein-
druck auftut, sie sei nichts anderes und nichts besseres, als eine geist-
reiche Interpretation des Textes und seines symbolischen Inhaltes, ihr
gefühlsqualitativer Gehalt aber eine untergeordnete Nebensache. Ich
bin sicher, daß Heuß diesen ebenso gut einzuschätzen weiß wie sein
Lehrer und Meister Kretzschmar. Dafür sprechen mehrfache Äuße-
rungen, über das Buch verbreitet, so wenn er beispielsweise die wie
überall tiefgründige Ausdeutung des Schlußchores des ersten Teiles
des Werkes mit den Worten schließt: >Doch genug. Zuletzt ist es
am besten, man läßt diesen herrlichen Chor ganz rein auf sich
wirken.« Oder wenn er gegen die französische Schematisierung der
Themenbehandlung Bachs angeht oder auf einzelne Schönheiten und
ihren gefühlsmäßigen Inhalt hinweist. Aber er tut das eben leider
nicht überall dort, wo es am Platze, und er spricht vielfach ausschließ-
lich von dem deskriptiven Elemente, als ob eben nur dieses, nicht
aber auch gleichzeitig ein gefühlsqualitatives vorläge. Dem gegenüber
möchte ich betonen : es gibt keine charakterisierende und keine
symbolisierende Musik Bachs, die nicht gleichzeitig als eine
gefühlsmäßige erfunden ist. Was oben von der der Tonmalerei
angeschlossenen Symbolik nachgewiesen wurde, daß sie nämlich auch
eine gefühlsinhaltliche ist, das gilt auch für die auf analogieloser Cha-
rakteristik ruhende Symbolik, von der wir jetzt handeln. Auch ihre
Tonkomplexe sind in erster Linie Gefühlsträger. Damh sei nicht in
Abrede gestellt, daß nicht die symbolisierende Zweckbestimmung hie
und da überwiegt. Gewiß sind solche Fälle nachweisbar, wie wir so-
gleich erfahren werden. Aber nirgends ist die Gefühlsqualität zurück-
gedrängt oder gar ganz aufgehoben. Eines der wichtigsten Symbole
der Matthäuspassion ist das der Einsetzung des Abendmahls.
Bachs Phantasie, sowie sie gerade in diesem Werk vorzugsweise von
sichtbaren Vorgängen der Passionsgeschichte bestimmt wurde, so daß
man es als dem Drama angenähert betrachtet, konnte sich hier, an
diesem »inhaltlichen Höhepunkt«, nicht damit begnügen, durch eine
lediglich gefühlsgesättigte Musik zu wirken, oder sich gar auf die
Halbmusik des Secco zurückzuziehen, wie das viele andere Kompo-
nisten vor und nach ihm getan haben. Es lag in Bachs Eigenart,
daß er auch hier die Grenzen der Musik sehr weit zog, daß er sie
tief in die Symbolik hineinführte, wie sie der Passionstext enthält. Er
wollte die Sendung des Gottessohnes zur Erlösung des Menschen-
geschlechtes in Tönen symbolisieren und gleichzeitig die Ausbreitung
20 HUGO GOLDSCHMIDT.
des Glaubens über die ganze Welt. Er hat das für dieses Arioso in
der wunderbarsten Weise erreicht durch die Einstellung und thema-
tische Verwendung zweier Themen, von denen das erste in einem
aufsteigenden Septimenakkord besteht:
^1^
^
das ist das Blut des neu - en Tes - ta - ments.
das zweite, noch stolzer, auf den Dreiklangsschritten des Dur-Akkordes
der ersten Stufe beruht:
8.
:^:
i:
:i3r
ich wer- de von nun an nicht mehr
Ferner entfällt den Worten »Trinket alle daraus« eine Tonbewegung
(Nr. 9), die durch alle Stimmen bis in den Baß wandert und schließ-
lich das ganze Arioso so erfüllt, daß die Analogie zwischen der Ver-
breitung der Tonformel über das Stück und derjenigen des Glaubens
über die ganze Welt auftaucht. Das erste Motiv, das der Dreiklang-
schritte, gehört der freien Charakteristik an, ist durch kein Bild einge-
geben. Dieses dagegen beruht auf einer ganz leichten tonmale-
rischen Inspiration, die aber vom Hörer kaum bemerkt wird. Das
Thema (Nr. 9) ist auf die Vorstellung der Fortbewegung, des Sich-
Verbreitens zurückzuführen. Wir haben es hier hauptsächlich mit
jenem Thema zu tun: worin beruht seine symbolische Kraft? Die
Dreiklangschritte aller Tonstufen, besonders aber der ersten, gelten
dem 17. Jahrhundert bereits als der Ausdruck eines besonders Bedeu-
tungsvollen, Großen, Wichtigen. Die venezianische sowie die römi-
sche Oper^) verwenden sie in diesem Sinne. Auch Bach selbst
symbolisiert in den Kantaten wiederholt mit Dreiklangschritten der
Singstimme den Begriff der Größe, der Macht, des Stolzes, und kombi-
niert ihm das Gefühl des Trostes und Vertrauens-). Hier aber ge-
nügt diese Eigenschaft des Themenbaus als eines Großen, Stolzen
allein noch nicht, um zu erklären, worin seine symbolische Kraft be-
steht. Diese erklärt sich vielmehr mit aus dem Gefühlsinhalt des Ge-
samtpassus. Heuß ") meint, Bach habe hier das Rezitativ verlassen und
zum Arioso gegriffen, weil er bekunden wollte, daß »der Musiker bei
') Vgl. Kretzschmar, Die venezianische Oper, Vierteljahrsschr. f. Musikwissen-
schaft 1892, und meinen Aufsatz »Cavalli«: in den Monatsheften für Musikgesch.
1893, ferner meine Studien zur Gesch. der ital. Oper Bd. I. Offenbar liegt hier
eine Nachwirkung der dem Mittelalter geläufigen Symbolik der Zahlen 7 und 10 vor.
Siehe Abert, Die Musikanschauung des Mittelalters usw. S. 105 und 114 ff.
"■) Vgl. Pirro a. a. O. S. 50 ff.
3) A. a. O. S. 66.
TONSYMBOLIK.
21
Stellen, die übersinnlich großartige Gefühle und Vorstellungen wecken
sollen, zu den eigensten Mitteln der Musik« greife. Ausgezeichnet,
wenn man unter »eigensten Mitteln« Oestaltqualität versteht, eine
innigste Verbindung von Sinnlich-Schönem und Charakteristischem,
eine gefühlserfüllte Musik. Sie, die kein Wort und keine Sprache er-
klären kann, sie ist auch ein wesentliches Element der Symbolik.
Diese Musik gelangt zu dem Begriff der Oottesgesandtschaft Christi
und der Weltreligion, indem sie uns in sein Inneres blicken, und die
Vorgänge des Augenblicks fühlen läßt, wo er das Wort der Ein-
setzung an die Jünger richtet. Gehoben von der Größe seiner Mission
richtet sich der Heiland stolz auf, und sieht seherisch in die weite
Ferne. Und trotz alledem: welche Demut, welche Milde! Die Musik
ergreift mit jenem Motiv das Gefühl des seherischen Stolzes. Auch das
zweite Motiv (Nr. 9), das der Verbreitung zur Weltreligion, ist gefühls-
erfüllt, kann man ihm auch keinen bestimmten Affekt zusprechen,
wie dem anderen das des seherischen Stolzes, so wirkt es doch im
Zusammenhange und Flusse des Ganzen gefühlsmäßig. Freilich über-
ragt seine Bestimmung als symbolisches Motiv den gefühlsinhaltlichen
Wert, und sogar in solchem Grade, daß es ohne das Verstehen seiner
geistigen Beziehung zum Symbol des Bibelwortes überhaupt nicht
recht verständlich ist. Hier liegt eine der Stellen vor, wo eine rein
gefühlsmäßige Apperzeption unzulänglich bleibt und ihre Ergänzung
finden muß durch das Verstehen der symbolischen Funktion. Gleich
der Anfang:
m
E
-^-#-
X^PX
#=i=
-r^=V-
it:
+~i— < — I —
-t — I — i — f
Trin - ket al le da - raus
hätte wohl anders gelautet, wenn er nicht eben symbolisch gemeint
war, nicht inspiriert wäre von der Vorstellung des Sich-Verbreitens,
des Fließens. Rein tonsinnlich angesehen ist das Motiv, hier wie in
den Wiederanführungen, nicht eben bedeutend. Wer also seine symbo-
lische Funktion übersieht, wird sich wundern, wie Bach gerade zu
dieser Bewegung gekommen ist. Daß beide Themen in dem ange-
gebenen Sinne aufgefaßt werden sollen, erhellt überdies aus ihrer
Wiederanführung, dort wo der Text auf dieselben Symbole wieder
zurückgreift. So erscheint das Motiv des seherischen Stolzes und der
Sendung Christi als Erlöser dort, wo der Sopran auf die Frage Pilati:
»was hat er denn Übles getan?« antwortet: >er hat uns allen wohl
getan«, die Erscheinung und das Wirken des Herrn zu bezeichnen ').
In gleicher Eigenschaft steht es im Basse der Arie »Sehet, Jesus hat
') Eulenburg S. 293; Oes. Ausg. S. 193; Heuß a. a. O. S. 128-129.
22 HUGO GOLDSCHMIDT.
die Hand uns zu fassen ausgespannt« i). Es ist auch hier frei cha-
rai<terisierend und symbolisch zugleich und besagt, daß der Gekreuzigte
die Menschheit zu erlösen ihr die Hand hinhält, die sie nur zu er-
greifen brauche, der Erlösung teilhaftig zu werden. Eine tonmale-
rische Bezeichnung der ausgestreckten Arme, die Heuß in dieser
Wendung des Motivs
usw.
erkennen will, kann ich in ihr nicht finden. Man müßte dann auch
für ihre erste Anführung in der Abendmahlsszene an Tonmalerei
denken, was bisher noch niemandem beigefallen ist. Der Text will
nichts anderes geben, als ein Symbol. Daß die Tochter Zion auf eine
Veränderung der körperlichen Stellung des Gekreuzigten hindeutet,
ist durch nichts begründet, und selbst wenn wir annehmen, der Dichter
habe an ähnliches gedacht, und Bach ebenfalls, so hat doch sein Fein-
gefühl diese Andeutung musikalisch einzubeziehen wohl vermieden.
Hier an dieser Stelle kann allein die Symbolik herrschen. Die Ton-
malerei eines äußerlichen Vorganges würde die Erhabenheit der Be-
trachtungen gefährden. In der Schlußszene, und nach der Kreuzes-
abnahme, in dem berühmten Arioso >Am Abend, da es kühle
war« 2) und im Schlußchor ä), mehrfach im Baß, wird die Umkeh-
rung des Motives, in der abwärtsgerichteten Bewegung, der Stim-
mung zum Ausdruck, welche die Dichtung mit den Worten gibt:
»Sein Leichnam kommt zur Ruh«. Eine Beziehung zu den korrespon-
dierenden aufsteigenden Schritten des Einsetzungsmotives, die Heuß
behauptet, will ich nicht in Abrede stellen. Man vergleiche:
11. ^ 12. k^ .
W^^^^^^l usw. und PlEe^
Das ist das Blut Sein Leichnam kommt zur Ruh
Aber das aufsteigende Motiv war symbolisch und gefühlserfüllt, das
absteigende hingegen scheint mir lediglich der Gefühlssphäre zuge-
hörig, und nicht wie Heuß meint, auf dasselbe Symbol hinzuweisen.
Es geht doch wohl nicht an, die auf- und absteigende Formel auf
dasselbe Symbol zu beziehen; dagegen ist es durchaus natürlich, den
Gefühlsgehalt beider Motive als einen gleichen oder doch ähnlichen
anzunehmen. Dort war es die in aller Größe und Kraft wirkende
Milde des Herrn, die den Gefühlsgehalt ausmachte, hier herrscht die
OJEulenburg S. 351 ; Ges. Ausg. S. 234.
4 Eulenburg S. 368; Qes. Ausg. S. 251.
") Ebenda S. 399; Ges. Ausg. S. 272.
TONSYMBOLIK.
23
mit Trauer gemischte Befriedigung um die Ruhe, in die der Herr ein-
gegangen. »O schöne Zeit! O Abendstunde!«
Ganz ähnliche Beziehungen zwischen Oefühlsgehalt und Symbolik
herrschen in einer Reihe wichtiger und viel verwendeter Motive der
Bachschen Voi<aimusik. Da ist zunächst dasjenige, das man gern mit
Jesusmotiv bezeichnet. Es erscheint allemal dort wo von Jesu
Wirken die Rede ist. Es sind die bekannten in Sekunden ab- oder auf-
steigendcnDuolen:
oder
li, r n 1^
Diese Be-
wegungen sind gewissermaßen unmittelbar aus dem Gefühlsleben des
Heilandes herausgehoben. Heuß ') spricht die Milde als den Grund-
zug aller dieser Themen an, ich möchte hinzufügen die Güte, die
Liebe überhaupt. Nur die rhythmische Gestaltung des Motivs ist
festgelegt, die klangliche aber eine so freie, daß sowohl die Gefühls-
gehalte nuanciert als auch die symbolischen Funktionen ungezwungen
eingefügt werden können. Das Motiv besitzt eine große Elastizität.
Ohne den Grundzug seines gefühlsinhaltlichen Charakters aufzugeben,
kann es einer Reihe von Schattierungen desselben Gefühls gerecht
werden, und damit auch mehr als einem Gedanken, mehr als einem
Sinn symbolisch entsprechen. Dort wo die Bewegung ganz langsam,
kontinuierlich, ohne jede Rückung ansteigt oder sich herabsenkt, dort
wo die Schlußnote der ersten und die Anfangsnote der zweiten Duole
auf gleicher Tonstufe bleiben: i^ fjjj. J-JJ*1 iS da ist die
Beziehung zum Begriff des göttlichen Erbarmens und der Erlösung be-
sonders klar gegeben. In dem Arioso der Matthäuspassion »Sehet
Jesus hat die Hand uns zu fassen ausgespannt«, dessen soeben
Erwähnung geschah, fällt das Motiv überdies den Worten: Erbarmen
und Erlösung zu ^). Ein Schluß von diesen Wendungen auf ähnliche,
an anderer Stelle, ist nicht nur zulässig, sondern geradezu zwingend.
In der Arie: »Mache dich mein Herze rein« derselben Passion ist
die Verwendung eine besonders schöne, und als Symbol leichtfaßliche,
bei den Worten: »Laß Jesum ein«. Bachs Musik, ihres Wesens sich
bewußt, nimmt also ihren Ausgang vom Gefühl, vom Glücksgefühl
des gläubigen Christen, der Jesum in sein Herz eingelassen hat, vom
Gefühl des Friedens und der Liebe zugleich. Von diesem Gefühl aus
auf das Symbol der göttlichen Gnade zu schließen, die sich zum
menschlichen Herzen herabsenkt, bedarf es nur einer leichten und
naheliegenden Verstandesoperation. Leichte Nuancierungen der Be-
') A. a. O. S. 130.
«) Eulenburg S. 353; Oes. Ausg. S. 234; Heuß S. 148.
24 HUGO GOLDSCHMIDT.
Ziehungen des Oefühlsgehaltes zum Symbolischen ergeben sich gerade
für unser Motiv vermöge seiner Biegsamkeit. So ist ihm dort, wo
es zum ersten Male in der Matthäuspassion erklingt, in der Antwort
Jesu auf Judas' Frage'), die Charakteristik der Liebe des Herrn, die
auch dem Verräter vergibt, maßgeblich, also die eines Gefühls. Über
dieses hinaus besteht aber eine symbolische Andeutung des Gedankens,
daß die göttliche Gnade auch dem Feinde verzeiht. In dem Duett
nach der Gefangennahme des Herrn: »So ist mein Jesus nun ge-
fangen«*) ist unser Thema vor allem Gefühlsinkarnation, und zwar
Inkarnation des Gefühls des Mitleids seiner Anhänger, die sich zu-
nächst in den gebundenen Gängen der Solostimmen und der kurzen
Chorrufe bezeugt hatte, dann aber bei den Worten: »Mond und
Licht ist vor Schmerzen untergangen«, also für den Höhepunkt des
Affektes, die uns bekannten Duolen benutzt. Die weiche, wehmütige
Stimmung geht mehrfach durch die herbe Harmonie in scharfen
Schmerz über, der sich alsdann in der Musik zu den Worten: ^^Sie
führen ihn, er ist gebunden« noch höher steigert. Symbolik hat Bach
wohl auch hier beabsichtigt, aber doch wohl erst in zweiter Reihe.
Er hat aber doch immerhin mit diesem Thema versinnbildlicht, daß es
Gottes Sohn ist, den die blinde Menschheit verkennt. Anders ist die
Anführung unseres Motives als Aufwärts bewegung der Streicher am
Schlüsse des Mesure: »In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern
an mir«; eine vor allem symbolisch gemeinte^). Die Worte: >Wann
ich aber auferstehe« lassen keinen Zweifel, daß Jesus als Herrschef
der Welt, wie Heuß *) meint, hingestellt ist, und mit ihm der Gedanke
des Aufstieges seiner Lehre zur Weltreligion. Das Tiefsinnige, Wunder-
same besteht darin, daß den stolz anstrebenden Tönen die milde
Rhythmik des Jesusmotivs vermähH ist und damit das ihm eigenste
Gefühl der Milde und alles umfassenden Liebe. Symbolisch bedeutet
das: Christi Religion wird die Weh gewinnen durch Milde und Güte.
Die großartigste Verquickung von Gefühlscharakteristik mit Symbolik
hat aber Bach im Einleitungschor zur Johannespassion: »Herr
unser Herrscher« niedergelegt. Kretzschmar ^) bezeichnet ihn als eines
der »eigentümlichsten und gewaltigsten Karfreitagsgebilde«. Sein
Hauptreiz beruht in dem restlosen Aufgehen der gefühlsmäßigen und
symbolischen Elemente im ganzen. Kretzschmar hat den schmerz-
lichen Grundzug dieses Preises des Herrschers, »dessen Ruhm in
') Eulenburg S. 79; Ges. Ausg. S. 44.
') Eulenburg S. 138; Ges. Ausg. S. 88.
ä) Eulenburg S. 89; Ges. Ausg. S. 50.
<) A. a. O. S. 72.
5) Führer 11, 1 S. 71.
TONSYMBOLIK. 25
allen Landen herrlich ist«, treffend hervorgehoben. Er ist nicht nur
in den klagenden Wendungen der Flöten und Oboen niedergelegt,
sondern bestimmt auch die anderen Themen und ihre Verwendung.
Da erscheint jenes in Quarten und Synkopen bewegte Thema, das
bei Bach die Vorstellung der Kreuzigung in der Passion überhaupt
begleitet. Es ist auch hier symbolisch gedacht. Aber diese Ton-
folgen sind allein und für sich vollauf wirksam, ohne daß sie ver-
standesmäßig auf diesen Vorgang bezogen, also als Symbole erkannt
würden, den Schmerz der Gläubigen und Christi Leiden und Sterben
wiederzugeben. Und ähnlich verhält es sich mit den anderen Motiven.
Ohne leugnen zu wollen, daß auch ihnen die Absicht einer Versinn-
bildlichung beigemessen ist, muß doch eine so einseitige Bewertung
nach dieser Seite hin, wie sie Schweitzer beliebt, mit Entschiedenheit
zurückgewiesen werden. Liest man die unserem Chor gewidmeten
Seiten '), so hat man den Eindruck, daß die Apperzeption hier ganz
vorzugsweise intellektuell zustande komme, indem die symboli-
schen Beziehungen erkannt würden. Das ist aber eine Verkehrung
des wahren Verhältnisses. Auch Kretzschmar, nachdem er die Sym-
bolik des Kreuzigungsmotives erwähnt, verwahrt sich, scheint mir
wenigstens, gegen die Unterstellung, daß diese Symbolik irgendwie
den künstlerischen Wert ausmache. Als Kunstwerk betrachtet ist ihm
der Prolog der Johannespassion »eine der großartigsten Leistungen«.
Ich möchte hinzufügen, als gefühlserfülltes Kunstwerk. Im ein-
zelnen hat Kretzschmar übrigens der symbolischen Beziehungen doch
zu wenige anerkannt. Ich erkenne, hierin mit Schweitzer einig, in den
wogenden Sechzehnteilen der Violinen:
die symbolische Andeutung der göttlichen Natur Christi und seiner
Mission. Wenn dort, wo es später heißt: »Zeige uns, daß du der
wahre Sohn Gottes bist auch in der größten Niedrigkeit* die Ton-
figuren von den Violinen in die Bässe hinabsinken.
14.
ii^^^EESSE^^
so beruht diese, von Kretzschmar zugegebene Versinnbildlichung der
Niedrigkeit, auf der Verknüpfung des Gedankens der Göttlichkeit
Christi mit den oben zitierten Violinwendungen (Beispiel Nr. 13). Be-
deutete jene in sich nichts, so wäre auch dieses Sinken aus den Vio-
linen in den Baß symbolbar. Kretzschmar müßte also, wenn er die
') A. a. O. S. 256 ff.
26 HUGO GOLDSCHMIDT.
Symbolisierung des Begriffes: Niedrigkeit zugesteht, auch den wogen-
den Formein der Violine symbolische Eigenschaft zuerkennen. Es ist
übrigens ein, so weit ich übersehe, vereinzelt dastehender Fall, daß
an eine symbolische Tonqualifikation noch eine zweite lediglich durch
die Tonlagenveränderung angeknüpft wird. Die Verstandesprozesse,
die hier vorausgesetzt werden, sind ziemlich verwickelte und ich
fürchte, daß sie sich nur im Kenner, nicht aber im naiven Hörer voll-
ziehen werden. Nach Schweitzers Auffassung blieben dem armen
Hörer dann nur die durch Anschauung vermittelten sinnlich schönen
Tonfolgen, da sie — für ihn — keinen Qefühlsgehalt besitzen. Schließ-
iich muß ich Schweitzer zustimmen, wenn er in dem Orgelpunkte
auf O Symbolik wittert. Ob er aber gerade den Gedanken der Un-
endlichkeit deckt, scheint mir nicht ganz sicher.
Die Tonsymbolik der Kantaten Bachs beruht auf einer Be-
handlung, die etwa der des Jesusmotivs in der Passion entspricht.
Wir wissen aus den Forschungen Schweitzers und Pirros, daß Bach
hier wie in den Choralbearbeitungen denselben Oefühlsvorgängen
ähnliche Tonfolgen sich entsprechen läßt, die in ihren rhyth-
mischen oder klanglichen Orundzügen immer wiederkehren, aber eben
nur in den Orundzügen. Von einer durchaus kenntlichen und für
alle Fälle festgelegten Bezeichnung von Gefühlen oder gar Vorstel-
lungen und Begriffen ist keine Rede. Diese Tonformeln in den
Kantaten — von den tonmalerischen abgesehen, die bereits besprochen
worden — sind durchaus aus dem Gefühl heraus geschaffen,
den die textliche Unterlage oder in den Choralbearbeitungen der
Choral und das Kirchenlied, an die Hand geben. Bach wäre kein
Künstler, sondern ein Handwerker, wenn er nicht eben aus einer
seelischen Bewegung heraus schüfe. Bei ihm wie bei jedem wahren
Künstler ist die Phantasie von einer seelischen Erregung in Tätigkeit
gesetzt. In der absoluten Musik ist diese Erregung bereits in künstle-
rische Scheinhaftigkeit übergegangen, wenn die Phantasie zu arbeiten
beginnt. Die realen Gefühle bleiben außerhalb des Kunstschaffens.
In den einer Dichtung zufallenden Tonäußerungen gehört die psy-
chische Erregung von vornherein der Scheinhaftigkeit an. Diese Ein-
drücke der Dichtung auf die Musikphantasie entbehren jeder Realität.
Sie sind von vornherein scheinhafte, nicht reale. Die Schwäche der
Programmmusik beruht darin, daß hier die Gefühlsprozesse keine
künstlerische Darstellung erfahren haben, bevor sie in die Musik
eingegangen sind. Auch Bach kann außerhalb der absoluten Musik
nur aus dem ästhetischen Gefühl heraus geschaffen haben, das ihm
die Dichtung zuführte. Indessen führen, wie ich oben erwähnte, die
poetischen Vorlagen der Bachschen Kirchenmusikdichtung, wie Bibel-
TONSYMBOLIK, 27
text, einen starken außerästhetischen Gehalt, namenth'ch religiöse
Gefühle. Es wurde bereits oben erörtert, daß es Bach vor allem darauf
ankommen mußte, diese zu veranschaulichen, und wir haben gezeigt,
wie stark dieses Bedürfnis seinen Stil bestimmt hat. Dasselbe Be-
dürfnis der lebhaften Veranschaulichung dieser religiösen Gefühle hat
auch seine eigentliche Kompositionstechnik nach der Seite hin
beeinflußt, daß er, um sich seinem Hörerkreis verständlich zu machen,
für dieselben Gefühlskomplexe oder dieselben Versinnbildlichungen
immer wieder ähnlich gestaltete Tonformeln anführt. Man er-
wäge, daß der Hörerkreis Bachs in der ganz überwiegenden Majorität
aus seinen Parochialen bestand, und einigen Leipziger Kunstfreunden
anderer Parochien, daß er es also im wesentlichen mit immer den-
selben Personen zu tun hatte. Da lag es denn nahe, diese Veranschau-
lichungen religiöser oder seelischer und symbolischer Natur an ihnen
bereits in diesem Sinne bekannte Motive anzuknüpfen, also bestimmten
Gefühlen und Gedanken immer wieder mit ähnlichen Tonkomplexen
nachzugehen. Der nichtmusikalische oder schwach musikalisch Be-
gabte, dem die Eigenkraft des musikalischen Melos zu wenig sagte,
konnte sich so vermöge einer verstandesmäßigen Operation — ähn-
lich wie für gewisse Leitmotive der Wagnerschen Musikdramen —
die Beziehungen der Töne zu den Worten leichter vermitteln. Schon
diese Erwägungen lassen die nicht zu leugnende gleichmäßige Wieder-
kehr ähnlicher Tongebilde für verwandte Gefühlsvorgänge und für
dem Sinne nach verwandte Symbole verstehen. Dieser, den außer-
ästhetischen Veranlassungen verdankten Handhabung der Kompo-
sitionstechnik gesellen sich aber noch weitere Umstände, die sie in
dieselbe Richtung weisen. Man denke zunächst an den beschränkten
Umfang des geistigen Inhalts und der Gefühlskomplexe der Kantaten-
dichtungen. Es sind im wesentlichen immer ähnliche Vorstellungen
und Gefühlsbewegungen, denen der Dichter nachgeht. Es kann daher
nicht erstaunen, wenn selbst ein so genialer Musiker wie Bach in
seiner Motivbildung einer gewissen Gleichförmigkeit verfiel. Wie die
Meister damals sich kein Gewissen daraus machten, fremdes thema-
tisches Gut zu entlehnen und ihrem Zweck dienstbar zu machen, so
trugen sie auch kein Bedenken, sich selbst zu wiederholen. Hatte
Bach einmal eine Formel für besonders gefühlsbezeichnend erkannt,
so dünkte es ihm richtig, sie auch immer wieder in mehr oder weniger
starker Umbildung in dieser Funktion einzustellen. Endlich: die kom-
positorische Arbeit Bachs im Dienste der Kirche war eine so große,
daß er sie ohne jene Technik gar nicht hätte leisten können. Wir
können also für seine Motivbehandlung in den Kantaten im wesent-
lichen folgende Gründe anführen, die jene Ähnlichkeit erklären: Einmal
28 HUGO GOLDSCHMIDT.
das außerästhetische Bestreben, den religiösen Inhalt der Worte zu
möglichst kräftiger Anschaulichkeit zu bringen und auch dem musika-
lischen Unveranlagten zuzuführen. Dann aber die Gleichmäßigkeit,
um nicht zu sagen Einförmigkeit der in die madrigalische Dich-
tung aufgenommenen Gefühlskomplexe und Symbole, die auch die
lebhafteste Phantasie zu einer gewissen Gleichförmigkeit des Themen-
baus hinführen mußte, endlich aber das Bedürfnis der Erleichterung
der technischen Herstellung dieser ungeheuren Musikproduktion. Mit
Matthesons und Chr. Krauses durch Konvention festzulegende
Musiksprache in dem Sinn, daß einem bestimmten Affekt oder einem
bestimmten Begriff eine bestimmte Tonfolge so entspreche, daß der
Hörer sie gewissermaßen ablesen könne'), hat Bachs Kompositions-
technik nichts gemein. Ferner ist auch hier in den Kantaten die Ein-
stellung der Motive in den Gesamtverlauf in solchem Grade entschei-
dend, daß diese musikalische Wiederholung der Motive den Genuß
selbst dann nicht stört, wenn mehrere Kantaten hintereinander gehört
werden, die auf ähnlich gebildeten Motiven beruhen. Die Einstellung
der Motive selbst ist bei Bach von solcher Mannigfaltigkeit und von
so reicher Abwechslung, daß eine Empfindung von Monotonie nie
aufkommt. IJberdies vergesse man nicht, daß Bachs Hörer ja nur
immer eine Kantate zu hören bekamen, und zwar immer eine auf den
Tag und seine kirchliche Bedeutung abzielende. Es ist endlich zu
bemerken, daß es sich in der Bachschen Themenbildung nur um
Ähnlichkeiten, um Grade der Ähnlichkeit handelt, niemals aber um
Wiederanführung von durchaus Gleichem. Niemals hat der Meister
eine charakterisierende Phrase für dasselbe Gefühl oder für denselben
Vorgang unverändert angewendet. Ich erinnere an die mannigfaltigen
Varianten des Jesusmotivs in der Matthäuspassion. So wie es dort
in immer anderer Gestalt erscheint, so bedeutet auch jede Wieder-
aufnahme dieses Motivs in den Kantaten eine Variante. Und diese
Umbildung ist überall eingegeben durch den Wunsch nach Charakte-
ristik. Die thematischen Elemente erfahren ihre Abwandlung aus zwei
Rücksichten, nämlich einmal aus der auf den besonderen Gefühls-
gehalt, dann aus derjenigen nach Versinnbildlichung eines Begriffes
oder Gedankens. Und zwar überwiegt auch hier bald diese, bald
jene Rücksicht. Aber Gefühlsinhalt führen sie alle, selbst dort,
wo der Text das Abstrakte hervorhebt. Das ist der Fall in den
Choralkantaten 97, 98 und 111, die das schlichte Vertrauen auf Gottes
Güte zum Hauptinhalt haben. Bach aber führt, diesen Begriff zu be-
zeichnen, die Bildung ein, die man in der neueren Literatur das
') Meine Musikästhetik des 18. Jahrhundert;; S. 64, 144, 148 und 149.
TONSYMBOLIK.
29
Thema der Freude zu nennen pflegt R| Rl und mit ihm das
freudige Gefühl des gläubigen Christen. Erst aus ihm löst sich
dann jenes Symbol ab. Und so kann man überall innerhalb dieser
Ähnlichkeitsthemen sehen, welche Einflüsse gefühlsmäßiger oder sym-
bolbezeichnender Art ihnen maßgebend waren.
Am klarsten nachweisbar sind die jeweiligen Gestaltungen des
Themas in ihren Beziehungen zum Text, dort, wo sein Charakteristi-
sches in erster Linie im Rhythmus liegt. Nehmen wir einmal die
Tonreihen, die Bach anwendet, wo es sich um ein besonders Feierliches
handelt. Er benutzt dann immer den Rhythmus: | "'i | i j "^ n
Aber was in ihm sich abspielt, ist recht Verschiedenes, abgestuft nach
dem Gefühls- und symbolischen Gehalt der Dichtung. Innige Freude
und lauter Jubel gesellt sich diesem feierlichen Rhythmus in der Arie
»Fürst des Lebens, starker Streiter« der Kantate »Der Himmel lacht,
die Erde jubilieret« (31 Vll, S. 35) und deutet gleichzeitig, versinnbild-
lichend, auf den »Fürst des Lebens« schon mit dem Hauptthema im
Baß:
15. Molto adagio
;^=e^E!EfeEj§
1 ' 1 M I 1 M
Dann ist in denselben feierlichen Rhythmus das Gefühl der Beseli-
gung von Christi Erscheinen auf Erden und durch dieses und über
dieses hinaus: die Versinnbildlichung der Göttlichkeit Christi hinein-
gebaut durch das nachstehende Motiv der Kantate »Himmelskönig, sei
willkommen« (182 XXXVII, S. 23).
Qniv. Adagio
16.
Violino
concertante
Dagegen errichtet sich auf demselben rhythmischen Untergrund eine
hochernste, feierliche Stimmung und eine prachtvolle Symbolik des
Begriffes: Ewigkeit des göttlichen Wortes in der ersten Bearbeitung
der Kantate »O Ewigkeit, du Donnerwort« (20 11, S. 293, erste Komposi-
tion, F-Dur).
17.
Violini I
i^^S^taq
*0-
Ganz besonders reich ist die Skala der Varianten der Gefühle und
der symbolischen Elemente, die an das rhythmische Motiv der Ruhe
anknüpft: ^ I | j | | in den Choralbearbeitungen wie in den Kantaten.
»»000 "
30 HUGO GOLDSCHMIDT.
Schweitzer ^) hat eine Reihe solcher Verknüpfungen nachgewiesen. In
den gleichen Rhythmus sind dann ferner Tonkombinationen eingelegt,
die erhebliche und sofort bemerkh'che Nuancen aufweisen. Die Nuance
in dem Duett der Kantate »Erschallet ihr Lieder« (172 XXXV, S. 62) bei
den Worten »Komm, laß mich nicht länger warten, komm du süßer
Himmelswind«
''■ feEeEgjgg^^^g^l^l
usw.
ist ganz Gefühl des Friedens, der Ruhe, und damit und darüber
hinaus, Versinnbildlichung der Todessehnsucht in der Vereinigung
der Seele mit Gott, diejenige in der Arie »Sei getrost« der Kan-
tate »Weinen, Klagen, Sorgen« (12 !!, S. 76) zu den Worten »Sei
getreu . . . nach dem Regen blüht der Segen« dagegen setzt dem Ge-
fühl der seelischen Ruhe und dem Gedanken der stillen Gottesergeben-
heit eine merkliche Nuance der Kraft, des festen Vertrauens, der Hoff-
nung hinzu:
g^lElJ^:
Die Farbe ist die gleiche wie die in jenem Thema der Kantate 172
(Nr. 18), aber doch merklich nuanciert. Zu diesem Verfahren des
Umbildens gehört auch die Bereicherung des thematischen Gehalts
durch Gänge und Passaggien im Dienste der Charakteristik. So weist
unser Ruhethema einen Einschlag freudiger Begeisterung auf in der
skalenreichen Bearbeitung des Baßthemas der Kantate »Lobe den Herrn
meine Seele« (143 XXX, S. 4Q). Sehr häufig kombiniert auch Bach zwei
Ähnlichkeitsthemen, wie das der Ruhe mit dem der Freude,
und zwar in der Absicht, einerseits das freudige Gefühl des gläubigen
Christen zu verstärktem Ausdruck zu bringen, das aus der ruhigen
Ergebenheit in den Willen Gottes und der Bereitschaft, zu ihm einzu-
gehen, entspringt, dann aber, um das Symbol der Allgüte Gottes
und der Liebe seines Sohnes noch sicherer zu treffen. So vereinigt
der erste Chor der Kantate »Gottlob, nun geht das Jahr zu Ende«
(28 V, 1, S. 247) das Freuden- und Ruhemotiv.
Neben diesen Motiven, die, wenn auch reich verändert, immer
wiederkehren, geht für denselben Gefühlskomplex und eine gleich-
gerichtete Symbolik noch zuweilen eine zweite Tonfigur nebenher.
So die Legatobindungen in vier Sechzehnteilen der Kantate >lhr Men-
schen rühmet Gottes Liebe« (167 XXXIII, S. 125) auf die Worte »Gnade
und Liebe
•) A. a. O. S. 378, 379.
TONSYMBOLIK.
3T
20.
ii§=Eg3g?]=E|2^i
usw.
oder die ähnliche Bindung in der Arie »Vergib Vater« der Kantate
»Bisher habt ihr nichts gebeten« (87 XX, S. 140)
hE^&J^:
'^m
oder die leichtwiegende Bewegung zweier Sechzehnteile im ersten
Chore der Kantate »Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe« (25
V, 1, S. 155) auf das Wort Friede.
22.
usw.
Schweitzer findet hier überall eine tonmaierische Grundlage, indem er
beide Typen als eine Nachahmung ruhiger Wellenbewegungen be-
trachtet. Für jene viernotigen (Nr. 17 und 20) sehe ich gar keine Be-
ziehung zu diesem Naturvorgang. Für diese (Nr. 21) könnte ich allen-
falls eine leichte tonmalerische Inspiration zugeben, die aber vom Hörer
gar nicht bemerkt, sondern nur vom Kenner durch Vergleich mit ähn-
lich lautenden Stellen festgestellt wird, für die der Text ein entspre-
chendes optisches Bild enthält'). Ich hatte bereits erwähnt, daß solche
Bildungen für den Hörer tatsächlich in das Gebiet der freien Charak-
teristik fallen, mögen sie in Wirklichkeit auch auf tonmalerischer In-
spiration beruhen, denn diese Inspiration hat eben greifbare ton-
malerische Gestalt nicht angenommen.
Das Motiv, das wir in den Passionen als das Jesusmotiv an-
gesprochen hatten, erscheint auch sehr häufig in den Kantaten als
Charakteristik des Schmerzes und zwar eines milden Schmerzes. Für
schärfere Schmerzgefühle greift Bach mit der vorangegangenen Genera-
tion auf Chromatik, übermäßige Intervalle, Sospiri, die sich im Schöße
der Motette und des Madrigals, später in Oper und Kantate zu kon-
ventionellen Ausdrucksmitteln in diesem Sinne herausgebildet hatten.
Das Motiv des milden Schmerzes hingegen ist jener Duolenrhythmus
des Jesusmotivs der Passionen. Nur sind hier der Nuancen mehr,,
und deshalb auch die musikalischen Varianten zahlreicher. Ungemein
reich tönt Bach den Grad des Schmerzes ab, indem er die klangliche
') Schweitzer a.a.O. S. 380 und 381. Er zieht die weltliche Kantate .Auf,
schmetternde Töne« und die Stelle »Die stille Pleiße spielt mit ihren kleinen Wellen«
an, wo die »kleinen Wellen der Pleiße« durch solche Bewegungen iMustriert sind.
32 HUGO GOLDSCHMIDT.
Bewegung bald für eine gefaßtere Stimmung in Sekundenschritte ver-
legt, dort, wo der Schmerz aber ein lebhafterer ist, in übermäßige Inter-
valle, vorzüglich Sekunden und Quarten. Den höchsten Grad des
schmerzlichen Leidens, der noch in diesen Duolenrhythmus eingegangen
ist, stellt wohl die Arie vor »Ächzen und erbärmlich Weinen« der
Kantate »Meine Seufzer, meine Tränen« (13 II, S. Q3). Hier tritt die
rhythmische Grundlage mit ihrer Betonung der Milde hinter der klang-
lichen zurück, die auf Angst und Sorge abgestimmt ist.
Eine ähnliche Bewandtnis hat es mit dem Freudenmotiv: Jj ',
J^ J. Die an dieses gebundenen Gefühle umfassen mehr die heitere
Genügsamkeit und freudige Zufriedenheit des gläubigen Christen, und
wiederum in reichster Nuancierung. Wo sie sich zur Ekstase stei-
gern, herrscht ein ganz freies Ausschweifen in phantastische Passaggien,
meist in den Oboen und Violinen i). Innerhalb der von diesem Rhyth-
mus beherrschten Tonkomplexe ist einmal die Rolle, die sie gegen-
über dem musikalischen Gesamtverlaufe einnehmen, eine variable, dann
aber ist die in sie selbst verlegte charakterisierende Kraft eine schwan-
kende. Was wir hier feststellen, das gilt auch mehr oder weniger für
alle anderen gefühlsmäßigen und symbolisch erfundenen Wendungen.
Schweitzer und Pirro begehen hier mehrfach Irrtümer. Sie sprechen
immer nur von der deskriptiven Qualität des Motivs und über-
sehen, oder wollen nicht sehen, daß ihm überall auch Gefühlsinhalt
beiwohnt. Das tritt besonders hervor, wie wir bereits feststellten, bei
den tonmalerischen Motiven, ebenso wieder bei denjenigen der- Ton-
symbolik. Dann aber ignorieren sie das Verhältnis des tonsymboli-
schen Motivs zum musikalischen Gesamtverlaufe. Von ihm ist noch
im folgenden zu handeln. Endlich betonen die Franzosen nicht ener-
gisch genug die Abstufungen der Intensität des Motivs selbst.
Betrachten wir zunächst die Behandlung unseres Freuden-
motivs in seiner von dem poetischen Gefühlsgehalt bestimmten
Intensität. Es ist überreich an Nuancen. Je lebhafter die Freude, desto
kräftiger und energischer die musikalische Bewegung. Man vergleiche
bei Schweitzer^) die Zusammenstellung der Bässe im Rhythmus des
Freudenmotivs. Sie lassen unser Prinzip ganz deutlich erkennen. Aber
noch mehr ist es die ganze Anlage d. h. die Bewegung desselben
Rhythmus in den anderen Stimmen. In der Arie »Erholet euch be-
trübte Stimmen« der Kantate »Ihr werdet weinen und heulen« (103
XXIII, S. 8Q) ist eine Fülle von freudig heiteren Bildungen in den
Rhythmus des Freudenmotivs hineingelegt. Schon das Ritornell mit
') Beispiele bei Schweitzer S. 293 ff.
-) A. a. O. S. 392 ff.
TONSYMBOLIK.
33
seinen kräftigen Dreii<langschritten nuanciert das Gefühl der Freude
nach der Seite der Energie hin (Nr. 22a). Dazu treten die kurzen,
mehrfach wiederhohen Aufsprünge in den Violinen und das Schmet-
tern des Tromba (22 b).
-r 1 I ' 1-* •-■I
— } — r^ * * — »-g
Oboi, Violini
23. und
Tromba (C)
Viola
und
Continuo
Oboi, Violini
und
Tromba (C)
Viola
und
Continuo
?&^
pE£^
a
i^^^m
EE
^
5^-
^^i^^
usw.
mw
±
H— •^-
tl^^^
Dieser Stimmung angeschlossen ist die Symbolisierung des Gott-
vertrauens. Den Höhepunkt erreicht das Ganze bei den Worten:
»Mein Jesus läßt sich wieder sehen«, wo die in das Freudenmotiv
gesenkten Töne noch durch jubilierende Koloraturen in der Sing-
stimme gehoben werden. Wichtiger noch ist die Bedeutung des
Motivs für den musikalischen Verlauf des Stückes, also die Be-
deutung, die ihm für das Gefühl der ruhigen Freude und das Symbol
des Gottvertrauens in der musikalischen Gesamtanlage zukommt. Da
tritt es denn bald stark hervor, geht aus dem Baß in die anderen
Stimmen über, und reißt sogar die Singstimme mit sich fort. Lehr-
reich ist hier auch der Eingangschor der Kantate »Nun kommt
der Heiden Heiland« (62 XVI, S. 21). Wo die Dichtung mehr
eine feierliche Lobpreisung des Herrn und seiner Güte aus-
spricht, die Freude etwas anderes ist als die des stillen, inneren Glücks,
also mehr ein Gefühl triumphierenden Stolzes, da gewinnt das schlichte
Freudenmotiv der inneren, ruhigen Glückseligkeit keine führende Be-
deutung und bleibt meist auf den Baß beschränkt. Das ist der Fall
in der Kantate »Meine Seele erhebt den Herrn«, deutsches Magnifikat
(10 1, S. 277) im ersten Chor »Meine Seele erhebt den Herrn«. Selbst
die Worte »Unser Jesus freuet sich« nehmen das Freudenmotiv nicht
auf. Den Baß nur beherrscht es völlig. Bezeichnend ist dann der
erste Chor der Kantate »Herr Gott, dich loben wir« (16 II, S. 175).
Er häh sich in seinem ersten Teil bis zu den Worten: >Herr Gott,
Zeitschr. f. Ästhetik u. Mg. Kunstwissenschaft. XV. 3
34 HUGO GOLDSCHMIDT.
wir danken dir« in der Stimmung einer innigen abgel<lärten Frömmig-
l<eit, die eine innere Glückseliglceit und erwärmende Freude aus sich
erzeugt. Hier bemächtigt sich das Freudenmotiv, das den Baß durch-
aus von Anfang an beherrscht hatte, schon vom neunten Takt an
auch der anderen Stimmen. Mit der zweiten Strophe »Dich Oott
Vater in Ewigkeit ehret die Welt weit und breit« erfolgt eine Um-
färbung des Gefühls der stillen, heiteren Freude, und dem festen Gott-
vertrauen gesellt sich die Vorstellung der Unterwerfung des Menschen
unter seine Allmacht. Hier herrscht das Erhabene und der Begriff
Ewigkeit. Da ziehen sich denn die Motive der Freude wieder ganz
in den Baß zurück und erscheinen nur ein einziges Mal wieder in den
Mittelstimmen. Und aus dem ekstasischen Schlußchore »Laßt uns
jauchzen« (S. 181) sind sie sogar völlig ausgeschaltet. Ebenso fein-
sinnig wie typisch für Bachs Verfahren ist die Behandlung des Duettes
»Wohl mir, Jesus ist gefunden, nun bin ich nicht mehr betrübt« in
der Kantate »Mein liebster Jesus ist verloren« (154 XXXIl, S. 75). Der
erste Teil gehört wieder der erbaulichen stillen Freude, Jesum gefun-
den zu haben. Daher ein Freudenmotiv im Baß, durchgehend, das auch
die Instrumentalstimmen, besonders hervortretend in den Takten 12
und 13 ergreift und im Takt 22 — 23 vermöge Nachahmung in der
Viola in engster Stimmführung auftritt. Der Mittelsatz entwickelt mit
den Worten: »Ich will dich mein Jesus nun nimmer mehr lassen, ich
will dich im Glauben ständig umfassen« aus jenem Gefühl stiller
Freude das Versprechen innigster Hingabe an ihn. Es dominiert in
ihm das Symbol der unbedingten Unterwerfung und Hingabe. Zwar
ist auch dieses Gefühl dem stillen Glückseligkeitsgefühl des ersten
Satzes nahe verwandt, aber das Symbol ist hier in der Dichtung
stärker betont. Darum setzt Bach das Freudenmotiv hier ab und be-
gnügt sich mit zwar auch gefühlsinhaltlichen, aber doch stark sym-
bolisierenden Tonkombinationen. Der Begriff des Umfassens ist noch
besonders in der Stimmführung des Soloaltes und Solotenors hervor-
gehoben, ja ich glaube fast, daß die Form des Duettes mit Rücksicht
auf die Symbolisierung dieses Begriffes gewählt wurde.
Wir haben schließlich noch diejenigen Tonformeln zu betrachten,
deren symbolische Funktion nur vermöge gewisser musikwissen-
schaftlicher Kenntnisse oder Vertrautheit mit der prak-
tischen Musik verstanden werden kann. Es war oben bereits einer
solchen Symbolik bei Schütz gedacht worden, die auf Vorgänge der
musikalischen Bestrebungen der jüngeren Vergangenheit so Bezug
nimmt, daß die Stelle ohne ihre Kenntnis unverständlich bleibt. Jenes
Tremolo hatte nur einen Sinn, wenn es als eine Neuerung, als neues
musikalisches Ausdrucksmittel erkannt wurde. Es besteht aber eia
I
TONSYMBOLIK. 35
Wesensunterschied zwischen diesem Verfahren Schützens und dem-
jenigen Bachs. Jene Tonkombinationen sind sinnlos, wenn das Symbol
nicht erkannt ist. Diejenigen Bachs aber behaupten auch ohne die
verstandesmäßige Apperzeption der symbolischen Funktion doch immer
noch ihren gefühlsmäßigen Wert. Bach ist also zwar hier dem 17. Jahr-
hundert angeschlossen, von seinen Ausschreitungen aber bewahrt, denn
seine symbolisch gemeinten Tonformeln sind durchaus Oestaltquali-
tät, also eine Verschmelzung von Gefühlsinhalt und charakterisieren-
der Kraft. Der Gedanke, daß jede Bitte an den Höchsten, an ihn ge-
richtet im Namen seines Sohnes, ihre notwendige Erfüllung finde,
erhält in der Kantate »Wahrlich, ich sage euch« (86 XX, 1, S. 121)
seinen Ausdruck durch eine fünfstimmige strenge Fuge von vier
Instrumenten und der Baßstimme. Der intellektuelle Prozeß besteht
hier in einem Schluß von der musikalischen Form auf den
geistigen Inhalt des Textes. Der Begriff der Notwendigkeit,
den dieser gibt, erhält seine Versinnbildlichung durch die Anwendung
einer musikalischen Form, die auf festen Gesetzen, auf musikalischer
Notwendigkeit beruht. Es ist also vorausgesetzt, daß der Hörer einmal
die musikalische Form als Fuge erkennt, dann aber auch den Schluß
zieht, daß der Komponist durch die Anwendung der Form auf eine
Notwendigkeit im außermusikalischen Leben habe hindeuten wollen.
Dem Hörer wird zugemutet, aus dem Erkennen der auf Notwendig-
keiten logisch errichteten Musikform auf den Begriff: Notwendigkeit
zu schließen. Das ist ein ziemlich fernliegender und komplizierter Ver-
standesakt, der sich nur in sehr wenigen Hörern vollziehen dürfte. Die
Sache hat aber noch eine andere Schwierigkeit. Daß die Form einer
Fuge, und zwar einer streng durchgeführten, vorliegt, kann doch
vom Hörer erst wahrgenommen werden, wenn sie bis zu Ende ge-
hört wurde. Die intellektuelle Inbeziehungsetzung des Begriffes der
Fugenform zum Begriff Notwendigkeit erfolgt also erst dann, wenn
es schon zu spät ist. Bis zum letzten Themeneinsatz weiß der Hörer
ja nicht, daß es sich um eine ganz strenge Fuge handelt. Er kann
den Schluß erst ziehen, wenn das Tonstück bereits zu Ende ist. Was
geschieht aber bis dahin? Die Töne sprechen für sich selbst. Ohne
bewußt zu charakterisieren entsprechen sie doch in ihrer Gesamt-
anlage dem inneren Gehalt der Dichtung, der Liebe der Gläubigen zu
Jesu Christ, dem freudigen Gefühle überhaupt, er werde erhöht werden,
wenn er in seinem Namen sich an Gott wende. Es liegt ein ähnliches
Verhältnis vor, wie in jenen tonmalerischen Inspirationen Schuberts,
die auch erst verstandesmäßig erfaßt werden können, wenn ein mehr
oder weniger großer Teil des Liedes schon vorüber ist. Daß Bach
selbst unsere Stelle symbolisch gemeint hat, halte ich mit Schweitzer
36 HUGO GOLDSCHMIDT.
für zweifellos. Aber ebenso klar ist es, daß auf diesem symbolischen
Hinweis ihr musikalischer Wert nicht beruhen kann. Denn einmal ist
der Verstandesprozeß ein so komplizierter, daß ihn nur ein sehr kleiner
Teil der Hörer überhaupt vollziehen wird, dann aber tritt er auch, wo
er statthat, so spät ein, daß nur ein Rückschluß auf bereits Gehörtes
und Verklungenes erfolgt. Daß während des Ablaufes des Stückes,
innerhalb seiner Apperzeption, eine verstandesmäßige Bezugnahme
auf das Symbol gar nicht statthaben kann, also der Schluß von der
Form auf den außermusikalischen Inhalt, auf den Begriff Notwendig-
keit, zu spät erfolgt, hat Schweitzer völlig übersehen i).
Die Form des Kanon hat regelmäßig keine poetische Bedeutung
und existiert nur als tonerfüllter Inhalt ^). Nur in wenigen Fällen unter-
legt ihr Bach eine ähnliche symbolische Bedeutung, wie sie die Fuge
im obigen Beispiel beansprucht. Die Kantate »Aus tiefer Not schrei
ich zu dir« (38 VII, S. 297) enthält ein Terzett, dessen erster Satz, den
Worten zugehörig »Wenn meine Trübsal als mit Ketten ein Unglück
an dem anderen hängt«, das ununterbrochene Unglück gefühlsmäßig
und den Begriff der Ketten als eine Folge von ganz gleichmäßigen
Gliedern symbolisch wiedergibt durch einen Kanon a. 3. v., übrigens
wie wir noch erfahren werden, in einem gewissen Gegensatz zur Ge-
samtstimmung. Einigermaßen seltsam ist der Kanon in der großen
Choralbearbeitung »Das sind die heiligen zehn Gebote«
(VI, S. IQ). Bach schildert hier zunächst die moralische Unordnung,
die dem Eriaß der zehn Gebote vorausging, durch eine bis zur Un-
schönheit gesteigerte Selbständigkeit der Führung der Stimmen, die
ohne Rücksicht aufeinander ihren Weg verfolgen. Der anschlie-
ßende Teil, der in Kanonform gehalten ist, will zweifellos nun die
Ordnung symbolisieren, die jener Erlaß der zehn Gebote zustande
gebracht. Der Kanon ist also in demselben Sinne gebraucht, wie
') Ob die erste Sopranarie der Kantate >0 heiliges Geist- und Wasserbad«
(165, XXXIil, S. 91) hierher gehört, ist mir zweifelhaft, insbesondere ob Bach wirk
h'ch durch Anwendung dieser Form auf das Symbol der Taufe habe hinweisen
wollen , wie Pirro S. 325 annimmt. Plausibler anzunehmen, er habe sie gewählt,
um die Worte der Schrift nicht in die Arienform zu verlegen, was er auch sonst
gern vermeidet.
') Die Anklage der beiden falschen Zeugen in der Matthäuspassion (Eulen-
burg S. 213; Ges. Ausg. S. 152) vollzieht sich im Kanon. Hier liegt ein Symbol
insofern vor, als die gleichen Notenfolgen anzeigen, wie sie bemüht sind, nur ja
durchaus dasselbe auszusagen. Die Symbolik der Fuge und des Kanon ist gleichfalls
ein Erbe, das Bach angetreten hat. Ein sehr eigenartiges Beispiel gibt Wellesz,
Studien zur Musikwissenschaft, Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich,
1913, in seinem Aufsatz Cavalli« (S. 22). In dessen Prolog zu »Giro« steht die
Strophe der Architettura in Kanon, die kunstreiche Zusammensetzung der Maschinen
anzudeuten!
»
TONSYMBOLIK. 37
jene strenge Fuge der Kantate 86. Aber durch den Gegensatz zu
jenen rücksichtslosen Tonfolgen des ersten Satzes, welche die Un-
ordnung andeuteten, wird schon der Eintritt des Kanon den Begriff
der Ordnung zu versinnbildlichen imstande sein. Hierin ist also das
Verfahren glücklicher als das der Fuge der Kantate 86. Zwei berühmt
gewordene Versinnbildlichungen dieser Art stehen in der großen
Messe in H-Moll. Im >01oria« will die kanonische Engführung
der Stimmen den Begriff der Einheit Gott- Vater und Gott- Sohn in den
Worten: *FiU unigenite* treffen und im »Credo« die Symbolik der
Worte: y>Et in ununn ähnlich, durch die denkbar engste, nachahmende
Abwechslung des Motivs
24.
m
EE
nämlich in der Entfernung eines einzigen Viertels'). Auch hier muß
ich dem großen Meister entgegenhalten, daß seine Intention nur von
recht Wenigen erkannt werden wird. Ungemein geistreich ist die
kanonische Engführung zwischen der Baßstimme und dem Kontinuo
in dem Arioso der Kantate »Der Himmel lacht« (31 VII, S. 34) auf die
Worte: »Lebt unser Haupt, so leben auch die Glieder«. Hier be-
zeichnet die Stimmführung in einer auch dem naiven Hörer faßlichen
Weise die untrennbare Vereinigung Christi und seiner Gemeinde: Wo
er hingeht, da folgt ihm diese nach.
Seltsamerweise ist gerade diese ästhetisch immerhin anfechtbare
Symbolik in die neuere Musik übergegangen. Ich führe an: Brahms
»Deutsches Requiem« und den Orgelpunkt des Schlußsatzes, in dem
das gehaltene D der Bässe die schützende Hand Gottes versinnbild-
licht, aus der Programmmusik die Quinten in Rieh. Strauß' Helden-
leben, die neidische Bosheit und geistige Beschränktheit der Wider-
sacher des Helden andeuten. In neuester Zeit hat Siegfried Wagner in
seiner Märchenoper »An allem ist Hütchen schuld« einen Kanon in der
Sekunde gebraucht (und ihn später in die Oktave umgesetzt), um die
zögernd gegebene, dann aber restlos erfolgende Übereinstimmung des
Liebespaares auszudrücken. (Nach W. Nagel in den Signalen 75. Jahr-
gang Nr. 50, 12. Dezember 1917.) Diese Beispiele führen uns bereits
in ein anderes verwandtes Gebiet. Die Symbolik stützt sich auf Ton-
bildungen, die die Gesetze des musikalischen Satzes aus-
schalten. Rieh. Strauß hat da keinen neuen Gedanken in die Musik
eingeführt. Er kann sich auf Bachs Autorität, und dieser wiederum
auf diejenige Lassos und Palestrinas berufen. Wir hatten bereits
oben mehrere Beispiele so gearteter Bachscher Symbolik angeführt.
') Kretzschmar, Führer 12, 1 S. 183 ff.
38 HUGO GOLDSCHMIDT.
Ich erinnere an die Choralkantate, die sich vornimmt, die moralische
Unordnung vor dem Erlaß der zehn Gebote auszudrücken. Wäre
dieses Beispiel das einzige dieser Art, so könnte man es als eine
Laune des Meisters ansehen. Es ist aber nicht vereinzelt und es
kann deshalb kein Zweifel darüber bestehen, daß Bach hier ein
ästhetisches Prinzip statuiert hat: die Charakteristik dürfe auch
vor dem Häßlichen nicht zurückweichen. Auch hierin sind Bach die
großen Meister der Kirchenmusik vorangegangen. Da symbolisiert
Orlando di Lasso den Begriff der allzugroßen Sünde y>Quia nimis pec-
cavU in der Motette ^Domine, quando veneris<< *) durch Quintenpar-
allelen, und Palestrina, von dem das am wenigsten zu erwarten war,
greift einmal dort, wo er die höchste seelische Verwirrung bezeichnen
will, zur Verwirrung der Harmonie *). Streifen viele der Themen Bachs,
insbesondere die durch optische Bilder eingegebenen, die Grenzen
akustischer Schönheit, so ist der Schritt ins Häßliche getan in der
Kantate »Ach Gott vom Himmel sieh' darein« (2 I, S. 63). In der
Arie »Tilg o Gott die Lehren« ist von den gefährlichen Lehren die
Rede, die Gottes Wort zu verdrehen und zu entkräften suchen. Vor
dem Unternehmen, diesen Gedanken musikalisch auszudrücken, wäre
wohl jeder andere zurückgeschreckt. Nicht so Bach. Es muß den
Parochialen durch die Musik klar gemacht werden, nicht nur durch
den Text, welche Gefahr ihnen droht. So ruft er denn nach dem
Teufel in der Musik, dem Häßlichen. Er erfindet zwei monströse
Themen, das eine in Achteln, das andere in Triolen und setzt sie in
Gegenbewegung. Hierher gehört auch die Harmonieverwirrung in der
Antwort des Petrus in der Matthäuspassion, wenn man sich Heuß'^)
Interpretation anschließt. Hier ist die Verwirrung des Petrus durch
Aufgeben musikalisch-harmonischer Grundregeln, also durch ein Häß-
liches, charakterisiert. Zu demselben Mittel der Harmonieverwirrung
hat übrigens schon Orlando di Lasso gegriffen, wenn er das Gefühl
höchster Angst zu den Worten ^Ubi me nascondam«^ der Motette a.
4. V. ^Domine quando veneris«^ durch querständige Harmonien an-
zeigt*). Für Bach wären dann noch aufzuführen die Kantate »Herr
Christ, der ein'ge Gottessohn« (96 XXII, S. 180) und die Baßarie vBald
zur Rechten, bald zur Linken lenkt sich mein verirrter Schritt«, die mit
der Ausmalung dieses Bildes und Symboles das Groteske streift. Ferner
gehört hierher die Augenmusik der Umkehrung eines Themas in
') Ges. Ausg. Bd. III op. musicum. Siehe Leichtentritt, Geschichte der Motette
S. 104.
») Leichtentritt a. a. O. S. 151.
') A.a.O. S. 113.
*) Leichtentritt a. a. O. S. 104.
TONSYMBOLIK. 3g
tonsymbolischem Sinn in der Choralbearbeitung »Christ unser Herr
zum Jordan kam«') (VI, S. 18).
Auch die auf mehrfache Wiederholung einer kurzen Phrase basier-
ten Themen wie
»Mein liebster Jesus ist verloren« (154 XXXll, S. 61) sind als musi-
kalisch schöne Gebilde kaum zu rechtfertigen. Sie erzielen ihren
gefühlsmäßigen und symbolischen Eindruck gerade durch die Mono-
tonie der Wiederholung, also durch ein Häßliches. Obiges
Thema bezieht sich auf die dichten Wolken unserer Sünden, und die
Wiederholung des Themas versinnbildlicht den immer wieder-
holten Rückfall in die Sünden'). Indessen ist die Behandlung
des Themas und seine Beziehung zu den anderen Stimmen geeignet,
das Gefühl unschöner Monotonie zu mildern. Dasselbe gilt für die
bereits erwähnte zehnmalige Wiederholung eines Melodienteils des
Chorals »Das sind die heil'gen zehn Gebote« und das zehnmalige
Auftreten des Themas in der Fuge für Orgel über denselben Choral
(VI, S. 20) und in noch höherem Grade für das Thema des Duettes
der Matthäuspassion »So ist mein Jesus nun gefangen«^). Aus der
neueren Musik wüßte ich nur ein Beispiel anzuführen. Löwe sym-
bolisiert in der Meerfahrt der »Vier Phantasien« (Nr. 2) die Monotonie
der Meerfahrt durch die Eintönigkeit einer ununterbrochenen Sech-
zehntelbewegung *).
Für die moderne Programmmusik habe ich bereits eine Reihe von
Beispielen einer Charakteristik unter Ausschaltung des Schönen an-
geführt. Es sei hier noch erinnert an den Schluß des »Zarathustra«,
der mit dem abschließenden H-Dur-Dreiklang das Naturmotiv mit den
Tönen C, g, c gleichzeitig erklingen läßt, als Versinnbildlichung des
Gedankens, daß Zarathustra das Welträtsel nicht gelöst habe. Ferner
die durchaus unschönen Trugfortschreitungen in der Introduktion des
»Don Quixote< , die seine Neigung zu falschen Schlüssen andeuten. Auch
gehört hierher der Verlauf der Introduktion mit der rücksichtslosen
»Verkuppelung und Zerstückelung einer Reihe von Themen« bis zu
der plötzlich aufschreienden Dissonanz, die anzeigt, daß sein Verstand
übergeschnappt ist. Hier wird Symbolik getrieben, nicht einmal eine
geistreiche, auf Kosten des Urwesens aller Musik, des Sinnlich-Schönen.
') Siehe Schweitzer a. a. O. S. 345.
') Vgl. Schweitzer a. a. O. S. 362.
») Eulenbiirg S. 138 ff.; Oes. Ausg. S. 88.
') Klauwell a. a. O. S. 192.
40 HUGO GOLDSCHMIDT.
Versöhnen kann uns mit diesem Gebilde nur der Gedanke, daß es
sich um einen musikalischen Scherz handelt. Für die Oper, das hatte
ich bereits erwähnt, zwingt die Dichtung und das Bedürfnis, Charaktere
zu schildern, die Musik hie und da, das Häßliche herbeizurufen.
Wenn das mit der Diskretion geschieht, wie sie den Szenen des
Alberich und Mime im Nibelungenring eignet, so wird der modern
geschulte Hörer keinen Anstoß an ihm nehmen. Aber gefährlich war
dieses Vorgehen Wagners doch. Denn die nächste Generation
glaubte solchen Vorbildern entnehmen zu dürfen, daß der große
Dramatiker die Gesetze der Schönheit mißachte und sie zugunsten
der Charakteristik beiseite zu schieben für erlaubt halte. Und das
war seine Ansicht durchaus nicht.
Von der Anführung nicht zum Werke selbst gehöriger
Tonformeln, in der Voraussetzung, daß sie dem Hörer bekannt
seien, war bereits oben gesprochen worden. Solche Zitate stellt nun
Bach vielfach in den Dienst der Symbolik. Zumeist sind es Choräle,
die er in die Instrumente verlegt oder einer oder mehreren Vokal-
stimmen anvertraut und in den musikalischen Verlauf einbaut. Zu-
weilen sind diese Zitate aber auch dem alten gregorianischen Gesänge
oder alten katholischen Kirchenmelodien entnommen. In der Kantate
»Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe« (25 V, 1, S. 155) erscheint
als vierstimmiger Trompetenchor der Choral »Ach Herr, mich armen
Sünder«, der schon vorher Motive zu diesem Chor hergegeben hatte,
um die Zerknirschung des armen Sünders zu vergegenwärtigen. Das
konnte Bach wohl wagen. Die Kenntnisse der Choräle durfte er ohne
weiteres voraussetzen und damit auch die Apperzeption ihres Gefühls-
inhaltes und ihrer symbolischen Qualität. Heute dürfte nur ein sehr
kleiner Kreis von Musikern und Laien diese Beziehungen erfassen.
Wenn auch der Gefühlsinhalt der Stelle durch Vermittlung des Sinn-
lich-Schönen auf den Hörer auch dann übergeht, wenn er jene Be-
ziehungen nicht erfaßt, so empfiehlt es sich doch, für das heutige
Musikleben ein Programm mit einem entsprechenden Hinweis dem
Hörer in die Hand zu geben, hier wie an jenen immerhin zahlreichen
Stellen, die ohne jenes Verstehen mindestens seltsam anmuten, vor
allem bei Zitaten im Rezitativ. Die Anführung des Chorals »Es ist
gewißlich an der Zeit« in dem Rezitativ der Kantate ; Wachet, betet,
seid bereit alle Zeit« (70 XVI, S. 329) durch die Trompete muß den-
jenigen Hörer verwundern, der die Melodie nicht als jenen Choral
erkennt oder durch ein Programm belehrt wird. Ähnlich dürfte die
Wirkung geschmälert sein, wenn die symbolische Hindeutung durch
die Choralmelodie »O Haupt voll Blut und Wunden« in der Kantate
»Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem« (15Q XXXII, 5. 157) über-
TONSYMBOLIK. 41
sehen würde. Wenn die neuere Musik von ähniiclien Voraussetzungen
für das volle Verstehen der Zitate ausgeht, so befindet sie sich doch
der Bachs gegenüber insofern im Nachteil, als sie nicht mehr auf eine
Kenntnis der angeführten Choräle der Kirchenmusik rechnen kann.
Selbst Beethovens bekanntes Zitat des Händeischen Messiashalle-
luja im iDona nobis pacetn« der Missa solemnis ist, trotz der großen
Verbreitung jenes Musikstückes gerade um 1823 herum, gewagt. Was
Beethoven mit ihm gewollt hat, ist klar: »Er hat uns den Frieden wieder
gegeben, er, der regieret in Ewigkeit« '). Aber durfte er wirklich bei
der großen Menge voraussetzen, daß sie das Messiasmotiv kannte
und in seiner symbolischen Bedeutung erkannte? Schwerlich. Aller-
dings müssen wir bedenken, daß sich dieses Werk mit seinen un-
geheuer gesteigerten Ausführungs- und Ausdrucksmitteln nur an einen
kleinen und auserwählten Kreis besonders Gebildeter richtete. In
neuerer Zeit hat wieder Alb. Becker in sehr wirksamer Weise Choräle
in seiner großen B-Moll-Messe zitiert, überall in symbolischer Funk-
tion. Kretzschmar -) erinnert bei dieser Gelegenheit an Cornelius, der
seinen Weihnachtsliedern »die kunstmäßige Hausmusik des Chorals
wieder zuführt«. Einen großen Teil ihrer Popularität verdanken diese
Lieder in der Tat den Choralzitaten.
Ich fasse die Ergebnisse dieser Studie dahin zusammen:
1. Symbolische Bedeutung kann die Musik aus innerer Kraft
heraus nur in seltenen Fällen gewinnen. Regelmäßig bleibt der ab-
soluten Musik die Symbolik verschlossen. Ein verstandesmäßiges
Beziehen von Tönen auf Begriffe und Gedanken findet kaum je statt
Nur dort, wo Dichtung und Programm selbst symbolische Elemente
aufweisen, braucht die Musik nicht in allgemeiner Parallelität zur Dich-
tung zu verharren und sich auf die reine Tonschönheit zu beschrän-
ken. Sie kann vielmehr, sei es durch Hilfe tonmalerischer Vorstellungen,
sei es durch analogiebare Charakteristik Tonreihen aufstellen, die eine
verstandesmäßig erfaßbare Beziehung zum Symbol des Textes ent-
halten. Aber ebensowenig wie die auf Tonmalerei begründeten
Tonwendungen eben nur eine Analogie mit optischen und akustischen
Außenvorgängen vorstellen, vielmehr überall gleichzeitig Gefühlswerte
besitzen, ist auch die auf Versinnbildlichung eines Abstrakten ge-
richtete Vokal- bzw. Programmmusik immer bis auf gewisse Ausnahmen
in den Bildungen des 17. Jahrhunderts gleichzeitig, ja in erster Linie
gefühlserfüllt, so daß, wenn die verständesmäßige Aufnahme versagt,
immer noch die gefühlsmäßige Einwirkung lebendig bleibt. Wie wir
') Kretzschmar, Führer II, 1 S. 216.
ä) A. a. O. S. 248.
42 HUGO GOLDSCHMIDT.
für das Gebiet der Tonmalerei ein Fortschreiten von der Treue des
Bildes zu einer immer mehr erstarkenden Stilisierung und Kräftigung
des gefühlsmäßigen Inhalts feststellen konnten, so dürfen wir auch
für die Symbolik ein immer mehr fortschreitendes Hervortreten des
Gefühls gegenüber den symbolischen Elementen feststellen. Nur hat
sich geschichtlich dieser Prozeß für das Gebiet der Symbolik schneller
vollzogen, eigentlich in dem Wirken eines Mannes, Seb. Bachs. Er
hat keine symbolisch gedachten Tonkomplexe mehr aufgestellt oder
doch nur ganz vereinzelt, die ohne das Erkennen ihrer symboli-
schen Eigenschaft eines Sinnes völlig entbehrten. Sie bleiben alle-
mal gefühlsinhaltlich bedeutungsvoll, mögen sie sich nun auf Ton-
malerei stützen, also an die Vorstellung eines äußeren Vorganges an-
lehnen, oder aus freier analogiebarer Charakteristik herauswachsen.
2. Gegenüber gewissen Ausschreitungen der Bachschen Kirchen-
musik muß daran erinnert werden, daß sie eben nicht ausschließ-
lich ästhetische Zwecke verfolgt, sondern auch außerästhetische:
religiöse. Sie will der Gemeinde den Inhalt der Dichtung recht nahe
bringen. Wie die Kunst des Porträtmalers auf die Ähnlichkeit, so geht
die Kirchenmusik auf die Veranschaulichung des Textes in erster Linie
aus. Einen bedeutenden Einfluß auf Bachs Schaffensweise hat hier
auch die rationalistische Denkweise seiner Zeit ausgeübt.
3. Die nicht überall abzuleugnende Realistik der Themenkonstruk-
tion erfährt aber eine wohltätige Abschwächung durch die künstliche
Einstellung in den Gesamtverlauf. Von diesem Gegenstand denke
ich ein anderes Mal zu handeln.
■I
II.
Erfindung und Entdeckung.
Zwei Grundbegriffe der Literaturpsychologie.
Von
Charlotte Bühler.
I. Dichtungsinhalt
1. Einleitung. Die Begriffe. Es ist in der Kunst wie in der
Wissenschaft: nur der irgendwie Neues zu bieten hat, und sei es
auch noch so klein, kann überhaupt den Anspruch erheben, irgend
etwas zur Kunst oder Wissenschaft Gehöriges geschaffen zu haben.
Diese Neuheiten können zweierlei Art sein. In der Wissenschaft hat
man schon längst zwei Ausdrücke dafür mit präzis unterschiedenem
Sinn, in der Kunst hoffen wir sie heimisch zu machen und ihnen in
exakter Sinnbestimmung Platz anzuweisen: es sind das die Begriffe
Erfindung und Entdeckung.
Jedermann sind wohl schon zwei in der Kunst vorherrschende
Hauptbestrebungen aufgefallen, der Wunsch der einen, möglichst
originell zu sein, möglichst Seltenes, Seltsames, Außergewöhnliches
interessant Erfundenes zu gestalten, und das diesem feindliche Be-
streben der anderen, möglichst gar nicht aus der Wirklichkeit heraus-
zugehen, ihre Erscheinungen und Gesetze getreu, aber in neuer Be-
leuchtung wiederzugeben, Entdeckungen an ihr zu machen. Da-
zwischen gibt es vermittelnde Verfahren. Aber die beiden Arten sind
die einzig möglichen, Neues zu bringen. Wir enthalten uns jeder
Wertäußerung über die eine und die andere. Das große Kunstwerk
ist eine harmonische Synthese beider. Wir wollen hier ohne Wertung
nur die eine und die andere kennen lernen, psychologisch ihr Wesen
ergründen und ihre Leistungen analysieren. Das ist die Aufgabe dieses
und später folgender Versuche.
Franz Kafka erzählt in einer grotesken, symbolisierenden Novelle,
»Die Verwandlung« betitelt, wie ein junger Mann, Reisender von
Beruf, eines Morgens mit einer merkwürdigen Starrheit in den Gliedern
in seinem Bette aufwacht, wie er vergebens wartet, daß diese Unmög-
lichkeit sich zu rühren und aufzustehen, von ihm weiche; wie er ver-
44 CHARLOTTE BÜHLER.
gebens hofft, aus einem gräßlichen Traum zu erwachen, der ihm vor-
täuscht, er sei über Nacht plötzlich ein riesengroßer Käfer geworden;
wie sich ihm allmählich durch eine Reihe zwingender Beweise das
Gräßliche als Wahrheit bestätigt: in der Tat, er ist über Nacht ein
riesiger Käfer geworden. Seine Familie entsetzt; er selbst ratlos, un-
fähig etwas zu tun. Alle naturwissenschaftlichen Folgen einer so
gräßlichen Verwandlung werden konsequent entwickelt, bis dieser
arme Käfermensch nach kurzer körperlich und seelisch qualvoller
Leidenszeit zugrunde geht. — Man sieht: eine Erfindung, symbolisch
zu deuten. Erfindungen dieser Art, Verwandlungen bietet auch das
Märchen, nur harmlos, ohne Überlegung tragischer Folgen, ohne Aus-
malung grauenerregender Einzelheiten. Es gibt noch andere wie Ver-
wandlungserfindungen. Riese und Zwerg sind Erfindungen der
steigernden Phantasie, die Sphinx ist eine Kombinationserfindung.
Das sind ein paar wichtigste Formen. Jeder versteht sofort ohne
weiteres die Anwendung unseres neuen Terminus.
Etwas schwieriger ist es mit der Entdeckung. Einen als Ganzes
neu entdeckten Inhalt mit Sicherheit nachzuweise:i, möchte ich mir
nicht zutrauen, es ist das eine spezifisch literarhistorische Aufgabe.
Gemeinhin bestehen die Entdeckungen in der Kunst in Entdeckung
von Qualitäten, weiter von neuartig geschauten Beziehungen zwischen
Menschen und Dingen, von Sachverhalten, die an sich vielleicht schon
bekannt, aber durch neue Analyse, neue Einfühlung wie in neuem Ge-
wände neu entdeckt dastehen. Ich erinnere z. B. nur an die Ent-
deckung des Milieu in seiner Wichtigkeit für die Erklärung und Be-
schreibung der Persönlichkeit; an die Entdeckung des alltäglichen
Menschen für das Kunstwerk, das vorher nur den außergewöhnlichen
Menschen darstellte; an die Entdeckung der Detailschilderung im Natu-
ralismus. Ich möchte als Beleg vorläufig nur auf einige überraschende
Prädikats- und Attributsbezeichnungen hinweisen, wie man sie in
moderner Dichtung gehäuft vorfindet, Bezeichnungen, die durch neu
entdeckendes Schauen gewonnen wurden. Ich entnehme etwa einem
Gedicht von Rilke: »die Gassen haben einen sachten Gang, /wie
manchmal Menschen gehen im Genesen / nachdenkend: was ist früher
hier gewesen? /und die an Plätze kommen, warten lang auf eine
andre, die mit einem Schritt / über das abendklare Wasser tritt...«
Oder: »In jenen kleinen Städten, wo herum / die alten Häuser wie
ein Jahrmarkt hocken . . .« Oder: Spanische Tänzerin:
»Wie in der Hand ein Schwefelzündholz, weiß,
Eh es zur Flamme kommt, nach allen Seiten
Zuckende Zungen streckt — : beginnt im Kreis
Naher Beschauer, hastig, hell und heiß
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 45
Ihr runder Tanz sich zuckend auszubreiten.
Und plötzlich ist er Flamme ganz und gar.
Mit ihrem Blick entzündet sie ihr Haar
Und dreht auf einmal mit gewagter Kunst
Ihr ganzes Kleid in diese Feuersbrunst,
Aus welcher sich, wie Schlangen die erschrecken.
Die nackten Arme wach und klappernd strecken.
Und dann, als würde ihr das Feuer knapp.
Nimmt sie es ganz zusamm und wirft es ab
Sehr herrisch, mit hochmütiger Gebärde
Und schaut: da liegt es rasend auf der Erde
Und flammt noch immer und ergibt sich nicht.
Doch sieghaft sicher, und mit einem süßen
Orüfknden Lächeln hebt sie ihr Gesicht
Und stampft es aus mit kleinen festen FüBen.«
Das sind Entdeckungen am Tanz. Es müßte eine fesselnde Auf-
gabe sein, eine Sammlung von Entdecl<ungen und Erfindungen aus
der Literaturgeschichte herauszuanalysieren. Ein so für den Psycho-
logen bereitgestelltes Material wäre eine glänzende Forschungsgrund-
lage zu systematischer Analyse der Leistungen dichterischer Phantasie.
— Entdeckung und Erfindung sind psychologisch natürlich keine
einfachen Begriffe, aber zwei psychologisch brauchbare Sammelbegriffe,
von denen aus man weiterkommt. Mich dünkt, die Erforschung der
Abhängigkeitsverhältnisse in Inhalt und Form von Kunstwerken würde
bedeutend an Klarheit und Übersichtlichkeit gewinnen, wenn man
das jedesmalige Neue mit genauen Begriffen fassen und analysieren
könnte.
2. Wechselseitiges Sichbedingen, Beeinflussen, Kompli-
zieren der Begriffe in der Entwicklung. In den Realwissen-
schaften haben die beiden Worte > Erfinden« und »Entdecken« einen
sehr präzis umschriebenen Sinn. Erfindung ist die absolute Neu-
schöpfung, aus der Analyse und Synthese bekannter Komplexe und
Elemente hervorgehend; Entdeckung ist die Auffindung vorhandener
Dinge, die man vorher nicht kannte und nicht sah. Amerika und die
Fallgesetze wurden entdeckt, aber Buchdruckerkunst und Schießpulver
wurden erfunden.
Die Unterscheidung der beiden Begriffe hat auch psychologisch
ihren guten Sinn. Jede Abstraktion, die neu vollzogen wird (sei es
die eines einzelnen Objektes, einer Qualität, eines Sachverhalts oder
einer Gruppierung von Elementen, womit eine vereinfachende Kombi-
nation geschaffen wird), ist eine Entdeckung. Mittel zu abstrahieren-
dem Entdecken ist nicht nur die Abstraktion, welche aus dem Wahr-
nehmen und aus dem Denken entnimmt, sondern vor allem auch die
Abstraktion aus einem sehr komplexen Auffassungsprozeß, aus der
46 CHARLOTTE BÜHLER.
Einfühlung '). Der Erfindung dient die neuartige Zusammenfassung,
neuartige Übertragung, steigernde Ausgestaltung.
Auf den ersten Blick sollte man meinen, daß gewisse Abstrak-
tionen, also Entdeckungen, etwa das Erfassen von Dingen und Eigen-
schaften, Voraussetzungen alles übrigen und das Erste sind. Eine
Analyse der Schimpansenleistungen hat indessen die Annahme einer
Art handwerklicher, technischer Erfindungen des spielenden Zufalls
wahrscheinlich gemacht, die von Entdeckungen unabhängig entstünde^).
Gleichviel, ein Prioritätsstreit hat hier kein Interesse. Auch nicht der
Prioritätsstreit, ob wohl die Abstraktion von Qualitäten oder von Sach-
verhalten früher ist. Es kommt hier nichts darauf an. Daß die Sonne
scheint, muß aus dem Komplex von Wahrnehmungen ebenso wohl
einmal abstrahierend herausgelöst werden wie ihre Helligkeit oder
Wärmekraft oder die Sonne überhaupt als Gegenstand. Im Kindes-
alter differenziert das Stadium der Benennungen die Objekte, und so-
bald nur einige Termini da sind, werden auch Sachverhalte und Quali-
täten herausgelöst. Jedes erstmalige Herauslösen ist eine Entdeckung,
von der Person aus betrachtet, die sie zum ersten Male macht. Jeder
einzelne muß für sich eine große Anzahl solcher Entdeckungen noch
einmal machen, die für die Gesamtheit schon gemacht wurden.
Schöpferisch nennt man die Entdeckungen, welche der Gesamtheit
Neues zeigend vorangehen. Ein Pädagoge wie Rousseau war der
Ansicht, man solle jeden Menschen alle wichtigen Errungenschaften
der Kultur und Zivilisation von neuem entdecken lassen. Gegen
dieses Prinzip hat man indes eingewandt, daß es viel Fehlwege un-
nötig beschreiten, viel falsche Assoziationen unnötig sich bahnen läßt,
abgesehen davon, daß es zeitraubend und umständlich ist, und so
teilt man denn das meiste an überkommenem Gut praktischer und
theoretischer Funde dem Zögling als Tatsache mit. Die Fülle der
') Worringer hat in seinem gehaltvollen Buch »Abstraktion und Einfühlung«
die beiden Prozesse in einen vielleicht kunstgeschichtlich berechtigten, aber psycho-
logisch nicht haltbaren Gegensatz gebracht. Die durch einfühlende Versenkung
in einen Gegenstand gewonnene Erfassung schließt eine nachmalige Abstraktion
d. h. eine Vernachlässigung gewisser unwichtiger Teile des Erlebnisses nicht aus,
ja die künstlerische Darstellung kann solcher Auslese gar nicht entraten. Das
Problem der Einfühlung, dieses vielumstrittenen Phänomens, erfordert eine ge-
sonderte Behandlung. Setzen wir hier den Komplex von Prozessen, der als Ein-
fühlung zu bezeichnen ist, als gegeben wie die Wahrnehmung und das Denken,
so können wir zweifellos auch von einer Abstraktion aus der Einfühlung, einer
Auslese aus dem durch Einfühlung Erfaßten sprechen. Eines weiteren bedarf es
hier nicht.
') Karl Bühler, Abriß der geistigen Entwicklung des Kindes. Wissenschaft
und Bildung 156, 1919. S. 54 »das Werkzeugdenken«.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 47
also Übernommenen Tatsachen ist unübersehbar, und es läßt sich
oft gar nicht mehr zuverlässig erkennen und unterscheiden, ob ur-
sprünglich Entdecktes oder Erfundenes vorliegt. Mit dieser Frage
stehen wir in der Literatur zum Beispiel häufig den Märchenmotiven
gegenüber. Sie scheinen uns oft von fabelhaftem Erfindungsgeist,
d. h. Kombinationsfalent zu zeugen, wenn in Wahrheit vor alten Zeiten
ihnen eine uns nicht mehr erkennbare Entdeckung, Beobachtung
zugrunde lag. (Beispiel: das Kentaurenmotiv.) Im Märchen ist es
daher ungeheuer schwer und gefährlich, die Motive hinsichtlich ihrer
Entstehung einzureihen, eine Aufgabe, die dem erfahrenen Märchen-
forscher von Fach überlassen bleiben muß.
Die einfachsten Qualitäten mußten ebenso erst einmal entdeckt
werden wie später die subtileren. >Da wurden ihrer beider Augen
aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren,« heißt es in
der Bibel von Adam und Eva. Gerade einjährig entdeckte meine
Tochter die erste Qualität, zu der sie sogleich die Benennung lernte,
das »heiß« der Heizung. Als Qualität von Speisen wurde es später
wiedererkannt, dem Namen nach anfangs auch oft mit dem Gegenteil
»kalt« verwechselt, aber gar nicht allzu lange später doch schon von
dem »nur warm« nuanciert und unterschieden. Mit den einfachen
Einzelqualitäten werden auch ihre Grade und Differenzierungen bald
entdeckt, vermutlich auf Grund von Vergleichungen. Erfindung aber
erst gestaltet sie steigernd aus über das gekannte Maß hinaus, nach-
dem das Verfahren der Weiterbildung am Beobachteten erfaßt ist.
Riese und Zwerg, Zwölfmännerkraft und Siebenmeilenstiefel, das
Schlaraffenland und das Tischlein deck dich und andere Erfindungen
dieser Art sind Steigerungen über das Beobachtete hinaus.
Neue subtilere Entdeckungen überflügeln sie und bereiten neue
Erfindungen vor. Da sind z. B. die Ähnlichkeiten von Qualitäten, die
Grundlage des dichterischen Vergleichs. Oft gleiciit der Nebel oder
eine Wurzel des Waldes einer Gestalt, man glaubt eine menschliche
Gestalt zu entdecken und erfindet ihr ein Wesen, wie es zum Beob-
achteten paßt. Hier ist bereits die kombinierende Erfindung mittätig
und zwar ist sie hier geleitet von der Beobachtung, die Erfindung hat
Direktive. Anatole France beschreibt in »Putois« psychologisch sehr
interessant und einleuchtend das Zustandekommen einer Phantasie-
gestalt durch eine in bestimmter Weise dirigierte Erfindung: um dem
unliebsamen Besuch einer Tante zu entgehen, sagt die Hausfrau, sie
beschäftige nächsten Sonntag einen Gärtner mit allerlei Arbeiten.
Warum aber gerade Sonntag? fragt die Tante. Nun weil er gerade
dann durch die Gegend komme und Zeit habe, er sei ein wandernder
Handwerksbursch. Sieht er am Ende so und so aus? Die Tante
48 CHARLOTTE BÜHLER.
glaubt ihn gesehen zu haben. Ja, gewiß. Die erfundene Person be-
kommt Gestah, Physiognomie, auch einen Namen Putois. Man schiebt
sie bei jeder Gelegenheit als Sündenbock vor. Schließlich schiebt
man ihr alle in der Gegend vorkommenden Diebstähle in die Schuhe,
auch die Verführung eines Dienstmädchens, das den Täter nicht
nennen will — kurz Putois bekommt mit der Zeit einen Charakter,
und jedermann glaubt an seine Existenz. Dieser geistreiche Einfall
ist psychologisch höchst lehrreich. Das Zustandekommen des Cha-
rakters heidnischer Götter, mythologischer Personen ist nicht immer
verschieden davon. So berichtet ein chinesisches Märchen von der
Himmelskönigin, sie sei einem scheiternden Schiff plötzlich rettend
erschienen, das zur Zeit Kienlungs unter dem Minister Dschou Ling
eine Meerfahrt unternahm. Seitdem gilt sie als Schützerin der See-
fahrer. »Seitdem stehen an allen Hafenorten Tempel der Himmels-
königin.« Beobachtung oder eine bestimmte Absicht leitet die Er-
findung, wo sie nicht als Spiel der assoziativ aneinandergereihten,
einander zufällig herbeiziehenden Vorstellungen zustandekommt. Auf
den Glasberg gelangt das Mädchen im Märchen vom »Eisenofen« mit
drei Nadeln, einem Pflugrad und drei Nüssen. Wenn diese Zusammen-
stellung ursprünglich nicht einen heute vergessenen Sinn und Zu-
sammenhang hatte, so kann sie nur ein Spiel solcher assoziierenden
Erfindung sein.
Doch die Erfindung mit bestimmter Absicht setzt bereits die sub-
tilere Beobachtung der Kausalzusammenhänge voraus. (Steter Tropfen
höhlt den Stein. Wenn man das und das unternimmt, so ist das und
das allemal der Effekt.) Einsichtiges Erfinden basiert auf dem Ver-
ständnis von Kausal- und Zweckzusammenhängen und zu der Ent-
deckung von Zusammenhängen gehört dieses Verständnis eo ipso. In
welcher Weise sich die Entdeckung von Zusammenhängen aus der
atomisierenden Herauslösung einzelner Momente entwickelt hat, darüber
könnte man nur Vermutungen anstellen. Mein Mann meinte, daß das
»machen«, das Bewirken der erste derartige vom Kind erlebte Zu-
sammenhang sei *). Das Kind beobachtet, wieviel der Erwachsene an
ihm und für es bewirkt, macht, schafft. Die Mutter macht Essen, wenn
man Hunger hat, macht das Bett, macht den Ofen warm, macht das
Spielzeug ganz usw. Die Art der Zusammenhänge, die sich dem ein-
zelnen aufdrängen, zeigt eine gewisse Beharrlichkeit, ist eine Auswahl,
wie sie nicht nur Sinnen und Verstand, sondern auch dem Tempe-
rament des Individuums entspricht. Das Lustvolle macht sich dem
einen, das Unlustvolle dem andern mehr und häufiger geltend, das
') Karl Bühler, a. a. O. S. 147.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 4g
Müssen und Sollen scheint sich dem einen, das Wollen und Können
dem andern als herrschendes Prinzip zu erweisen. Das führt zu den
Deutungen und zu den Weltanschauungen. Lassen wir das für später
und fragen wir uns zunächst: wie sind Erfindungen allererst über-
haupt möglich? Was sind sie psychologisch? Die Entdeckung ist in
erster Linie Abstraktion aus der Wahrnehmung, dem Denken, der Ein-
fühlung, wie zu besprechen sein wird, und darauf beruhende Kombi-
nation. Was ist die Erfindung?
3. Psychologie der Begriffe. Nicht erst seit Locke und
Hume besteht die Ansicht, daß die Vorstellungen nur genaue Repro-
duktionen der Wahrnehmungen sind. Nihil est in intelledu, quod non
antea fuerit in sensu. Das läßt sich für die Elemente zweifellos
nicht bestreiten, für Gestalten, Komplexe, Anzahlen, Größen und so
weiter, also Kombinationen, aber keinesfalls aufrecht erhalten. In dieser
Hinsicht ist schon die einfach reproduzierende Vorstellung keine exakte
Reproduktion mehr. Unter allen Umständen ist die Vorstellung schon
eine Vereinfachung des Wahrnehmungsbildes — wie weit sie auch
eine Komplizierung sein kann, darauf kommt es vorerst nicht an.
Vereinfachung muß sie sein, denn wahrscheinlich bringt die Vor-
stellung immer nur so viel, als gleichzeitig beachtet ist. Zwischen-
teile oder Teile um das Beobachtungsfeld herum fallen aus. Man
denke nur daran, wie zahlloser Wiederholungen eines Anblicks es
bedarf, um einen Gegenstand zeichnerisch exakt wiederzugeben.
Niemals nimmt ein Vorstellungsbild ihn in seiner Gesamtheit auf.
Alles Vorstellen steht daher bereits im Dienste der Abstraktion, der
beim Wahrnehmen die Aufmerksamkeit durch Hervorhebung schon
auslesend in die Hand arbeitet. Auch die Zusammenfassung in der
Vorstellung ist daher selbst bei einfacher Reproduktionstendenz niemals
exakte Reproduktion, sondern unter allen Umständen vereinfachende
Zusammenstellung (wie weit unter gewissen Umständen auch er-
weiternde, gehört wiederum nicht hierher). Zwischenteile fallen aus
oder Umgebung fällt fort, — des letzteren Verfahrens bedient sich in
der Kunst z. B. der detailschildernde, scheinbar völlig naturgetreue
Naturalismus. Es besteht also schon bei der bloßen Reproduktion
nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit einer
Abweichung von der Wahrnehmung. Selz nennt diesen Prozeß repro-
duktive Ausscheidung. Wie weit geht indes darüber hinaus nun die
Möglichkeit zu weiteren willkürlichen Abweichungen? Das ist die
Frage der Erfindung und Entdeckung. Leicht einzusehen ergibt sich
diese Möglichkeit bei einer weiteren Ausnutzung der Verfahrungsweisen,
deren sich jede Vorstellung gegenüber der Wahrnehmung wie eben
entwickelt ohnehin bedient, nämlich aus der willkürlichen weiteren
Zeitichr. f. Ästhetik u. «IIk. Kunstwissenschaft. XV. 4
50 CHARLOTTE BÜHLER.
Ausnutzung der Abstraktionsfähigkeit und Kombinationsfähigkeit.
Überlegen wir, was alles die Folge der Abstraktion sein kann: zu-
nächst natürlich die Herauslösung verschiedenster selbständiger und
unselbständiger Momente des Wahrgenommenen, der Größe, Farbe,
Form und aller Qualitäten, aber auch die Herauslösung von Teilen,
die Zerlegung. Kann ich zerlegen, so erlaubt mir die Kombinations-
fähigkeit nun auch ohne weiteres jede willkürliche Zusammenstellung,
Gruppierung und Gestaltung, auch jede Färb- und Größenübertragung,
vorausgesetzt, daß ich auch solche unselbständigen Elemente willkürlich
zu Kombinationen verwenden kann, wie ja die Erfahrung beweist.
So komme ich kombinatorisch zweifellos zu ganz neuen Objekten, zu
Erfindungen. Das ist die qualitativ unbegrenzte Möglichkeit des An-
einanderbaus. Es gibt aber auch eine quantitativ unbegrenzte Mög-
lichkeit desselben. Niemand hindert mich, Zahlen und Größen ins
Unendliche aufeinander zu türmen oder zu zerteilen.
Doch alle diese Möglichkeiten wären auf Grund der bisherigen
Voraussetzungen nicht so unbegrenzte, wenn nicht eine neue Ein-
richtung des Geistes hinzukäme, nämlich die Fähigkeit, diese Verfah-
rungsweisen weit über die Grenzen des Angeschauten oder Vorstell-
baren hinaus auszunützen, die Fähigkeit zu denken. Die erlernte
Verfahrungsweise, dazu ein anschauliches Schema als Teilgerüst des
Weiterbaus und die Sprache erlauben es, im Gedanken unbegrenzt
weiter- und auszuführen, was die Vorstellung nicht mehr mitmachen
kann. Niemand hat Billionen gesehen oder vorgestellt, aber er kann
die Anzahl Billion denken. Charakterqualitäten lassen sich überhaupt
weder anschauen noch vorstellen, aber denken und darum doch kom-
binieren. Die Kenntnis des Verfahrens ermöglicht alles. Sie ermög-
licht vielleicht auch jenen von Hume mit einer gewissen Ratlosigkeit
vorgebrachten Spezialfall der Qualitätenbildung in der Reihe, den Hume
als unwichtigen Ausnahmefall schnell beiseite schiebt ').
') David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, heraus-
gegeben von R.Richter, Philos. Bibl. 35, 6. Aufl., 1907, S.2L Hume legt sich hier
die Frage vor, ob ein Mensch, der alle Schattierungen einer Farbe bis auf eine
Schattierung gesehen habe, sich in der Schattierungsreihe dieser Farbe die Lücl<e
aus der Phantasie ergänzen i<önne. Hume i<ann nicht umhin, diese Frage zu be-
jahen, so wenig das in sein System paßt, wonach nur das in der Wahrnehmung
Dagewesene auch in der Vorstellung wiederkehren darf. Daher tut er diesen Fall
auch schnell als einen ganz unwesentlichen und vereinzelten ab. Mit Unrecht,
denn er ist ein Musterbeispiel für die unserer Phantasie gesteckten Grenzen, die
nur dann noch um einen Schritt weiter hinausgeschoben werden können, wenn
eine gewisse in Ebbinghaus' »Orundzüge der Psychologie« L Bd., 4. Aufl., S. 577 f.
besprochene Annahme zurecht besteht, und in diesem Fall als durchaus nicht ver-
einzehe, erfindende Analogiebildung auf Grund erlernten Verfahrens zustandekommt.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 51
Kombination und Abstraktion sind keine Begriffe, mit denen man
in der Literaturwissenschaft ohne weiteres etwas anfangen könnte.
Auch geben sie nicht vollständig wieder, was in den psychologisch
komplexen Begriffen Erfindung und Entdeckung enthalten ist, die in
der Literaturwissenschaft als Grundbegriffe gelten können. Die weitere
psychologische Auflösung der beiden Prinzipien ist des Psychologen
Sache und noch eine schwierige Aufgabe. Beides sind Prinzipien
der Neuschöpfung, das eine jedoch nur das Prinzip der Aufzeigung
des Neuen, das andere das der Neubildungen. Synthese, Einheits-
bildung, Gestaltung ist dem zweiten von Natur eigen, dem ersten
nicht ohne weiteres mitgegeben. Man kann zwar auch Zusammen-
hänge, d. h. Komplexe entdecken, so wie Elemente selbständiger
oder unselbständiger Natur, Beziehungen, Sachverhalte usw. Aber
dem Prinzip nach wäre das Zusammenfassen immer erst noch zu
vollziehen. So ist die Natur des entdeckenden Prinzips relativ ein-
fach: es erschöpft sich im Herauslösen oder Abstrahieren. Das kann
in der Wahrnehmung, im Denken und durch die Einfühlung ge-
schehen. Das Prinzip des Erfindens ist erheblich komplizierter. Das
Erfinden ist nicht Neufinden, sondern Neubilden. Da bedarf es erstens
eines Materials, das entweder zufällig gegeben, selber schon entdeckt
oder durch reproduktive Ausscheidung und assoziative Ergänzung
bereitgestellt, nun zweitens irgendwie zu neuer Einheit weitergebildet
wird, und zwar, wie die Beobachtung lehrt, auf zweierlei Weise: durch
additives oder kombinierendes und durch steigerndes
oder entwickelndes Verfahren. Kombination ist Einheits-
bildung durch Zusammenfügung, das Resultat ist der
Komplex. Otto Selz in seinem überaus scharfsinnigen Aufsatz »Über
die Gesetze der produktiven Tätigkeit« ') läßt das kombinierende Ver-
fahren der künstlerischen Einheitsbildung durch reproduktive Aus-
scheidung und assoziative Ergänzung einerseits und durch analogie-
bildende Konstruktion andererseits Zustandekommen. Dem schließen
wir uns nicht ganz an. Das steigernde Verfahren, das unserer An-
sicht nach auch analogiebildend ist, unterscheidet sich von der Kombi-
nation. Andererseits muß nicht jede zielbewußt konstruierende Kombi-
nation analogiebildend, sondern kann auch allein von Zielen bestimmt,
auf entdeckenden Beobachtungen fußend ganz neubildend sein. Also
die Analogiebildung ist ein die anderen kreuzender Begriff. Um die
Prozesse der Analogiebildung ein wenig genauer zu studieren, gab
ich eine Reihe von Aufgaben zur Selbstbeobachtung beim Verständ-
nis analogisfischer Bildungen. Der einfachste Typ ist die Steige-
') Archiv für die gesamte Psych. Bd. 27, S. 369.
52 CHARLOTTE BÜHLER.
rungi). Die Steigerung ist erstens eine Wahrnehmungs- und Vorstel-
lungsbiidung und kommt dort als Vergrößerung, Verkleinerung und
Häufung vor, zweitens eine gedankliche Bildung und kommt dort als
Steigern, Übertreiben, Aufschneiden bis zum Lügen vor. Die Lüge hat
aber auch eine kombinatorische Form. Die Idee zu vergrößern, zu ver-
kleinern, zu häufen, konnte, wenn sie nicht als formale grundlegende
Fähigkeit unseres Geistes auch in jenen abstrakten Formen angelegt wäre,
sonst noch aus Traumbeobachtungen und aus den Erlebnissen bei
dem Sehen im Raum, das noch nicht perspektivisch gedeutet war, her-
kommen. Ein Mensch, der aus der Ferne herbeikommt, wird immer
größer, ein sich entfernender immer kleiner. Konnte das Prinzip
dieser Größenverschiebung der Wahrnehmung und Vorstellung ab-
strahierend entnommen werden, so ist doch seine Ausnutzung über
bekannte Maße hinaus Erfindung. Eine qualitative Form ist hier das
durch Einfühlung zu entnehmende sich Entwickeln, Werden. Riese
und Zwerg sind erfunden, auch Ahasver, der ewige Jude, der ewig
segelnde fliegende Holländer, der uralte Methusalem, die Siebenmeilen-
stiefel usw. Überall bei dem Auftreten dieser Gestalten in der Volks-
literatur wird der Prozeß der Steigerung selbst oder der durch Steige-
rung entstehende Kontrast der Größenverhältnisse genossen ^). Anders
') Hier kann ein Waclistums- und Quantifizierungsprozeß direkt erlebt werden.
Beispiel: Aufgabe: L. sieht noch genau so aus wie früher, nur ist sie schlanker
geworden. Protokoll: Ich sah zuerst L so wie sie jetzt aussieht, aber dick. Stellte
mir L in Miniatur dieser jetzigen auf der Schulbank vor. Von diesem Bild ging
ich dann aus, ließ es wachsen, stellte mir L. länger und dadurch schlanker vor.
Vgl. auch die Protokolle bei Sterzinger, diese Zeitschr. Bd. 12, S. 71, Prot. 89.
') Vgl. meine Untersuchung über »Das Märchen und die Phantasie des
Kindes«. Beiheft 17 der Zeitschr. f. ang. Psych. 1918. — Der Referent meiner Mär-
chenarbeit in dieser Zeitschrift Bd. 14, S. 311 betont, »daß das Thema weit mehr
Schwierigkeiten enthält, als die Verfasserin angenommen zu haben scheint,« und
weist dann vor allem darauf hin, daß der Volksroman und die Schundliteratur mit
dem Märchen verglichen werden müßten. Dieser Rat freut mich sehr, wenn er
auch etwas nach dem Feste kommt. Als ich die Märchenarbeit schrieb, waren
schon viele tausend Seiten (ich schätze zwei Zentner) aller erreichbaren Volks- und
Schundliteratur durchgearbeitet und dieses Quantum ist seither beträchtlich gestiegen.
Von meinen Skizzen in der »Hoch wacht« (8. und 9. Jahrg.: »Zur Psychologie der
Volksliteratur«, »Die Personenwelt im Volksroman«, »Die Motivgruppen im Massen-
roman« usw.) und ihrer praktischen Verwertung durch die Zensurstelle im Berliner
Polizeipräsidium brauchte der Referent nichts zu wissen. Aber jenen Gedanken,
den vor ihm und mir schon F. von der Leyen gehabt und angewandt hat (vgl.
meine Arbeit S. 3) und manches andere noch, was er im Ton des Kenners mir
vorhält, hätte er in der Märchenarbeit bereits finden können. Wenn er noch ein
wenig Geduld übt, die Serie der hiermit eingeleiteten Studien abwartet und inzwi-
schen vielleicht uns auch seine eigenen Kenntnisse über diese Dinge mitteilt, dann
wollen wir am Ende aufatmend gemeinsam bekennen: es war in der Tat nicht ganz
leicht, aber wir sind durchgekommen.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG.
53
ist es in der hohen Literatur. Hier dient die Steigerung der Hervor-
hebung, Verdeutlichung, Auszeichnung, kurz der ästhetischen Stili-
sierung. Stilisierende Kunst übertreibt, hebt einzelne Eigenschaften,
das, worauf es ankommt, steigernd hervor und über Mittelmaß hinaus.
Man denke an Pfere Goriots Vaterliebe, an Michael Kohlhaasens Ge-
rechtigkeitssinn. All das sind nur Andeutungen. Alle Arten größen-
verschiebender Erfindung sind in primitiver Literatur höchst beliebt,
sind Hauptmotive des Märchens.
Nehmen wir gleich die zweite Form, die dazu gehört, die Ver-
wandlungen. Die Verwandlungen sind Vorstellungswechsel be-
stimmter Art, Vorstellungsabwandlungen nach dem Gesetz assoziativer
Ergänzung. Die Verwandlung behält die Identität der Person oder eines
Gegenstandes bei und ersetzt assoziativ blitzschnell das erste Bild
durch ein zweites. Die Schnelligkeit und das Überraschende des
Wechsels sind hier zunächst das unmittelbar Belustigende. Das zum
Reh verwandelte Brüderchen des Märchens gehört ebenso hierher
wie der Zauber des Tischlein deck dich und der Tarnkappe sowie
der Schlafzauber im Dornröschen. Alles blitzschnelle überraschende
Verwandlung von Menschen, Gegenständen oder Situationen. Im
Märchen beruht wie im Traum die Verwandlung meist nur auf zufällig
einfallender beliebiger Assoziation. Doch gibt es gelegentlich auch
determinierte Verwandlungen (einer soll sich verstecken und wird so
klein wie eine Maus). Zur Kategorie der Verwandlungen gehört
psychologisch auch das religiöse Wunder und die Erscheinung. Die
nicht mehr naive Volksliteratur ersetzt die Verwandlungszauber durch
ganz unvermutet und plötzlich freudig oder erschreckend eintretende
Ereignisse. Moderne Erfindungsliteratur nützt die Verwandlung wieder
aus (Kafka, Die Verwandlung), baut sogar eine Metaphysik der Ver-
wandlungen in ihre Kunst hinein (Wolf, Das bist du!) oder benutzt
eine spaßhafte Abart dieser Kategorie, die psychologisch ähnliche
Verkleidung. Hier spielt aber nicht das Moment der Plötzlichkeit
eine Rolle, sondern allein das des Kontrastes, der Vorstellungsunter-
schiebung. Paul Keller gründet in seinem Roman »Ferien vom Ich«
ein Sanatorium, wo jeder sich von seinem Ich erholen soll, indem er
Namen, Kleid und Stand wechselt und niemandem erkenntlich als
Bauer, Nachtwächter, Magd oder Schankwirt auf den Gütern des
Sanatoriums fungiert. Ein Fürst wird Knecht unter dem Namen Pie-
secke, der reiche Amerikaner, der das Unternehmen finanziert, taucht
in verschiedenen Personen versteckt immer wieder auf und gibt sich
überraschend erst am Schluß zu erkennen, d. h. der kluge Leser durfte
sich vorher schon ratend und ahnend vergnügen.
Wie bei der Steigerung kann hier einmal der Verwandlungs-
54 CHARLOTTE BÜHLER.
prozeß erlebt und genossen werden oder allein der Kontrast nach
der Veränderung. Johannes im Märchen vom getreuen Johannes wird
in dreimaliger stückweiser Fortsetzung des Prozesses von Fuß bis
Kopf zu Stein, und Hofmannsthal in seiner »Frau ohne Schatten« be-
schreibt die Versteinerung seines Königs in mählichem Fortschritt des
Vorgangs.
Bei dieser Form der Verwandlung bleibt der Gegenstand identisch
und braucht nicht durch Zusammenfassung hergestellt zu werden, die
Handlung ist Bildwechsel, das Bild könnte hin und zurück verwandelt
werden, man geht gleichwohl immer weiter; doch eine andere Form
assoziativen Vorstellungswechsels läßt eine Zusammenfassung nach-
träglich erfolgen, es sind das gewisse additive Neukombinationen.
Nicht alle Neukombinationen sind assoziativ gebildet, denn Beobach-
tung statt Assoziation kann hier auch die Grundlage sein. Ich er-
innere an den Kentauren, den angeblich die Griechen »entdeckt«
haben, als sie die mit ihren Pferden verwachsenen afrikanischen Reiter
kennen lernten. Im Märchen vom »Eisenofen« dagegen das Motiv
drei Nadeln, drei Nüsse und ein Pflugrad als Hilfsmittel, auf den
Glasberg zu kommen halte ich für assoziativ kombiniert. Nun,
hier gebührt dem Literarhistoriker die Entscheidung. Es gibt da im
russischen Märchen das »Hüttchen auf Hühnerfüßchen mit einem
Hahnenköpfchen«, die griechische neunköpfige Hydra, den Drachen,
das Meerweibchen mit Fischschwanz, dann Gruppen dieser Art wie:
die Hexe auf dem Besenstiel, die vier Bremer Stadtmusikanten usw.
Ich suchte schon an anderer Stelle darzutun (vgl. Anm. 2, S. 52), daß
diese Neukombinationen in der Vorstellung nicht ganz leicht vollzieh-
bar sind. Erstens bestehen hinsichtlich der Anzahl der in einer
Gruppe anschaulich zusammenfaßbaren Elemente offenbar Beschrän-
kungen. Die Vierzahl bei den Bremer Sfadtmusikanten überschreitet
für meine persönliche Vorstellungsfähigkeit schon die Grenze des zu-
sammen und gleichzeitig Auffaßbaren. Das Märchen übt in dieser
Hinsicht eine weise Beschränkung. Es weiß, daß seine Hörer wesent-
lich auf die Anschauung, weniger auf das Denken angelegt sind, und
gibt statt gleichzeitig aufzufassender Gruppen bei mehr als zwei bis
drei Elementen vorzugsweise Sukzessionsreihen: es läßt in der Vor-
stellung wandern. Es ist hier wie bei den Steigerungen: nur das
Denken erlaubt uns, mit der bekannten Verfahrungsweise die der An-
schauung gesetzten Grenzen zu überschreiten. Eine zweite Schwierig-
keit besteht für die Anschauung hinsichtlich der Qualität des Zu-
sammenfaßbaren. Kann ich in der Vorstellung beliebige Stücke an-
einandersetzen? Wie ist es da mit den Ansatzstellen? Schon Berkeley
hat sich mit dem Problem beschäftigt. Er meint: »Ich kann die Hand,
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 55
das Auge, die Nase, jedes für sich abstrakt oder getrennt von den
übrigen Teilen des Körpers betrachten, und ich kann dann beliebig
die abstrahierten Teile zu neuen Gebilden zusammensetzen, »kann mir
einen Mann mit zwei Köpfen oder auch die oberen Teile eines Men-
schen mit dem Leibe eines Pferdes verbunden vorstellen« ^). Hier
leistet unsere Phantasie ja in der Tat Erstaunliches. Zahllose Kombi-
nationen sind uns geläufig wie Naturgegenstände: Der Engel mit
Flügeln am Menschenleib, der Teufel mit Bockfuß und Hörnern, der
Kentaur, die Sphinx, die Nixe. Beträchtlich schwerer fällt mir schon
die Vorstellung der russischen Baba-Jaga, mit einem Knochenbein auf
dem Ofen, den Kopf im Rauchfang, die Beine auf der Erde. Da hilft
sich die Phantasie oft mit einem Vorstellen im Nacheinander, mit suk-
zessiver Beachtungshervorhebung und überläßt die Zusammenfassung
allein dem Erfassen durch das Wissen. Ich sehe bei dem russischen
Hüttchen auf Hühnerfüßchen mit einem Hahnenköpfchen etwa nach-
einander den unteren und oberen Teil der Hütte. Die Kunst der
Frau, sich geschmackvoll zu kleiden, beruht im wesentlichen auf der
Gabe, verschiedene Kleidungsbestandteile im voraus richtig zusammen
vorzustellen, was eben bekanntlich nicht ganz leicht ist.
Erfundene Neukombinationen sind auch die erfundenen Deutungen,
d. h. die erfundenen Kombinationen von Ursache und Wirkung, von
Kausation. So wenn Naturvölker In ihren Mythen die Entstehung
von Naturphänomenen (Farbe von Tieren, Entstehung des Ungeziefers)
erklären oder wenn sie die Seele ins Ei lokalisieren, sie mit dem Hauch
oder Atem identifizieren usw.
Hierher gehört nun schließlich die kombinierende Analogie-
bildung, die zweite Form der Analogiebildungen, die dem oben
beschriebenen Wachstums-, Quantifizierungs- oder Entwicklungspro-
zeß entgegensteht.
Auch von diesem Vorgang geben unsere Protokolle eine Vor-
stellung-). Er besteht in einem dauernden Vergleichen, Angleichen
') Berkeley-Überweg, 2. Aufl., 187Q, Einl. S. 6.
') Aufgabe: Adolf sah von hinten aus wie Bernhard, von vorn allerdings ganz
anders (B. war der Vp. gut bekannt, aber lange nicht mehr begegnet, A. am Tag
zuvor zum ersten Male gesehen worden). Protokoll: »Sehe B. von mir fortgehend.
Ich versuchte krampfhaft, auch von vorn eine Ähnlichkeit herzustellen, dachte z. B.
gar nicht an die viel dunklere Haarfarbe von A., Nase verlängert, Kneifer, schwarze
Augen nicht gesehen. Umbildung in helleren Typ absichtlich. Identität mit A.,
aber B.'s Bild immer viel lebendiger. B. in der Stadt B. gewußt, A. in M., vor mir
gesehen, in Haltung, die A. gar nicht innehatte. Dann wanderten meine Augen zwi-
schen A. und B. hin und her. Haare von A. wurden heller, A. hatte dann plötzlich
B.'s Gesicht, ich vergaß ganz A.'s eigenes Gesicht.« Aufgabe: Der Orizzly-Bär ist ein
Bär von besonderer Größe. Protokoll: Bären mit spitzen Ohren auf einem Baum
55 CHARLOTTE BÜHLER.
bis ZU schließlichem Identifizieren der analog zu bildenden Gegen-
stände, die in der Vorstellung oder auch nur in Gedanken zu eins
verschmelzen, wobei sie dann in der Vorstellung ruhig nebeneinander
bestehen bleiben. So geht praktisch etwa der Zoologe vor, der aus
Knochenresten ein Skelett rekonstruiert (Selz). Aber auch die einfache
Übertragung eines Merkmals, einer Eigenschaft gehört hierher. Sie
ist einfacher als die vorhin besprochene Neukombination. Dem Stuhl,
den Kleidern, dem Teller, Besteck und dem Apfel des Märchenkönigs
wird im Vorübergehen oder auch dauernd das Merkmal »golden«
beigelegt. Da bleibt alles gleich, nur eins tritt hinzu oder verwan-
delt sich.
Die Entdeckung erlangt ihre Bedeutung für Kunst und Wissenschaft
dadurch, daß sie im Dienst einer Deutung der Welt und des Lebens
vorzüglich verwendbar ist, nachdem die erfindende Deutung versagt hat.
Sie befriedigt stets das kausale Fragen und Denken. Die Erfindung
ist in der Kunst das eigentliche Spiel. Sie kann aus bloßem Spiel
der sich selbst überlassenen Vorstellungen hervorgehen, ist aber auch
zwecksetzendem Denken dienstbar zu machen, in Kunst und
Wissenschaft. Man kann mit Einsicht und unt^r der Direktive einer
Aufgabe erfinden, aber auch durch bloßen Zufall, d. h. durch Spiel
assoziierter Vorstellungen. Diese beiden Formen der konstruktiven
und der assoziativen Erfindung seien schon hier unterschieden.
4. Formen von Erfindungen und Entdeckungen. Das
beste Beispiel eines zum größeren Teil auf Konstruktion beruhenden
Erfindungsromans scheint mir unter älteren Vorbildern »der Graf von
Monte Christo« von Dumas zu sein. Determiniert ist hier das Ziel,
die Geschichte einer Rache soll in Form eines außerordentlichen und
spannenden Schicksals dargestellt werden. Doch kommt es nicht
darauf an, die Außerordentlichkeit in Eigenschaften aufzuspüren, wie
das Leben sie weist, wie etwa Balzac sie an seinen lebenswahrsten
Gestalten erstaunlich enthüUt. Sondern es muß erfunden, ganz neu
gemacht sein. Auch Balzac zeigt gewöhnlich nicht alltägliche Figuren.
Aber es ist bei ihm so, daß eine im Leben faßbare Eigenschaft, oft
eine Tugend (Pere Goriot) zum Extrem gesteigert, ad absurdum ge-
führt und mit den tragischen Konsequenzen ihrer Ausschließlichkeit
und Gewaltsamkeit belastet wird. Der Graf von Monte Christo da-
sitzen sehen, wie ich ein Bild kenne. Bei »Größe« sehe ich ein riesiges Tier, das
hat aber eigentlich nichts mit Bär zu tun, ist ein ungeheurer Klotz, vierschrötiges,
behaartes und ungegliedertes Ungetüm, mehr eine Art Ochsenkopf. Das Ungetüm
löste das Bild von dem Bären direkt ab, stand statt dessen da, wurde nur noch
gedanklich identifiziert mit jenem Bären. Diese kombinatorische Form der Analogie-
bildung findet sich auch bei Sterzinger, a. a. O. Prot. 41.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG.
57
gegen ist ein Mensch von einem Lexikon gesteigerter Qualitäten, deren
Besitz in summa ihn gottähnlich erfolgreich werden läßt. Ihre Zu-
sammenstellung ist konstruiert, konstruiert dem Zweck des Ganzen,
dem Gelingen des Plans zuliebe. Balzacs Gestalten sind Typen, die
er im Leben entdecken konnte und stilisierend steigerte mit allen
Folgerungen dieses gesteigerten Wesens. Dumas' Geschöpfe sind
konstruierte Idealbilder, die einem Zwecke dienen, der vor ihrer Er-
schaffung liegt, einem ihnen nicht immanenten Zweck. Dasselbe ist
es mit der Handlung. Sie folgt nicht aus dem Gesetz der Charaktere,
aus dem Ineinanderschalten dieser interessanten Typen, sondern sie
ist hier zuerst da, ist zuerst erfunden. Eine Rache soll es sein, bis
ins einzelne der verschiedenen Akte hinein konstruiert, die gegen diese
oder jene Person gerichtet sind, entsprechend den von diesen Personen
aus unternommenen ganz systematisch und schematisch angeordneten
Verbrechen. Ein System von Verbrechen, auf einzelne Personen ver-
teilt, wird zusammengestellt, jedes findet die ihm gemäße, raffiniert
ins Werk gesetzte Strafe.
Der neuere Detektivroman geht ganz systematisch vor und hat
das mechanische Konstruktionssystem zur Vollendung gebracht. Er
bringt in kurzen Kapiteln eine Reihe von Tatsachen und schließt die-
selben im Kapitel mit einem Knalleffekt ab. Dieser Knalleffekt soll
womöglich zu gleicher Zeit überraschen, spannen und in einen Affekt
versetzen, am liebsten in den der Furcht und des Grauens, minde-
stens aber erschrecken. Beispielsanalyse: Das Grand Hotel Babylon
von Arnold Bennett:
1. Kapitel: Theodore Racksole verlangt im Grand Hotel Babylon
ein Beafsteak, bekommt es nicht, weil dem Oberkellner in einem so
feinen Hotel diese Forderung unerhört erscheint. Er will den Auftrag
durchsetzen. Wie?
2. Kapitel: Racksole kauft das Hotel sofort, erhöht das Gehalt des
Kochs, hat 10 Minuten später ein Beafsteak. Inzwischen hat an dem
Tisch seiner Tochter Nella ein Gast Platz genommen, den die selb-
ständige junge Amerikanerin aus Paris kennt. Beim Essen gewahrt
Racksole plötzlich im Spiegel einen Blick des Einverständnisses, den
dieser Herr Dimmock mit Jules, dem Oberkellner, austauscht. Was
hat das zu bedeuten?
3. Kapitel: Verdächtige Beobachtungen. Was macht Jules nachts
im Zimmer des Herrn Dimmock?
4. Kapitel: Jules wird von Racksole entlassen. Prinz Aribert,
dessen Begleiter Dimmock ist, stellt sich ein. Er erbleicht am Schluß
des Kapitels bis unter die Haare, als Nella sich im Gespräch ihrer
Begegnung in Paris erinnert. Hier hat der Autor entweder den späteren
58 CHARLOTTE BÜHLER.
Verlauf des Romans im einzelnen noch nicht gewußt und nachträglich
umgebogen oder absichtlich sensationell und nach falscher Seite hin
verdächtigend wirken wollen. Denn Prinz Aribert hatte wegen der
Schulden, um deren Tilgung willen er inkognito in Paris war, keinen
Grund, vor der Amerikanerin so tief zu erbleichen. Vielleicht hatte
er ursprünglich mit in eine Verbrecheraffäre verwickelt werden sollen.
5. Kapitel: Dimmock wird tot umsinkend gefunden. Mordverdacht.
Fragezeichen.
6. Kapitel: Ball von Sampson Levi, den Prinz Ariberts Neffe um
einer Anleihe willen im Grand Hotel Babylon treffen soll. — Dim-
mocks Leiche soll zur Besichtigung abgeholt werden. Sie ist ver-
schwunden. Wo ist sie? usw.
Bis zu einem gewissen Zeitpunkt endet jedes Kapitel mit einer
neuen Frage und eröffnet eine neue Beziehung. Von einem gewissen
Zeitpunkt an beginnen die Beziehungen geschlossen zu werden, aber
trotzdem bringt der Autor es bis zum Schluß fertig, jedes Kapitel mit
Fragen zu endigen, oder doch mit überraschenden Knalleffekten, z. B.:
Jules, der ehemalige Oberkellner und Verbrecher ist von Racksole
gefaßt und gefesselt worden. Man hat ihn zunächst ohne Aufsehen
in sein ehemaliges Zimmer im Hotel geschafft und auf dem Bett fest-
gebunden.
»Die Türe wurde geöffnet, und Nella trat ein. Ihre Augen
schwammen in Tränen. »Ach Papa,« rief sie, »ich habe erst jetzt er-
fahren, daß du im Hotel bist, wir haben dich überall gesucht. Komm
sofort mit mir, Prinz Eugen stirbt — « Plötzlich verstummte sie, denn
sie hatte den Mann im Bett erblickt.« Kapitelschluß.
Das einzige Ziel ist hier immer wieder nur, durch immer wieder
neue Fragen und Andeutungen und später durch unerwartete Ant-
worten zu überraschen. Mit wem steht dieser Mensch in Beziehung
und dieses Ereignis? Ist etwa auch dieser verdächtig und jener? Das
ist der erste Teil. Die Antwortreihe kann verschieden sein. Entweder
es wird zuerst mitgeteilt, wer schuldig ist, dann müssen die Über-
raschungen mit der Art der Überführung und Irreführung des Ver-
brechers zusammengebracht werden. Oder die Person des Verbrechers
bleibt bis zum Schluß geheim und wird als Hauptüberraschung am
Schluß erst genannt.
Die Muse dieser Dichtung ist nüchterne Logik und traurige Ab-
sichtlichkeit. Was die hohe Muse dieser erfindenden Kunstgattung
beflügelt, Reichtum und Pracht der Erfindung und inneres Gesetz der
daraus wachsenden Gestalt (Homer, Dantes Göttliche Komödie, Artus-
romane), das fehlt hier völlig. Von Dante über Dumas zum Detektiv-
roman führt fortgesetzt zunehmende Starrheit, Nüchternheit und Enge
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 59
les erfindenden Geisfes, der aus der göttlichen Fülle von reichen
Bildern, Formen und wogenden Gestalten über ein System hinweg
zu ein paar Erfindungsformeln nach immer gleichem Rezept ohne
Vision und Urbild herabsteigt. Gestaltete Vision und Konstruktionen
in Bilderfolgen umgesetzt sind hier die Pole.
Die in assoziativer Folge aneinanderreihende Dichtung ist anders,
ist noch primitiver. Sie überläßt sich ganz dem Zufall, der sie führt,
und geht daher wie alle Assoziationen immer wieder dieselben Wege,
die Wege der erinnerten Zusammenhänge ab. Sie unterscheidet sich
vielleicht in dem reicheren Schatz der Vorstellungen, nirgends aber
dem Prinzip nach von den Konfabulationen der kleinsten Kinder, der
Zweijährigen, die ihre ersten Geschichten erfinden, Gespinste aus Lüge
und Wahrheit, wie sie der Moment ergibt. Der Volksroman nieder-
ster Sorte entsteht auf diesem Wege. Die Ausführung bei den etwas
besseren Fabrikaten eines Karl May und Robert Kraft überläßt sich
demselben Zufallsspiel, Karl May allerdings setzt dem gewöhnlich eine
unsterbliche Idee voran, die er indes im Gedränge der Handlung meist
bald ganz vergißt. Es ist besonders lehrreich, in den unendlichen
Bänden von Karl May die unaufhörliche Rekapitulation derselben
Mittel und Maßnahmen zur Einleitung und Ausführung von Hand-
lungen zusammenzusuchen. Von Verfolgungsszenen beispielsweise
war Karl May wahrlich verfolgt. Sie häufen sich zu so unbegrenzten
Malen, daß man die Ausdauer oder Geistesschwäche eines Lesers be-
staunt, der die immerwährende Gleichförmigkeit über dem wenig
wechselnden Aussehen der Bilder und Situationen nicht bemerkt. Ich
greife zum Nachweis eines der ewig wiederholten Motive auf, das Er-
lauschen. Es ist in jedem Reiseroman ein bis zur Ermüdung wieder-
holtes Motiv, höchst wichtig für alle Unternehmungen, die irgendwie
glücken sollen. Für das Erlauschen gibt es zwei verschiedene Situa-
lionen, das unbeabsichtigte zufällige Erlauschen und das beabsichtigte
durch List erzwungene Erlauschen, welches regelmäßig durch Heran-
schleichen möglich gemacht wird, worin Karl May natürlich unüber-
troffener Meister ist. Die ausschlaggebende Rettung kann in allen
Geschichten kaum auf anderem Wege erreicht werden. In China z. B.
werden erst alle Möglichkeiten erschöpft, offene Überfälle, Prügeleien,
Gefangennahme — immer gibt es noch eine Möglichkeit zu ent-
kommen. Schließlich bleibt den Gegnern nur übrig, durch listigen
und geheimen, gut überlegten Plan Karl Mays Herr werden zu wollen,
und hier bleibt Karl May als Rettung nur übrig, diesen Plan zu er-
lauschen, um ausreichende Gegenmaßnahmen treffen zu können. Ver-
dächtige Anzeichen bewegen ihn, sich nachts in den Garten seines
Gastgebers zu schleichen, dort hört er die Verabredungen mit an. Die
50 CHARLOTTE BÜHLER.
entscheidende Rettung eines Moskauer Freundes erfolgt infolge erst
zufälligen, dann beabsichtigten Erlauschens von Anschlägen. Das
Erlauschen ist überall da die Regel, wo es sich um listige Gegner
handelt und um Gegner, die nicht durch Gewalt und Einschüchterung,
sondern nur durch Überlistung zu überwinden sind. In dem Reise-
romanband »In der Wüste« kommt das Motiv beispielsweise relativ
selten vor, da die Gegner dort immer als sehr feige und borniert hin-
gestellt sind und stets durch Einschüchterung oder Anwendung von
einiger Gewalt überwunden werden. In den in Amerika und bei den
Indianern sich abspielenden Reisen hingegen kehrt das Motiv auf
Schritt und Tritt wieder, da die Indianer, listig und kühn, nur durch
List und Kühnheit zu überwinden sind. Von Überwindung durch
Einschüchterung muß dort abgesehen, Überwindung durch Gewalt
sehr eingeschränkt werden. Nur Klugheit und List verschaffen Karl
May hier seine Überlegenheit, dazu ein neues Motiv: seine Anständig-
keit und Ehrenhaftigkeit. Wortbrüchigkeit gilt hier als verächtlich,
für Billigkeit und Glaubwürdigkeit, wo sie mit Kühnheit, Kraft und
Kenntnissen vereint auftreten, wird Achtung gefordert. — Ich kann mich
in Einzelheiten hier noch nicht verlieren und gehe kurz auf die ent-
deckende Dichtung ein.
Jedermann kennt das mittelalterliche Faustbuch. Faust ist hier
charakterisiert einmal durch die Nennung gewisser Eigenschaften,
seiner Intelligenz, seiner Hoffart, Gottlosigkeit, seines freventlichen
Übermutes, sodann aber durch seine Taten. Er zitiert den Teufel,
verbündet sich ihm, führt das und das unerhört ausschweifende Leben,
erwirbt umfassende Kenntnisse usw. Lessing und Goethe, jeder ent-
deckt in diesem Komplex von Eigenschaften und Taten ein Wesen,
jeder ein anderes, ihm adäquates, aus der Erfühlung eigenen Wesens
in jenes übertragenes. Lessing entdeckt im Faust den Erkenntnis-
durstigen, Goethe den, der Leben und Wissen und alles zugleich
umfassend auskosten will.
Hier eine Nebenbemerkung. Wir verfolgen hier nicht historische
Probleme. Den Historiker interessieren Goethe und Lessing und Aus-
maß, Inhalt und Charakter dessen, was jeder von ihnen dem Altüber-
lieferten hinzuzuschaffen wußte. Uns beschäftigt die Struktur des
Neugeschaffenen in ihrer sachlichen Eigenart. So versuchen wir mit
unserer Forschung systematische Grundbegriffe zu erarbeiten, mit
denen auch der Historiker exakter als seither die Leistungen des ein-
zelnen bestimmen kann.
Goethe und Lessing in dem oben erwähnten Beispiel entdecken
das Allgemeine eigenen Erlebens in einer anderen Persönlichkeit wieder,
durch deren Darstellung sie eigenes Problem stellen und lösen. Das
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 61
Erleben, das Fragen, das Tun und Erleiden, alles gewinnt Sinn in
der Deutung am Schluß. Ähnlich formt Schiller. In immer wieder neuen
Formen wird z. B. das Freiheitsproblem entdeckt und dargestellt, und
immer wieder gewinnt die dargestellte seelische Entwicklung, das
Erleben, Tun und Erleiden Sinn in der Lösung: Sieg der inneren
Freiheit (Räuber) oder ideeller Sieg des Freiheitsgedankens (Don Car-
los) usw. Marquis Posas Tod gewinnt Sinn und Rechtfertigung im
Sieg seiner Idee. Entdeckt ist das Problem, entdeckt seine Deutung.
Die Darstellung des Entwicklungsganges von Charakter und Hand-
lung bis zum Sinn wurden seit der Klassik festgehalten. Neueste
Kunst entdeckt die Wendung des Problems, fragt: wie wird der Sinn
zum Erlebnis, zur Wirklichkeit? Gegeben ist etwa der Sinn: Selbst-
aufopferung fürs Vaterland, wie erlebt ihn und verwirklicht ihn dieser
Menschentyp und jener? Kaiser in den »Bürgern von Calais« führt
uns Typen des Lebens vor, den Geschäftsmann, den Gatten und Vater,
den Bräutigam, den Sohn, die Brüder; Göring in der »Seeschlacht«
zeigt uns Weltanschauungstypen, wie verwirklichen sie das Opfer?
Charakteristisch ist die Art, wie der Sinn gesetzt wird. Gewisse
Arten von objektiv Sinnvollem sind uns Modernen nicht mehr Problem,
sondern eo ipso gültig, gewisse andere scheinbar ebenso objektive
Gegebenheiten in unserem Leben sind faktisch nur traditionell, sind
durch nichts zu rechtfertigen, sollen ihrer angemaßten Gültigkeit be-
raubt werden: so vernichtet Hasenclever durch seinen »Sohn< die
traditionelle autoritative Macht der älteren Generation über die jüngere,
ähnlich zeigt Unruh das sich befreiende »Geschlecht«, und Kornfelds
»Legende« macht aus der traditionellen Unfreiheit der Beziehung Herr
und Knecht die freie Beziehung Mensch zu Mensch. Strindberg ist
als Entdecker dieser Problemwendung zu nennen.
Im übrigen strebt moderne Kunst wie die Romantik auch inhaltlich
wieder nach der Erfindung*). Die Verwandlung in verschiedener
Form wird wieder Motiv (vgl. S. 53). Wie weit es glücken wird, eine
neue Erfindungsdichtung auf den Plan zu stellen, bleibt abzuwarten.
Niemand wird bezweifeln, daß die Zeiten des naiv märchenhaften Er-
findens in der Hauptsache der Vergangenheit angehören. Der unge-
heure Reichtum der überlieferten Märchen an erfundenen Gestalten,
erfundenen Motiven und Handlungen ist kaum noch zu überbieten.
Unsere Zeit ist nicht mehr spielnaiv genug, ist allzu intellektuell und
erfindet bisher stets allzuviel symbolisierend. Am ehesten möchte
man die Art in Kafkas erwähnter »Verwandlung« als eine auch ohne
') Inwiefern die eben genannten Modernen forma! zum Erfindertypus der
neuen Kunstrichtung gehören, vgl. S. 81.
62 CHARLOTTE BÜHLER.
Deutung ganze und gewachsene Erfindung bezeichnen. In der Ro-
mantik ist der vom Hauptstrom abseits stehende E. Th. A. Hoffmann
wohl der einzige urnatüriich Erfindende. Seine Bewertung steigt heute
mit der Bewertung der Erfindung überhaupt, sein Ruhm bei den Fran-
zosen erklärt sich aus ihrer Veranlagung in dieser Richtung.
Neben Entdeckungen der Gesamtfragestellung gibt es Entdeckungen
in der Art der Darstellung. Während ein Victor Hugo, ein Balzac
direkt durch unmittelbare Charakterbeschreibung, ein Flaubert durch
minutiöse psychologische Analyse der Gedanken, Gefühle und Sinnes-
eindrücke in das Wesen der Menschen einzudringen suchen, halten
spätere naturalistische Darsteller nur momentane Wesenseindrücke
ihrer Personen fest, suchen modernste Dichter unmittelbar in das Er-
lebnis selbst und allein einzuführen. Doch das gehört alles schon
zu den Einzelheiten der Entdeckungen in der Formung des Stoffes.
11. Dichtungsform.
1. Einleitendes. Ein Blick in einen höchst beachtenswerten,
gründlich durchdachten »Versuch einer Grundlegung des Schöpfe-
rischen«, wie er sich in dem Buche von Max Raphael »Von Monet
zu Picasso« findet, soll den zweiten Teil unseres Unternehmens ein-
leiten. Die außerordentliche Sicherheit, mit welcher der Verfasser seine
Einsichten dort formuliert, dankt er zum Teil einer gründlichen Fundie-
rung seiner Psychologie in der Erkenntnistheorie der Marburger Schule.
Auf eine erkenntnistheoretische Vorwegnahme läßt sich unsere Psycho-
logie nicht ein. Wir können uns Raphaels Gedanken nur insoweit
zunutze machen, als sie sich unabhängig von ihrem Fundament und
als Analyse des künstlerischen Schaffens betrachten lassen. Daß Ge-
staltung Aufgabe der Kunst sei, werden wir dem Verfasser ebenso
gern zugeben, wie wir nichts gegen die Behauptung einwenden, daß
der Gestaltungswille im Wesen des Künstlers vielleicht den Grundzug
ausmacht. Eine Hauptarbeit hat Raphael aber bei dieser Aufstellung
nicht geleistet, er hat uns nämlich nicht verraten, was für ein psy-
chisches Gebilde er sich unter dem Gestaltungswillen denkt. Dieser
Erlebniskomplex wird nicht leicht zu analysieren sein, so unmittelbar
der Begriff einleuchtet. Nach Raphael klingt es so, als liege hier eine
reine und spezifische Willensform vor. Davon kann keine Rede sein.
Die Tatsache, daß hier Gestalt, bestimmte Form und Ordnung gewollt
wird, deutet darauf hin, daß dieses Wollen ein bestimmtes intellek-
tuelles Moment einschließt, das gedankliche Erfassen bestimmter Be-
ziehungen und Zusammenhänge. Der Gestaltungswilie enthält die
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 63.
I
Idee als Aufgabe, die vom Künstler im Material und für gewöhnlich
an einem Objekt realisiert wird.
Gegenstand der Diskussion ist nun, wie sich der Gestaltungswille
zum Objekt verhält. Nach Raphael ist er ein absoluter Herrscher
über Sinne und Intellekt. Vom Gefühl spricht er nicht, aber die Ein-
fühlung als künstlerisches Grunderlebnis lehnt er ab. Das rezipierte
Objekt ist nur Gelegenheit, es hat gar kein Recht, seine eigene Ge-
setzmäßigkeit vom Künstler berücksichtigt sehen zu wollen, es ist so,,
wie es in Sinne und Intellekt eindringt, nur Anlaß und eventuelle
Auslösung des einzelnen künstlerischen Gestaltungsprozesses. Das
Gesetz dagegen, das für den Künstler gilt, das sein Schaffen notwendig
macht, schafft jener Gesfaltungswille. Das einzige Bedingnis, das von
außen her noch hinzukommt, ist das, unter welchem allein das jeweils
gewählte Material sich gestalten läßt, also in der bildenden Kunst nach
Raphaels Ansicht die Dreidimensionalität des Raumes. Unterdrücken
wir eine Kritik der letzteren Behauptung und fragen wir uns, ob tat-
sächlich der Gestaltungswille allein das Gesetz für die zu schaffende
Form bestimmt. Dieses Gesetz soll ihm aus dem Erlebnis eines Kon-
fliktes hervorgehen, aus dem Erlebnis der Differenz, die zwischen der
Welt, so wie sie ist oder zu sein scheint und so wie der Künstler-
sinn sie geordnet denkt, besteht. Das, wovon wir mit Raphael aus-
gehen wollen, ist, daß der Künstler einen Mangel in der Seinsweise
der Erscheinungen empfindet. Raphael sieht indes, scheint uns, nur
ein Moment im Erlebnis dieses Mangels, nämlich das Erlebnis, daß
etwas fehlt zu dem Gestaltideal, wie der Künstler es in sich trägt.
Mir scheint noch etwas anderes hinzuzukommen. Nämlich zu der
Konstatierung: es fehlt etwas, kommt die Frage: was fehlt? und mit
ihr das Bedürfnis nach Verständnis des zur Ergänzung und Vervoll-
kommnung Nötigen, nach Deutung des Gegebenen hinzu. Man
kann nicht annehmen, daß das zu Ergänzende von vornherein klar
und im Künstler gegeben ist, ohne daß er zu fragen, zu deuten noch
nötig hätte. Es kommt also die Deutung helfend hinzu, um den
Künstler zu lehren, wie er gestalten muß, um das Gegebene im Sinne
des Ideals zu vervollkommnen. Die Neugestaltung des Künstlers be-
deutet dann eine Abschließung des unabgeschlossen Gegebenen, eine
Abschiießung der Lebensform und der Welt. Die Form wird voll-
endet und die Fragen werden beantwortet.
Die Vernachlässigung dieses Erkenntnismomentes im Erlebnis des
Künstlers ist die Ursache, daß Raphael den Impressionismus nicht zu
schätzen versteht. Im Impressionismus steht dieses Moment zweifel-
los voran. Der Impressionismus strebt nur die gegebene Form zu
erfassen, strebt nicht danach, sie zu überbieten und zu vollenden.
^ CHARLOTTE BÜHLER.
Es fragt sich nun, in welcher Weise die vollendende Formung
durch den Künstler vor sich gehen kann. Stets ist es eine Gestaltung
seines Welt- und Lebenserlebnisses durch irgend ein sinnfälliges Mittel,
durch Sprache oder Töne, durch Malerei, Zeichnung oder Bildnerei.
Dieses Sinnfällige ist Darstellungsmittel zur Darstellung des Gestal-
tungs- und Deutungserlebnisses. Es wird nun entweder versucht,
das Erlebnis unmittelbar zu fassen, und dem Material unmittelbar eine
Form zu geben, die etwas ausdrückt (mit Erfolg bisher nur in der
Musik oder durch das Ornament), oder aber sich an die Form ge-
gebener Dinge, Sachverhalte, Gedanken sie ausgestaltend anzuschließen,
und in der Art ihrer Wiedergabe die gestaltende Idee zu betätigen
und die Deutung aufzuzeigen. Diese Kunst nennen wir darstellende
Kunst, weil sie mit Hilfe einer Darstellung ausdrückt, die andere
nennen wir kundgebende Kunst, weil sie unmittelbar ausdrückt
oder kundgibt '). Die Sprache scheint uns wie die bildenden Künste
im Unterschied zur Musik in erster Linie dazu berufen, durch Dar-
stellung auszudrücken, weil ihr erster Zweck ist, verstanden zu
werden, weil sie durch Vermittlung der Darstellung das Erlebnis faß-
barer macht, wie man das auch von der darstellenden Malerei und
Plastik im Unterschied zu der expressionistischen entschieden be-
haupten muß. Doch hat die Sprache auch Mittel, unmittelbar auszu-
<lrücken, kundzugeben, sobald sie von ihren musikalischen Qualitäten
Gebrauch macht. Es geschieht das vorwiegend in der Lyrik, doch
mit Erfolg auch in anderen Gebieten der Dichtung. Wir wollen uns
zunächst mit darstellender Dichtkunst befassen, welche in Roman und
Novelle am meisten zu ihrem Recht kommt. Zwei Seilen sind als
spezifisch künstlerisch in der Darstellung herauszuanalysieren, die Art
der Deutung und die Art der Gestaltung.
Das Gesetz der Gestaltung kann der Künstler nicht allein, wie
Raphael behauptet, aus seinem eigenen Gestaltungswillen und der
darin schaffenden Idee empfangen, sondern gleichzeitig aus dem Er-
gebnis seiner Deutung. Beides wird sich durchdringen. Je nachdem
die gestaltende eigene Idee oder die Deutung im Vordergrund seines
Erlebnisses steht, wird er unter der Notwendigkeit der Idee oder unter
der Notwendigkeit des dem Gegenstande innewohnenden Gesetzes
schaffen, wie er es deutend erfaßte. Die vorangegangene impressio-
nistische, psychologische und naturalistische Epoche gibt uns das
Bild einer Kunst, die ganz von dem Gesetz, das dem Gegenstand
innewohnt und das sie zu erfassen suchte, beherrscht, ja fasziniert
') Über den Unterschied von Darstellung, Kundgabe und Auslösung vgl.
K. Bühler, »Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes«. Idgerm. Jahr-
buch Bd. 6, 1919.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 65
war, und es erscheint nicht nur begreiflich, sondern fast notwendig,
daß die expressionistische Gegenströmung in das andere Extrem fällt
und nur noch das Gesetz einer eigenwillig gestaltenden Idee, kein
Gesetz des Gegenstandes mehr anerkennen will, wie Raphaels Kunst-
theorie lebendig bezeugt.
2. Über die Form des Kunstwerks. Nach der Entdeckung
und Aufzeigung der »Gestaltqualitäten« durch Ehrenfels wurde eine
lebhafte Diskussion darüber geführt, ob die Gestaltqualitäten, diese
>figuralen« oder »Einheitsmomente«, wie Husserl sie nennt, noch
anderes mehr als die Beziehungen der Elemente untereinander seien,
oder ob sich nicht vielmehr die Gestalt aus der Summe aller Be-
ziehungen ergebe^). In experimentellen Untersuchungen ȟber Ge-
dankenentstehung«'') und »über die Prozesse der Satzbildung« ') meine
ich ein Gesetz der Einheitsbildung faktisch nachgewiesen zu haben,
welches die bloße Beschränkung auf nebengeordnete Beziehungsreihen
ausschließt. Es gelang mir dort, in der Entstehung des Satzes, der
einfachsten Sprach-Sinneinheit, ein durchgehendes Gesetz der Zentrali-
sation nachzuweisen. Zwar war die dort vorgenommene Satzbil-
dung nicht die übliche Art, deren wir uns im täglichen Denken be-
dienen, sondern natürlich eine konstruierte, experimentell beobachtbare
Art und Weise. Aber es war doch nicht eine absolut künstliche
und weltfremde Manier, die gar keinen Rückschluß auf das normale
Denken verstattete. Vielmehr läßt sie sich gut damit vergleichen, wie
der Historiker den lückenhaften Text einer Quelle rekonstruiert und
deutet, oder wie wir ein Telegramm verstehen. Wir gaben nämlich
aus einem sprachlich formulierten Gedanken die Haupt-Worte, die ihn
konstituieren und ließen die Versuchspersonen aus diesen Worten den
Gedanken rekonstruieren. Die Methode ist nicht zu verwechseln mit
der Meumannschen Dreiwortmethode, die als Intelligenztest bekannt
ist, in der drei beliebige Worte beliebig zum Satz zu binden sind.
Bei uns war ein dem Wortkomplex schon innewohnender Sinn Vor-
aussetzung. Beispiel: Edelstein — Fassung — Preis — Wert — er-
höhen — nicht. Lösung: Die Fassung des Edelsteins erhöht zwar
seinen Preis, aber nicht seinen Wert. Auf das Nähere der Aufgaben-
stellung und Lösung können wir uns hier nicht einlassen. Nur aus
den allgemeinen Resultaten wollen wir folgendes hervorheben: der
Prozeß verlief stets in derselben Weise: aus zahlreichen Beziehungen
') Kritische Übersicht über diese Diskussion in den »Oestaltwahrnehmungen«
meines Mannes 1. Bd., 1913; weitere Literatur und Beiträge zu der Frage in meiner
Untersuchung .Über Oedankenentstehung., Zeitsehr. f. Ps. Bd. 80, 1918, S. 16Z,'
') A. a. O.
>) Ebenda Bd. 81, 1919.
Zettschr. f. Ästhetik u. illg. Kunstwissenschaft. XV. 5
66 CHARLOTTE BÜHLER.
der verschiedenen Worte untereinander (Preis des Edelsteins — Wert
des Edelsteins — Wert nicht erhöhen — Fassung des Edelsteins —
Preis nicht erhöhen) hebt sich eine Beziehung oder ein Gegenstand
mit zahlreichen Beziehungen als Mittelpunkt allmählich heraus, wo-
durch die Einheitsbildung gesichert ist. Im obigen Beispiel ergibt
sich also aus allen möglichen Beziehungsgruppen, daß es sich um
die Fassung, den Preis und Wert des Edelsteins handeln muß. Das
»erhöhen« drückt eine Beziehung zweier Größen zueinander aus, da
kommen nur »Preis und »Wert« in Betracht, die Nich4erhöhung kann
nur hinsichtlich eines dritten Gesichtspunktes gelten — es ist die Fassung
des Edelsteins, die sich allmählich in den Mittelpunkt aller Beziehungen
stellt. In vielen hundert Versuchen erweist sich immer wieder eine
solche Zentralisation — deren es verschiedene Formen gibt — als
Grundlage der sprachlichen Einheitsbildung zum Satz.
Es ist im allgemeinen gefährlich, sich auf Aussprüche von Dich-
tern über ihr Schaffen zu stützen, aber ein so kritischer, objektiv
analysierender Denker, wie der Dichter Otto Ludwig war, darf wohl
einmal eine Ausnahme bilden, wenn uns seine Analyse eine höchst
beachtenswerte Parallele zu jenen ganz anders und künstlich einge-
richteten Experimenten weist. In einem Aufsatz »Mein Verfahren
beim poetischen Schaffen« beschreibt Ludwig den dichterischen
Schaffensprozeß wie folgt: als das erste beim poetischen Schaffen
drängen sich ihm nach einer musikalischen, in Farben übergehenden
Stimmung, Gestalten und Gebärden, Gruppen und Stellungen, und
dann allmählich auch Bruchstücke von Reden, Aussprüche usw. auf.
Wir können kurz sagen: Formstücke. In einem zweiten Stadium des
Schaffensprozesses wird »der Generalnenner aller dieser Einzelheitenc
kritisch und denkend gesucht, die Idee, auf die schon vorher, dem
Dichter unbewußt, die Gestaltung hindrängte und zu deren klarer,
geschlossener und einheitlicher Darstellung in einem dritten Stadium
die Gestaltung revidiert werden muß.
Nun die Reihenfolge und der Weg dieser Gestaltung müssen
durchaus nicht allgemein sein, von einem bewußten, denkenden Suchen
nach der Idee kann schon deshalb in vielen Fällen gar keine Rede
sein, weil die Idee auch nur in einer Stimmung oder Handlung, oder
im Charakter einer Persönlichkeit bestehen kann. Davon später. Aber
auf das Gesetz kommt es hier an, und das gilt: Formstücke und Ver-
einheitlichung, wobei die Ideeneinheit auch das Frühere oder gar nicht
so gesondert von jenem gegeben sein kann. Beides aber wirkt zu-
sammen zum Ganzen, sei es die kleinste Einheit des Satzes oder die
komplizierte Einheit einer Dichtung.
Denn kompliziert ist die Einheitsbildung der Dichtung, wo eine
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 67
Unzahl niederer zu immer höheren Einheiten .zusammengefaßt sind.
Kleinste Einheiten sind Aussehen, Bewegung, Mimik und Charakter
einer Person oder ein Sachverhalt, ein Ereignis und die Wiedergabe
dieser Momente. Abhängigkeitsverhältnisse aller Art verknüpfen die
kleinen Einheiten zu höheren übergreifenden Einheiten. Beeinflussung
durch verschiedene Personen und Umstände sowie Beweggründe im
Individuum selbst verbinden sich zum Komplex einer Tat, die Tat hat
andere zum Gefolge oder entwickelt das Wesen des Erzeugers wiederum
in bestimmter Weise, so entstehen eine Handlung, eine Entwicklung.
Über die Art der Verknüpfung der Oestaltstücke und kleinen Einheiten
zu höheren und schließlich zu der Einheit der Dichtung werden wir
später noch ausführlich handeln. Hier nur soviel: Die einzig maß-
gebende Art, hier eine wirkliche Einheit, nicht nur eine Reihe mit
Anfang und Schluß zu bilden, ist natürlich auch wieder nur die
Zentralisation in der »Idee«, wie der alte, vielfach einseitig mißver-
standene und mißverständliche Ausdruck lautet. Konstruierend erfundene
oder kausal aufzeigende Abhängigkeitsreihen können zu diesem Ganzen
führen, die rein assoziierend verknüpfenden Ketten dagegen führen
nicht zu einer das Ganze übergreifenden Einheit. Die Dichtung ist
Sprachgestalt und empfängt aus den Gesetzen der sprachlichen Ein-
heitsbildung ihr Gesetz.
Zwei Bestandteile fanden wir ^vorhin in Otto Ludwigs Analyse:
Formstücke und vereinheitlichende Idee. Das sind Bestandteile, die
ein im Praktischen Beobachtender stückweis auffindet, wenn er unge-
fähr kritisch sortiert, aber es sind natürlich keine Elemente, aus denen
sich letzten Endes der Aufbau fügt. Die Quellen, aus denen beides
fließt, suchen wir mit folgender Betrachtung auf: jeder Mensch sammelt
im Laufe der Zeit einen Schatz von Erfahrungen, das sind Erinne-
rungsbilder von Personen, Tieren, Sachen, Situationen, Vorgängen,
gedankliche Verarbeitungen von Erlebnissen, gedankliche Deutungen
und Urteile über Menschen und Dinge, über Ereignisse im einzelnen
und den Weltlauf im allgemeinen. Strebungen und Gefühle, Willens-,
Wert- und gefühlsmäßige Stellungnahmen, kurz eine Unsumme ver-
arbeiteten oder nicht verarbeiteten Erlebnismaterials, kann man sagen.
Erfahrungen liefern dem Künstler Stücke teils zu unmittelbarer Wieder-
gabe des Geschauten oder Erinnerten, teils zu gedanklicher Verarbei-
tung, umgekehrt drängen Überlegungen, Einsichten, theoretische An-
sichten, Gefühle oder Wünsche des Künstlers zur Umsetzung in
schaubare Gestalt. Ich stelle mir den Prozeß als eine fortgesetzte
Metamorphose vor, Veranschaulichung des Allgemeinen und Verallge-
meinerung des Einzelfalles. Der Dichter sieht Menschen, abstrahiert
Eigenschaften, Gestalt- und Wesenseindrücke und verarbeitet sie
58 CHARLOTTE BÜHLER.
stellungnehmend, deulend, erkennend, einfühlend und umformend zu
neuen Gestalten. Bei der Darstellung nun wird der sogenannte Ein-
druckskünstler, dem an dem unmittelbaren, getreuen Aufnehmen des
Erfaßten liegt, sich mehr an die Aufzeigung des Vorgefundenen, des
Eindrucks, halten, dem sogenannten Ausdruckskünstler dagegen dient
das Vorgefundene nur als Material, das er mit Eigenem umgestaltet.
Das sind die Extreme. Wo sie Neues schaffen, ist der erste der, wel-
cher Neues aufzeigt, welcher entdeckt, der zweite der, welcher erfindet.
Das Erfinden und das Entdecken sind keine elementaren psychi-
schen Prozesse, sondern, wie wir gleich zu Beginn aufzeigten, in
dauernder Wechselwirkung miteinander fortgebildet. Oleichwohl lassen
sich wie bei den Kunst in halten so auch bei der Kunst form die
Elemente nachweisen, die den Grundbestandteil des einen und des
andern bilden, das Kombinieren und das Abstrahieren. Als Inhalt
bezeichnen wir, wie sich aus der Praxis der vorangegangenen Dar-
stellung ergibt, alles, was den Gegenstand eines Kunstwerks aus-
macht, seine Motivreihen, seine Personen und Handlungen, sowie alle
eigenen Erlebnisse des Künstlers, die etwa versinnbildlicht werden
sollen. Inhalt ist das einer bestimmten Dichtung zugrunde liegende
Material, Formung die Art seiner Verarbeitung. Für diese Formung
kann man nun folgendes Prinzip formulieren: auslesend aus der Fülle
des Materials mit eventuellen Neuaufzeigungen daran gestaltet der
Künstler durch eine Idee vereinheitlichend. Dabei muß er zweierlei
berücksichtigen: die Konsequenz oder Notwendigkeit in der Durch-
führung der Idee und das Gesetz der Objekte (d. h. das Gesetz der
Charakterentwicklungen, Ereignisabläufe usw.), Oestaltnotwendigkeit
und Objektnotwendigkeit.
Zweierlei also kommt von entgegengesetzten Enden zusammen
zur Form des Kunstwerks: die Auslese des Objekts und am Objekt
und die Gestaltung des Objekts durch die Idee. Die Auslese, in
erster Linie eine Leistung der Abstraktion, beruft das Objekt und be-
tätigt sich entdeckend an ihm und seinen Qualitäten und Beziehungen.
Die Gestaltung, in erster Linie eine Kombinationsleistung, drängt zu
Erfindungen, indem sie das Gegenständliche zu neuartigen Kombi-
nationen verwendet. Die Auslese isoliert und hebt hervor, betätigt
sich künstlerisch am Gegebenen; der »Gestaltungsdrang« der kombi-
natorischen Phantasie dagegen geht eher am Wirklichen, Gegebenen
vorüber und will Neues, Nichtvorhandenes oder doch so nicht Vor-
handenes schaffen. Grundlegend für alle Gestaltung ist die »Oestalt-
bindung« '), und damit ist ein Doppeltes gesagt: die Gestaltbindung
') F. Seifert, Zur Psychologie der Abstraktion und Oestaltauffassung. Zeitschr.
I
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 69
bedeutet eine Zusammenfassung der Gestaltelemente in der Gestalt
und ihre Abschließung nach außen. Die Gestaltbindung ist eine Ein-
heitsbildung. Die primitivste Form ist ein Neben- oder Nacheinander
von Elementen mit Abschluß gegen die Umgebung. Mag sein, daß
dies die Auszeichnung erklärt, welche die Dichtungsschlüsse gemein-
hin erfahren. Jegliche sprachliche Einheitsbildung verlangt aber Zen-
tralisation '). Jeder Satz ist eine zentralisierte Sinneinheit. Auch die
Dichtung ist zentralisiert und zwar je nach ihrem Charakter primitiver
oder kunstvoller.
Wenn ich von morgens bis abends die Erlebnisse eines Tages
überschaue, so bilden diese eine Reihe, eine Aufeinanderfolge von Er-
eignissen, die vereinzelt nebeneinander bestehen bleiben, im besten
Fall kettenartig in bestimmten Zusammenhängen verknüpft. Die einzige
Zusammenfassung geschieht hier durch meine Person, durch die Tat-
sache, daß allemal ich der Erlebende bin. Es gibt literarische Erzeug-
nisse, bei denen nicht anders verfahren wird. Auch hier wird dann
eine Folge von Ereignissen vorgetragen, deren einzigen Zusammenhalt
der gemeinsame Bezug auf eine Person bildet. Diese Einheitsbildung
ist indes die lockerste, welche man bieten kann. Es ist dann gewöhn-
lich so, daß im Mittelpunkt des Interesses die Ereignisfolge steht, die
nur wie an einem Bindfaden an einer bestimmten Person aufgehängt ist.
Anders ist es, wenn die Person im Mittelpunkt des Interesses
steht und die Ereignisse nur der Gestaltung ihres Typus dienen.
Dieser Typ gibt für die Anordnung und Auswahl der Ereignisse dann
ebenso ein einheitliches Prinzip wie in einem dritten möglichen Fall
ein Gedanke, den die Bilder nur veranschaulichen, in einem vierten
Fall eine Stimmung, auf welche die GestaUung einheitlich zurückweist.
Die nähere Ausführung dieser Aufstellung später.
Außerdem verläuft nun aber jede Dichtung zielstrebig. Sie ent-
hält eine Handlung oder eine Entwicklung mit bestimmter Vorberei-
tung, bestimmtem Ausbau und Abschluß, eine Rhythmisierung der
Spannungen, der Motive, wo das Kunstwerk durchgebildet ist. Ein-
heitsbildung und Organisation des Inhalts sind die Grundgesetze.
Das letztere behandelt Walzel schon seit langem und zwar unter dem
Namen »Architektur« der Dichtung. Man hat ja vorher auch schon
vom Aufbau gesprochen. An vielen Dichtungen wies Walzel bereits
nach, wie diese Organisation bis in die Einzelheiten einer Szene, eines
Kapitels, durchgeführt oder nur auf Grundgesetzlichkeiten beschränkt
f. Psych. Bd. 78, 1907. Dieser psychologisch exakte Terminus »Oestaltbindung« ist
nicht zu verwechseln mit dem von Steinweg in der Literatur gleichnisweise ge-
brauchten Ausdruck »Bindung«.
') Vgl. Verf. üb. Gedankenentstehung a. a. O.
70 CHARLOTTE BOHLER.
bleibt oder ganz vernachlässigt wird. Wären die Ausdrücke nicht
schon so abgegriffen und vieldeutig, so könnte man bei Einheits-
bildung und Organisation von innerer und äußerer Struktur sprechen.
Wie die äußere Struktur des Gemäldes zur Auszeichnung gewisser
Punkte führt, etwa des Mittelpunktes, der Diagonalen, der Vertikalen
und Horizontalen, so kann auch die Dichtung belieben, Momente und
Strecken auszuzeichnen: sie kann einen Aufstieg bis zu einem ge-
wissen Höhepunkt mit nachfolgendem Abstieg oder stetige Entwick-
lung zu einem End- und Höhepunkt vorziehen oder noch in anderer
Weise betonen ; das nachzusuchen ist Sache einzelner Untersuchungen.
Die Auszeichnung solcher Punkte wird in der Dichtung häufig durch
Affekte unterstützt, die sich an diesen Stellen steigern, auch wohl
häufen.
Wir wissen aus optischen Experimenten, daß, wo die Gestalt-
bildung im Vordergrund steht, die Abstraktion zurücktritt und ver-
nachlässigt wird. Die Gestaltung geht auf Zusammenfassung, nicht
auf Isolierung, in gewissen Grenzen schließen beide sich aus % Darum
liegt der vorwiegend gestaltbildenden Phantasie wenig an der Analyse,
mehr an Synthesen, an freier straffer Zusammenfassung. Je ausschließ-
licher der Gestaltungsdrang den Künstler beherrscht, desto emoörter
wird er die Zumutung zurückweisen, sich an das Objekt zu binden,
dessen durch Sinne oder Erkenntnis erfaßten Formen und Gesetze zu
wiederholen, desto willkürlicher wird er mit den Gegenständen schalten
wollen und sie zu freien Erfindungen neuer Formen benutzen. • Das
ist der augenblickliche Stand der Kunst, wenigstens einer Hauptrich-
tung. Diese sucht allein Gestaltungsformen, nicht Objektformen. Diese
Kunst bindet sich nicht an Gesetze der Objekte, braucht und will
nicht ihren Kausalzusammenhang, kann mit Zufällen und erfundenen
Geschöpfen arbeiten. Solche Kunst ist etwa das Märchen.
3. Gestaltnotwendigkeit und Objektnotwendigkeit. Man
spricht viel von der künstlerischen Notwendigkeit in der Entwicklung
einer Handlung. Sie kann zweierlei sein, Gestaltnotwendigkeit und
Objektnotwendigkeit. Erstere ist der konsequente Ausbau der Gestalt-
fragmente, die sich dem Dichter aufdrängen, die aus dem Künstler
erschaffen hervorgehen und etwas Neues, Selbständiges gegenüber
allen bisherigen Gestalten darstellen. Gestalten, die durch irgend
welche Abstraktions- und Umformungsprozesse aus der erlebten Wirk-
lichkeit des Lebens hervorgehen und den ersten Teil des Weltbildes
ausmachen, das der Künstler in sich trägt und zur Anschauung bringen
will. Der zweite Teil ist eine Auffassungs- und Deutungsleistung.
') Seifert a. a. O.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 71
Zum vollständigen Weltbild gehört die Deutung der gegebenen Welt,
der Versuch, die Erscheinungen in irgend einem Sinne zu verstehen
als sinnvoll oder sinnlos, optimistisch, pessimistisch, ethisch, ästhe-
tisch, idealisierend, kurz, in irgend einer Einheitlichkeit. Dieser Ver-
such, die Erscheinungen zu deuten, bildet die Gegenströmung gegen
die freie Gestaltung des Schaffenden, hindert ihn am willkürlichen
Ausschweifen und bindet ihn schließlich an ein Gesetz, wie es ihm
den Objekten und dem Ablauf der Weltereignisse innezuwohnen
scheint. Als grundlegendes Entwicklungsgesetz gilt ja heute die durch
die Wissenschaft entdeckte kausale Folge der Ereignisse. Sie ist aber
nur die Grundlage aller Ereignisfolge in unendlicher Reihe. Spricht
man dagegen von einer zusammenhängenden Entwicklungsreihe, so
werden sich noch andere Gesetze aufzeigen lassen, welche den Zu-
sammenhang zum Ausdruck bringen, so daß eventuell sogar die
kausale Folge vernachlässigt werden kann, z. B. die Einsinnigkeit der
Richtung. Diese ließe sich als Ab- und Aufstieg quantitativ und quali-
tativ, moralisch oder in den Lebensverhältnissen, im Erfolg, im Besitz
oder sonstwie nachweisen, quantitativ als dauernde Steigerung einer
Eigenschaft, eines Hasses und seiner Betätigungen usw. Die Ein-
sinnigkeit der Richtung braucht wellenartige Auf- und Abbewegung
nicht auszuschließen. Wo in der Aufeinanderfolge das Gesetz der
Entwicklung nicht geltend gemacht wird, gibt es eigentlich nur Ver-
wandlungen, diese können kausal notwendige ziellose Tatsachenabläufe
sein oder assoziative Reihungen.
Eine Tat und eine Entwicklung im Leben haben ihre natürlichen
Gesetze des Anfangs, Verlaufs und Endes, ihren Zusammenhang in
Vorbereitung, Entwicklung und Abschluß, ihre natürlichen Gesetze
sich auszuwirken. Nur Erfahrung kann über diese Art der Zusammen-
gehörigkeit belehren, nur Auffindung, Entdeckung. Die Gestaltnot-
wendigkeit aus künstlerischem Schaffen ist eine andere, eine nicht
von der Natur, sondern von ihrem Schöpfer, dem Künstler begründete
Zusammengehörigkeit, die auf einem Akt der Zusammenfassung durch
den Künstler beruht und Ausdruck finden muß. »Es sterbe jeder
seinen eigenen Tod«, diese Forderung Rilkes gilt dem Leben, das
einer Idee getreu abläuft und zu Ende geht und gilt vor allem dem
vom Künstler geschaffenen Dasein. Kausalnotwendig geht aus einer
Reihe von Umständen hervor, wenn einer von der Straßenbahn über-
fahren wird, trotzdem er mit der Idee ausging, für das Vaterland in
der Schlacht zu sterben. Will ein Kunstwerk etwa diese Idee dar-
stellen, so würde für die künstlerische Betrachtung jene kausalnot-
wendige Tatsache zum Zufall; der künstlerisch notwendige Verlauf
ist der der Idee gemäße, hier der Tod für das Vaterland.
72 ' CHARLOTTE BÜHLER.
Es gibt eine Anzahl vielleicht zusammenstellbarer Kausalnotwendig-
keiten, die heutzutage ein Künstler nicht ungestraft vernachlässigen
kann, dazu gehört in der Dichtung der Zusammenhang von Charakter
und Erlebnis. Bestimmte Charakterzüge garantieren unter allen Um-
ständen eine bestimmte Art, Auffassung und Gestaltung des Erlebens.
Wie eine bestimmte Beleuchtung in der Natur nur ganz bestimmte
Lichtwirkungen und nur diese hervorbringen kann, so wäre hier auch
jede Willkür und Erfindung verfehlt, die aller Erfahrung ins Gesicht
schlüge und das sicherste Wissen beleidigte. Derartige im Verhältnis
von Ursache und Wirkung stehende Zusammenhänge können und
dürfen nicht verfälscht werden, da sie schon im Leben Einheiten
bilden. Anders steht es mit der Anordnung des Nebeneinander in
Raum und Zeit, wo Einheiten nur zum Teil vorhanden sind und die
Auseinanderreißung und Zusammenfügung weitgehend natürlich er-
scheint, wenn auch dem Unbefangenen noch nicht ganz so weit, wie
der Expressionist sie treibt, nämlich bis zur Auflösung der Dingeinheit.
Vielleicht sind die Grenzen hier verschiebbar und liegen in ver-
schiedenen Künsten jedenfalls auf verschiedenem Gebiet — prinzipiell
aber gilt der Kunst zunächst nur die ideelle künstlerische Einheit.
4. Notwendigkeit und Zufall. Alle Erfindungsdichtung, die
nicht durch Beobachtung und Einfühlung, durch das Erfassen von
Kausalzusammenhängen, wie sie gegeben sind und wie sie einfühlen-
dem Erfassen wahrscheinlich sind, kurz durch die Prinzipien des ent-
deckenden Geistes, sondern statt dessen von dem konstruktiven oder
dem assoziativen Prinzip des rein erfindenden Geistes sich leiten läßt,
duldet in ihren Entwicklungsreihen den Zufall neben dem Kausal-
gesetz oder statt seiner den Zufall als Ursache eines Geschehens, wie
die Konstruktion es braucht oder wie bloße assoziative Aneinander-
reihung es herbeiführt. Die rein beobachtende, ganz einfühlende und
durch die moderne Wissenschaft belehrte Dichtung läßt den Zufall
in ihren Reihungen nicht gelten, fügt auch die Bausteine der Dich-
tung mit kausaler Notwendigkeit. Trotzdem gibt es jene über der rein
kausalen Notwendigkeit thronende Form innerer Notwendigkeit der
Idee des Ganzen, welche auch der reinen Erfindungsdichtung zugäng-
lich, welche künstlerisch grundlegend ist. Als Ganzes kann auch ein
solches Werk innerlich notwendig erscheinen, welches sich in Einzel-
heiten des Aufbau s vom Zufall leiten läßt. Diese Notwendigkeit
der Idee ist von der kausalen Notwendigkeit des Auf-
baus streng zu unterscheiden. Denn diese ist nur die Objekt-
notwendigkeit, wie der heutige Stand unserer Erkenntnis sie sieht,
jene aber künstlerische, schöpferische Gestaltnotwendigkeit. Für die
Gestaltnotwendigkeit ist maßgebend das Gesamtverhältnis der vom
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 73
Künstler angesetzten Voraussetzungen und Konsequenzen, für die
Objektnotwendigkeit jeder einzelne Entwickiungsschritt der Handlung.
Ibsens Nora hat zwei Schlüsse, einen Theaterschluss und einen wirk-
lichen Schluß. Kausalnotwendig ist keiner von beiden, innerlich not-
wendig nach der Idee, künstlerisch notwendig nur der letztere. Dieser
läßt Nora bekanntlich ihrer Einsicht getreu Haus und Familie ver-
lassen, jener läßt sie in mütterlichem Mitleid mit der vorauszusehenden
Verlassenheit ihrer Kinder bei dem Gatten bleiben, von dem sie sich
innerlich trennen mußte. Nun, kausalnotwendig ist die heroische
Trennung der kleinen Nora keineswegs, der Kompromiß mit den ge-
gebenen Verhältnissen liegt im Leben immer den meisten Menschen
viel näher, als daß sie die strikte Konsequenz aus einem Erlebnis
ziehen. Aber das eben ist die innere Notwendigkeit der Dichtung:
sie hat die Voraussetzungen nur für dieses Erlebnis angelegt, hat nur
auf dieses Erlebnis hingearbeitet und muß die Konsequenz daraus
ziehen. Aus Noras Charakter, wenn auch seine Einfachheit es nahe-
legt — folgt dieses konsequente Verhalten noch keineswegs. Wäre
sie ein lebendes Geschöpf, so würde man ihr mit Recht Bedenken
wie die Existenz der Kinder oder dergleichen vorlegen, die gegebenen-
falls einen Kompromiß in der Reihe der möglichen Handlungen herbei-
zögen. Aber diese Dichtung mußte die Konsequenz ziehen, auf die
sie angelegt war.
So kann es auch mit rein erfindender Dichtung sein. Der De-
tektivroman, so zahlloser Zufälle er sich im Verlauf der Darstellung
bedienen mag, endet doch meist notwendig mit dem Schluß, auf den
hin er konstruiert und der vorbereitet, ja vorher ausgerechnet war.
Das Märchen, das in der Welt des Wunders lebt, kann doch insofern
auch notwendig enden, als es irgend eine Idee gelegentlich konse-
quent bis zu Ende verfolgt, etwa die Eitelkeit, den Haß der Stief-
mutter in Schneewittchen oder die Belohnung des Guten oder der-
gleichen. Die Idee eines Charakters, eines menschlichen Lebensver-
hältnisses oder schließlich eines gedanklichen Problems oder eines
Stimmungsbildes führt die innerlich, ideell notwendige Dichtung not-
wendig zu Ende. Davon unabhängig bedient sich die konstruierende
assoziierende, die erfindende Dichtung in ihrem Verlauf des Zufalls
statt des Kausalprinzips. Notwendigkeit der Idee ist die Einheit des
Kunstwerks und seine Grundbedingung; Kausalnotwendigkeit aber ist
nur ein Prinzip entdeckender Kunst, die mehr im Wissen ankert und
nicht im Spiel wie die Erfindung.
5. Anwendung. Den Typ des Erfinders und Entdeckers kann
man überall wiederfinden, wo es sich um geistige Neuschöpfung
handelt. Wem sind nicht in der Philosophie die heftig einander be-
74 CHARLOTTE BÜHLER.
fehdenden Gegensätze des Systeme konstruierenden Metaphysikers
und des die wissenschaftlichen Entdeckungen hypothetisch fortführen-
den Realisten bekannt? Wer kennt nicht jenen zurzeit aufs äußerste
zugespitzten Gegensatz der die Weit durch den Geist konstruierenden
Idealisten der Marburger Schule und des vorsichtig mehr forschenden
Realismus? Jeder sieht wohl den Zusammenhang neuer Kunstströ-
mungen mit der in derselben Generation ausgesprochenen Vorliebe
für jene Form des Idealismus. Lust an der rein geistigen Neuschöpfung
unabhängig von aller Wirklichkeit und demgegenüber die Lust der
anderen aru Neuschaffen in immer feinerem gesteigerten und differen-
zierteren Erfassen des Gegebenen, etwa noch seines Sinnes und Zweckes,
so in der Kunst, so in der Philosophie.
Mannigfaltig sind die Erfindungsmotive, die wir besprechen.
Aber ihr Geist ist derselbe: frei sprießen sie wie die Blume, frei
nutzen sie alle Möglichkeiten des Geistes zur Neuschöpfung über das
Gegebene hinaus: verwandelnd, steigernd, neu zusammenfassend.
Verschieden sind nun die Gesichtspunkte, die zu einer Vernach-
lässigung der kausalen, der Objektnotwendigkeit führen können. Im
ganzen bedeutet diese Abkehr eine Wendung gegen das Vorherrschen
des Erkenntnisprinzips, des Entdeckens und Deutens in der Kunst.
Sie führt heutzutage oft über das berechtigte Maß hinaus zu einer
Vernachlässigung des positiv Gewußten, des tatsächlich mit den Sinnen
Erfaßten. So wichtig scheint allein die Idee, das Gefühl, der Wille.
Das ist nun zweifellos eine Verirrung, denn je höher die Kunst, desto
umfassenderes Menschentum, desto vollständigeres Erleben ist in sie
eingegangen.
Die Gründe zur Vernachlässigung der gegebenen Gesetze in der
Kunst können aber noch andere, weniger prinzipielle sein. In der
Volkskunst stehen affektive Gründe im Vordergrund. Man will den
Hörer für sich gewinnen, will ihn fesseln, spannen, überraschen, auf-
regen; da sind die Einsinnigkeit der Richtung und gesetzmäßige Folge
nicht immer zu wahren, es kommt auch auf sie gar nicht an, es
sollen nur jene Affekte und lebhafte Vorstellungen dazu hervorgerufen
werden, auch wohl starke Begehrungen, nicht aber Erkenntnisse, Ge-
danken, einheitliche Stimmungen oder ein einheitliches Weltbild. Man
will etwa immer wieder spannen, so fällt die Einsinnigkeit der Ent-
wicklungsrichtung von selbst, dann löst sich die Richtungseinheit in
eine Anzahl nebeneinandergerichteter Stücke, in einzelne Stöße gleichsam,
in Verwandlungen auf, — soll eine Einheit bestehen bleiben, so muß
sie auf andere Weise, etwa durch die Identität der Hauptperson oder
des Ereignisses erhalten werden. Oder man will nur plaudern und
unterhalten und überläßt sich ganz der Führung des Zufalls, dem
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 75
plötzlichen Einfall, das ist der Weg der assoziierenden Phantasie-
leistung.
Solche assoziierenden Dichtungen, die nur plaudern wollen, nur
unterhalten, sind manche Märchen, sind manche Romane von Robert
Kraft und Karl May, von Volksschriftsteilern, die das Gesetz der Lust
ihres Publikums an bunt assoziierender Reihung zwar nicht theoretisch
kennen, aber praktisch befolgen. Bei Karl May muß noch etwas
anderes hinzugefügt werden. Vielfach sind seine Romane von einer
Idee beherrscht. Aber es muß betont werden, daß niemals jeder ein-
zelne Schritt der Handlung von dieser Idee getragen, daß Idee und
Handlung niemals organisch in eins verschmolzen sind. Damit wollen
wir Karl May nicht schmähen, er ist der Dichter des Volkes, das sich
an assoziierenden Folgen erfreut, und dient manchem Gebildeten —
warum sollte er es nicht gestehen? — zur Erholung von angestreng-
tem geistigem Arbeiten, wenn er auf künstlerische Strenge und Einheit
nicht achtet, sich an Wiederholungen nicht stößt, kurz, wenn er
nur leicht unterhalten sein will. Wie diese Art Unterhaltungsliteratur
statt eigenen »Vor sich Hinträumens« genossen wird, hat sie auch
eine Verwandtschaft mit dem wirklichen Traum, in dem auch das
Richtunggebende, die Determination und Einheit fehlt und assoziative
Folgen vorherrschen.
Mir scheint, daß im Traum die Menschen alle einander ähnlicher
werden, als sie im Wachleben sind. Wenigstens werden alle grund-
legenden Unterschiede der intellektuellen Befähigung und Ausbildung,
der ganzen straffen Organisation des konzentrierten schaffenden
Geistes und des undisziplinierten, geistig Ungeschulten nahezu völlig
aufgehoben. Mögen Reste des Wissens, der kritischen Besinnung im
Traum des leichten Schlafes noch bleiben, jedenfalls grundlegend ist,
daß auch im gebildeten Geist das Denken seine dirigierende Stellung
gegenüber den Vorstellungen vollständig eingebüßt, ja daß dieses Ver-
hältnis sich umgekehrt hat. Es ist eine Folge des Auseinanderfallens
von Denken und Vorstellen, das oft zu völligem Ausfall des Bedeu-
tungs- und Beziehungsbewußtseins führt, wie Hacker') und Köhler'*)
trotz aller sonstigen großen Verschiedenheiten ihres Traumlebens in
ihren sorgfältigen Beobachtungen übereinstimmend feststellen konnten.
Während das Denken sonst die Richtung für das Vorstellen abgibt,
indem es beziehend, bestimmend, auslesend, zusammenfassend, immer
zielbewußt voran schreitet, behält es im Traume nur mehr einen akzes-
sorischen Charakter. Bei Gelegenheit des Vorstellens wird auch ein-
mal gedacht, geurteilt, geschlossen, kritisiert. Aber ebenso wohl und
') Archiv f. d. ges. Psych. Bd. 21. 1911.
>) Ebenda Bd. 23, 1912; 26, 1913.
76 CHARLOTl'E BÜHLER.
noch häufiger geht es auch ohne Denken, reiht sich eine Vorstellung
nach eigenen, nach den Assoziationsgesetzen an die andere. Mit dem
Zurücl<treten des Urteils hängt auch das Zurücktreten der Sprache im
Traum zusammen. Man wundert sich, wie wenig tatsächlich im Traum
gesprochen, gelesen oder geschrieben wird. Der Grundstock eines
jeden Traumes sind Bilder. Auch der Grundstock der niederen Voiks-
literatur sind Bilderfolgen. Was diese zusammenhält, ist häufig nichts
als geläufige Assoziationen oder Reminiszenzen aus anderswo Ge-
lesenem, vor allem aber die Person des Helden, die im Traum gar
häufig mit allem Ich- und Bedeutungsbewußtsein verloren geht. Einer
der besten dieser Volksschriftsteller, Robert Kraft, beschreibt in einer
interessanten Einleitung zu seinem sechzigheftigen Lieferungswerk »Die
Augen der Sphinx < die Art, in der seine Romane Zustandekommen.
Das stimmt in der Tat mit unseren Behauptungen aufs beste überein.
Dieser junge Mann hatte als Matrose, als Jäger, als Globetrotter jeder
Art alle Teile der Welt bereist und unter den seltsamsten Abenteuern
die seltsamsten Eindrücke empfangen. In einem arabischen Brutofen
findet er eine ägyptische Sphinx mit rotglühenden Augen, deren starrer
Blick ihn bannt. Er nimmt sie mit nach Deutschland und sie ist es,
die seine Werke inspiriert. Hinter dem Schreibtisch vor ihm stehend
versetzen ihre Blicke ihn in eine Art Trance, in einen Traumzustand,
in dem ein buntes Gemisch von Erinnerungsbildern und Einfällen sich
vor ihm aufrollt. Hören wir ihn selbst. Nach einem Spaziergang
morgens um 5 Uhr im Winter und Sommer kehrt Robert Kraft in sein
Haus zurück. »Nachdem ich mich in einem Vorraum der Stiefel und
des Mantels entledigt habe, steige ich zum Turmzimmer empor. Es
ist eine enge niedrige Kammer, enthält nur einen Kachelofen, einen
alten Großvaterstuhl und einen großen Schreibtisch. Außerdem ziehen
sich durch das Zimmer noch mehrere Drähte.
Auf dem Schreibtisch steht eine Schreibmaschine, über deren
Walze Papier ohne Ende läuft, das sich durch eine einfache Vorrich-
tung auch selbsttätig wieder aufrollt. Darüber hängt eine Lampe von
besonderer Konstruktion.
Ich setze mich, den Rücken gegen den wohlgeheizten Ofen, ver-
stelle die Lampe, so daß ein ganz kleiner Blendstrahl nur gerade
dorthin aufs Papier fällt, wo beim Schreiben auf der Maschine die
letzte Schrift zum Vorschein kommt. Sonst ist das Zimmer voll-
ständig dunkel, auch ich sitze so gut wie im Finstern.
Einige Minuten der Sammlung. Dann ziehe ich an einem Drahte.
Und da rollt im Hintergrund ein Vorhang weg, und da liegt, von
gelbem Licht umflossen, eine ungeheure Sphinx, die mich mit rot-
glühenden Augen anblickt.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 77
Tatsächlich, es scheint ein riesenhaftes Ungeheuer zu sein! Das
ist natürlich nur eine perspektivische Täuschung, in Wiri<lichkeit ist
es eine spannenlange Steinfigur mit roten Glasaugen, die sich in einem
an der Wand angebrachten Kasten befindet; sie wird von einem ver-
steckten Lämpchen erleuchtet, und durch Drähte kann ich, ohne vom
Schreibtisch aufstehen zu müssen, das Ganze hin- und her rücken, bis
die Täuschung der Perspektive eine vollständige ist.
Für mich ist es eine ungeheure Sphinx, welche dort in weiter,
weiter Ferne liegt und mir dennoch handgreiflich nahe. Unverwandt
blicke ich sie an wie sie mich. Und die rotglühenden Augen bohren
sich in mein Hirn und brennen mir bis ins Herz. Und dann fangen
diese rotglühenden Augen auch zu sprechen an. Unbewußt legen
sich meine Finger auf die Tasten der Schreibmaschine. Und so immer
starr in die rotfunkelnden Augen der Sphinx blickend, beginne ich zu
schreiben. Stunde um Stunde.
Was ich schreibe? Ich weiß es selbst nicht. Ich schreibe ganz
unbewußt. Aber wenn ich es hinterher lese, so hat alles Hand und
Fuß. So entstehen meine Romane, mit denen ich seit vierzehn Jahren
das Publikum unterhalte.
Ich bin ein Trance-Schreiber.
Ich bin ein lebendiger Zeuge dafür, daß es Dinge gibt zwischen
Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen
läßt!« (Augen der Sphinx S. 2 und folgendes S. 2Q):
»Wie ich meine Romane schreibe, habe ich eingangs ge-
schildert.
Doch man darf mich nicht mißverstehen. Nicht etwa, daß ich
ein spiritistisches Medium bin, dem ein Geist oder die Sphinx diktiert.
Nein, es ist meine eigene Phantasie, und ohne meine eigenen Erfah-
rungen und Erlebnisse wäre dies alles gar nicht möglich, meine ganze
Entwicklung war dazu nötig.
Allerdings ist Seltsames genug dabei. Früher habe ich mich in
den Pausen und bei nächtlicher Weile immer abgequält, wie ich denn
nun die Fortsetzung gestalten solle, wie ich dies und jenes noch ent-
wickeln möchte. Bald aber erkannte ich, daß diese Sorge gar nicht
nötig ist. Ganz unvorbereitet setze ich mich an die Schreibmaschine,
blicke in die Augen der Sphinx, oder kann auch meine Augen schließen,
sehe sie dennoch, nehme den letzten Gedanken auf — die anderen
kommen ganz von selbst, der Roman wickelt sich ab wie meine
Papierrolle. Und habe ich einmal eine Fortsetzung, einen ganzen
Roman im Entwurf schon aufgestellt, so zeigt sich dann, daß alles
ganz, ganz anders kommt, und zwar immer viel besser, als ich ge-
plant hatte.
78 CHARLOTTE BÜHLER.
Schließlich gibt es für dieses unbewußte Schreiben, wenn man
durchaus will, eine ganz einfache Erklärung.
Es ist nicht anders als mit dem Träumen. Wir können den Inhalt
unserer Träume doch ebenfalls nicht bestimmen. Bei mir ist es ein
Träumen in wachem Zustande. Oder doch im halbwachen. Denn
ganz wach bin ich nicht. Während des Schreibens weiß ich absolut
nicht, was um mich her vorgeht, und wenn ich aufhöre, weiß ich
nicht, ob ich fünf Stunden oder fünf Minuten geschrieben habe.
Ja, es ist nichts weiter als eine Art von Träumen, dessen inhalt-
liche Ausgestaltung ich nur mehr in meiner Gewalt habe, so dass
sich die Bilder nicht verzerren, und die Sphinx dient mir nur zur
besseren Erzeugung dieses Traumzustandes. Was sonst damit zu-
sammenhängt, wie ich zu der Sphinx gekommen bin, davon wollen
wir nicht mehr sprechen.
Ich bin mit Absicht Volksschriftsteller geworden. Ich weiß, was
ich will, wer ich bin und was ich tue. Meine Romane sind keine
epochemachenden Erzeugnisse der Literatur. Ich schreibe zur Unter-
haltung des Volkes.
Ich bin Arbeiter gewesen, bin es noch heute, will nichts anderes
sein. Man muß nur immer recht und billig denken. Ich tanze nicht,
habe niemals Gefallen daran gefunden, aber ganz fern liegt mir, des-
halb das Tanzen verurteilen zu wollen. Im Gegenteile, ich freue mich
über fröhlich tanzende Menschen.
Ich achte den Schuster, der mir gute Stiefel macht, genau so hoch
wie den Dichter, der mich durch ein Theaterstück ergötzt, und wie
den Fürsten, der sein Land und Volk nach bester Einsicht regiert,
und ich ziehe vor meiner Waschfrau, die mir auf der Straße Gutentag
wünscht, genau so höflich den Hut wie vor der Frau Geheimrat. So
seid auch ihr recht und billig, laßt meine Romane nach des Tages
Arbeit lesen, wem sie gefallen, sie dienen zur Unterhaltung, und wem
sie nicht gefallen, der kritisiere sie nicht!«
Diese Auslassungen eines naiven Beobachters über seinen eigenen
Zustand sind höchst interessant, nicht nur weil sie uns zeigen,
daß dieser Volksdichter selbst die Art seines Schaffens mit einem
Träumen vergleicht, sondern auch, weil sie uns mancherlei über den
Entstehungsprozeß dieser Art Dichtungen verraten, was zu sagen viel-
leicht nicht beabsichtigt war. Der wesentlichste Satz darüber ist dieser:
Die Volksdichtungen entstehen als Improvisationen. Sie haben
alle Vorzüge und Fehler von solchen, die Unmittelbarkeit, Frische
und Aufrichtigkeit, aber auch den Mangel an Überlegung und Ge-
danken überhaupt, mangelnde Vorarbeit, keinen Überblick, keine Vor-
aussicht und daher auch weder Zentralisation noch Formung über-
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 7Q
haupt, sondern bloße Assoziation. Der Dichter weiß oft nicht, wie
es nun weitergehen soll. Er begibt sich oft unvorsichtig in eine
Lage, aus der er dann I<aum hinausfindet. Ein sehr amüsantes Bei-
spiel der Art findet sich in dem ersten Stück dieser Romanserie »im
Panzerautomobil um die Erde«. Es kommt nämlich mitten drin zu
einer Katastrophe, in welcher der Held das Leben verliert. Hier fallen
dem Autor momentan die Zügel gänzlich aus der Hand. Die Sache
wäre nun ja eigentlich zu Ende. Aber das Ende soll doch gut sein,
und was soll nun die Heldin machen, die ihren Jüngling doch am-
Schluß heiraten müßte! Ich war sehr gespannt, wie Kraft sich aus
dieser Klemme heraushelfen würde, war schon auf Scheintod oder der-
gleichen gefaßt, obwohl ich mir sagte, daß jedes Wunder durch das
wissenschaftliche und realistische Air, das sich der Volksroman zu
geben sucht, ausgeschlossen ist. Nun der Autor hilft sich schließlich
viel einfacher, aber es wirkt doch etwas albern. Die ganze Angelegen-
heit stellt sich nämlich nachträglich als ein Mißverständnis heraus, nicht
der Held, sondern der Gegenspieler war auf der Bahre, auf welcher die
Heldin, da es gerade dunkel und der halbtote Körper verstümmelt
war, ihren Geliebten zu erkennen meinte. Daß allerdings der Mann
auf der Bahre auf die Anrede »Georg« im Sterben geantwortet hatte
»ich bin es und sich damit als den Helden zu erkennen gegeben
hatte, müßte man inzwischen wieder aus dem Gedächtnis verloren
haben.
Robert Kraft sagt es in seiner Einleitung selbst: oft habe er sich
mit Überlegungen gequält, wie seine Geschichte nun wohl weiter-
gehen solle. Später sind ihm die assoziativen Anschlüsse in einer
Art Autosuggestion von selbst zugekommen. Das Ganze aber ist
nur im Nacheinander der in einzelnen Einfällen gewonnenen Teile
entstanden.
Eine so rein und blindlings assoziierende Dichtung wie die Träume
des Tiefschlafs oder die Konfabulationen ganz kleiner Kinder oder die
Assoziationsreihen der Ideenflüchtigen gibt es praktisch kaum. Die
niederste Volksliteratur unterscheidet sich schon von diesem Extrem
durch bestimmte Zielsetzung, welche die Richtung der Reihenabläufe
in etwas determiniert. Dies Ziel zu spannen, zu unterhalten, aufzu-
regen, in Affekte wie Furcht und Hoffnung und dergleichen zu ver-
setzen beeinflußt den Verlauf. Auch wird perseverierend die Sphäre
konstanter festgehalten als im Traum. Im übrigen aber dient zur Ver-
einheitlichung und Zusammenfassung nichts weiter wie die Haupt-
person, die durch eine Unzahl Erlebnisse wandert, mit Gegenspielern
und sonstigen Trabanten ausgestattet. Ihre Existenz wie die Wünsche,
Befürchtungen und Hoffnungen, mit denen der Leser ihrem Schicksal
gO CHARLOTTE BÜHLER.
folgt, vereinheitlichen den Tatsachenstrom in einem Bett. Dieses Band
durch Wunsch und Oefühi ist die erste einfachste Verknüpfungsform
zum Ganzen in der Literatur. Psychologisch ist die Sache so zu
denken, daß ein einheitlicher Beziehungspunkt für Oefühi, Affekt und
Willen durchgehend feststeht, ohne daß nun aber auch das Ganze
der Tatsachen zusammengefaßt werden müßte. Alle Ereignisse werden
immer wieder zu denselben Personen in Furcht und Hoffnung, Liebe
und Haß in Beziehung gesetzt bis zu einem letzten Ereignis, das
einen Höhepunkt des Glücks darzustellen scheint. Das ist der natür-
liche Schluß, der da befriedigt, wo es nur auf Affekte ankommt. Es
sind Assoziationsreihen, wie man sie, ich erwähnte das schon, weniger
sensationell im Wachträumen haben kann, wenn man eine Reihe von
Erlebnissen durchgeht, immer wieder im Hinblick auf die eigene
gehabte Lust oder Unlust bis zu einem schönsten Moment, bei dem
man verweilt. Von Zusammenfassung ist hier keine Rede, vereinheit-
lichend wirkt hier nur die durchgängige Ichbeziehung, es sind eben
alles meine Erlebnisse.
Das ist nun ganz und gar nicht zu verwechseln mit dem Kunst-
werk, in dem etwa eine Stimmungseinheit das Prinzip zur Zusammen-
fassung abgibt. Denn hier wird zusammengefaßt zu eben dieser
Stimmungseinheit, etwa in dem Gedicht »Auf dem See« von Goethe
oder in »Wanderers Nachtlied« oder in dem berühmten Gedicht »Es
schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!« Inhaltsfolge, d. h. Motive,
Handlung, Beschriebenes sowie die Darstellung, d. h. Wörter, Rhyth-
mus, Reim und Klang, Aufbau und Aneinanderschluß, alles dient hier
zusammen dem einen und will zusammengefaßt sein in dem einen:
Stimmungseinheit.
Das höhere Kunstwerk stellt solch eine Einheit, sokh ein Ganzes
dar, das nicht nur im Verlauf immer wieder auf einen Gesichtspunkt
bezogen, sondern zusammengefaßt sein will. Die Stimmung gibt im
einen Fall das Prinzip für die Zusammenfassung ab. Im andern Fall
ist es ein Gedanke. Schillers Bürgschaft z. B. wandert durch ver-
schiedene Stimmungen, sie bilden keine Einheit, die hier zugrunde
liegende Einheit ist der Gedanke der Freundschaft. Es wäre lächerlich,
wollte man in jeder Ballade, jedem Roman eine Gedankengrundiage
suchen; Münchhausen hat ganz recht, sich darüber zu mokieren i). So
gut wie Gedanken im einen Fall, können Stimmungen im anderen oder
sonstige Formeinheiten, z. B. das Dekorative einer Handlung, einer
Oebärdenkomposition (Johanna Sebus) oder schließlich die Darslel-
') »Zur Ästhetik meiner Balladen«. Deutsche Monatsschr. f. d. Leben d.
Gegenwart Bd. 11, 1906, S. 97.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 81
lung eines Charaktertyps, eines Volkstyps oder dergleichen die Grund-
idee bilden. Auch hier muß man sich vor Verwechslungen mit obigem
Assoziationstyp hüten. Eine Persönlichkeit war auch dort durchgängige
Beziehungsgrundiage. Aber es kam nicht auf die Gestaltung dieser
Persönlichkeit als einer im Mittelpunkt stehenden alle Beziehungen
umfassenden Einheit an, sondern auf eine Anzahl Handlungen und
Ereignisse als solche. Vergleicht man den Grafen von Monte Christo
mit Cousine Bette von Balzac und mit dem Heiligen von Conrad
Ferdinand Meyer, so ist zwar in allen dreien das, worum sich die
Handlung dreht, eine Rache, aber nur im ersten Fall ist es dieses
Motiv der Rache als solches, welches als Affektmotiv einheitbildend
im Mittelpunkt steht, im zweiten ist es die Charakteristik eines be-
stimmten Menschentypus aus dem Leben, nämlich der Parents pau-
vres^), und im dritten Fall schließlich ist es die Persönlichkeit des
Heiligen, Anselms von Canterbury, die in ein faszinierendes Licht,
interessant, problematisch gestellt wird.
Entdeckender und erfindender Künstler brauchen im Charakter
der Idee sich nicht zu unterscheiden, aber die Art und Weise, wie sie
zu ihrer Vereinheitlichung kommen, weicht voneinander ab. Während
der Erfindende sich nur von der Notwendigkeit seiner Idee abhängig
macht, bindet sich der Entdeckende noch an die kausalen Entwicklungs-
gesetze. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Erfindende die Ein-
heit konstruiert und synthetisch baut, während der Entdeckende sie aus
Gegebenem herausanalysiert. So ist beim Erfinder die Idee vor der
Verlebendigung, beim Entdecker springt sie aus der Erscheinung ge-
deutet heraus. Dieser Gegensatz beleuchtet erneut den Unterschied
des Expressionisten und Impressionisten. Dieser, der Entdecker, deutet
aus entdeckend Geschautem, Neudargestelltem, Gegebenem nachträg-
lich kausal entwickelnd den Sinn, jener setzt den Sinn und dazu nach-
') H. Heiß in seiner glänzenden Analyse Balzacs (Heidelberg 1913) weist zwar
mit Recht darauf hin, wie in der »Cousine Bette« zahlreiche verschiedene Hand-
lungen sich kreuzen, wobei nicht immer die Cousine Bette im Mittelpunkt zu stehen
scheint. Und doch möchte ich meinen, daß wenn auch faktisch das Ganze in
mehrere nebeneinander herlaufende Handlungen zu zerlegen ist, der Intention nach
diese eine, diese ganz eigenartige und neue Gestalt der armen Verwandten als
Typus in den Mittelpunkt tritt, zerstörend zu wirken, wo sie nur kann, nicht nur
aus Eifersucht und verletzter Eitelkeit, nicht nur in Wut über geraubtes Glück, son-
dern mehr noch zutiefst aus dem hassenden, sich empörenden Instinkt der von der
Natur vernachlässigten, vom Schicksal zurückgesetzten »armen Verwandten«. Dieser
Typ eben scheint mir das Originelle, das in dem Riesenausmaß seiner Möglichkeiten
hier so Spannende und Packende. Ich möchte übrigens diese Stelle benutzen, um
Herrn Prof. Heiß für die zahlreichen Anregungen und Belehrungen, die ich aus
unseren lebhaften gemeinsamen Diskussionen auch für diese Arbeit empfangen
habe, freundschaftlichst zu danken.
Zettschr. f. Ästhetik u. allg. KiiiutwisseiiKhaft. XV. 6
82 CHARLOTTE BÜHLER.
träglich das Erlebnis, das ihn rechtfertigt. Der halbkünstlerische Er-
finder setzt eine Idee und die Veranschaulichung daneben, dazu, bringt
es nicht zu organischer Durchdringung, wie in jenem Fall der Ideen-
verwirklichung. Dumas z. B. nimmt die Rache und konstruiert eine
Reihe von Anschauungsformen derselben, Karl May nimmt die Freund-
schaft oder andere unsterbliche Ideen und setzt ihr in Winnetous
Gestalt ein monumentum aere perennius. Auch in Schillers Räubern
sind die Menschen noch auffallend »behangen« mit Eigenschaften,
die der Idee zuliebe konstruiert sind. Erlebt, durchrungen und ent-
deckend herausgelöst aus dem Erleben aber ist das Problem, seine
Freiheitsidee und ihre gestaltete Wandlung, während jene anderen
angeführten Beispiele die Idee starr und stabil zeigen.
Im großen Dichter vereinigen sich, wie wir hier sehen und unter-
wegs schon bemerken konnten, Analyse und Synthese, Entdeckung
und Erfindung. Formung und Materialgewinnung stehen ohnehin oft
auf verschiedenem Blatt.
Den Konstruktionsgang eines mit Zufällen arbeitenden reinen Er-
findungstyps im Gegensatz zum Kausalgang eines wesentlich ent-
deckenden Werkes soll die Analyse des Monte Christo und des
i Heiligen« von Conrad Ferdinand Meyer aufzeigen. Dann bleibt
noch die Einheitsbildung zum Schluß des näheren zu besprechen.
Zunächst also: »der Graf von Monte Christo« von Alexander Dumas
und »der Heilige« von Conrad Ferdinand Meyer. Motiv: Die Rache.
Der Frevel, der sie hervorruft, wird im Falle Monte Christo von
mehreren Personen vollführt: gerichtliche Anzeige durch einen Neider,
Mitwisserschaft eines Eifersüchtigen und eines Geldgierigen, Justiz-
verbrechen in Form ungerechter Verurteilung durch einen Ehrgeizigen.
Von allen Beteiligten aus gesehen: Beseitigung eines Unbequemen.
Der Frevel im Falle »der Heilige« ist tödliche Beleidigung eines
Vaters durch Verführung seiner Tochter.
Die Rache im Falle Monte Christo ist der Sturz der Verbrecher
aus ihren .glänzenden Laufbahnen und zwar jedes einzelnen auf be-
sondere Weise. Der erste wird pekuniär ruiniert, des zweiten Ehr-
losigkeit wird bloßgestellt, der dritte kommt bei einem neuen Ver-
brechen um, das ihm zur Falle wird, der vierte wird eines Verbrechens
überführt. Es kommt dem Grafen von Monte Christo und seiner Rache
glücklich zupaß, daß diejenigen, die an ihm frevelten, sich weiterer
Ruchlosigkeiten in ihrem Leben nicht enthalten konnten. Man kann
aber nicht behaupten, daß diese Ruchlosigkeiten in irgend einem
inneren Zusammenhang mit dem anfangs geschilderten Charakter der
vier Bösen ständen, abgesehen davon, daß es eben wiederum böse
Handlungen schlecht veranlagter Menschen sind, und man kann — da
I
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 83
ein solcher Zusammenhang eben nicht notwendig vorliegt — den
Racheisefilssenen zu den glücl<lichen Zufällen nur beglückwünschen,
die ihm in Gestalt dieser neuen Verbrechen zu Hilfe kommen. Aber
nehmen wir einmal an, die Tatsache dieser erneuten Freveltaten lasse
sich aus dem Wesen jener Bösewichter hinreichend notwendig machen,
so wird sich doch hinsichtlich der Durchführung der Rache nicht das
Gleiche sagen lassen.
Die Rache im Falle »der Heilige« erfolgt überhaupt nicht als eine
direkt gegen den Schuldigen gerichtete Gegenmaßnahme, sondern als
eine aus der Lage des so tief Getroffenen notwendig hervorgehende
Charakterentwicklung, die im Zusammenwirken mit dem Wesen des
Schuldigen eine hoffnungslose Schädigung für diesen bedeuten muß.
Um seiner mächtigen Gegner habhaft zu werden, muß Monte
Christo einen unermeßlichen Reichtum, ein tiefgründiges Wissen, einen
erstaunlichen Scharfsinn, Erfindungsgeist und Findigkeit, einen eisernen
Gleichmut und die Menschenkenntnis eines die Menschen überragen-
den, leidenschaftslos sie durchschauenden Gottes besitzen. Welcher
Apparat von Hilfsmitteln! Um seinen mächtigen Feind mitten ins
Herz zu treffen, und ihm alle Macht und Kraft zu nehmen, braucht
der Heilige nichts, als der Entfaltung seines innersten Wesens Raum
zu gewähren. In beiden Fällen macht der heimlich am Untergang
des Schuldigen Tätige sich diesen verpflichtet, diesem unentbehrlich.
Aber welcher Apparat von Unfällen, Geschenken, zufälligen Hilfe-
leistungen auf der einen Seite, wie einfach das natürliche Dienstver-
hältnis auf der anderen. Nun wird man vielleicht einwenden, es sei
eine dem Leben durchaus entsprechende Charakterverschiedenheit der
beiden Racheübenden, wenn der eine bewußt und mit der Anwendung
aller ihm zu Gebote stehenden Mittel an der Vernichtung seiner Gegner
arbeite, der andere aber absichtlich und bewußt eigentlich nichts tue,
sondern mehr instinktiv sich in der Richtung entwickle, die seinem
Feinde verderblich werden müsse. Wir wollen nicht erst nachweisen,
daß diese Gegenüberstellung den Unterschied der Handlungsweise
ganz unzulässig vergrößert, da es ein so völlig unbewußtes Handeln
hier auf der einen Seite gar nicht ist, sondern wollen viel radikaler
dartun, daß auf diesen Unterschied gar nichts ankommt. Auch der
so bewußt und aktiv seine Rache Suchende hätte den Weg gehen
können, den der Heilige weniger bewußt, weniger absichtlich und
aktiv beteiligt einschlägt, nämlich den Weg der Vernichtung des
Gegners durch Ausnutzung seiner natürlichen Schwächen im Verein
mit der eigenen Überlegenheit. Das aber ist eben der Unterschied
der beiden Romane, der Kampf des Monte Christo spielt sich nicht
in den Seelen ab; Monte Christo gewinnt nicht von den Seelen seiner
84 CHARLOTTE BÜHLER.
Feinde her die Macht zu ihrer Vernichtung, sondern er bereitet von
außen her einen Angriff vor, der erst am Schluß durch seinen äußeren
Erfolg auch die Seelen seiner Feinde zerstört. Er erfindet seine Rache.
Umgekehrt ist es beim Heiligen. Schon durch sich selbst, schon
durch sein Tun ist der Gegner gebrochen, und von der Seele her
beginnt der Rächende seinen Kampf, dessen äußerer Erfolg nur ein
Schlußeffekt, eine notwendige Folge der durch den inneren Sieg her-
vorgerufenen neuen Kräfteverteilung, Schwäche des Unterliegenden
und Macht des Triumphierenden, darstellt. Nun, es gibt kaltblütige
Verbrecher, wird man einwenden, die sich seelisch nicht aufreiben
und nicht ruinieren lassen. Vier dieser Art nebeneinander dürfte
indes doch etwas reichlich sein. Es lassen sich nachträglich schwer
Vermutungen darüber anbringen, wie Monte Christo den sauberen
General, den sauberen Bankier, den verkommenen Gastwirt und den
pharisäischen Staatsanwalt von ihren eigenen Schwächen her hätte
verderben und kaltstellen können, denn von den Seelen dieser Männer
wissen wir leider nicht viel. Kein Zweifel indes, daß es möglich
gewesen wäre, daß es aber eine ganz andere Anlage des Romans
vorausgesetzt hätte, als in der Absicht des Dichters lag. So wie
der Roman nun einmal ist, setzt die Möglichkeit der Rache des Grafen
die Kenntnis einer Unzahl von Tatsachen und Berechnung einer An-
zahl von Wirkungen voraus, wie sie nur Zufälle ihm in dieser Häu-
fung zutragen konnten. Er lernt das Opfer der Ruchlosigkeit des
Generals im Orient kennen und führt es als liebende Sklavin mit sich,
er hat denjenigen zum unbedingt ergebenen Hausverwalter, der um
das Verbrechen des Staatsanwalts weiß. Er hat die Möglichkeit, an
unsichtbaren Fäden alle Personen im Sinne seiner Absichten zu diri-
gieren, ohne daß der geringste Umstand seine Berechnung ihrer Hand-
lungen, Entschlüsse und Überlegungen störend durchkreuzt oder als
irrtümlich erweist. Eben diese gottähnliche Voraussicht und Einsicht
ist indes allzu lebensunwahr. Kein lebendes Wesen wird das Leben
in die Bahnen einer vorkonstruierten Entwicklung leiten können, es
sei denn, daß er es mit Maschinen zu tun';hat oder etwa mit einem
Fluß, dem er ein neues Bett gräbt, indem er es richtig unternimmt,
ihn aus dem alten abzulenken. Der Graf von Monte Christo ist kein
Werk, das Zufälle nach plötzlichen Eingebungen des Verfassers häuft,
sondern das Nötige ist vorherbedacht. Aber diese Art autokratischer
Konstruktion kommt im objektiven Effekt auf ziemlich das Gleiche
hinaus wie die assoziierten Einfälle des Zufallromans. Ein allzu
sicheres Eintreffen vorausberechneter Tatsachen sieht von außen der
Inszenierung glücklicher Zufälle so ähnlich wie ein Ei dem anderen.
Das wirkliche Leben ist ebensowenig ganz unberechenbar wie genau
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG.
85
zu berechnen, die Wirklichkeit liegt in der Mitte. Ein Künstler, dessen
Darstellung die Lebendigkeit des Lebens wahren will — ohne damit
eine Kopie des Lebens geben zu müssen, das hängt von anderen
Umständen, von dem Grad der Stilisierung des Geschehens und der
Menschen ab — ein solcher Künstler wird bald wissen, daß die Ge-
schöpfe seiner Phantasie von einem gewissen Zeitpunkt ab eine Art
Eigenleben zu führen beginnen, in das er sich nicht ohne Schaden
der Sache einmengen kann. Hat er gewisse Personen mit Voraus-
setzungen über Charakter, Lebensumstände, Beziehungen zu anderen
Personen erst einmal redend und handelnd in die Welt gesetzt, so
ist er bald an die Richtlinien gebunden, die ihm ihr von ihm ge-
schaffenes Wesen oder die in ihnen sich auswirkende Idee gibt. Er
kann nun keine Sprünge mehr machen, sondern muß konsequent ent-
wickeln, was angelegt war. Die Kräfte, die entfesselt wurden, haben
eigene Gesetze sich auszuwirken.
Meyers Roman stellt sich die Aufgabe, diesen Richtlinien nach-
zugehen. Der heilige Kanzler ist ein seltsamer Mensch, sanft, ver-
weichlicht, aber von ungeheurer Energie des Entschlusses, von glänzen-
den Geistesgaben, und voller Hochmut, doch versteckt auch und
demütig zart aus Furcht, aus Formgefühl, aus Ästhetizismus wie aus
demselben Grunde auch unberührt rein und verfeinert, doch kalt von
Gemüt. Der kindliche Geist [des ihn bewundernden Königs, ohne
viel Kultur, etwas roh, ja brutal und triebhaft in der Begierde, aber
gutmütig, warmherzig und offen und wenig reich an Gedanken wird
diesem Kanzler von England nicht viel übertriebene Achtung abnötigen.
Diesem Mann verführt der König die Tochter, die einzige, wie ein
Heiligtum fromm gehegte und als verkörperte Reinheit und Schönheit
geliebte. Man wird nicht annehmen, daß es nur eine Möglichkeit
für den Dichter gäbe, die Reaktion des Kanzlers auf diese Ungeheuer-
lichkeit darzustellen. Doch vielerlei überzeugende Wege gäbe es
sicherlich nicht. Wenn eine Rache erfolgt, wird sie versteckt und
heimlich, und nicht in rohen Taten, geistreich und zart, doch ver-
letzend gemütlos und vernichtend mit geistigen Waffen sein müssen.
Thomas der Kanzler wird Primas von Canterbury, Diener der Kirche,
die vormals Grund hatte, den Kanzler zu fürchten und die auch jetzt
in dem Bischof kein sehr bequemes Werkzeug gewinnt. Thomas
wird heilig und schlägt unter dieser Maske den weltlichen König,
untergräbt seine Macht, indem er die Bedrückten, Armen und Unter-
worfenen zu sich ruft, und brandmarkt durch das Gegenbild, das er
in sich selbst aufrichtet, den Feind als den Unreinen, Unheiligen, Ver-
worfenen. Und doch ist diese Maske der Entsagung nicht etwa bloße
Berechnung des Rachedurstigen, sondern gleichzeitig und in erster
85 CHARLOTTE BÜHLER.
Linie von innen her verständlich die Entwicklung des entsagenden,
seines einzigen 01üci<es beraubten Mannes. Um so gefährlicher dem
Feinde dieser Verzicht, der aufrichtig ist. Es erübrigt sich, Betrach-
tungen darüber anzustellen, ob und wie der Dichter in anderer Weise
aus den gegebenen Charakteren einen Kampf und eine Rache hätte
entwickeln können, genug, er hat es getan, wobei die Beachtung histo-
rischer Tatsachen eine nicht unerhebliche Rolle spielte, und die so
sich ergebende Entwicklung wirkt zweifellos kausal notwendig und
bedingt durch die Voraussetzungen des Ganzen.
Die letzte Aufgabe dieses kurzen Entwurfs wäre eine Besprechung
der Einheitsbildung und Organisation. Auf Grundidee und formale
Struktur haben Walzel ^) und eine seiner Schülerinnen E. Aulhorn ^)
die Wahlverwandtschaften in einer vorbildlich klaren und sorgfäl-
tigen Weise untersucht. Inhalt und Bedeutung der Motive, Anord-
nung und Rhythmus der Personen und Motive, alle Fragen, die mit
diesen Problemen zusammenhängen, sind uns beantwortet. Und doch
ergeben sich für den Psychologen, der mit präzisen Begriffen der
Oestaltbedingungen herankommt, noch allerhand weitere Aufgaben.
Das, was Walzel Leitmotiv nennt und als solches gründlichst be-
sprochen und untersucht hat 3), ergibt musikalisch gesprochen einen
Rhythmus, psychologisch die eine Schicht der aufeinandergebauten
Einheitsbildungen der Dichtung. Auch über die höchste Einheit be-
steht Klarheit, sie ist natürlich durch die »Idee«, das bekannte Wahl-
verwandtschaftsmotiv, garantiert. Schon hier wüßte man psychologisch
gern noch mehr über den Einheitsaufbau, der jenes oberste Motiv
mit all den Stellen verbindet, wo es in irgend einer Weise anklingt.
Aber noch mehr. Die Einheitsbildung bei Goethe beruht nicht aus-
schließlich auf der Idee. Ein Erfindungsdichter wie E. Th. A. Hoff-
mann läßt z. B. in den Elixieren des Teufels die Entwicklung des
Mönches ausschließlich auf der Wirksamkeit der Elixiere, auf der Idee
der Weltgier, beruhen; auf spezifische Charakterzüge des Mönches ist
seine Erlebnisreihe nicht zurückzuführen. Goethe, der feine Entdecker,
fordert neben der Idee noch einen Realgrund der Einheitsbildung, das
ist das Gesetz der Charaktere. Ob und wie diese doppelte Gestalt-
bindung ineinandergreift, scheint mir ein grundlegendes Formproblem
der Dichtung, und ob beides befriedigend zusammenwirkt, eine ästhe-
tische Wertfrage ersten Ranges bei diesem Werk. Einerseits ist die
') Walzel, Goethes »Wahlverwandtschaften« im Rahmen ihrer Zeit. Goethe-
Jahrbuch Bd. 27, 1906.
^) E. Aulhorn, Der Aufbau von Goethes »Wahlverwandtschaften« . Zeitschr.
f. d. deutsch. Unterricht 32. Jahrg., 9. Heft.
=) Walzel, Leitmotive in Dichtungen. Zeitschr. f. Bücherfreunde 8. Jahrg., 1917.
ERFINDUNG UND ENTDECKUNG. 87
Idee gesetzt, andererseits soll sie erst durch das Erleben der Personen
realisiert werden. Auf mich wiri<te bisher die Angieichung des Er-
lebens an das Naturgesetz nie völlig adäquat, weil die Idee der che-
mischen Wahlverwandtschaft auf Tatsachen fußt und nicht Norm ist,
während die Idee der psychologischen Wahlverwandtschaft nicht
ebenso einfach tatsächlich gesetzt, sondern umständlich konstruiert
und psychologisch begründet wurde. Ich stelle dagegen einmal die
moderne Wendung: Idee als Norm, und das sich ihr beugende oder
widerstrebende Handeln, oder die sonstige Weise der Klassiker: das
Erleben entwickelt uns das Gesetz. In den Wahlverwandtschaften
wird Goethe, wie Walzel nachweist, Romantiker. Romantiker auch
meine ich in der unmittelbaren Zusammenstellung von Konstruktion
und Wirklichkeit. Wie Hegel, Schelling, Fichte ein System konstruieren,
das ein unmittelbares Abbild der realen Verhältnisse zu sein behauptet,
bildet Goethe das chemische Gesetz im Psychischen nach. Wirkt nicht
auch hier die unvermittelte Angieichung der Wirklichkeit an die Kon-
struktion gezwungen?
Wir schließen mit einer Frage. Die angewandte Literaturpsycho-
logie beginnt erst und soll sich nicht durch vorschnelle Analyse in
üblen Ruf bringen. Diese kleine Studie soll viel mehr Anregungen als
endgültige Resultate geben. So wurden die meisten Fragen der An-
wendung zunächst nur von irgend einem theoretischen Gesichtspunkt
aus beleuchtet und nicht in ihrer umfassenden Vielseitigkeit erschöpft.
III.
Bewegungsphotographie und Kunst').
Von
Konrad Lange.
Ist die Bewegungsphotographie eine Kunst?
Die Antwort auf diese Frage ist schon mit dem einen Bestandteil
des Wortes, nämlich »Photographie« gegeben. Die Bewegungsphoto-
graphie kann nur insoweit eine Kunst sein, als es die Photographie
ist. Nun ist aber diese, wie jedermann weiß, keine eigentliche Kunst.
Sie kann zwar in gewisser Weise der Kunst angenähert werden und
berührt sich auch in einigen Punkten mit ihr. Aber ihr wesentliches
Kennzeichen ist der technische Prozeß als solcher. Sie ist keine
Kunst, sondern eine Technik. Der chemische Vorgang, durch den
das natürliche Licht die lichtempfindliche Schicht in der Weise ver-
ändert, daß die Lichter und Schatten des Vorbildes in der Kopie
genau wieder erscheinen, muß allerdings vom Menschen reguliert
werden. Und das erfordert eine gewisse Geschicklichkeit. Allein das
Regulieren eines Naturvorgangs ist an sich noch keine Kunst. Es be-
rührt sich nur mit der Kunst, insofern dabei gewisse Anforderungen
an den Geschmack gestellt werden. Der Photograph — und ebenso
der Kinooperateur — muß bei der Aufnahme seinen Standpunkt so
nehmen und die Beleuchtung so wählen, daß die Formen der Natur
— in unserem Falle auch ihre Bewegungen — so deutlich wie möglich
in der Kopie erscheinen. Das erfordert einen gewissen Geschmack,
eine gewisse Fähigkeit, die Wirkung zu berechnen, und das ist aller-
dings etwas der künstlerischen Fähigkeit Verwandtes. Auch der
Maler muß sich — vorausgesetzt, daß seine Absicht dahin geht, ein
bestimmtes Naturobjekt einfach zu reproduzieren — über die Ansicht,
die er dafür wählen will, klar werden. Auch er muß aus den ver-
schiedenen Möglichkeiten der Beleuchtung, die die Natur bietet, die-
jenige wählen, die für die flächenhafte Darstellung die günstigste ist.
') Aus einer demnächst im Verlag von Ferdinand Enke erscheinenden Schrift:
»Das Kino in Gegenwart und Zukunft«. Der populäre Charakter der Schrift, die
einen wesentlich agitatorischen Zweck (Verstaatlichung des Kinos) verfolgt, mußte
auch auf die Art der Darstellung einen bestimmenden Einfluß haben.
BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE UND KUNST. 89
d. h. die Formen am besten zur Geltung bringt. Insofern besteht also
zwischen beiden Tätigkeiten kein Unterschied.
Wohl aber besteht ein solcher insofern, als die Photographie eine
mechanische Reproduktion der Natur ist und als solche keine höhere
geistige Kraft, also auch keine künstlerische Persönlichkeit er-
fordert. Jedes wahre Kunstwerk dagegen ist, abgesehen von seinem
Verhältnis zur Natur, das enger oder weniger eng sein kann, der
Ausdruck einer künstlerischen Persönlichkeit. In einem Gemälde wollen
wir nicht bloß die Natur sehen, die es darstellt. Wir wollen auch
sehen, wie sich diese Natur im Geiste eines bedeutenden Künstlers
spiegelt. Über ein Gemälde können wir keinen größeren Tadel aus-
sprechen als wenn wir sagen: Es wirkt wie eine übermalte Photo-
graphie. Wir wollen damit ausdrücken: Es hat nichts Persönliches, ihm
fehlt der persönliche Stil. Das trifft z. B. zu, wenn die einzelnen Seiten
der Natur in ihm völlig gleichwertig, mit temperamentloser Objektivität
wiedergegeben sind, so etwa wie jedermann sie sehen würde. In einem
Kunstwerk aber wollen wir die verschiedenen Seiten der Natur so sehen,
wie der Künstler sie sieht, mit seinen Augen, seiner Vorliebe für
Einzelnes, seiner Subjektivität. Das ist gerade für uns das Interessante,
was das Kunstwerk von der Natur unterscheidet, es über die Natur
emporhebt. Nicht die Idealisierung im Sinne der Verschönerung
— darauf kommt es durchaus nicht an — sondern die Idealisierung
im Sinne der Vergeistigung, der gefühlsmäßigen Erfassung, der persön-
lichen Technik und Stilisierung.
Einen solchen persönlichen Stil kann die Photographie — und
auch die Bewegungsphotographie — niemals haben. Sie kann wohl
in gewissen Äußerlichkeiten der Kunst angenähert werden, sei es durch
die geschmackvolle Aufnahme, sei es durch gewisse Kunstgriffe der
Entwicklung, die die Kopie etwa einer Handzeichnung technisch an-
nähern. Aber sie wird niemals einen wirklich persönlichen Stil haben.
Denn von den beiden Bestandteilen jedes wahren Kunstwerks, Natur und
Persönlichkeit, wird sie immer nur die eine, nämlich die Natur enthalten.
Die andere wird zwar in gewisser Weise auch vorhanden sein. Aber in
verkümmerter Form, insofern sie sich auf die technische Geschicklich-
keit und den Geschmack des den Naturprozeß regulierenden Hand-
werkers beschränkt. In einer Photographie sehen wir immer nur die
Natur, nach der sie angefertigt ist. Das, was sie als Werk von Menschen-
hand, als Schöpfung des menschlichen Geistes charakterisiert, ist so
unerheblich, daß es bei der Anschauung so gut wie gar nicht mit-
spricht.
Das ist das Eine, entsprechend der einen Hälfte des Wortes »Be-
wegungsphotographie. Das andere, das ebenfalls in dem Worte steckt,
00 KONRAD LANGE.
ist die Bewegung. Die Kinematographie untersciieidet sich bekannt-
lich von der gewöhnlichen Photographie durch den Hinzutritt der Be-
wegung. Sie zeigt uns nicht nur die Lichter und Schatten der Natur-
gegenstände in ihrem Ausdehnungs- und Stärkeverhältnis zueinander,
sondern sie führt uns Menschen und Tiere und die sich bewegenden
Elemente der unbelebten Natur in ihrer wirklichen Bewegung vor. Ge-
nauer gesagt: Sie bietet uns die bewegten Photographien der dargestellten
Personen, Tiere und Gegenstände. Was sich im Kinobilde bewegt,
sind natürlich nicht die Gegenstände selbst, sondern ihre Bilder, ihre
Photographien, exakt ausgedrückt die Lichter und Schatten, aus denen
sie sich zusammensetzen. Wir sehen diese Lichter und Schatten sich
auf der Projektionsfläche hin und her bewegen. Diese Bewegung er-
zeugt in uns die Illusion sich bewegender Gegenstände, ebenso wie
die Lichter und Schatten allein, ohne die Bewegung, die Illusion plasti-
scher, räumlicher Gebilde hervorrufen. Was in Wirklichkeit vorhanden
ist, das ist zunächst nur die weiße unbewegte Projektionsfläche. So
wie der Maler nach Marees das Weiß der Papierfläche durch Zeichnen
so »modifizieren« muß, daß der Eindruck eines lebenden Menschen
entsteht, so wird das reine Weiß der unbewegten Projektionsfläche
durch das Kinobild mit seinen bewegten Lichtern und Schatten so
modifiziert, daß in der Phantasie des Zuschauers die Vorstellung sich
bewegender runder Körper entsteht.
Der Laie ist nun geneigt zu sagen: Also handelt es sich doch
auch hier um eine Illusion. Und warum soll diese nicht ebenso eine
künstlerische sein wie die Illusion, die man beim Anblick einer Zeich-
nung oder eines Gemäldes erlebt? Hierauf gibt eben die vorhergehende
Auseinandersetzung die Antwort. Eine Illusion findet allerdings statt,
insofern man sich etwas vorsteht, was nicht vorhanden ist, wovon
man nur ein Scheinbild wahrnimmt. Aber diese Illusion ist keine
künstlerische, insofern die Vorstellung der künstlerischen Persönlichkeit
dabei wegfällt.
Und was das bedeutet, zeigt eine weitere Analyse der Kinemato-
graphie. Der Laie zwar wird sagen: Der Hinzutritt der Bewegung ist
gerade das Künstlerische am Laufbilde. Denn es kommt dadurch der
Natur näher. Es spiegelt die Wirklichkeit, die ja fast immer mehr oder
weniger bewegt ist, vollständiger und darum treuer wieder als die un-
bewegte Photographie. Ja es ist sogar der Malerei in dieser Beziehung
überlegen. Denn diese gibt ja ebenfalls nicht die wirkliche Bewegung,
wenn sie auch in der Farbe ihrerseits wieder ein Mittel hat, der Natur
näher zu kommen. Der Filmfabrikant und der in seinen Diensten
stehende Kinoschriftsteller, der in der Fachpresse des Kinokapitals die
neue Technik feiert, sind in der Tat überzeugt, daß hierin eine Über-
BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE UND KUNST. Ql
legenheit der Kinematographie über die gewöhnliche Photographie und
die Malerei zu erkennen sei. Er glaubt allen Ernstes, daß der höhere
Grad der Annäherung an die Natur für diese Technik auch einen
höheren Kunstwert bedeute.
Natürlich ist das ein Irrtum. Das ergibt sich schon aus der ganz
elementaren Erwägung, daß weder die Plastik noch auch die Malerei
die wirkliche Bewegung als Kunstmittel kennen. Oder genauer gesagt,
daß diese beiden Künste, über deren künstlerischen Charakter ja kein
Zweifel obwalten kann, die Bewegung nicht durch bewegte, son-
dern durch unbewegte Formen wiedergeben, die nur so gewählt
sein müssen, daß sie den Eindruck der Bewegung machen. Wenn
Myron seinen Diskuswerfer in dem Augenblick darstellt, wo er die
schwere eiserne Scheibe mit der Rechten nach rückwärts schwingt,
um sie dann mit einem gewaltigen Ruck nach vorn zu schleudern,
so hat er damit ein Kunstwerk geschaffen» das sich zwar nicht selbst
bewegt, aber doch Bewegungsillusion erzeugt. Diese Bewegungs-
illusion besteht darin, daß der Beschauer sich beim Anblick dieser
Statue, die tatsächlich bewegungslos ist, dennoch, infolge ihrer künst-
lerischen Form, eine bestimmte Bewegung vorstellt. Er nimmt Un-
bewegtes wahr, ergänzt es aber in seiner Phantasie zu Bewegtem.
Dabei handelt es sich keineswegs um eine wirkliche Täuschung. Der
Beschauer unterliegt durchaus nicht der Sinnestäuschung, wirkliche
Bewegung zu sehen, sondern er weiß ganz genau, daß er ein un-
bewegtes Gebilde aus Marmor vor sich hat. Dennoch stellt er sich —
eben auf Grund der Kunstform — in diesem unbewegten Marmor in
seiner Phantasie einen bewegten menschlichen Leib vor. Er ist sich
während der Anschauung vollständig bewußt, daß er sich einer Täu-
schung hingibt. Das heißt er erlebt eine freiwillige, von ihm selbst
durchschaute Täuschung, eine »bewußte Selbsttäuschung«.
Die Bewußtheit der Selbsttäuschung ist es nun, die die An-
schauung zu einer ästhetischen macht. Das Kennzeichen jedes Kunst-
werks besteht darin, daß es zwar dem Beschauer etwas vortäuscht,
daß aber die Bewußtheit der Täuschung bei der Anschauung aufrecht
erhalten wird. Diese Bewußtheit bedeutet eine dauernde Distanz von
der Natur, eine Distanz, deren Reiz hier darin besteht, daß sie in
einem Gegensatz zu der mit der Natur übereinstimmenden Bewegungs-
vorstellung steht. Der Beschauer bewundert während der Anschauung
den Künstler, der ihn durch die von ihm gewählte Kunstform zwingt,
trotz der Bewegungslosigkeit des Marmors dennoch eine Bewegungs-
vorstellung zu erleben. Der Kunstwert der Statue — zunächst in
bezug auf die Bewegung — besteht also in der ihr vom Künstler
mitgeteilten Kraft, eine Bewegungsillusion beim Beschauer auszulösen.
92 KONRAD LANGE.
Ich nenne das Illusionskraft. Jedes Kunstwerk muß Illusionskraft
haben, wenn es wirklich ein Kunstwerk sein will. Wer das bei der
Anschauung nicht fühlt, kann annehmen, daß ihm das Organ für Kunst
fehlt. Er ist dann eben künstlerisch nicht illusionsfähig.
Es gibt nun verschiedene Arten von Illusion, also auch verschiedene
Arten von Illusionskraft. Hier interessiert uns zunächst nur die eine,
die sich auf die Bewegung bezieht.
Die Mittel, mit denen der Künstler Bewegungsillusion erzeugt,
sind verschiedener Art. Das wichtigste ist die Auswahl des frucht-
barsten Moments. Der fruchtbarste Moment ist derjenige Augenblick,
dasjenige Stadium eines größeren Bewegungsverlaufes, dessen Anblick
die Illusion der ganzen Bewegung am sichersten und stärksten erzeugt.
Es läßt sich leicht nachweisen, daß dies beim Diskuswurf eben der
von Myron gewählte Moment ist. Er ist nicht nur dasjenige Stadium
der ganzen Bewegung, das trotz des vorübergehenden Charakters der
Bewegung verhältnismäßig am längsten dauert, sondern auch dasjenige,
von dem aus man sich rückwärts und vorwärts die ganze Bewegung
am leichtesten in der Phantasie rekonstruieren kann. Die Folge davon
ist die, daß man angesichts dieser Statue die Bewegung des Diskus-
wurfs in ihrem ganzen Verlauf am stärksten erlebt.
Genau so ist es in der Malerei, nur daß hier noch die Art der
Ausführung hinzukommt, um die Illusion der Bewegung zu steigern.
Wenn Manet oder Liebermann ein galoppierendes Pferd oder Liljefors
eine flatternde Wachtel malen, so tun sie das in einer Weise, daß die
Umrisse nicht an der Fläche kleben, sondern sich von ihr loslösen,
wodurch natürlich die Bewegungsvorstellung wesentlich verstärkt wird.
Auch hier ist die Ausbildung der Technik ein Verdienst des Künstlers,
denn er hat die Pinselführung gerade so gestaltet, daß die beabsich-
tigte Wirkung entsteht.
In diesem Sinne also geht die Absicht des Künstlers auf Be-
wegungsillusion. Es ist aber ein vollkommener Irrtum, zu glauben,
daß dies zu einer eigentlichen Täuschung führen müsse. Im Gegen-
teil, das Künstlerische besteht eben darin, daß die Täuschung nicht
erreicht wird und auch nicht beabsichtigt war. Fälle, wo eine wirkliche
Bewegung stattfindet, fallen nicht in den Bereich der Kunst. Pferde
oder Hunde aus Holz oder Papiermache, deren Köpfe und Beine sich
beim Vorwärtsrollen auf dem Fußboden bewegen, oder die bekannten
sägenden oder holzhackenden Männer aus ausgeschnittenem und be-
maltem Blech, die man wohl in den Uhrläden stehen sieht, wo sie
von irgend einem Uhrwerk in Bewegung gesetzt werden, sind keine
Kunstwerke, sondern Kunststücke.
Schon daraus kann man entnehmen, daß der Grad der Annäherung
BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE UND KUNST.
93
an die Natur nicht das Kennzeichen guter Kunst ist. Natürlich bemüht
sich der Künstler — wenn er nicht gerade der modernsten Richtung
angehört — der Natur möglichst nahe zu kommen. Aber er hält sich
dabei stets innerhalb der Grenzen, die durch die Darstellungsmittel seiner
Kunst gegeben sind. In bezug auf die Bewegungsillusion ist dasjenige
Kunstwerk das beste, das innerhalb der Grenzen, die durch die
tatsächliche Bewegungslosigkeit gegeben sind, die denk-
bar stärkste Bewegungsillusion erzeugt. Die eigentliche Arbeit des
Künstlers besteht darin, die Mittel aushndig zu machen, wie das zu
geschehen hat. Gelingt es ihm, so ist das sein persönliches Verdienst.
Die Art der Illusionserzeugung ist dann eine der Formen, in denen sich
seine Persönlichkeit ausspricht. Dieses künstlerische Verdienst ist dem
Beschauer — falls er überhaupt etwas von Kunst versteht — bei der
Anschauung gegenwärtig. Das Bewußtsein desselben gehört mit zur
bewußten Selbsttäuschung. Bei aller Annäherung an die Natur muß
das Kunstwerk doch in einer gewissen Distanz von der Natur bleiben,
wenn es künstlerisch wirken soll. Diese Distanz ist schon durch die
tatsächliche Bewegungslosigkeit — abgesehen von allem anderen —
gegeben. Letztere zwingt den Beschauer zu einer Phantasietätigkeit.
Er muß mit seiner Phantasie die Bewegungslosigkeit überwinden, sonst
kann er die Handlung nicht wirklich erleben. Auf dieser Phantasie-
tätigkeit beruht im wesentlichen sein künstlerischer Genuß. Pflicht des
Künstlers ist es also, ihn dazu anzuregen.
Diese ganze Phantasietätigkeit fällt nun beim Kino
weg. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Bewegungs-
photographie wirkliche Bewegung gibt. Eine Phantasietätigkeit findet
zwar auch da noch statt, denn der Beschauer muß sich unter den
bewegten Lichtern und Schatten bewegte Naturgegenstände vorstellen.
Aber in bezug auf die Bewegung ist keine Phantasietätigkeit nötig.
Denn wenn ich wirkliche Bewegung sehe, brauche ich sie mir nicht
erst in der Phantasie vorzustellen. Eine bewegte Figur brauche ich
mir nicht erst aus dem Zustand der Ruhe in den der Bewegung zu
übersetzen. Denn ich erlebe die Bewegung ja schon durch die Wahr-
nehmung, indem ich die sich bewegenden Lichter und Schatten auf
der Fläche sehe. Ich erlebe sie infolge der bekannten Sinnestäuschung,
auf der die Bewegungsphotographie beruht, nämlich der engen An-
einanderreihung zahlreicher Einzelaufnahmen, Momentphotographien der
einzelnen Bewegungsstadien, die in ihrer raschen Aufeinanderfolge den
Eindruck einer zusammenhängenden Bewegung machen. Und da ich
sie schon durch die Wahrnehmung erlebe, so wird meine Phantasie
durch die Bewegungsphotographie nicht angeregt, sondern im Gegen-
teil außer Aktion gesetzt, ausgeschaltet, gelähmt. Das heißt also, die
94 KONRAD LANGE.
höhere geistige Tätigkeit des Beschauers fällt weg und an ihre Stelle tritt
die rein äußerliche, ganz elementare Wahrnehmung. Die Bewegungs-
photographie ist also nicht künstlerischer als die gewöhnliche Photo-
graphie, sondern weniger künstlerisch. Und wenn die gewöhnliche
Photographie wegen des Wegfalls der persönlichen Gestaltung nicht
als Kunst im höheren Sinne gelten kann, so ergibt sich daraus, daß
dies bei der Bewegungsphotographie noch viel weniger der Fall ist.
Sie ist im Gegenteil eine Eselsbrücke für alle diejenigen, welche
keine Phantasie haben oder so faul sind, daß sie ihre Phantasie nicht
anstrengen mögen, um sich etwas vorzustellen, was nicht da ist. Die
Bewegungsphotographie rangiert in dieser Beziehung nicht mit der
Malerei und Plastik, also den eigentlichen Künsten, sondern mit den
täuschenden Jahrmarktsillusionen, nämlich dem Panorama, dem Panopti-
kum und der höheren Magie.
Dementsprechend ist auch das Verdienst des Kinooperateurs kein
künstlerisches. Er muß zwar auch den richtigen Standpunkt und die
wirksamste Beleuchtung wählen, und darin liegt, wie gesagt, ein ge-
wisses Geschicklichkeitsverdienst. Auch muß er natürlich genau wäh-
rend der Zeitspanne kurbeln, in der sich die Bewegung, die er
wiedergeben will, abspielt. Aber das ist keine große Kunst. Dazu
gehört nur eine gewisse Aufmerksamkeit und — das bekannte Glück,
das beim Kinematographieren eine noch größere Rolle spielt als sonst
im Leben. Aber er braucht innerhalb dieser Zeitspanne nicht den
fruchtbarsten Moment der Bewegung auszuwählen und auch sonst
kein Mittel anzuwenden, um die Bewegungsillusion zu steigern. Denn
sein Apparat gibt ja ganz automatisch die Bewegung selbst wieder,
genau so wie sie sich abspielt. Das Verdienst dabei ist ein rein technisches,
nämlich das Verdienst der Erfindung der Bewegungsphotographie. Ein
künstlerisches Verdienst ist dabei überhaupt nicht vorhanden. So wie
beim Zuschauer die ästhetische Phantasietätigkeit ausgeschaltet ist, weil er
sich nicht Unbewegtes in Bewegtes zu übersetzen braucht, so ist beim
Kinooperateur die künstlerische Schöpfertätigkeit ausgeschaltet, weil er
nicht gezwungen ist, sich aus einem ganzen Bewegungsverlaufe einen
bestimmten Moment als den prägnantesten auszuwählen. Er gibt eben
die ganze Naturerscheinung wieder, mit allem Zufälligen, was ihr an-
haftet. Das heißt, er spart dabei die auswählende, ordnende und
sichtende Tätigkeit, die für die Kunst charakteristisch ist.
Das wird besonders klar bei der kinematographischen Aufnahme
von Volksszenen oder Haupt- und Staatsaktionen, an denen
viele sich bewegende Menschen teilnehmen. Als Adolf Menzel die
Krönung König Wilhelms in Königsberg malte, mußte er, wie er selbst
berichtet, mit dem Vordergrunde eine wesentliche Veränderung vor-
BEWEGUNGSPHOTÜGRAPHIE UND KUNST. 95
nehmen. Er mußte nämlich, um den Blick auf den König und die
Damen des Hofes frei zu bekommen, die Mitglieder des Bundesrats in
seiner Nähe nach rechts und links auseinanderschieben, wodurch er
überdies die Möglichkeit gewann, statt ihrer Hinterköpfe ihre Profile
oder Halbprofile auf das Bild bringen zu können. Das ist ein ganz
elementares Beispiel von Komposition, bei einem Bilde, das im
übrigen nach der Intention seines Schöpfers einen bestimmten Vorgang
des Lebens genau darstellen sollte. Das Verdienst Menzels in kom-
positioneller Beziehung bestand eben in dieser leichten, aber wichtigen
Veränderung der Natur.
Eine solche Veränderung kommt nun in der Kinematographie
nicht in Betracht. Der Vorgang wird da eben genau so gekurbelt,
wie er sich in Wirklichkeit abspielt. Er kann gar nicht anders ge-
kurbelt werden als es die Natur hergibt, kann also auch nachher nicht
anders auf der Projektionsfläche erscheinen. Ob dabei etwas Wich-
tiges verdeckt wird oder sonst durch einen Zufall nicht auf dem Bilde
erscheint, berührt den Operateur nicht oder höchstens insofern, als
es Sache des Glücks ist und der Film entweder gelingt oder miß-
lingt. Es ist klar, daß dieses mechanische und unüberlegte Abkurbeln,
wobei alles dem Zufall überlassen bleibt, alles andere eher ist als
Kunst. Die künstlerische Komposition wird erst durch die Bewegungs-
losigkeit des Gemäldes notwendig. Diese setzt voraus, daß alle Per-
sonen in einem bestimmten räumlichen Verhältnis zueinander auf der
Fläche fixiert sind. Natürlich sucht der Maler das Bild so zu gestalten,
daß der Vorgang deutlich erkennbar ist, die Hauptsache als Haupt-
sache erscheint, die wichtigsten Personen nicht durch andere verdeckt
werden usw. In der Natur und in der Bewegungsphotographie er-
gibt sich die Deutlichkeit des Vorgangs daraus, daß dieser sich in der
Bewegung, also zeitlich entwickelt, und daß das räumliche Verhältnis
der Personen zueinander wechselt, d. h. sich sukzessive verändert. Die
Vorstellung, die sich der Zuschauer von dem Vorgang macht, setzt sich
aus vielen Einzelvorstellungen zusammen, die alle voneinander verschieden
sind, bei denen die Personen in verschiedenem räumlichen Verhältnis
zueinander stehen, sich verschieden bewegen usw. Das Verdienst des
Malers dagegen besteht darin, daß er aus dieser unendlichen Vielheit
der Erscheinungen für jede der vorhandenen Personen die charakte-
ristische Ansicht, Bewegung, Mimik usw. auswählt und das Ganze so
ordnet, daß der bewegte Vorgang trotz der gegenseitigen Überschneidung
der Figuren völlig klar und anschaulich auf dem Bilde erscheint. Das
ist Kunst. Der Kinooperateur dagegen läßt seinen Apparat blindlings
laufen und hofft das Beste. Das ist Technik. Daß der Kinematograph
kein Komponieren kennt, ist wieder ein neuer Beweis, daß ihm das
gö KONRAD LANGE.
künstlerische Moment abgeht. Die Ausführung des Kinobildes ist
eben eine rein mechanische. Der Geist ist dabei fast ganz ausgeschaltet.
Wir haben gesehen, daß die Einführung der wirklichen Bewegung
in die Photographie eine unkünstlerische Annäherung an die Natur be-
deutet. Die Absicht geht dabei ohne Zweifel auf wirkliche Täuschung.
Der Bildhauer und der Maler verzichten auf diese Täuschung. Bei ihren
Schöpfungen hat die Bewegungslosigkeit die Bedeutung eines »täu-
schunghindernden Elements«. Daraus, daß sie dieses bestehen lassen,
darf man schließen, daß es ästhetisch notwendig ist. Es ist aber not-
wendig, um die Differenz von der Natur zu bewerkstelligen, welche
die Täuschung des Beschauers zu .einer bewußten macht. Auch beim
Kino kommt allerdings eine wirkliche Täuschung nicht zustande. Denn
wenn auch durch die Einführung der Bewegung die Natur in dieser
Hinsicht völlig erreicht wird, so gibt es doch noch andere Züge der
Natur, die von der Kinematographie nicht wiedergegeben werden können,
nämlich das Geräusch, die Farbe und die Raumtiefe. Die Geräusch-
losigkeit, die Farblosigkeit und die Flächenhaftigkeit des Kinobildes
sind täuschunghindernde Elemente, die vorläufig noch bestehen bleiben.
Man könnte daraus vielleicht schließen, daß die Bewegungsphotographie
eben doch eine Kunst sei, da sie solche täuschunghindernde Elemente
habe. Und vielleicht wäre die Erwägung berechtigt: Es komme ja im
Kino trotz der Bewegung doch keine wirkliche Täuschung zustande, also
finde auch hier der Gesichtspunkt der bewußten Selbsttäuschung An-
wendung, und daraus ergebe sich, daß das Kino eine Kunst sei. Dieser
Einwand wäre gar nicht überraschend, denn er könnte auch in bezug auf
die einfache Photographie erhoben werden und ist tatsächlich in bezug
auf sie schon erhoben worden. Ich muß deshalb noch einmal darauf
hinweisen, daß der Ausfall der Persönlichkeit, der die Photographie von
der Kunst unterscheidet, auch für die Bewegungsphotographie gilt.
Noch wichtiger aber ist ein anderes: die Bewegungsphoto-
graphie weist zwar solche täuschunghindernde Elemente auf. Aber
sie strebt danach, sie möglichst zu verringern, ja schließ-
lich sogar ganz aufzuheben. Und das ist immer ein Kenn-
zeichen für Pseudokunst. Den Beweis dafür haben wir im Panorama
und im Panoptikum. Die Malerei strebt zwar nach Raumvertiefung,
die sie bekanntlich durch die Perspektive und das Helldunkel er-
reicht. Aber sie bleibt dabei tatsächlich an die Fläche gebunden; im
Panorama dagegen werden Mauern, Hügel, Kanonen, Karren, Kochtöpfe,
Eisenbahnwägen usw. des Vordergrundes in plastischer Wirklichkeit an-
gebracht. Die Plastik strebt zwar nach Bewegungsillusion. Sie macht
aber keinen Versuch, den Marmor oder irgend ein anderes plastisches
Material in wirkliche Bewegung zu versetzen; im Panoptikum da-
BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE UND KUNST. 97
gegen kann man Wachsstatuen sehen, die sich automatisch bewegen,
die Brust beim Atmen heben und senken, die Augen rollen usw.
Gerade hier haben wir es aber mit unkünstlerischen Spielereien zu
tun, die wohl das große Publikum reizen, nicht aber den Kunstkenner
befriedigen können. Für alle diese Pseudokünste ist es bezeichnend,
daß sie nach Aufhebung der täuschunghindernden Elemente streben.
Sie bemühen sich also, das zu beseitigen, was die Bewußtheit der
Täuschung aufrecht erhält. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob ihnen
das auch im vollen Maße gelingt. Angenommen selbst, der Besucher
eines Panoptikums würde den Betrug, der mit einer sich bewegenden
Statue an ihm vollzogen werden soll, durchschauen, oder angenommen,
der Besucher eines Panoramas würde genau unterscheiden können,
was von der Darstellung gemalt und was plastische Wirklichkeit ist,
so würden diese Schöpfungen darum doch keine Kunstwerke sein,
weil in ihnen wenigstens die Absicht der Täuschung offen zu-
tage träte, eine Absicht, die nur infolge technischen Unvermögens nicht
zum Ziel geführt hätte.
Diesen Pseudokünsten ist nun auch das Kino zuzurechnen. Von
der Bewegung haben wir schon gesprochen. Schon ihre Einführung
in die Photographie bedeutet die Aufhebung eines täuschunghindern-
den Elements. Wenn dabei auch die Täuschung nicht perfekt wird,
weil noch andere täuschunghindernde Elemente vorhanden sind, so
ist doch schon die Absicht der Täuschung unkünstlerisch. Wir können
ganz allgemein sagen, daß jede Aufhebung eines täuschunghindernden
Elements der Kunst Abbruch tut, weil sie die Absicht einer wenn
auch nur partiellen Täuschung in sich schließt. Die Annäherung
an die Natur darf in der Kunst nicht in der Weise er-
folgen, daß die täuschunghindernden Elemente auf-
gehoben werden, sondern nur in der Weise, daß inner-
halb der durch sie gezogenen Grenzen die denkbar
stärkste Naturwahrheit angestrebt wird.
Sehen wir nun, in welcher Weise die Bewegungsphotographie die
anderen täuschunghindernden Elemente auszuschalten sucht. Da ist
zuerst die Geräuschlosigkeit. An sich ist die Bewegungsphoto-
graphie wie jede Photographie stumm. Die Schauspieler im Kino-
drama sprechen nicht wirklich. Sie mögen bei der Aufnahme ge-
sprochen haben, weil es ihnen so leichter wurde, ihr Spiel mimisch
ausdrucksvoll zu gestalten. Jedenfalls hat das aber für die Vorführung
selbst keine Bedeutung, da der normale Zuschauer ihnen die Worte
ja doch nicht von den Lippen ablesen kann *). Einen Wasserfall in
') Es wird übrigens erzählt, daß ein Taubstummer einmal in einem Kinodrama
Zcitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunttwisscnschtll. XV. 7
98 KONRAD LANGE.
einem landschaftlichen Naturfilm sehen wir zwar vom Felsen herab-
stürzen, allein wir hören das Oeplätscher des Wassers nicht. Bei der
Darstellung einer festlich bewegten Volksmenge, die irgend ein wich-
tiges Ereignis feiert, sehen wir zwar, wie die Menschen Hüte und
Taschentücher schwenken, aber wir hören sie nicht Hurra rufen. Das
ist zunächst einmal insofern störend, als es einen Widerspruch in sich
schließt. Nämlich den Widerspruch zwischen der Geräuschlosigkeit
des Kinobildes, das wir sehen, und den wirklichen Bewegungen, die
die Menschen, das Wasser usw. ausführen. Wir erwarten, wenn wir
eine Bewegung sehen, die in der Wirklichkeit von Geräusch begleitet
ist, auch dieses Geräusch zu hören. Und wir sind enttäuscht, wenn
es ausbleibt. Das wird schon mehr als ein Kinobesucher empfunden
haben. Der Gegensatz zur Bewegungslosigkeit macht die Geräusch-
losigkeit nur um so fühlbarer. Man fragt sich, was es für einen Zweck
hat, den Zuschauer in einer Hinsicht, d. h. durch Einführung der wirk-
Uchen Bewegung zu täuschen, wenn andererseits der Verzicht auf das
Geräusch die Täuschung doch wieder aufhebt oder illusorisch macht.
Entsteht dadurch nicht ein unorganischer, unkünstlerischer, wenn ich
so sagen soll hinkender Eindruck?
Die Kinoindustrie hat diesen Mangel sehr wohl erkannt. Sie hat
argumentiert: Wer A sagt, der muß auch B sagen. Das heißt sie hat
sich bemüht, auch die Geräusche künstlich zu erzeugen. Zwei Formen
kommen dafür in Betracht. Die eine besteht in mechanischen Ge-
räuschen von der Art des Theaterdonners, der bekanntlich durch
Schütteln eines großen Bleches hervorgebracht wird. In ähnlicher
Weise wird wohl auch im Kino das Rauschen einer Fontäne, das
Rasseln eines Eisenbahnzuges, der Regen, der Wind, der Sturm usw.
imitiert.
Die zweite Form ist die Reproduktion des Geräusches durch das
Grammophon. Dabei schwebt der Technik das Ideal der gleich-
zeitigen Aufnahme der optischen und akustischen Naturerscheinungen
vor. Gleichzeitig mit der Bewegung, die aufgenommen wird, soll der
Phonograph das dazu gehörige Geräusch aufnehmen. Und bei der Re-
produktion im Kinotheater wirkt beides zusammen. Diese Aufgabe ist
allerdings noch nicht völlig gelöst. Die sogenannten »Tonbilder«, von
denen man sich früher einmal so viel versprach, sind aus unseren
Lichtspieltheatern fast ganz verschwunden. Bewegung und Geräusch
sind offenbar schwer zum völligen Zusammenstimmen zu bringen.
Ein singender Mensch z. B. öffnet, wie ich das wohl beobachtet
plötzlich in lautes Lachen ausgebrochen sei, weil er einem Schauspieler die schnod-
drigen Worte, die er bei der Aufnahme gesprochen hatte, von den Lippen ab-
gelesen habe.
BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE UND KUNST. QQ
habe, den Mund zu anderen Zeiten, als die gesungenen Töne an das
Ohr des Zuschauers dringen. Aber an sich ist das Problem nicht
unlösbar und wird auch gewiß in nicht allzu langer Zeit einmal ge-
löst werden.
Das Entscheidende ist aber garnicht, ob die Lösung jetzt schon
erreicht ist oder nicht, sondern in welcher Richtung die Absicht der
Technik geht. Und da kann wohl kein Zweifel sein, daß es die
Richtung auf die Natur ist, die ihr dabei vorschwebt. Das Kino-
bild soll in seiner Wirkung der Natur möglichst angenähert werden.
Sein Eindruck soll mit dem der entsprechenden Natur möglichst iden-
tisch sein. Angenommen nun, dieses Ideal wäre in bezug auf das
Geräusch erreicht. Was wäre damit gewonnen? Eigentlich nur, daß
das Kinobild noch in einem zweiten Punkte mit der Natur überein-
stimmte. Völlig zusammenfallen würde es mit ihr auch dann nicht.
Denn es würde ja dann noch die Farbe fehlen, da die Bewegungs-
photographie ebenso wie die gewöhnliche Photographie farblos ist.
So dürfen wir uns denn nicht wundern, daß die Kinoindustrie
sich längst bemüht hat, auch die Naturfarben in der Bewegungs-
photographie zur Anwendung zu bringen. Es lag in der Tat nahe,
die Farbenphotographie auch in den Kinematographen einzuführen. Ge-
lungen ist das freilich auch noch nicht vollständig. Offenbar ist die
Technik noch immer zu schwierig und auch zu teuer. Dennoch ist
nicht daran zu zweifeln, daß das Problem einmal gelöst werden wird.
Vorausgesetzt nun, das wäre der Fall: Was wäre damit gewonnen?
Wiederum nur ein weiterer Grad der Annäherung an die Natur.
Denn auch dann bliebe immer noch ein wichtiges täuschung-
hinderndes Element, nämlich die Flächenhaftigkeit. Jetzt liegt
die Sache so, daß wir nicht nur theoretisch wissen, daß wir eine
hellerleuchtete Fläche vor uns haben, sondern daß wir diese
Fläche auch wirklich sehen. In der Natur erhalten wir den
Eindruck des räumlichen Verhältnisses der Dinge zu einander bekannt-
lich — abgesehen von der taktilen Erfahrung — durch das stereo-
skopische Sehen unserer Augen, d. h. dadurch, daß wir von jedem
Gegenstand zwei Bilder erhalten, die einander zwar sehr ähnlich, aber
— entsprechend der Entfernung der beiden Augen voneinander — doch
etwas verschieden sind. Wir sehen gewissermaßen ein wenig um die
Dinge herum. Bei einer Photographie, auch einer bewegten, ist das
nicht der Fall. Wir erhalten hier in jedem Augenblick, d. h. in jedem
Stadium der Bewegung immer nur ein Bild, wodurch uns das Ge-
fühl der plastischen Rundung unmöglich gemacht, dagegen das Be-
wußtsein der Flächenhaftigkeit aufrecht erhalten wird. Die meisten
Kinobesucher haben dieses Gefühl der Flächenhaftigkeit in sehr hohem
100 KONRAD LANGE.
Grade. Das ergibt sich schon daraus, daß man in der Literatur sehr
oft die Bemerkung lesen kann, die Kinofiguren »huschten auf der
Fläche hin und her«. Dieser Eindruck ist also ein wichtiges täu-
schunghinderndes Element. Bei der gewöhnlichen Photographie gibt
es nur ein Mittel, dieses täuschunghindernde Element zu überwinden.
Das ist das Stereoskop, dessen Wirkung bekanntlich darauf beruht,
daß zwei Aufnahmen gemacht werden, von zwei Punkten aus, die
genau so weit voneinander entfernt liegen wie unsere Augen, und
daß nachher bei der Anschauung beide Bilder dem Beschauer gleich-
zeitig dargeboten und vermöge eines optischen Zwangs in eines ver-
schmolzen werden.
Dieser optische Zwang des Stereoskops ist nun auf das Kino
nicht anzuwenden. Aus dem einfachen Grunde, weil er eine Fixierung
der beiden Augen voraussetzt, also immer nur individuell, d. h. auf
eine Person ausgeübt werden kann. Im Lichtspieltheater aber sitzen
viele Personen, und sie wollen sich auch nicht den Guckkasten vor
die Augen halten, der beim Stereoskop Anwendung findet. Es kann
also mit Sicherheit behauptet werden, daß das täuschunghindernde
Element der Flächenhaftigkeit niemals aufgehoben werden wird. Der
Eindruck des Flächenhaften ist aber deshalb besonders stark, weil die
Einführung der wirklichen Bewegung eine Naturannäherung, d. h. eine
Täuschung bedeutet, zu der die Flächenhaftigkeit in einem unversöhn-
lichen Gegensatz steht. Durch den Kontrast zu der wirklichen Be-
wegung kommt die Flächenhaftigkeit doppelt stark zum Bewußtsein.
Ebenso kann man auch sagen, daß die Farblosigkeit bei der Bewegungs-
photographie stärker empfunden wird als bei der gewöhnlichen Photo-
graphie, weil sie im Gegensatz zu der wirklichen Bewegung steht.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Figuren der Kinobilder wie
mit Mehl bepudert aussehen. Das möchte ich auf diesen Kontrast
zurückführen.
Angenommen aber auch, das täuschunghindernde Element der
Flächenhaftigkeit wäre ebenfalls durch irgend einen technischen Kunst-
griff, den wir uns vorläufig noch nicht ausdenken können, über-
wunden, d. h. alle täuschunghindernden Elemente, Bewegungslosig-
keit, Geräuschlosigkeit, Farblosigkeit und Flächenhaftigkeit fielen einmal
in Zukunft weg, was wäre die Folge? Einfach die, daß das Bild
gar nicht als Bild, sondern als Natur erschiene. Man
würde dann überhaupt keine Kunst, sondern Natur vor sich zu sehen
glauben. Das hieße aber: die Täuschung würde perfekt werden.
Denn was man sähe, wäre zwar nicht wirkliche Natur, erschiene
aber so, und zwar ganz, restlos, ohne jede Einschränkung. Damit
wäre aber die Vorstellung einer künstlerischen Persönlichkeit völlig
BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE UND KUNST, IQl
ausgeschaltet. Eine derartige Darstellung der Natur wäre nun ebenso-
wenig ein Kunstwerk, wie man das erste beste Spiegelbild der Wirk-
lichkeit als ein solches ansprechen könnte. Unsere Großeltern pflegten
im Erdgeschoß ihrer Stadtwohnungen an den Fenstern außen nach
der Straße zu schräge Spiegel anzubringen, in denen sie das Leben
der Passanten, besonders der auf dem Bürgersteig gehenden Personen
beobachten konnten. Was sie dabei sahen, die Spiegelbilder, die sie da,
am Fenster sitzend, in sich aufnahmen, waren keine Kunstwerke. Sie
waren vielmehr Wirklichkeit, die man nur aus Bequemlichkeitsgründen,
um das Fenster nicht aufmachen und sich nicht hinauslehnen zu
müssen, ins Spiegelbild übertragen hatte. Nichts anderes sind die
Kinobilder oder wären die Kinobilder, vorausgesetzt, daß es gelänge,
alle täuschunghindernden Elemente zu überwinden. Sie wären Wirk-
lichkeit, die man nur, um sie zu fixieren und überall einer größeren
Zahl von Menschen zugänglich machen zu können, durch ein technisch
ingeniöses Verfahren auf die Projektionsfläche eines größeren Saales
übertragen hätte. Das ist kein künstlerisches, sondern lediglich ein
technisches Verdienst. Die Bewegung macht also diese Bilder nicht
zu Kunstwerken. Sie sind nicht nur deshalb keine Kunst, weil sie
Photographien, sondern auch ganz besonders deshalb, weil sie
Bewegungs Photographien sind.
Je mehr täuschunghindernde Elemente in einer Kunst ausgeschaltet
werden, um so mehr nähert sie sich der Natur. Ein farbiges Bild steht
der Natur näher als eine farblose Zeichnung, eine polychrome Skulptur
näher als eine farblose Marmorskulptur; ein Farbenkupferstich ist ceteris
paribus »natürlicher« als ein farbloser Holzschnitt oder eine schwarz-
weiße Radierung. Bei diesen eigentlichen Künsten ist nun aber das
Charakteristische, daß sie gar nicht unbedingt und allgemein nach
der Überwindung der täuschunghindernden Elemente streben. Zwar
können wir immer von Zeit zu Zeit Bemühungen dieser Art beobachten.
Dazu gehört z. B. die Polychromie der griechischen Plastik. In der
Tat ist die Farblosigkeit des weißen Marmors ein so starkes täuschung-
hinderndes Element, daß es sehr merkwürdig wäre, wenn man keine
Versuche gemacht hätte, die Farbe in die Plastik, auch in die Marmor-
plastik einzuführen. Dennoch hat man das in der Regel nicht in der
Weise getan, daß dabei die Naturfarbe genau imitiert worden wäre.
Man begnügte sich vielmehr mit einer konventionellen Kolorierung,
z. B. mit einer Färbung der Haare, Augen, Schmucksachen und Ge-
wänder, während man das Nackte weiß oder nahezu weiß ließ, wobei
dann eben die nicht realistisch bemalten Teile als täuschunghindernde
Elemente verblieben. Und selbst diese beschränkte Polychromie
ist keineswegs allgemein durchgeführt worden. Z. B. sind es heutzu-
102 KONRAD LANGE.
tage nur wenige Bildhauer, die sie prinzipiell anwenden; ein sicherer
Beweis, daß es Künstler gibt, die das täuschunghindernde Element
der Farblosigkeit gar nicht als störend für den Kunstgenuß empfinden,
im Gegenteil gerade in ihm eine Förderung desselben sehen.
Auch in den graphischen Künsten ist die Farbe wiederholt und
zu verschiedenen Zeiten angewendet worden. Der Holzschnitt wurde
in seinen Anfängen im 15. Jahrhundert koloriert, im 16. Jahrhundert
wurde der Farbholzschnitt mit mehreren Platten erfunden. Im
18. Jahrhundert folgte dann die Ausbildung des farbigen Kupfer-
stichs, im 19. Jahrhundert die der farbigen Lithographie. Aber zwi-
schendurch wurde auch immer wieder die farblose Graphik geübt.
Und zwar gerade von den größten Meistern. Dürers und Holbeins
Holzschnitte sind in der Regel nicht koloriert worden, weil diese
Künstler eine Technik ausgebildet hatten, die auch ohne Farben die
gewünschte Wirkung erreichte. Sie trauten offenbar ihrem Publikum
genug Phantasie zu, um sich eine farblos dargestellte Natur farbig zu
denken. Rembrandt hat seine Radierungen nicht koloriert, weil er
seinen Ehrgeiz darein setzte, auch mit der einfachen Schwarzweiß-
technik farbige Wirkungen zu erzielen. Die Anwendungen der Farbe
in den graphischen Künsten sind eigentlich immer nur Episoden ge-
wesen, die die Entwicklung nicht ernstlich bestimmt haben. Selbst
in der Steinzeichnung hat sich die Farbigkeit nicht allgemein durch-
gesetzt, wie denn neben dem modernen farbigen Künstlerholzschnitt der
expressionistische Schwarzweißholzschnitt steht. Und alles das, obwohl
die technischen Schwierigkeiten, die früher der Anwendung der Farbe
entgegenstanden, längst überwunden sind. Das ist doch ein Beweis,
daß die künstlerische Entwicklung keineswegs in der Richtung auf die
völlige Übereinstimmung mit der Natur geht, sondern daß das Phan-
tasiebedürfnis immer wieder dazu führt, eine gewisse Distanz von der
Natur innezuhalten.
Diese Tatsachen sind für die Beurteilung des Kinos von entschei-
dender Bedeutung. Sie beweisen, daß die Bewegungsphotographie
sich in ihrem Streben nach möglichster Übereinstimmung mit der
Natur und entsprechender Aufhebung der täuschunghindernden Ele-
mente prinzipiell von der wahren Kunst unterscheidet. Für
diese ist die Distanz von der Natur etwas Selbstverständliches, ein
künstlerisches Moment, dessen Wert darin besteht, daß es die Phan-
tasie anregt, zur Mittätigkeit anreizt. Für das Kino dagegen ist charak-
teristisch das bedingungslose Streben nach Annäherung an die Natur,
bis zum Punkte des völligen Zusammenfallens beider Eindrücke. Das
Ideal des Kinos liegt in der Richtung, die durch die Verse Goethes
gegeißelt wird:
BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE UND KUNST.
103
»Die Kunst darf nie die Wirklichkeit erreichen,
Denn wo Natur ist, muß die Kunsl entweichen.«
Unsere naturalistische Ästhetii« war bekanntlich anderer Ansicht. Arno
Holz hat in der Blütezeit des Naturalismus das Wort geprägt: »Die
Kunst strebt danach, wieder Natur zu sein. Sie wird es nach Maß-
gabe ihrer technischen Bedingungen.« Diese Definition paßt wörtlich
auf das Kino. Sie paßt aber nicht auf die Kunst. Die Kunst strebt
nicht danach, Natur zu sein, sondern Natur darzustellen. Ihr
Ideal ist nur, bis zu einem gewissen Grade Natur zu
scheinen. Und zwar muß dieser Schein, wie schon Schüler wußte,
ein «aufrichtiger« sein, er darf nie zur Täuschung ausarten. Eine
Technik, deren Wesen darin besteht, daß sie nach absolutem Zu-
sammenfallen mit der Natur, d. h. nach Täuschung strebt, kann nie-
mals Kunst sein. Und da nun das Kino, wie wir gesehen haben, in
seiner ganzen technischen Entwicklung dieses Streben zeigt, so ist es
keine Kunst. Seine Entwicklung führt nicht zur Kunst hin, sondern
von der Kunst ab. Und zwar um so mehr, je mehr sie eine Annäherung
an die Natur bedeutet. Jeder Schritt weiter zur Natur stellt einen Schritt
von der Kunst fort dar. Eine Technik, die danach strebt, Bilder zu
schaffen, deren Eindruck mit dem der Natur zusammenfällt, ist ebenso-
wenig Kunst wie etwa die täuschende Imitation von Vogelstimmen
oder die Herstellung künstlicher Blumen aus Papier oder gewebten
Stoffen. Man macht so etwas wohl einmal aus irgend einem Grunde,
sei es aus Bequemlichkeit, sei es, um seine technische Virtuosität zu
zeigen. Aber man macht es nicht mit dem Anspruch, Kunst zu schaffen.
Mag auch bei diesen täuschenden Techniken die Täuschung aus irgend
einem Grunde, vielleicht infolge technischer Mängel, nicht perfekt werden,
schon die Absicht der Täuschung charakterisiert sie als unkünst-
lerische Tätigkeiten. Und diese Absicht ist es, die das Kino aus dem
Reiche der Künste ausschließt. Die Kinematographie ist nicht nur des-
halb keine Kunst, weil sie Photographie ist und als solche die Vor-
stellung von der Persönlichkeit eines schaffenden Künstlers ausschließt,
sondern auch deshalb, weil ihre Entwicklung in der Richtung auf
absolutes Zusammenfallen mit der Natur, d. h. auf Täuschung geht.
Bemerkungen.
Zur Bedeutung des Tiefenerlebnisses im Raumgebilde.
Von
August Schmarsow.
»Der Untergang des Abendlandes« ist der Titel eines Werkes von Oswald
Spengler in München, das »Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte« geben
will. Dessen erster Band (1917) behandelt aber im allgemeinen »Gestalt und Wirk-
lichkeit«. Er ist mir vor kurzem erst in seiner zweiten Auflage (von 1919) vor Augen
gekommen. So fand ich erst jetzt, was der Name des Ganzen kaum im voraus er-
warten läßt: außerordentlich wichtige Bestätigungen meiner noch im zweiten Heft
des XIV. Bandes dieser Zeitschrift wiederholten Ansicht über die Vorzugsrechte der
dritten Dimension im menschlichen Raumgebilde. Deshalb mag es nicht anders als
berechtigt erscheinen, wenn hier einige entscheidende Stellen aus dem genannten Buch
herausgehoben und im Zusammenhang mit den eigenen, damals gegenüber Walzel
verfochtenen, psychologischen Beobachtungen erörtert werden. Dieser Nachtrag wird
um so notwendiger gefordert, als auch bei Spengler sich mehr als einmal über die
drei Dimensionen, die wir herkömmlicherweise nun einmal zu unterscheiden pflegen,
die nämliche irreführende Angabe findet, die uns bei Walzel befremdet hatte, näm-
lich mit Auslassung der Vertikalachse des Koordinatensystems, die wir Fach-
leute als »Höhe« zuerst zu nennen gewöhnt sind.
»Das eigentliche Problem im Phänomen des Ausgedehnten«, heißt es bei Speng-
ler S. 240, »knüpft sich an das Wesen der Tiefe — der Ferne oder Entfernung — ,
deren abstraktes Schema im System der Mathematik neben Länge und Breite als
»dritte Dimension« bezeichnet wird«. Da fehlt also offenbar die Höhe, die wir an-
deren als erste Dimension ansetzen. Und dies Vergessen der eigentlich kon-
stituierenden Hauptachse der Koordinaten zieht seine unausbleiblichen Folgen nach
sich — für das Verständnis des Raumgebildes, sei es der allgemeine Raum, den
Kant als Anschauungsform a priori gegeben hielt, oder sei es ein konkreter Raum,
von Menschenhand geschaffen, ja unter Menschenhänden soeben erst erwachsend,
die architektonische Raumgestaltung, auf die es uns ursprünglich allein ankam. Ist
das überhaupt nur ein Flüchtigkeitsfehler, auch eines anscheinend gewiegten Mathe-
matikers, oder eine bewußte Ausschaltung der Vertikale, die wohl jeder Architekt als
die wesentlichste Mitgift der eigenen Körperlichkeit des Menschen voraussetzt? Ich
wenigstens hatte schon in meiner Leipziger Antrittsrede von 1893 über »das Wesen
der architektonischen Schöpfung« gerade von ihr den Ausgangspunkt genommen:
»Solch Raumgebilde ist eine Ausstrahlung des in ihm gegenwärtigen Menschen« —
schrieb ich — »eine Projektion aus dem Inneren des Subjekts«, um sogleich die
schöpferische Tätigkeit in ihre Rechte einzusetzen. Der Mensch trägt ja »die Domi-
nante des Achsensystems, das Höhenlot vom Scheitel an die Sohlen in sich selber«. —
»Die Architektur, unsere Raumgestalterin, schafft als ihr Eigenstes, das keine andere
Kunst zu leisten vermag, Umschließungen unserer selbst, in denen die senkrechte
BEMERKUNGEN. 105
Mittelachse nicht körperlich hingestellt wird, sondern leer bleibt, damit sie nur idea-
liter wirke und lediglich als Ort des Subjekts bestimmt sei« — als die Zentralstelle
wie des menschlichen Schöpfers auch des lebendigen Bewohners selbst. > Immer
ist die Raumumschließung dieses Subjektes die erste Hauptangelegenheit, d. h. die
Einfriedigung oder Umwandung nach den Seiten zu, nicht etwa die Bedachung
nach oben oder gar die Bezeichnung und Ausbildung des Höhenlotes (in körper-
licher Form). Lange mag sich solche Umhegung unter freiem Himmel erheben«.
Was aber sind die beiden, auch von Spengler genannten Dimensionen »Länge
und Breite«, wenn er ihnen die Tiefe als dritte Dimension gegenüberstellt? Ent-
weder sind beide zusammen nur eine, nämlich die zweite, die dann allein noch
fehlt. Und wir nennen sie gewöhnlich Breitenausdehnungen, reden von Länge nur
in einem besonderen Fall — wenn wir nämlich daran entlang sehen oder gar gehen;
dann aber verwandeln wir sie durch die sukzessive Auffassung erst in die Länge,
d. h. im Vollzuge von einem Ende zum anderen aus der zweiten Dimension in die
dritte. Dies geschieht auch ebenso mit der ersten Dimension, durch den Aufstieg
in die Höhe, etwa als Wachstumsachse eines JV\enschen, eines Baumes, den wir
dann auch als einen »langen« Kerl, einen »langen« Stamm bezeichnen. So könnte
sich unter der »Länge« in dem angegebenen Wortlaut bei Spengler die Vertikalachse
verbergen, wenn nicht andere Stellen bewiesen, daß er tatsächlich die beiden Hori-
zontalerstreckungen meint. Und so bliebe als letzte Möglichkeit nur übrig, daß sie
auch ihm »in die vierte Dimension geraten« sei, wie wir scherzend von Walzel ge-
sagt. Denken wir aber im Ernst an mathematische Begriffe solcher Art, wie etwa
die vierdimensionale Vektoranalyse, so kommen wir zu einem wichtigen Übergang
aus dem Reich des Raumes in das der Zeit. Sind die gewohnten drei Dimensionen
des Raumes x, y, z, so wählen wir als vierte Größe t (= tempus) für die Zeit, als
wäre sie ein gleichwertiger Faktor. Dann verbindet sich t in den Transformationen
beliebig mit jedem der drei räumlichen Zeichen, und diese Verbindung entscheidet
eben die Verwandlung aus der Starrheit simultaner Koexistenz in sukzessiven Voll-
zug, aus Raumdistanz in Zeitverlauf, aus Ruhe in Bewegung. Wie die erste und
die zweite Dimension wird auch die dritte durch solche Oesellung mit t zur »Länge«.
Das ist entscheidend für die Lehre vom Rhythmus.
»Nächst dem Höhenlot, dessen lebendiger Träger (das menschliche Subjekt)
mit seiner leiblichen Orientierung nach oben und unten, vorn und hinten, links und
rechts bestimmend weiterwirkt« — liest man a. a. O. S. 16 bei mir weiter — , »ist
die wichtigste Ausdehnung für das eigentliche Raumgebilde vielmehr die Richtung
unserer freien Bewegung, also nach vorwärts, und zugleich unseres Blickes durch
Ort und Stellung unserer Augen bestimmt, also die Tiefenausdehnung. Ihre
Länge bedeutet für das anschauende Subjekt das Maß seiner freien Bewegung im
gegebenen Raum (oder seines Anspruchs an solche im entstehenden) so notwendig,
wie es gewohnt ist vorwärts zu sehen oder zu gehen« usw.
»Der Mensch fühlt sich«, erklärt Spengler (S. 246), »und das ist der Zustand
des wirklichen Wachseins, in einer ihn rings umgebenden Ausgedehntheit. Man
braucht diesen Ureindruck des Weltmäßigen nur zu verfolgen, um festzustellen, daß
es tatsächlich nur eine wahre Dimension des Raumes gibt, die Richtung nämlich
von sich aus in die Ferne, und daß das abstrakte System dreier Dimensionen eine
mechanische Vorstellung, keine Tatsache des Lebens ist. Das Tiefenerlebnis, die
Richtung in die Ferne, dehnt die Empfindung zur Welt«.
Wie ich 1896 ein eigenes Schriftchen über den »Wert der Dimensionen im
menschlichen Raumgebilde« folgen ließ, in dem eben die Ungleichheit dieser Werte
und ihres wechselnden Verhältnisses durchgeführt ward, so fährt auch Spengler an
106 • BEMERKUNGEN.
der vorhin begonnenen Stelle (240) fort. »Die Dreizahl (der Dimensionen, als)
koordinierter Faktoren ist von vornherein irreführend. Ohne Zweifel sind im räum-
lichen Eindruck diese Elemente nicht gleichwertig, geschweige denn gleich-
artig.« Dann aber heißt es weiter: »Länge und Breite sind sicherlich als Er-
lebnis eine Einheit, keine Summation. Sie sind, mit Vorsicht gesagt, Form der
Empfindung. Sie repräsentieren den urmenschlichen, rein sinnlichen Eindruck. Die
Tiefe repräsentiert den Ausdruck, mit ihr beginnt die ,Welt'. — Diese der Mathe-
matik selbstverständlich ganz fremde Unterscheidung in der Bewertung der dritten
Dimension gegenüber den sogenannten beiden anderen liegt auch in der Gegen-
überstellung der Begriffe Empfindung und Anschauung. Die Dehnung in die Tiefe
verwandelt die erste in die letzte. Erst die Tiefe ist die eigentliche Dimen-
sion im wörtlichen Sinne, das Ausdehnende. In ihr ist der Geist aktiv, in den
anderen streng passiv«.
Hier aber fehlt ja wieder die Höhe, nach unserer Zählung die erste Dimen-
sion, und damit der lebendige Träger, das menschliche Subjekt, von dem allein
auch das Erlebnis der Tiefe ausgehen kann, in deren Vollzug wenigstens die Ver-
tikalachse des eigenen Körpers immer darin steckt und im Vorwärtsdringen als Maß
der Entfernung vom vorigen Standpunkt her mitgenommen wird, wie es selbst bei
rein optischer Aufnahme der Distanz zu deren Einschätzung notwendig mitwirkt.
Damit fehlt überhaupt das Bindeglied zwischen den horizontalen Erstreckungen, so
wahr auch die Breitenausdehnung von unserem eigenen Mittellot her ihren Aus-
gang nimmt, nach beiden Seiten. Das heißt also: hier ist nichts Geringeres als die
Dominante des ganzen Achsensystems außer acht gelassen, die sich doch im Raum-
schaffen oder Raumsehen, aktiv erlebend oder passiv empfangend, vorwärts bewegt
in einer durchgehenden Richtung. Und nach welcher Seite sich der Vollzug der
Bewegung, des Gehens, des Tastens oder des Schauens richtet, dahin kehrt sich
auch die Dominante des Ich, in diese Ausdehnung legt sich mit dem Willensimpuls
das Gefühl; in diese Richtung erstreckt sich oder ergießt sich das Tiefeneriebnis,
das entscheidende, alles übrige mit sich fortreißende Erlebnis der dritten Dimension.
In allem anderen stimmt Spengler mit meinen Beobachtungen von 18Q6 überein,
aus denen ich nur folgende Sätze über den Wert der dritten Dimension noch heraus-
heben möchte. »Sie ist fast ausschließliche Inhaberin des wichtigsten Faktors, unserer
Ortsbewegung. Sie erst bringt die Ausdehnung zum unmittelbaren Erleben, zum
unleugbaren Gefühl, zum vollen Bewußtsein. Nach welcher Himmelsrichtung wir
das Antlitz kehren, da liegt für uns die Welt.«^ Und das hat für die Entstehung des
selbstgeschaffenen Raumgebildes der Architektur ebenso, wie für dessen ästhetische
Aufnahme durch das genießende Subjekt entscheidende Bedeutung. Denken wir uns
in eine mehrgliedrige Raumkomposition, die wir nicht anders als im Nacheinander
erfassen können, wie eine dramatische oder eine musikalische Aufführung, die wir
doch auch als Ganzes anerkennen. »Schon der perspektivische Durchblick durch
weitere und weitere Raumteile hat diesen Vollzug, wenigstens in der Vorstellung des
Betrachters zur Folge : er kann jeden Augenblick mehr und mehr in eine Reihe ver-
schiedener Eindrücke aufgelöst werden, die doch fühlbar in Zusammenhang stehen,
einer aus dem anderen sich entwickeln und wieder im Ganzen aufgehen. Die Tiefen-
dimension repräsentiert also auch im menschlichen Raumgebilde die Lebensachse,
um die sich das System von inneren Zwecken herumordnet, das der Bau als Ein-
heit zusammenschließt. Hier erfüllt sich das ruhende Dasein der Form (die Gruppen
koexistenter Bauglieder, Gewölbjoche u. dgl.) mit Leben, und die Grenzen der Gegen-
wart scheinen das Unendliche zu streifen. Hier begreifen wir die eigentliche Trieb-
feder der Kunst, die sich solche Raumgestaltung zur Aufgabe stellt: die psycho-
BEMERKUNGEN. 107
logische Wurzel der Architektur liegt in der dritten Dimension.«
»Die Tiefendimension ist stets Anfang und Kndziel ihres Schaffens, wo immer sie
ihrem eigensten Wesen getreu bleibt.« — »Gerade im Vordringen der Richtung in
die Weite liegt auch der Fortschritt des eigensten Wachstums dieser Kunst (vom
Innenraum zur Straßenflucht, zur Platzanlage im Städtebau, zur Parkanlage, zum
Landschaftsprospekt) — liegt also gerade der Wert, den sie zu bleibendem Genuß
zu bringen trachtet und sie allein zu bieten weiß«, wie keine andere Kunst simul-
taner Anschauungsform (a. a. O. 8. 55—59; vgl. ebenso Grundbegriffe der Kunst-
wissenschaft 1905, S. 33-41).
Damit hängt denn auch die weitere Frage zusammen, wie kommt in den starren
Stillstand des Architekturwerkes, in das feste System des Raumes der zeitliche Ver-
lauf überhaupt hinein ? Die Antwort muß lauten : mit der fortschreitenden Bewegung
des schöpferischen Subjekts, unter dessen Händen oder nach dessen Willen durch
andere Hände es entstand, wie mit der vorwärts dringenden oder rückwärts kehren-
den Ortsbewegung des genießenden Subjekts, unter dessen einherschreitendem Gang,
einwärts und aufwärts oder abwärts gleitendem Blick sich die Koexistenz der be-
nachbarten Teile in die Sukzession des Empfangens und Verfolgens, des Aufnehmens
der Einzelheiten und der Verbindung zu Einheiten sich notwendig vollzieht. Durch
diese Zurückversetzung des fertig Dastehenden in den zeitlichen Verlauf der Ent-
stehung des Werkes kommen auch die beiden Gestaltungsprinzipien für sukzessive
Aufnahme herein, die wir Richtung und Rhythmus nennen.
Hier haben wir Oswald Spengler willkommenste Beiträge zur Klärung des Ver-
hältnisses zwischen Raum und Zeit zu danken, das selbst einem Kenner der Wort-
kunst mit ihrer Metrik und Rhythmik wie Walzel und nicht nur mathematisch ge-
schulten Architekten soviel Bedenken und Zweifel verursacht hat. Spengler sagt
(S. 176 ff.) mit Entschiedenheit, es sei ein Mißgriff »Raum und Zeit« als morpho-
logisch gleichartiges Qrößenpaar der messenden Betrachtung zu unterwerfen. Das
schließe jedes Verständnis für das wahre Zeitproblem aus. »Was nicht eriebt und
gefühlt, was nur gedacht wird, nimmt notwendig räumliche Qualitäten an. Die
physikalische und die Kantische Zeit ist eine Linie. Ihre organische Bewegtheit,
ihr seelenhafter Gehalt sind in den Formeln und Begriffen verschwunden.« Damit
wird es freilich ermöglicht, Raum und Zeit »als Größen derselben Ordnung in funk-
tionale Abhängigkeit voneinander zu bringen«; aber der lebendige Mensch hat bei
dem Worte ,Zeit', in dem was er beim Klang des Wortes wirklich fühlt, ein ganz
anderes Erlebnis von durchaus »organischem Charakter«, das zum »toten Raum« im
Gegensatz steht. »Damit aber verschwindet die von Kant und allen anderen ge-
glaubte Möglichkeit, die Zeit neben dem Räume einer parallelen erkenntnistheoreti-
schen Erwägung unterwerfen zu können.« Und was weiß Sp. uns über das rätsel-
hafte Wesen des Zeitertebnisses oder die geheimnisvolle Entstehung unserer Zeit-
vorstellung selber zu künden ? Wir müssen uns ertauben, auch diese Stellen heraus-
zulesen und für unseren Zweck aneinander zu fügen. »Alles Werden besitzt das
Merkmal der Richtung, ein unaussprechliches Gefühl {Lebensgefühl), das der Mensch
in allen höheren Sprachen durch das Wort ,Zeit' und die daran sich knüpfenden
Probleme geistig zu bannen und — vergeblich — zu deuten versucht hat.« »Wer
die Umwelt, wie Goethe, als ein Lebendiges anschaut, das Gewordene als Werden
nachfühlt, für den ist die Zeit plötzlich kein Rätsel mehr, kein Begriff, keine Dimen-
sion, sondern etwas innertich Gewisses. Ihr Gerichletsein, ihre Nichtunikehrbarkeit,
ihre Lebendigkeit erscheint als der Sinn dieser Intuition.« »Alles Lebendige besitzt
— hier können wir nur wiederholen — Leben, Richtung, Streben, Wollen, eine mit
der Sehnsucht aufs tiefste verwandte Bewegtheit, die mit der Bewegung des Physi-
108 BEMERKUNGEN.
kers nicht das geringste zu tun hat.« »Das Lebendige ist unteilbar und nicht um-
kehrbar, einmalig, nie zu wiederholen — und in seinem Verlaufe mechanisch völlig
unbestimmbar: das alles gehört zur Wesenheit; des Schicksals.« Und so erst be-
greift sich das Verhältnis von Menschenseele und Welt.
»Das Tiefenerlebnis verwirklicht, schafft mit einem Schlage die ausgedehnte
Welt, es ordnet mit schicksalhafter Notwendigkeit die Masse der Empfindungen
(Breite) durch die lebendige Richtung (Tiefe)« (427).
»Dies Erlebnis ist identisch mit dem Bewußtwerden der eigenen Seele.« Die
Innenwelt ist eine Funktion der Außenwelt. Die empirische Seele ist ihrer Gestalt
nach, das alter Ego, der Reflex der empirischen Natur. Hier liegt also eine wunder-
bare Wirkung des Tiefenerlebnisses vor. »Zur Welt gehört die Spiegelung einer
Gegenwelt. Auch die empirische Seele hat ihren Raum, ihre Tiefe, ihre Weite. Ein
,inneres Auge' sieht, ein ,inneres Ohr* hört. Es gibt eine deutliche Empfindung von
einer inneren Ordnung, die wie die äußere das Merkmal der Notwendigkeit trägt, —
hier entsteht das ethische Grundproblem von Freiheit und Notwendigkeit. Ihm liegt
der Widerspruch zugrunde, zwischen der Seele, die wir haben, fühlen, erleben, und
der, welcher wir uns verstandesmäßig bewußt sind. Was wir erkennen ist nur das
Seelenbild, gleichsam eine Landschaft im reflektierten Lichte des Tagesbewußtseins.
In bedeutenden, ganz innerlichen Momenten des Lebens ist es verschwunden, und
der Mensch ist sich seiner Seele und seiner ,Freiheit' unmittelbar bewußt.«
Aus solcher tiefeindringenden Analyse geht uns wohl auch die Einsicht auf,
was das menschliche Raumgebilde als künstlerische Schöpfung bedeutet, welche
Erlebnisse äußerer und innerer Schau sich in ihm verquicken mögen, und welchen
seelisch-geistigen Inhalt die verschlungenen Wege des Gehens, des Entlangschrei-
tens, des auf und ab, hin und wieder gleitenden Sehens mitsamt ihren Vermittlungen
in der Tastregion dem genießenden Besucher zu bieten vermögen. Das bestätigen
auch die Beispiele, die Spengler aus der Geschichte der Baukunst zu geben weiß.
Da ist zunächst der ägyptische Tempel ').
»Für den Ägypter war das über seine Weltform entscheidende Tiefenerlebnis so
streng hinsichtlich der Richtung betont, daß der Raum gewissermaßen in steter Ver-
wirklichung begriffen blieb. Das ägyptische Dasein ist das eines Wanderers; sein
Ursymbol ist der Weg — das Bild dieses im Bewußtsein andauernden wehschaffen-
den Aktes. Weg bedeutet zugleich Schicksal und dritte Dimension. Die mächtigen
Wandflächen, Säulenreihen, an denen er vorüberführt, repräsentieren Länge und
Breite, d. h. die Empfindung, das Fremde, welches das Leben erst zur Welt dehnt.
So erlebt der Wanderer den Raum gewissermaßen in seinen noch unvereinigten
Elementen (a. a. O. 270). — Das weltbildende Tiefenerlebnis dieser Seele empfängt
seinen Gehalt vom Richtungsfaktor selbst: die Tiefe des Raumes als erstarrte Zeit,
die Ferne, der Tod, das Schicksal selbst beherrschen den Ausdruck; die bloß sinn-
lichen Dimensionen der Länge und Breite werden zur begleitenden Fläche, die den
Weg des Schicksals einengt und vorschreibt« (286). »Diese Kunst gestattet keine die
Spannung der Seele erleichternde Ablenkung«-).
»Die ,altchristlichen Basiliken', im inneren Syrien und in Nordafrika, zeigen die
geheimnisvollen Schwingungen eines voll umschlossenen Raumes. Das war der
erste starke Eindruck einer neuen Seele (gegenüber dem Baugedanken der Antike).«
') Vgl. Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, S. 18 ff. 27.
^) Außer in den Reliefdarstellungen, bei denen doch die Herrschaft der Verti-
kalen innerhalb der Horizontalen anerkannt wird, die im Raumgebilde selbst ver-
gessen ward.
BEMERKUNGEN. IQQ
»Sobald der germanische Oeist diesen basilikalen Typus in Besitz nimmt, beginnt
eine wunderbare Veränderung alier Bauelemente nacii Lage und Sinn, die strenge
Ausbildung abgestufter Seitenschiffe und vor allem des für die Symbolik der Dome
so unendlich wichtigen Querschiffes, durch das nach dem Malk der Vierung eine
strophische Gliederung des bewegten Rauminneren erzeugt wird (a.a.O. 322)').
»In den gotischen Domen geleiten hochgewölbte Schiffe mit ihren Pfeilerreihen
vom Portal zur Tiefe des Chores, dem Hochaltar zu (263, 275). Auch der gotische
Dom symbolisiert den Weg zu Gott (280).«
Nach diesen Stichproben darf ich bei Spengler wohl überhaupt auf Kenntnis
oder Einverständnis schließen.
Damit wäre die Bedeutung des Tiefenerlebnisses im menschlichen Raumgebilde
wesentlich geklärt, und nicht allein der einen Dimension, die wir vorzugsweise so
benennen. Für die beiden anderen gilt annähernd dasselbe, für die Höhe zumal,
wie auch für die Breite, wenn auch in minderer Stärke. Und dies liegt daran: jede
Ausdehnung, die der sukzessiven Auffassung unterzogen wird, gewinnt eben da-
durch Leben, im Unterschied vom starren Bestände des Systems. Die Ortsbewe-
gung ist der stärkste Faktor, mit dem sie sich verbindet; zunächst kommt ihr die
Abtastung; am leichtesten und wandelbarsten vollzieht sich das rein optische Ver-
halten, vom schwebenden Schweifen zum Stillstand der Schau, der doch niemals
der Aktivität entbehrt, solange er in seelischer Dynamik als Erlebnis gespürt wird.
Die motorische Kraft entscheidet den Vorrang der Dominante im dreidimensionalen
Komplex und löst die Statik der Symmetrie und Proportion in Rhythmus auf.
') Vgl. Bd. IX dieser Zeitschrift meinen Vortrag über Raumgestaltung als Wesen
der architektonischen Schöpfung für den Kongreß der Ästhetiker in Berlin 1913.
Besprechungen.
E. Waldmann, Albrecht Dürers Handzeichnungen. Leipzig, Insel-Verlag,
1918. 57 Seiten Text und 80 Vollbilder.
Der — nunmehr erschienene — 3. Teil von Waldmanns Dürer-Buch bringt
dem Titel nach die Handzeichnungen. In der Vorbemerkung des 1. Bandes
(S. 8) hieß es, der 3. Band wird »an der Hand vieler Zeichnungen über Dürers
Stil« handeln. Dürers Stil und Dürers Zeichnungen: Dürer war kein geborener
Maler, wie Grünewald einer war, sondern ein geborener Zeichner, schreibt auch
Waldmann (Bd. III S. 38). Nur fügt er hinzu, es sei ungerecht, seine Leistung in
der Malerei gering zu schätzen, »besonders angesichts des Allerheiligenbildes«.
Für Waldmanns Stilanalyse bilden aber die Handzeichnungen keineswegs
die ausschließliche Grundlage. Reichlich wird der Kupferstich, »das ,vornehmste'
Material des Zeichners«, herangezogen. Und auch der Holzschnitt, der nach einem
Wort Wölfflins »unmittelbar auf dem Boden der Handzeichnung steht« (Die Kunst
Albrecht Dürers = S. 295. S. 302 berücksichtigt die Verschiedenheit). Zu diesen
Arten der Schwarz-Weiß-Kunst treten auch noch die Gemälde. Diese Breite der
Basis erhöht die Geschlossenheit der stilistischen Betrachtung, läßt aber die Eigen-
bedeutung der Handzeichnung doch zurücktreten, trotz solch ergiebiger Seiten
wie 18, 40 ff., 50, 55 u. a. Daß Waldmann seine Stilbetrachtung nicht ohne Berück-
sichtigung des Momentes der Entwicklung wie überhaupt des historischen Gesichts-
punktes durchführt, braucht nicht besonders betont zu werden. Ausdrücklich sei aber
daraufhingewiesen, wie er Technisches, Psychologisches, Formales in den Gesichts-
punkt der Entwicklung hineinarbeitet (S. 25 f., 31 f., 37, 50 f., 56 f. u. a.). Was Waldmann
an Formanalyse im 3. Band bietet: Das Raumproblem, der Bildraum, Raum und Gestalt,
Raum und Landschaft; die Gruppenbildung; Perspektive und Körperbewegung; der
Figurenstil ; die Form der Monumentalität; das Licht ; die Linie u. a. m., das ist reichlich
viel, eigentlich zuviel für »ein einfaches und schlichtes Buch über Dürer«. Leser aus dem
breiteren Publikum, Laien also, werden sich manchmal etwas schwer tun (z. B. S. 40 ff.,
25). Aber wir geben dem Verfasser im Grunde doch recht: selbst Dürer kann nicht ohne
weiteres genossen werden, d. h. nicht vom Gemüt, von der Phantasie, vom Gegen-
stand allein aus, wie die noch immer nachwirkende romantische Auffassung Laien
vielfach glauben läßt. Gerade Dürer interessierte sich bei seinen neuen Errungen-
schaften im ersten Stadium nicht selten sogar zu ausschließlich für das formale
Problem (S. 43). In der Enge des Formalen bleibt Waldmann aber nicht stecken.
Als letztes, im Sinne der sachlichen Bestimmung wie des persönlichen Urteils, hat
er an den Schluß seines Dürer-Buches die Worte gesetzt: »Dürers künstlerischer
Stil ist, in den entscheidenden Punkten betrachtet, nie eine reine Formangelegenheit,
sondern tief verwurzelt in menschlichen Fragen. Das Wachsen und das Reifwerden
seines Stiles bleibt bis zuletzt innig verflochten mit dem Reifwerden seines Charak-
ters« (S. 57; z. V. S. 54, 52 f., 25). Ebenso glücklich ist Waldmanns Stellungnahme
zu der Frage nach dem Verhältnis Dürers zur deutschen Gotik und zur italienischen
Renaissance. So schreibt er von der Kunstweise Dürers zwischen 1500 und 1505,
BESPRECHUNGEN. Hl
wie sie sich spiegelt zum Teil im »Marienleben« und in der ^-Grünen Passion«, die
der Verfasser Dürers Hand zuerkennt: »Das war sein letztes Wort an den Geist
des 15. Jahrhunderts, dem er nun Valet sagt, im Bewußtsein dessen, daß er viel-
leicht sein Bestes und Stärkstes an Kapital, an heimlich versammeltem Schatz, diesem
Geist verdankt« (S. 26). In »der Ausdruckskraft der Gotik« sieht Waldmann »die
wahren Quellen seiner künstlerischen Kraft. (S. 46; z. v. S. 48). Wir denken von
selber hinzu: So rückt Waldmann Dürer unaufdringlich dem Kunstwollen unserer
Tage nahe, insofern diese so etwas wie den Geist der Gotik suchen. Aber Wald-
mann sieht im Werke Dürers auch die Einwirkung Italiens. Er sagt aber nicht,
Italien habe Dürer verdorben. Er sagt, Dürer habe sich in Italien das Verständnis
für das Problem der Form im Tiefenrauni und des menschlichen Körpers, die Kunst
der klassischen Bildgestaltung und besonders die monumentale Empfindung und
die malerische Anschauung der Welt erobert (S. 8, 14, 10, 29, 38). Und dazu setzt
er noch die Erklärung (S. 46), mit all dem gab Italien Dürer nur »die Anregung
und die Klarheit über seine Ziele«. Man spürt es, Waldmann Ist es um die wurzel-
echte Eigenkraft Dürers zu tun, wie er sie selbst bei seiner Beschäftigung mit Dürer
gefunden hat. Darum wird sein Urteil so lebendig und gewichtig: »Was Dürer
aus diesen Anregungen machte, den neuen großen Stil der Graphik, hatten die
Italiener selber nicht, lernen und sich erobern mußte Dürer dies alles für sich allein
und ganz auf sich gestellt« (S. 46; z. v. 8, 10, 12). Es mag hier die rechte Stelle
sein, den etwaigen Eindruck abzuwehren, als wollte das Referat vor allem in dem,
was es an Waldmanns Aufstellungen besonders hervorgehoben hat, erstmalige Er-
gebnisse sehen. Das kann bei dem ausgebildeten Stand der Dürer-Forschung zumal
für eine zusammenfassende Darstellung nicht in Frage kommen. Das Wertvolle
an Waldmanns Buch liegt für uns (wie es zum Teil oben schon ersichtlich wurde)
in der glücklichen Stellungnahme in den Fragen, die Dürers Künstlertyp und den
Kern seiner Kunst betreffen und dann In der Art die Frische der sinnlichen An-
schauung mit der Schärfe der begrifflichen Abstraktion zu verknüpfen, um das
jeweilige Werk dem künstlerischen Genuß zu erschließen. Davon eine Probe. Es
ist die Rede von der Federzeichnung »Hl. Familie unter dem Baume« (1511, Lipp-
mann 443): ». . . Jede Form«, Sagt Waldmann, »wird mit den knappsten Mitteln,
mit der erschöpfendsten Formel angedeutet, und daher hat jeder Strich den Cha-
rakter des Absolut-Notwendigen, Unbedingten. Es ist ein beinahe abstraktes Zeichnen,
man findet den Punkt nicht mehr, wo Wahrnehmung und Vorstellung sich trennen.
. . . Diese Art zu zeichnen, der wegen ihrer Unabhängigkeit vom jedesmaligen
Natureindruck eine hohe kalligraphische Schönheit eignet, konnte Dürer wagen, weil
er nun alles gelernt hat, was er wissen will, weil der Formenreichtum, den er in
seinem Gedächtnis angesammelt hat, so groß ist, daß er ihn nicht mehr im Stiche
läßt ... Er weiß das jetzt auswendig und braucht nicht mehr umständlich zu
sagen: dies ist, sondern darf kurz behaupten: dies bedeutet» (S. 42). Das Wort:
»dies bedeutet« birgt etwas Besonderes in sich : die Spur des Impressionismus. Es
ist wohl so, daß Dürer als Zeichner sich doch nicht ganz in das Wort Wölfflins
fügt (a. a. O. S. 298): »Dürer sucht die Dinge so zu geben, wie sie sind, nach Ihrem
ganzen plastischen Inhalt, und nicht wie sie erscheinen.« Auf das Urteil Wölfflins
bezieht sich auch Werner Welsbach in seinem Werk über den Impressionismus in
der Antike und Neuzeit und bestätigt es von sich aus. Des näheren schreibt er:
»In der altdeutschen Malerei fehlten die Vorbedingungen für eine impressionistische
Gestaltung von Naturbildern. Die Künstler standen unter einem bestimmten Formen-
zwange und arbeiteten mit gewissen in der Gotik wurzelnden Vorurteilen die Natur
um. (a. a. O. II S. 281). Und an andere Stelle (S. 292) heißt es: »Ein Impressio-
112 BESPRECHUNGEN.
nismus vermag nur dann aufzukommen, wenn die Natur als solche Gegenstand des
Interesses und des Studiums ist.« Diesen in negativer und positiver Form erschei-
nenden »Vorbedingung für eine impressionistische Gestaltung von Naturbildern«
gegenüber nimmt Waldmanns Charakteristik eine bestimmte Nuance an, Wfenn er
in Dürer so gern den heimlichen Naturforscher sieht (Bd. II) und schließlich schreibt:
»Die beiden Pole, um die sich Dürers Kunst von Anfang an im Gegensatz zur
gotischen Weise dreht, sind seine Empfindung für den menschlichen Körper als
plastischer Wert auf der einen und sein eigenartiges Landschaftsgefühl ... auf der
anderen Seite« (Bd. III S. 20). Und jetzt nochmals die obengenannte Federzeich-
nung »Hl. Familie unter dem Baume« und in ihr die Baumkrone mit dem schreiten-
den Mann darunter. Oder: das Aquarell »Dorf Kalckreuth« (Lippmann 105). Und
dazu Waldmanns Worte: ». . . Kein Detail bedeutet für sich allein etwas, jedes
ist für sich allein sogar vollkommen interesselos . . . zum Problem des Bildes wird
die farbige Luft über den Dingen. Das konnte nur jemand malen, dem die Natur
ein Augenerlebnis bedeutete, der ihr ganz unabhängig und absichtslos gegenüber-
trat. (S. 13 f.).
München. Georg Schwaiger.
Hugo Kehrer, »Zurbarän«. Hugo Schmidt, Verlag München. 1918. Groß-
Oktav. 168 Seiten und 87 Tafeln.
Als Gegenstück zu seinem Oreco hat Kehrer ein Werk über Zurbarän« folgen
lassen. Nach einem kurzen, einleitenden Vorwort wird die Lebensgeschichte erzählt,
werden Voraussetzungen und Anfänge der Kunst des Meisters aufgewiesen. Dem
Bonaventura-Zyklus folgt der Stil der dreißiger Jahre, um von seinen reifsten Werken
abgelöst zu werden. Dem Spätstil unter dem Einfluß Murillos wird ein besonderes
Kapitel gewidmet : in einem letzten Abschnitt wird die Brücke zum 19. Jahrhundert
zu Courbet geschlagen.
Die nicht einfache Aufgabe, eine Monographie zu schreiben, beruht ' auf der
Lösung sachlicher Gegensätze. Einmal kommt es darauf an, eine systematische
Aufweisung der wesentlichen Bestimmtheiten des als Einheit betrachteten künst-
lerischen Lebenswerkes zu geben, anderseits hat der Kunsthistoriker die zeit-
lose Betrachtung aufzugeben, um den Wechsel der künstlerischen Bestimmtheits-
besonderheiten zu verfolgen. Zeitlose systematische und zeitvolle historische Be-
trachtung bekämpfen sich. Eine andere immanente Schwierigkeit liegt in der Aus-
gleichung des Einzigen und Allgemeinen. Inwieweit ist es Pflicht des Monographen,
losgelöst vom Wechsel der in der Zeit liegenden allgemeinen künstlerischen Ge-
sinnung, einschließlich der durch die Zeit begründeten Wesensformen, sich auf die
individuelle Erscheinung des einen Künstlers zu beschränken? Inwieweit darf der
Forscher Grundbegriffe, in unserem Fall z. B. »spanischer Barock«, bereits voraus-
setzen, und inwieweit soll es seine Aufgabe sein, den fraglichen Kunstbegriff zu
erfüllen oder zu erweitern?
Die Arbeit Kehrers ist sich dieser Gegensätze, die sich mehr oder weniger in
dem Gegensatz künstlerischen Aufbaus und wissenschaftlicher Zergliederung zu-
sammenfassen lassen, wohl bewußt. Es kommt ihm darauf an, die Gesinnung
Zurbaräns, die Zeitstimmung, wie er sie auffaßte, die Gestalten, wie der Meister
sie sah, lebendig werden zu lassen (S. 73—74): »Wir treten ein in die stille Welt
der spanischen Heiligen. Mönche, deren Namen fast nie zu uns gedrungen sind,
stehen vor uns wie in einer fürstlichen Ahnengalerie, stehen vor uns lebensgroß
in einer fast starren Selbstvergessenheit. Mächtige Folianten, Kelche, das Kruzifix,
ihre Attribute halten sie in der Hand, sie lesen oder murmeln feieriich ihre lateinischen
BESPRECHUNGEN. 113
Oebete. Manche haben einen furchtbaren Ernst im Ausdruck, und das Zusammen-
gehaltene der Stimmung setzt uns in tiefes, frommes Staunen. Das ist eine Welt
für sich, und der nordisch-germanische Besucher braucht Zeit, um mit jenen Menschen
im Bilde in innere Fühlung zu kommen« (S. 73, 74).
Das kunstleibliche Problem wird, soweit es überhaupt vom Kunstseelischen
trennbar ist, in eine überzeugende Formel gefaßt, wofür reichliche Beispiele zeugen.
Es heißt von Zurbarän: »Von Jugend ab hat er nur eine Aufgabe gekannt, wie
die menschliche Einzelgestalt beschaffen sein müsse, um monumental zu erscheinen«
(S. 131). Damit wird ein Kennzeichen des Barock genannt, das bei Zubarän seinen
besonderen Akzent, die ihm eigene Note, erhält. Oft werden die Einzelerscheinungen,
soweit sie sich ähnlich in der Zeit wiederfinden, ihrer fremden Sonderzüge ent-
kleidet und damit wissenschaftlich festgestellt. So geht Kehrer bisweilen auf die
Grundbegriffe zurück, um bei dieser sichtenden, vergleichenden Arbeit neue Probleme
zu finden, die er später zu lösen gedenkt. So heißt es auf S. 132: »Die Begriffe
Bewegung und Masse gelten für diesen Spanier ganz ähnlich wie für den Holländer
Rembrandt nur in sehr bedingtem Sinne. Sic passen ebenso schlecht für sie, wie
sie gut für den Flamen Rubens passen. Der spanische Barock ist anders als der
italienische und germanische, und es muß einer späteren Arbeit vorbehalten bleiben,
seine besondere Stellung innerhalb der Stilentwicklung des 17. Jahrhunderts zur
Anschauung zu bringen.«
Danzig-Langfuhr. Alfred Werner.
Max Deri, Die Malerei im 19. Jahrhundert; Entwicklungsgeschicht-
liche Darstellung auf psychologischer Grundlage. In zwei Bän-
den. Verlegt bei Paul Cassirer, Berlin 1919. I; 588 Seiten. II; 200 Bild-
beispiele.
Das Buch verfolgt verschiedene Ziele. Deri will seine — im siebenten Bande
dieser Zeitschrift erschienenen — kunstpsychologischen Untersuchungen durch prak-
tische Anwendung auf einem Teilgebiete des kunstwissenschaftlichen Materials er-
proben. Hierfür erscheint aber die Beschränkung auf das 19. Jahrhundert und die
Malerei — mit nur gelegentlichen Hinweisen auf andere Zeiten und Kunstarten —
einigermaßen willkürlich; auch hätte es dazu nicht einer so breiten Ausmalung einer
Kunstepoche bedurft. Aber es handelt sich ja — und das ist das zweite Ziel dieses
Werkes gerade um eine Entwicklungsgeschichte der Malerei im 19. Jahrhundert.
Die Erfüllung dieser Aufgabe zeigt jedoch keine Gleichmäßigkeit, denn eine dritte
Absicht mischt sich ein : zum Verständnis besonders der jüngsten Kunstströmungen
anzuleiten, des Kubismus, Futurismus, Expressionismus usw. Auf diese Weise rasen
wir zuerst im D-Zug-Tempo, um später auch bei kleineren Stationen längeren Aufent-
halt zu nehmen. Denn noch ein neuer Gesichtspunkt drängt sich vor: der päd-
agogische. Deri spricht zu seinem Publikum — zu »weitesten Kreisen« — , um zu
erziehen, nicht mit der ruhigen Ausgeglichenheit des Psychologen oder Historikers,
sondern in der werbenden und warnenden Einstellung des Pädagogen, der stark
vereinfacht, um Schwierigkeiten wegzuräumen, der bestimmte Ergebnisse immer
wieder unterstreicht, um sie dem Gedächtnis der Leser einzuhämmern usw. Weil
aber der Verfasser so verschiedene Ziele in einem einzigen Buche zu verwirklichen
trachtet, leidet die Reinheit der Problemsetzungen.
So erscheint mir die Umrahmung des Buches mit einer ganzen Kunsttheorie
als unnötiger Ballast. Deri beklagt häufig den Mangel an Anerkennung bei den
Fachgenossen, aber diese Durchsetzung einer Kuustpsychologie oder Kunstphilo-
sophie kann doch nicht »volkstümlich« erfolgen, sondern allein im Betriebe der
Zeitschr. f. Ästhetik u allt;. Kunstwissenschaft. XV. 8
1 14 BESPRECHUNGEN.
Wissenschaft. Um ihre Ergebnisse beitümmert sich Den gar nicht. Lipps, Dessoir,
Voll<elt u. V. a. werden nicht einmal erwähnt ; auch i c h glaube in meinen Schriften
mich mit den meisten Problemen auseinandergesetzt zu haben, um deren Lösung
Deri ringt. Zu seinem eigenen Standpunkt versuchte ich in meiner »Grundlegung
der allgemeinen Kunstwissenschaft« Stellung zu nehmen. Sollte Deri all jene For-
schungsarbeit für so minderwertig halten, daß jede Beachtung unnötig ist, könnte
er sich doch der dann gewiß leichten Aufgabe unterziehen, die gegnerischen Auf-
fassungen zu widerlegen. So ist es wenigstens in aller Wissenschaft üblich. Wenn
aber unter Mißachtung jeglicher Gemeinschaft jeder allein für sich arbeitet, entsteht
als Frucht einer derartigen Freiheit nur ein Chaos. Sachlich bewegt sich Deri —
mit dem ihm eigenen Scharfsinn — häufig auf der Bahn zum Richtigen, wobei es
interessant zu verfolgen ist, wie er unter der Enge der älteren Ästhetik leidet und
ihre Schranken zu durchbrechen trachtet. Ihn behindert aber nicht nur sein extremer
Psychologismus, sondern auch die reichlich grobschlächtige Psychologie, deren er
sich bedient. Theoretisch schwelgt er immer in »Gefühlen«, während er es im Einzel-
fall trefflich versteht, von den objektiven Formproblemen des Kunstwerks auszugehen,
und von diesen aus nach der einen Richtung den Weg zum Künstlererleben zu finden,
nach der anderen zum angemessenen Kunstverhalten. Was Deri den Zugang zu dem
systematischen Ursprung der Probleme versperrt, zu ihren wurzelhaften Tiefen, das
ist gerade — so paradox es vielleicht klingen mag — seine ganz außerordentliche
pädagogische Begabung. Er denkt schon pädagogisch, d. h. in einer schematisch-
linearen Vereinfachung, die dem Verständnis sich leicht erschließt; aber diese Ver"
einfachung ist etwas ganz anderes als letzte Erhellung und Verankerung. Er bleibt
auf Hügeln, von denen aus deutliche Überschau möglich ist; so erfreulich es ist,
daß er nicht in dunkle, alles verwischende Nebelmassen hinaufsteigt, so gewiß muß
Wissenschaft den Kampf aufnehmen und Mittel finden, um die Nebel zu zerreißen.
Es ist eben ein Unterschied, ob ich etwa die italienische Renaissance in handlicher
Klarheit darstelle, ohne ihre ganze Problematik aufzuwirbeln, oder ob ich sie durch-
schreitend zu einer Klarheit gelange, die sich dann auf einer ganz anderen Schicht
bewegt Die elegante und oft wunderbar durchsichtige Rationalität der Schaffens-
weise Deris blendet, und erst hinterher bemerkt man, wie gewandt und sicher Klip-
pen umschifft wurden, und daß sich doch nicht alles so reinlich und glatt ein-
schachteln läßt. Aber pädagogisch ist diese Art zum Teil sogar mustergültig: der
Leser wird wahrhaft »eingeführt« und »lernt« viel. Klug, besonnen und vorurteils-
frei würdigt Deri die einzelnen Künstler und Stilstufen; niemals verfällt er der schön-
rednerischen Phrase, sondern jede Einzelheit wird am Bildbeispiel nachgeprüft. Es
ist wirklich ein Vergnügen, diesen knappen, aber inhaltreichen Analysen zu folgen.
Wo Werturteile auftreten, herrscht stets das Streben nach sorgsam abwägender Ge-
rechtigkeit, und vor allem wird jede Schätzung oder Ablehnung genau begründet.
Nur in zwei Fällen geht das Temperament mit ihm durch: Marees wird leiden-
schaftlich, geradezu erbittert bekämpft, Hodler enthusiastisch emporgeschraubt. Ferner
scheint mir der Entwicklungsrhythmus zu sehr der französischen Malerei entnommen,
in der deutschen ergeben sich dann »Ausnahmen«, die aber gerade für diese Kunst-
weise besonders kennzeichnend sind. Überhaupt kommt die deutsche Malerei etwas
zu kurz, obgleich hier und da sogar eine ziemlich kräftige nationale Note an-
geschlagen wird; die klare Stetigkeit im Ablauf der französischen Kunst liegt
jedoch mehr der gliedernden Art Deris. Sein Werk ist zweifellos eine kunstpäd-
agogische Leistung, deren man sich ehrlich freuen darf. Aber diese Freude wird
durch einen äußeren — leider sehr wichtigen — Umstand wesentlich getrübt: sind
denn die »weitesten Kreise« in der Lage, eine »Einführung« zu bezahlen, die —
BESPRECHUNGEN. HS
ohne alle Teuerungszuschläge des Buchhandels — fünfundsechzig Mark kostet? wo-
bei noch die Abbildungen so jämmerlich unscharf sind, daß man sich wundern muß,
wie ein großer Verlag für sie verantwortlich zeichnen kann.
Rostock. Emil Utitz.
OttomarWichmann.PlatosLehrevonlnstinktundOenie. (Ergänzungs-
hefte der Kantstudien Nr. 40.) Berlin, Reuther und Reichard, 1917. 112 S.
Die Schrift ist eine fleißige philologische Erstlingsarbeit, die eindringliche Be-
schäftigung mit Piatons Werken verrät. Aber man vermißt dabei doch das rechte
philosophische Verständnis der platonischen Lehren. Im ersten Teil der Unter-
suchung, der Piatons Teleologie behandelt, war eine genauere Beziehung auf die
Ideenlehre notwendig (was z. B. S. 27 f. über die Ideenlehre im Phädon gesagt wird,
ist unzureichend), erst dadurch wären die Begriffe des Lebens, des Seelischen, des
Zweckes ins rechte Licht gerückt worden. Und wenn Wichmann die Prinzipien
platonischer Philosophie schärfer erfaßt hätte, dann wäre er wohl auch vor einer
Vermengung allgemeiner griechischer Volksvorstellungen mit den eigenen Ansichten
Piatons bewahrt geblieben; so aber nimmt er Äußerungen über Göttliches, die
stilistisches Beiwerk sind und traditioneller Anschauung sich anpassen, ohne weiteres
als ernste Meinungen Piatons und gelangt dadurch nicht zu einer richtigen Ein-
schätzung des Oottesbegriffes im platonischen System. Auch die Bedeutung des
Mythischen wird nicht nach ihrem philosophischen Sinn gewürdigt, wenn auch
S. 33 ff. einige gute Bemerkungen über ^xüü-o; und So^a gemacht werden.
Der zweite Teil erörtert das eigentliche Thema »Instinkt und Genie«. Aber
wer hier neue Aufschlüsse über die platonische Ästhetik erwartet, wird enttäuscht
Wie im ersten Teil, so hat Wichmann auch hier die eigenen Lehren Plafons nicht
scharf genug herausgearbeitet. Was Piaton über das Instinktive sagt, stammt teil-
weise aus Volksvorstellungen , teilweise ist es auch als Ansicht des historischen
Sokrates zu verstehen; derartiges muß natürlich von Piatons eigenen Theorien ge-
sondert werden. Den >lon« schätzt Wichmann doch allzu ernst ein, wenn er auch
mit Recht den platonischen Charakter des kleinen Dialogs verficht. Vom Wesen
des Genies nach Piaton erfahren wir in Wichmanns Darstellung recht wenig; die
Eroslehre ist nicht in ihrer vollen Bedeutung erfaßt.
Neue Untersuchungen der platonischen Ästhetik auf Grund der Fortschritte der
philologischen wie der philosophischen Piatonforschung sind durchaus wünschens-
wert. Wichmanns Schriftchen weist dafür zwar keinen großen philosophischen Ertrag
auf, aber es bietet eine Reihe guter Einzelbeobachtungen, die der Kenner verwerten
kann.
Greifswald. Willy Moog.
Schriftenverzeichnis für 191Q.
Erste Hälfte.
I. Ästhetik.
1. Geschichte und Allgemeines.
Diez, M., Allgemeine Ästhetik. Neudruck. 180 S. Sammlung Göschen. Nr. 300.
Hamann, R., Ästhetik. 2. Aufl. 133 S. Natur und Geisteswelt. 345. Bdchn.
JVlüller-Freienfels, R., Persönlichkeit und Weltanschauung. Psychologische Unter-
suchungen zur Religion, Kunst und Philosophie. Mit 4 Abbildungen im Text
und 5 auf Tafeln. XII, 274 S. 8». Leipzig, Teubner. 7.50 M.
Krieck, E., Philosophie und Dichtung. Die Tat. 11. Jahrg. S. 278— 290.
Werner, A., Wissenschaftliche Prinzipien und künstlerische Elemente in der Philo-
sophie. Sammlung wissenschaftlicher Arbeiten. Heft 54. Langensalza. 27 S.
Otto, E., Zur Grundlegung der Sprachwissenschaft. VII, 155 S. Bielefeld, Vel-
hagen u. Klasing. 4.40 M.
Niuck, J., Sprachkunstlehre. Formen und Normen der Dichtung und Prosa. I. Vers-
kunst. VIII, 123 S. Frauenfeld, Huber & Co. 5 M.
Leos er, G., Mommsens Kunst der Darstellung. Studien zu seiner römischen Ge-
schichte. 101 S. 8». Zürich 1918, Seemann.
Bis sing. Fr. W. v.. Die Kultur des alten Ägyptens. Mit 58 Abbildungen. 2., ver-
besserte Aufl. VIII, S. 225. Abbildungen und 88 S. Wissen und Bildung. 121. Bd.
1.25 M.
Koch, M., Deutsche Vergangenheit in deutscher Dichtung (deutsche Renaissance).
Rede. 72 S. Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte. Neue Folge. 50. Heft.
6M.
Bezold, F. V., Aus Mittelaher und Renaissance. Kulturgeschichtliche Studien. VII,
457 S. München, R. Oldenbourg. 18 M.
Burdach, K., Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über
die Grundlagen moderner Bildung und Sprachkunst. 220 S. Berlin 1918. Gebr.
Paetel. 7.50 M.
Burckhardt, J., Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. 12. Auf L
besorgt von L. Geiger. 2 Bde. XXX, 334, XI, 372 S. Leipzig, B. Kröner. 21 u.
28 M.
Burckhardt, J., Vorträge. 1844—1887. Im Auftrage der historischen und anti-
quarischen Gesellschaft zu Basel. Herausgeg. von Emil Dürr. 2. Aufl. XIII,
485 S. gr. 8". Basel 1918. B. Schwabe & Co. 26 M.
C h I e d o w s k i , C. v.. Der Hof von Ferrara. Mit 32 Vollbildern. Übersicht von
R. Schapire. 545 S. 2.-4. Taus. gr. 8». München, G. Müller. 44.50 M.
Schlosser, J., Materialien zur Quellenkunde der Kunstgeschichte. VII. Heft. Die
Kunstliteratur des Manierismus. Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil,
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Kommiss.).
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919. 117
I
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Carl Winter. 29 M.
Goetz.W., Das Wesen der deutschen Kultur. 518. 8". Darmstadt, O. Reichl.
1.50 M.
Sehe mann, L„ Qobineau und die deutsche Kultur. 4.— 6. Aufl. 172 S. 16*. Leip-
zig, Oldenburg & Co. 3 JV\.
Literarischer Ratgeber des Dürerbundes. Begründet von F. Avenarius. Ge-
leitet und zum fünften Male bearbeitet von W. Schumann. Bedeutend erweiterte
5. Aufl. XI, 1053 S. Lex. 8». München, G. D. W. Callwey. 14 M.
2. Prinzipien und Kategorien.
Rover, H., Kunstanschauung unserer Zeit. 30 S. Hamburg, Freideutscher Jugend-
verlag. 1.80 M.
Graf, Ü.M., Die Aufgabe der kommenden Kunst. Die Tat. 11. Jahrg. S. 44— 50.
Kayser, R., Der Weg der neuen Dichtung. Das junge Deutschland. 2. Jahrg.
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Däubler, Th., Im Kampfe um die moderne Kunst. 75 S. Tribüne der Kunst und
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Däubler, Th., Der neue Standpunkt. 201 S. 8«. Leipzig, Inselverlag. 3.50 M.
Keim, H. W., Der Expressionismus als Weltanschauung. Das junge Deutschland.
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E d s c h m i d , K., Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dich-
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Hausenstein, W., Über Expressionismus in der Malerei. 76 S. Tribüne der Kunst
und Zeit. 2. Heft. 2.60 M.
Steiner, R., Das Wesen der Künste. Vortrag. 34 S. kl. 8». Beriin, Philos.-anthropo-
sophischer Vertag. 1.20 M.
Wurm, A., Worauf es bei der Kunst ankommt. Eine leichtfaßliche Einführung in
die moderne Malerei, Plastik und Architektur. 112 S. kl. 8°. München, Vertag
der Kunstwerkstätten »Ars sacra«. J. Müller. 2.40 M.
Westheim, P., Die Welt als Vorstellung. Ein Weg zur Kunstanschauung. 132 S.
mit Abbildungen. Lex. 8". Potsdam, G. Kiepenheuer. 20 M.
Wache, K., Die Künste, ihr Wesen und Werden. III, 166 S. mit Abbildungen. 8«.
Wien, Harbauer. 3.50 M.
Osthaus, K. E., Orundzüge der Stilentwicklung. 69 S. mit Abbildungen. Lex. 8".
Hagener Vertagsanstalt. 12 M.
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Wort bei G. Meyrink von H. Sperber. IL Die groteske Oestaltungs-Sprachkunst
Chr. Morgensterns von S. Spitzer. 124 S. Leipzig 1918, O. R. Reisland. 4 M.
Hinrichsen, O., Das Pathologische im Drama. Das deutsche Drama. 2. Jahrg.
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Storck, K., Fortschreitende Entwicklung. Zum Tonkünstlerfest in Beriin. Der
Türmer. 21. Jahrg. S. 349— 353.
Melier, E., Zufall oder Plagiat? Der Türmer. 21. Jahrg. S. 244— 248.
118 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919.
3. Kunst und Natur.
Siegel, P., Moderner Volkskunst Zierat. 18 farbige Tafein. Plauen, Chr. Stell.
32,5 X 47,5 cm. 30 M.
4. Ästhetischer Eindruck.
Kuhn, W., Experimentelle Untersuchungen über das Tonalitätsgefühl. Beiträge
zur Anatomie, Physiologie, Pathologie und Therapie des Ohres, der Nase und
des Halses. Bd. XIII. S. 254-278.
Hofmannsthal, H. v., Das Gespräch über Gedichte. 32 S. Hyperionverlag.
36 X 28 cm. Halblederband 85 M.
II. Allgemeine Kunstwissenschaft.
1. Das künstlerische Schaffen.
Henry, D., Vom Sehen und Bilden. Die weißen Blätter. 6. Jahrg. S. 315— 322.
Köchling, Maria, Dichters Werden. Bekenntnisse unserer Schriftsteller. Heraus-
gegeben von M. K-i Mit 28 Bildern. VIII, 308 S. 8». Freiburg i. Br., Herdersche
Verlagshandl. 6.50 M.
Rothenburger, L., Zeichnungen eines Kindes. 15 Abbildungen. Mit einer Ein-
führung von Ad. V. Hildebrand. 10 Tafeln u. VIII S. Text. 31 .-c 23,5 cm. Frank-
furt a. M., F. A. C. Prestel. 10 M.
R o t h e , Rieh., Aus meinem Zeichenunterrichte. 56 S. mit 31 Abbildungen.
Schaffende Arbeit in Kunst und Schule. 83. Beiheft. Leipzig, A. Haase. 2.50 M.
Widmer, J., Von Hodlers letztem Lebensjahr. Mit 4 Kunstdrucktafeln. 48 S.
Zürich, Rascher & Cie. 3.50 M.
2. Anfänge der Kunst.
Weule, K., Die Kultur der Kulturlosen. Ein Blick in die Anfänge mehschlicher
Geistesbetätigung. Mit 3 Tafeln und zahlreichen Abbildungen nach Original-
aufnahmen und Zeichnungen von K. Reinke. 8. Aufl. 100 S. Stuttgart, Franckh-
sche Verlagshandl. 1.50 M.
Schnitze, V., Grundriß der christlichen Archäologie. VIII, 159 S. mit 1 Tafel. 8".
München, C. H. Beck. 5 M.
Ebersolt, J., Melanges d'histoire et d'archeologie byzantines. 8». 129 S. 2 Tafeln.
Paris, E. Leroux, 1917.
3. Tonkunst und Bühnenkunst.
Cohn, A. W., Die Erkenntnis der Tonkunst. Gedanken über Begründung und Auf-
bau der Musikwissenschaft. Zeitschrift für Musikwissenschaft. 1. Jahrg. S. 351
bis 360.
Grunsky, K., Musikästhetik. Neudruck. 178 S. Sammlung Göschen. Nr. 344.
Hanslick, E., Vom Musikalisch-Schönen. 12. Aufl. IX, 174 S. Leipzig, Breitkopf
u. Härtel. 3 M.
Gennrich, Fr., Musikwissenschaft und romanische Philologie. III, 54 S. Halle
1918, M. Niemeyer. 3 M.
Reger, M., Beiträge zur Modulationslehre. 12. Aufl. 52 S. Leipzig, C. F. Kahnt.
1.50 M.
Moser, H. J. , Die harmonischen Funktionen in der tonalen Kadenz. Zeitschrift
für Musikwissenschaft. 1. Jahrg., S. 515—523.
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919.
IIQ
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ständig umgearbeitete Auflage der Schrift »Von Bach bis Wagner«. VIII, 168 S.
und 62 S. Musikbeilage. gr. 8". Leipzig, C. Merseburger. 8 M.
Moser, H. J., Zur Rhythmik der altdeutschen Volksweisen. Zeitschrift für Musik-
wissenschaft. 1. Jahrg. S. 225 252.
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Band, E., Zur Entwicklungsgeschichte des modernen Orchesters. Auers Schriften
für musikalische Bildung. 3. Heft. kl. 8'. Stuttgart, A. Auer. 0.60 M.
Steinitzer, M., Zur Entwicklungsgeschichte des Melodramas und Mimodramas.
Mit 8 Bildern und 2 Notenbeilagen. VII , 74 S. Die Musik. 35. Bd. Leipzig,
C. F. W. Siegel. 2 M.
Niemann, W., Die Virginalmusik. 48 S. Breitkopf u. Härteis Musikbücher. 2 M.
Millenkovich-Morold, M. v.. Die österreichische Tonkunst. Österreichische
Bücherei. 10. Bdchn. 84 S.
Schellenberg, E. L, Bach, der Mystiker. Der Türmer. 21. Jahrg. S. 256— 260.
Marx, A. B., Über Tondichter und Tonkunst. Aufsätze. I. Bd. Tondichter. 1. Ab-
teilung (Bach, Händel, Gluck). 74 8. 2. Abteilung (Haydn, Mozart, Beethoven,
Cherubini). HOS. Schriften über Musik und Musiker. Hildburghausen, Oadow
& Sohn. Je 2 M.
Pfordten, H., Frh. v., Mozart. Mit einem Porträt. 2., durchgesehene Aufl. VIII,
142 S. Wissen und Bildung. 41. Bd. 1.25 M.
Hirschberg, C, Carl Loewes Instrumentalwerk. Eine Monographie. 139 S.
Schriften über Musik und Musiker. Herausgegeben von L. Hirschberg. 4. Bd.
gr. 8«. Hildburghausen, F. W. Gadow & Sohn. 4 M.
Lietzmann, B. , Clara Schumann. Ein Künstlerieben. Nach Tagebüchern und
Briefen. 1. und 2. Bd. gr. 8". Leipzig, Breitkopf u. Härtel. Je 12 M.
Hirschberg, L., Richard Wagners Beethoven-Brevier. Zusammengestellt. 120 S.
Schriften über Musik und Musiker. 3. Bd. Hildburghausen, Gadow & Sohn.
2.50 M.
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3.-6. Aufl. 198 S. gr. 8°. Beriin, Schuster & Löffler. 6 M.
Specht, R., Gustav Mahler. 5.-8. Aufl. 296 S. gr. 8". Beriin 1918, Schuster &
Löffler. 8M.
Pretzsch, P., Zur Musik Siegfried Wagners. Bayreuther Blätter. 42. Jahrg.
S. 88—96.
Marsop, P., Friedrich Klose. Deutscher Wille. 32. Jahrg. S. 10— 11.
Niemann, W., Meister des Klaviers. Die Pianisten der Gegenwart und der letzten
Vergangenheit. 1.— 8. Aufl. 245 S. 8». Beriin, Schuster & Löffler. 6 M.
Eisenmann, A., Das Musikstudium. Orunsky, K., Das Klavierspiel. Auers
Schriften für musikalische Bildung. 1. Heft. 40 S. Stuttgart, Auer. 0.60 M.
Weingartner, F., Ratschläge für Aufführungen klassischer Symphonien. 2. Bd.
Schubert und Schumann. V, 114 S. Musikbücher. Leipzig, Breitkopf u. Härtel.
5 M.
Store k, K., Das Opernbuch. Ein Führer durch den Spielplan der deutschen Opem-
bühnen. 14.— 16. vermehrte Aufl. VII, 472 S. kl. 8». Stuttgart, Muthsche Ver-
lagsh. 5.50 M.
Altmann, W., Führer durch die einaktigen Opern, Operetten und Singspiele des
Veriags Ed. Bote und^G. Bock. 84 S. 8». Beriin, Ed. Bote u. G. Bock. 2 M.
Bülow, H. V., Ausgewählte Briefe. Volksausgabe. Herausgeg. von M. v. Bülow.
XVI, 600 S. 8 ■. Leipzig, Breitkopf u. Härtel. 10 M.
120 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919.
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X. Jahrg. S. 310— 316.
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Ratislav, J. K., Kotzebue und das Burgtheater. Der Merker. X. Jahrg. S. 319— 324.
Specht, R., Das Wiener Operntheater. Von Dingelstedt bis Schalk und Strauß.
Erinnerung aus 50 Jahren. 126 S. und Abbildungen, gr. 8°. Wien, P. Knepler.
8 M.
Reinhardt und seine Bfihne. Bilder von der Arbeit des deutschen Theaters.
Herausgeg. von E. Stern und H. Herald. Eingeleitet von H. v. Hofmannsthal.
4. Taus. 208 S. mit Abbildungen. Berlin 1918. Dr. Eysler & Co. 6 M.
Mehler, E., Regiebücher zu den Inszenierungen Hans Pfitzners, besorgt u. heraus-
gegeben. Nr. 3. Der arme Heinrich. Vollständiges Regiebuch. VII, 46 S. mit
Figuren. Leipzig, M. Brockhaus. 3 M.
Marsop, P., Zur Inszenierung des Palestrina. Der Merker. X. Jahrg. S. 275— 281.
KrauB, R., Modernes Schauspielbuch. Ein Führer durch den deutschen Theater-
spielplan der neueren Zeit. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. 424 S. kl. 8».
Stuttgart, Muthsche Verlagsh. 5.50 M.
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spiel. 284 S. gr. 8'. Berlin, Schuster & Löffler. 8 M.
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Amalthea-Verlagsbuchh. 4.50 M.
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E. Stern. 89 S. kl. 8«. München, Delphinverlag. 5 M.
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Otten, M., Der Filmschauspieler. Der Weg zum Film. I.Band. Beriin, Verlag
der Lichtbildbühne. 4.50 M.
Mack, M., Wie komme ich zum Film? (Film und Bühne.) 123 S. mit 1 Bildnis.
8». Beriin, Reinh. Kühn. 2.50 M.
Köper, J., und Brepohl, W., Vorschläge zu einem Reformkino. 3. Aufl. II, 12 S.
Nassau. 1 M.
Das Kinojahrbuch 1919. Herausgeg. von Hans Richter. 1 66 S. kl. 8». Beriin,
A. Herrn. Richter. 2.50 M.
Guttmann, Variete. Beiträge zur Psychologie des Pöbels. 95 S. kl. 8". Wien,
Deutsch-österr. Verlag. 4 M.
4. Wortkunst.
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Veriagsanstalt Tyrolia. 4.40 M.
Bab, J., Der Wille zum Drama. Neue Folge der Wege zum Drama. Deutsches
Dramenjahr 1911 — 1918. 426 S. 8«. Beriin, Österheld & Co. 12 M.
Busse, B., Das Drama. I. Von der Antike zum französischen Klassizismus. 2. Aufl.
Natur und Qeisteswelt. 132 S. Mit 13 Abbildungen. 287. Bdch. 1.60 M.
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 191Q. 121
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Reformation. I.Teil. 2, vermehrte und verbesserte Aufl. XVII, 581 S. gr. 8".
Halle 1018. M. Niemeyer.
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Gegenwart. 4., neu bearbeitete und vermehrte Aufl. (3 Bde.) 1. Bd. XII, 370 S.
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demie d. Wissensch. Georg Reimer in Kommiss. 1.50 M.
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Grammatik, Glossar und 7 Tafeln. Herausgeg. von R. Olschki. XVIII, 640 S. 8°.
Heidelberg, J. Groos. 12 M.
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Veriag. 4 M.
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Veriag. 2.50 M.
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Mit 828 Abbildungen und einer Karte. 2 Bde. XII, 888 S. Arbeiten d. kunst-
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Diez, E. , Churasanische Baudenkmäler. 1. Bd. Mit 5 farbigen und 36 schwarzen
Lichtdrucktafeln, sowie 40 Textbildern. Arbeitendes kunsthistorischen Instituts
d. Univers. Wien. 7. Bd. XI, 116 S. Berlin, Dietrich Reimer. 60 M.
Swoboda, K.M., Römische und romanische Paläste. Eine architekturgeschichtl.
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Worringer, W., Formprobleme der Gotik. Mit 25 Tafeln. 5. Aufl. XI, 127 S.
gr. 8». München, Piper & Co. 12 M.
Schmarsow, A., Kompositionsgesetze frühgotischer Qlasgemälde. 122 S. Abhand-
lung der sächs. Gesellschaft d. Wissensch. Phil.-hist. Klasse. 36. Bd. Nr. 3. Leip-
zig, Teubner. 4.80 M.
Schrader, H., Kaikar. Seine Geschichte und Kunstschätze. 119 S. Cleve 1918.
F. Boß We. 2 M.
Lauterbach, A., Warschau. Berühmte Kunststätten. 66. Bd. VIII, 199 S. Mit
146 Abbildungen. Leipzig, A. Seemann. 6 M.
Richter, A., Löwen, eine Perle Brabants. 62 S. Mit Abbildungen. 8". Weinböhla
1918, Verlag Aurora (K. Martin). 3.50 M.
Tietze, H., Wien. Berühmte Kunststätten. Vll, 324 S. Mit 154 Abbildungen.
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Schultz, F. T., Nürnbergs Bürgerhäuser und ihre Ausstattung. Mit zahlreichen
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bietes, herausgeg. von Chr. Rauch. Marburg, Elwertsche Verlagshandl. 12.50 M.
124 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1Q19.
Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreußen. 4. Bd.
Kreis Marienburg. 1. Die Städte Neuteich und Tiegenhof und die ländlichen
Ortschaften. Mit 472 Textbildern und 31 Beilagen. VII, 388 S. Mit farbiger Karte,
30,5 X 23,5 cm. Danzig, A. W. Kafemann in Kommiss. 16.50 M.
Musee du Louvre. Departement des antiquites grecques et romaines. Cata-
logue sommaire des marbres antiques (par Et. Michon). 200 S. 16". Paris,
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Iberique. I.Partie: Lusitianie. Conventus emeritensis. 47 S. 8". Paris, E. de Boc-
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Alex. Schnütgen zum Gedächtnis. 50 S. Mit 36 Abbildungen und einem
Bildnis. Lex. 8'. S.-A. aus der Zeitschrift für christliche Kunst. Düsseldorf,
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Heise, C. O., Die Sammlung des Freiherrn Aug. v. d. Heydt, Elberfeld. Ausge-
wählte Werke der Kunst der Gegenwart. Herausgeg. und eingeleitet. XXVIl,
46 S. Mit 50 Tafeln. Lex. 8". Leipzig, K. Wolff. 50 M.
Jahrbuch des kunsthistorischen Instituts der k. k. Zentralkommission für Denk-
malpflege. Herausgeg. von M. Dvofäk. 11. Bd. Mit 11 Tafeln und 134 Abbil-
dungen. Wien 1917, W. Schroll & Co. 22 M.
Jahrbuch der königl. preuß. Kunstsammlungen. Herausgeg von W. v. Bode usw.
39. Bd. Beiheft. III, 139 S. Mit Abbildungen. Berlin, G. Grote. 16 M.
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2 Figuren und 30 Tafeln. X u. 112 S. 4". Boston-Newyork , Haughton Mifflin
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Graesse, J. und Jaenicke, E., Führer für Sammler von Porzellan und Fayence,
Steinzeug, Steingut usw. Vollständig umgearbeitete, vermehrte Aufl. und mit
wissenschaftl. Belegen, Erläuterungen und Register ausgestattet von E. Zimmer-
mann. VIII, 384 S. Mit Figuren. 8». Berlin, R. C. Schmidt & Co. 12 M.
Stückelberg, E. A., Der Münzsammler. Ein Handbuch für Kenner und Anfänger.
2., verbesserte und vermehrte Aufl. Mit über 200 Originalabbildungen. XII,
260 S. 8». Zürich, Art. Institut Orell Füßli. 16 M.
Die Schausammlung des Münzkabinetts im Kaiser -Friedrich-Museum. Eine
Münzgeschichte der europäischen Staaten. Unter Mitwirkung von Dressel, Reg-
ung und Nützel verfaßt von J. Menadier. Führer durch die staatlichen Museen
zu Berlin. (Herausgeg. von der Generalverwaltung.) 572 S. kl. 8°. Berlin, Ver-
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6. Bildkunst.
F r i m m e 1 , T h. v., Studien und Skizzen zur Gemäldekunde. 4. Bd. 5. u. 6. Aufl.
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Kommiss. 4 M.
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XIII. Neapel, Perrella, 1915.
Wulff, O., Altchristliche und byzantische Kunst. I. Die altchristliche Kunst von
ihren Anfängen bis zur Mitte des 1. Jahrtausends. VI, 360 S. Mit 313 Abbil-
dungen und 20 Tafeln. 7. Taus. 32.75 M.
Burger, F., Schmitz, H., Beth, J., Die deutsche Malerei vom ausgehenden
Mittelalter bis zu Ende der Renaissance. I. Allgemeiner Teil. Böhmen und die
österreichisch-bayrischen Lande bis 1450 von F. Burger. VII, 228 S. Mit 276 Ab-
bildungen und 19 Tafeln. 6.— 10. Taus. Handbuch der Kunstwissenschaft. Neu-
babelsberg, Akad. Verlags-Oes. Athenaion. 22 M.
Dürer, Das Heilandskind nach Holzschnitten und Kupferstichen Albrecht Dürers.
Ausgewählt und mit begleitendem Text von O. Stuhlfauth. 22 S. Mit 9 Tafeln.
Lex. 8». Potsdam 1918, Stiftungsverlag. 5.40 M.
Kehrer, H., Matth. Grunewald. Das Wunder des Isenheimer Altars. Mit 52 Ab-
bildungen, eingel. und gewählt. 64 S. 8". München, H. Schmidt. 2.80 M.
Neuwirth, J., Bildende Kunst in Österreicii. IL Von der Renaissance bis zum
Beginn des 20. Jahrhunderts. 96 S. Österr. Bücherei. 8. Bdchn.
Rolland, R., Michelangelo. Herausgeg. von W. Herzog. XII, 242 S. Mit Tafeln,
gr. 8". Frankfurt a. M., Liter. Anstalt Rütten & Loening.
Michelangelo, Des Meisters Werke und seine Lebensgeschichte. Herausgeg.
von A. Semrau. Mit 20 Bilderbeilagen. 11.— 15. Taus. 375 S. Berlin, W. Born-
gräber. 10 M.
Neu mann, C, Aus der Werkstatt Rembrandts. VIII, 166 S. Mit Abbildungen
und Tafeln. Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen. Herausgeg. von
C. Neumann und K. Lohmeyer. 3. Bd. Lex. 8". Heidelberg, C. Winter. 22.70 M.
Rembrandt, Zeichnungen, in den Originalfarben nachgebildet durch Emn'k &
Binger in Haarlem. I. Folge. 3. Lfg. 125 fl.
Rembrandts Erzählungen. Mit etwa 70 Abbildungen, eingel. und ausgewählt
von E. W. Bredt. 89 S. München, H. Schmidt. 2.80 M.
Hundertfünfzig Jahre deutsche Kunst (1650—1800). 76 Bildtafeln mit einer
Einführung von W. Hausenstein. 39 S. Lex. 8". Berlin, Hyperionverlag. 36 M.
Swarzenski, G., Grisebach, A., Die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.
1. Einführung in die moderne Kunst. Von F. Burger. VII, 136 S. Mit Abbil-
dungen und 6 Tafeln. Handbuch für Kunstwissensch. Neubabelsberg, Akad. Ver-
lagsgesellsch. Athenaion. 14.— 16. Taus. 9.80 M.
Eugene Delacroix, Fragmente einer Selbstbiographie. Baudelaire über Dela-
croix. Aus dem Französischen übertragen von H. Graber. Mit 2 Bildnissen.
114 S. Dokumente zur neueren Kunst. 2. Bd. Basel, B. Schwabe & Co.
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Daumier, H., Recht und Gericht. 40 Steindrucke. Mit einer Einleitung von
E. Waldmann. 43 x 30 cm. Beriin, Hyperionveriag. 65 M.
Rümann, A., Daumier als Illustrator. Drei Jahrzehnte französisches Bürgertum.
Mit 150 Abbildungen. VIII, 112 S. 31 < 23 cm. München, Delphin-Verlag.
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Ooncourt, E. u. J. de, Oavarni. Der Mensch und das Werk. (Übertragen von
St. Strizek.) 2 Bde. Mit 107 ganzseit. und 36 Textillustr. 263 und 189 S. gr. 8".
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Rethel, A., Handzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett zu Dresden. Heraus-
gegeben von Wold. v. Seidlitz. 6. Lfg. Mit 5 Tafeln. 59,5 >. 44 cm. Berlin 1918.
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12Ö SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919.
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bildungen. Lex. 8°. Berlin, Bruno Cassirer. 25 M.
Frey, A., Albert Welti. Mit 7 farbigen Illustrationen. 47 S. Zürich, Rascher & Cie.
5.80 M.
Wichner, J., Der Schweizer Maler Max Buri. Werk und Wesen. Mit 5 Incavo-
gravüren auf Tafeln. 49 S. Zürich, Rascher & Cie. 5.80 M.
Steinberg, S., F. Hodler: Ein Platoniker der Kunst. Ein Versuch. 31 S. Mit
24 S. Abbildungen. Zürich, Rascher & Cie. 5.80 M.
Schweizerisches Künstlerbuch. Mit einem Geleitwort von K. Falke. VllI,
262 S. Mit 45 Tafeln. 8". Zürich, Rascher & Cie. 14 M.
Steinhausen, W., Augenblick und Ewigkeit. 16 Bilder mit einem Geleitwort des
Künstlers und einer Einführung von J. A. Beringer. 1 Bild und 14 Tafeln. Berlin,
Furche- Verlag. 6 M.
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Jeske, R., Gustav Wimmer, ein deutscher Maler. 32 S. Stettin, Fischer u. Schmidt.
0.50 M.
Dieffenbacher, J., Die alemannische Malersippe Dürr. Eine kunstpsychologische
Studie. Mit 110 Abbildungen. III, 93 u. XIV S. Freiburg i. Br., Breisgauerverein
Schauinsland. 7 M.
Das politische Plakat. Herausgeg. im amtl. Auftrage. 49 S. Mit 22 zum Teil
farbigen Tafeln, gr. 8°. Charlottenburg, Verlag »Das Plakat«. 3 M.
Weise, O., Schrift- und Buchwesen in aher und neuer Zeit. Natur und Oeistes-
weh. Nr. 4. Mit 28 Abbildungen, 127 S. 4., verbesserte Aufl.
Gottschalk, P., Die Buchkunst Gutenbergs und Schöffers. Mit einem einleiten-
den Versuch über die Entwicklung der Buchkunst. Mit 8 Tafeln, mit 18 Blatt Er-
klärungen, 15 S. Text. 46x33,5 cm. Berlin, P. Gottschalk. 40 M.
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Schumacher, F., Fragen der Volkskultur. Die literarische Gesellschaft. 5. Jahrg.
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Lüthgen, E., Die Aufgabe der Kunst und des kunsfgeschichtlichen Hochschul-
unterrichts. 55 S. Bonn und Leipzig, K. Schroeder.
Loos, A., Richtlinien für ein Kunstamt. 11 S. Wien, R. Lanyi. 0.50 M.
Kohne, G., Kultur, Kunst, Ethos. Der Türmer. 21. Jahrg. S. 336— 340.
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Weiterbildung der Jugend? Vortrag. 8 S. Neuland-Hefte. 2. Heft. Eisenach,
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Haenisch, K., Sozialdemokratische Kulturpolitik. 5. Aufl. 32 S. gr. 8°. Berlin,
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Tietze, H., Die Entführung von Wiener Kunstwerken nach Italien. Eine Dar-
legung unseres Rechtsstandpunktes. Mit einem offenen Briefe an die italienische
Fachgenossenschaft von M. Dvoiik. Mit 16 Abbildungen. 57 S. und 16 S. Ab-
bildungen. Wien, A. Schroll & Co. 3 M.
Reimann, H., Literarisches Albdrücken. X, 107 S. Mit Abbildungen, kl. 8°. Leip-
zig, E. Matthes. 5 M.
Boehn, M. v., Modespiegel. Mit mehrfarbigem Titelbild. 103 ein- und mehr-
farbigen Abbildungen im Text. III, 176 S. Braunschweig, G. Westermann.
14 M.
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Wissenschaften. Phil, und hist. Klasse. 10. Abhandlung. 18 S. München, G. Franz-
scher Verlag in Kommiss. 0.40 M.
8. Neue Zeitschriften und Sammelwerke.
Das gelbe Blatt. Öffentliches Leben, Kunst, Theater, Literatur, Mode. Red.:
Will Stephan, später Dr. S. Abraham. Nr. 1-7. 122 S. Mit Abbildungen. Stutt-
gart, H. Kofink. Halbj. 14 M.
Das neue Buch. Eine Zeitschrift für Bücherfreunde. Rundschau über alle Neu-
erscheinungen der schöngeistigen und künstlerischen Literatur. Herausgegeben
unter Mitwirkung erster Autoren. Red.: H. Rothgießer. Nr. 1. 16 S. Berlin,
Nee Sinit. 6 M.
Die Bücherkiste. Monatsschrift für Literatur, Graphik und Buchbesprechung.
Herausgegeben von Leo Scherpenbach. I. Jahrg. März-Dezember. Nr. 1. 12 S.
München, Bachmair & Co. Viertelj. 3 M.
Der Einzelne. Halbmonatsschrift für Politik, Wirtschaft, Kunst. Herausgegeben
von Albert Zimmermann. I. Jahrg. März 1919 bis Februar 1920. 24 Hefte 1. und
2. Heft. 60 S. gr. 8". Charlottenburg (1, Spreestr. 11), Verlag »Der Einzelne«.
Viertelj. 5.50 M., Einzelheft 1 M.
Neue Erde. Eine Halbmonatsschrift. Herausgegeben von Fr. BurschelL I.Heft.
24 S. Mit 1 Abbildung und 1 Tafel. Lex. 8». München, Dreiländerverlag. Viertel-
jährl. 6M., Heft 1.20 M.
Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung. Herausgegeben von
A. Wolfenstein. VI, 422 S. Berlin, S. Fischer. 8 M.
Kothurn. Halbmonatsschrift für Literatur, Theater und Kunst. Herausgegeben
von Artur Lewinneck. Königsberg i. Pr., Kothurn-Verlag. Einzelheft IM., im
Dauerkauf 0.75 M.
Kunst- und Kulturrat. Blätter für die neue Zeit. Herausgegeben vonj. A. Lux,
O. Schmidhammer und F. Ledwinka. 1.— 3. Heft. 98 S. Mit Abbildungen, gr. 8°.
Salzburg, Freie Arbeitsgemeinschaft für Kunst und Kultur. Vierteljährlich 4.50 M.,
Einzelheft 1.50 M.
Pugnamus. Halbmonatsschrift für Literatur, Theater, Wissenschaft, Sozialpolitik.
Hauptschriftleitung: F.F. Goldau. Nr. 1. 16S. Lex. 8'. Essen, Pugnamus-Verlag.
Vierteljährl. 2.10 M. *
128 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919.
Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur. Herausgegeben
von Robert Prechtl. Berlin WS, Spiegel-Verlagsgesellschaft m. b. H. 1. Heft.
2 M.
Der Wagenlenker. Organ des Reichsbundes geistiger Arbeiter. Schriftleitung
H. Sinsheimer. Nr. 1 — 3. 48 S. München, Wagenlenker- Verlag. Vierteljährlich
6 M.
Der Weg. Monatsschrift für bildende Kunst, Literatur, Musik und Zeitbewegung.
Herausgegeben von Walter Blume. Schriftleitung: E. Trautner, F. Schaefler,
W.Blume. Nr. 1. 12 S. Mit Abbildungen. 32 X 24,5 cm. München, O. C. Stei-
nicke. Halbjährlich 5.50 M.
\^V
IV.
Die Darstellung auf der Fläche.
Von
Kurt Theodor.
I.
Malerei und Zeichnung sind darstellende Künste; es gehört zu
ihren wesentlichen Merkmalen, daß Gegenstände unserer Erfahrungs-
welt auf der Fläche zur Wiedergabe gelangen. Wie weit aber schon
aus diesem Verhältnis von Bild und Vorbild ästhetische Werte er-
wachsen können, ist eine strittige Frage. Daß der Illusionskraft des
Kunstwerks im klassischen Altertum große Bedeutung beigemessen
wurde, zeigt die bekannte Anekdote vom Wettstreit des Zeuxis und
des Parrhasios. Ähnliche Geschichten werden aus China überliefert.
Auch bei uns verlangt zum mindesten die breite Masse — aber
nicht nur diese — von einem Gemälde vor allem Naturwahrheit. Wer
darin die Äußerung eines ungeschulten Geschmacks sehen wollte,
muß wenigstens zugeben, daß in der Nachahmung eine der Wurzeln
des künstlerischen Schaffens liegt. Das Kind freut sich, wenn es
ihm gelingt, die vertrauten Gegenstände der Umgebung in seiner
Zeichnung erkennbar hervorzubringen. Die Zeichnungen der Natur-
völker sind teilweise aus denselben Absichten zu erklären. Erst da-
neben treten andere Antriebe auf: Schmuck der Fläche, Festhalten
der Erinnerung, Formtrieb der Phantasie. Auch für den reifen Künst-
ler bleibt das Streben, ein Naturbild möglichst überzeugend auf die
Fläche zu übertragen, mehr als bloße Voraussetzung seines Schaffens.
Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein trug die ästhetische Theorie
diesem Tatbestand Rechnung. Allgemein wurde mit einer gewissen
Selbstverständlichkeit die Illusion als Hauptzweck der Malerei hin-
gestellt. Oft sprach man vorsichtiger von Nachahmung; darin liegt
dann die Einsicht, daß die Illusion nicht zu vollkommener Irreführung
gesteigert werden darf, weil man die Täuschung nur ganz auskosten
kann, wenn man sich ihrer bewußt bleibt. Um eine Erklärung für
den Zweck solcher Nachahmung war man nicht verlegen. Die Freude
an der Ähnlichkeit mit dem Vorbild und an der Geschicklichkeit des
Künstlers schien ihren Wert ausreichend zu begründen.
Zeitschr. f. AsUieUk u. alle. Kunstwissenschaft. XV. 9
130 KURT THEODOR.
Die heutige Ästhetik weiß mit Wirkungen solcher Art nichts an-
zufangen. Man hat gelernt, die tiefere Bedeutung und selbständige
Natur der ästhetischen Werte zu verstehen, sie den Werten wissen-
schaftlicher Erkenntnis und sittlichen Wollens gleichzuordnen. Bloßes
Vergnügen sinnlicher oder intellektueller Art hat mit künstlerischem
Erleben, wie wir es jetzt begreifen, nichts gemein. So schied man die
Tatsache der Darstellung aus dem Kreise ästhetischer Erörterungen
aus. Man beschäftigte sich nur einerseits mit den formalen Eigen-
schaften der Fläche, anderseits mit dem dargestellten Gegenstand; die
Verwandlung der Fläche in den Gegenstand wurde als bloße Technik
gering geschätzt, als unvermeidliches Mittel, das Phantasiebild zur An-
schauung zu bringen, mit in den Kauf genommen.
Gegen diese Verkennung der darstellenden Funktion des Kunst-
werks muß Einspruch erhoben werden, und es hat auch schon eine
Gegenbewegung eingesetzt. Seit Konrad Fiedler dringt in der Kunst-
wissenschaft die Erkenntnis durch, daß die Art, wie der Gegenstand
für unser Auge aus der Fläche entsteht, entscheidend für seine Wir-
kung ist Gehen wir nun einen Schritt weiter und behaupten wir,
daß gerade auf dem Gegensatz zwischen Flächenform und Raum-
erlebnis ein wesentlicher Teil der Kunstwirkung beruht, so gelangen
wir ganz in die Nähe jener alten Theorien von Illusion und Nach-
ahmung, ohne uns doch ihrer unbewußten Verflachung der Kunst-
werte schuldig zu machen. Alle Einwendungen der neueren Ästhetik,
so berechtigt sie sind, treffen nämlich gar nicht den Tatbestand, der
diesen Theorien zugrunde liegt, sondern nur seine Auslegung. Jene
Auffassung allerdings, die aus dem Gegensatz zwischen Illusion und
nüchterner Erkenntnis ästhetischen Genuß ableitet, ist viel zu intellek-
tualistisch. Konrad Lange, der in unserer Zeit die alte Nachahmungs-
theorie wieder zum Leben zu erwecken sucht, verfällt mit seiner »be-
wußten Selbsttäuschung« in den gleichen Fehler. Bei der rechten
Betrachtung von Kunstwerken treten wir nicht aus der ästhetischen
Einstellung heraus, für die der Unterschied zwischen Schein und Wirk-
lichkeit nicht existiert. In der Kunst handelt es sich nicht um Wirk-
lichkeit in irgend einem außerkünstlerischen Sinne, sondern um Wirk-
samkeit, nicht um Urteile, sondern um Erlebnisse. Aber die Umwand-
lung der Fläche in ein Stück Erscheinungswelt, die wir im Kunstwerk
sich vollziehen sehen, wendet sich gar nicht an den Verstand, sondern
wird Gegenstand unseres Erlebens, und dieses Erlebnis steht an Kraft
und Würde keinem anderen nach, das die Kunst vermittelt. Weil
wir noch keine ausreichende Rechtfertigung für solche Eindrücke
durch die Theorie besitzen, sehen wir an ihnen vorbei. So entsteht
eine Kluft zwischen praktischem Verhalten und bewußter Deutung,
I
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 131
welche schließlich auch die Wirkung der Kunstwerke nicht unge-
schädigt läßt.
In dieser Arbeit soll der Versuch gemacht werden, den Be-
ziehungen zwischen der Fläche und der dargestellten Erscheinung
nachzugehen und ihre ästhetische Bedeutung zu erweisen, um damit
einer wesentlichen Seite des Kunsterlebnisses auch in der Theorie die
gebührende Geltung zu verschaffen. Vorher sei zur Vermeidung von
Mißverständnissen darauf hingewiesen, daß dieser Aufsatz keineswegs
den Anspruch macht, Wesen und Wirkung der Malerei zu erschöpfen.
Die Wirkung der Kunst erstreckt sich in mehrere Dimensionen, und
wer ihr Ausmaß in einer Richtung feststellt, hat damit noch nichts
über ihren ganzen Umfang gesagt. Aber erst, wenn alle einzelnen
Funktionen der Kunst in ihrer Eigenart erkannt sind, kann ihr Ver-
hältnis zueinander und damit die Totalität der Kunstwirkung erfaßt
werden.
IL
Wir beginnen unsere Untersuchung zweckmäßig an der äußersten
Peripherie der Kunst mit solchen Bildern, die nur eine möglichst täu-
schende Nachahmung der Natur erstreben. Nachahmung bedeutet
natürlich auch hier nicht, daß ein gleicher Gegenstand zum zweiten-
mal erzeugt werden soll. Die Figuren des Panoptikums machen jedem
Feinnervigen nur Grauen, und ein Homunkulus, wenn es uns gelänge,
ihn zu schaffen, würde eben eine neue Wirklichkeit, kein Werk der
Kunst sein. Zur künstlerischen Nachahmung gehört, daß ein dem
Vorbild gleichwertiger Eindruck unter ganz entgegengesetzten Bedin-
gungen und mit ganz andersartigen Mitteln geschaffen wird. Ein
Gemälde gibt den Eindruck des Raumes, der Körperlichkeit, der Be-
wegung, der Stofflichkeit; aber es gibt Raum und Körper auf der
Fläche, Bewegung mittels des Unbewegten, die verschiedensten Stoffe
durch die gleichförmige Farbensubstanz. Der Wert der Nachahmung
liegt also in der Überwindung eines Gegensatzes. Nicht daß mein
Hund zum zweiten Male vorhanden ist (wie Goethe das Wesen der
Nachahmung mißversteht), macht mir Eindruck, sondern daß auf der
zweidimensionalen, unbewegten, gleichförmigen Leinwand der Eindruck
eines lebendigen Wesens erzeugt wird. Die Wirklichkeit muß durch
die Fläche negiert werden, nicht etwa nur, um eine Verwechslung von
Abbild und Vorbild oder praktisches Interesse zu verhindern, sondern
um durch den Gegensatz Raum und Bewegung und Stofflichkeit be-
sonders eindrucksvoll hervorzuheben. Gewohnte Eindrücke treten mir
losgelöst von ihren empirischen Bedingungen entgegen und werden
dadurch intensiver erlebt. Der Kontrast ist ja ein wesentliches Mittel
132 KURT THEODOR.
anschaulicher Gestaltung, d. h. das Verhältnis der Dinge zu anderen
entscheidet ihre Wirkung. Den Eindruck der Größe z. B. kann man
durch Abweichung vom gewohnten Maße erwecken (das primitivste
und unzuverlässigste Darstellungsmittel), oder er entsteht durch den
Kontrast zu unserer Kleinheit, oder hauptsächlich durch das Verhältnis
der Teile des Kunstwerkes zueinander, wobei die absolute Größe sehr
gering werden kann. Zu diesen Möglichkeiten des Kontrastes tritt
nun als grundlegendes Phänomen der Kunst der Gegensatz, in dem
das Darstellungsmittel zu der Natur des Dargestellten steht.
Für gewöhnlich interessieren mich ja nur besondere Eigentüm-
lichkeiten eines Körpers, einer Bewegung, eines Stoffes. Daß es über-
haupt Raum und Körper, Materie und Bewegung gibt, ist mir selbst-
verständliche Voraussetzung und macht mir keinen Eindruck. Anders
auf dem Bild. Wenn es dem Maler gelingt, auf der Fläche irgendwie
den Eindruck des Räumlichen zu erwecken, so wirkt auf mich nicht
nur die besondere Gestalt oder Größe des Raumes, sondern die Tat-
sache des Räumlichen selbst. Bei der Darstellung einer engen Stube
erlebe ich den Raum durch ein Gefühl der Ausweitung, wie es mir
außerhalb der Kunst höchstens bei der Betrachtung weiter Fernsichten
geschehen kann. Entsprechendes erfahre ich, wenn Körperlichkeit,
Bewegung, Stofflichkeit durch sorgfältige Wiedergabe ihrer sicht-
baren Erscheinung vorgetäuscht werden. Ein gut modelliertes Gerät
offenbart mir das Wesen körperlicher Existenz; im Schreiten .eines
Bauern spüre ich das Lebendige aller Bewegung; durch ein Stück
gemalten Samts erfasse ich das Geheimnis der Individuation. Diese
Wirkung kann so gewaltig werden, daß alle besonderen Qualitäten
des dargestellten Gegenstandes verschwinden vor dem Erlebnis der
Existenz an und für sich, das uns aus der Tatsache der Darstel-
lung fließt.
Zu solchen metaphysischen Auswirkungen kommt es nun aller-
dings selten auf der grob illusionistischen Stufe der Kunst, von der
wir hier ausgegangen sind. Dort verflacht die Wirkung leicht und
verschiebt sich auf das intellektuelle Gebiet. Freude an der Ähnlich-
keit und an der Geschicklichkeit des Künstlers überwiegt die ästhe-
tische Ergriffenheit. Erst durch Vertiefung der Kunstmittel wird die
ästhetische Einstellung erzwungen, schon deshalb, weil jede andere
Einstellung sinnlos gemacht wird. Das Prinzip aber tritt bereits im
extremen Naturalismus deutlich zutage.
Ehe wir nun weitergehen und das eigentliche Gebiet der Kunst
betreten, sei kurz auf Parallelen aus anderen Kunstgebieten hingewiesen.
Andere Negationen rücken dort andere Wirkungen in den Vordergrund.
In der Plastik ist die dreidimensionale Existenz nicht negiert, bleibt
i
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 133
vielmehr selbstverständliche Voraussetzung'). Hier steht dafür die Leb-
losigkeit und unorganische Struktur des Materials in fruchtbarem Gegen-
satz zu der organischen Belebtheit und Beseeltheit des dargestellten
Körpers. Daher sind leblose Gegenstände, wie sie die Malerei reich-
lich verw^endet, für den Plastiker kein Vorwurf. Er muß Menschen
oder Tiere modellieren; nur sie sind der Natur des Darstellungs-
materials fremd genug, um das Wunder der Verwandlung eindrucks-
voll zu machen. Entsprechend steht in der Poesie das abstrakte
verallgemeinernde Wesen der Sprache im Gegensatz zu der lebendigen
Anschauung, die sie in uns erzeugen kann. Die bildende Kunst hat
von vornherein den Charakter der Anschaulichkeit; die Dichtkunst, die
Leben durch Worte vermittelt, macht uns gerade dadurch den Wert
der Unmittelbarkeit fühlbar. (In diesem Grundsatz liegt scheinbar ein
Widerspruch, tatsächlich eine Ergänzung zu Lessings Regel, daß jede
Kunst die ihren Mitteln entsprechenden Wirkungen suchen soll.)
Die negierende Funktion des Darstellungsmaterials, in unserem
Fall der farbenbedeckten Fläche, wirkt nun in keinem Falle ästhetisch,
solange bloß besseres Wissen dem naiven Eindruck die Wage hält.
Nur wo sich das Wissen in Gefühlswerte umsetzt, kann eine rein
ästhetische Wirkung zustande kommen. In der grob illusionistischen
Kunst wird die Fläche allerdings noch nicht anschaulich, sie wirkt
nur als unbestimmtes Gefühl des Nichts, des Ungeschaffenen, aus
dem die angeschaute Welt entsteht. Erst wenn die Fläche als solche
sich der Betrachtung aufdrängt und ihr eigenes Leben unabhängig von
dem Inhalt der Darstellung entfaltet, wird die Spannung zwischen
beiden Welten anschaulich und fruchtbar.
Das Eigenleben der Fläche erwächst aus den Beziehungen der
Linien, Farben, Flächenteile untereinander, die sich zu einem Organis-
mus zusammenschließen, ähnlich den Tongebilden der Musik und un-
abhängig von der dinglichen Bedeutung, deren Träger sie sind. Wie
zu den Tönen die Klangfarbe der Instrumente und der Vortrag, so
treten zu den rein sinnlichen Wirkungen der Farbe alle Eigenschaften
des Materials und seiner Behandlung, soweit sie unmittelbar angeschaut
und gefühlsmäßig gedeutet werden, wie etwa die Zähigkeit der Farb-
substanz, oder der Impuls, mit dem ein Pinselstrich hingesetzt ist.
Die Natur dieser »formalen« Wirkung ist oft untersucht worden und
braucht hier nicht erörtert zu werden. Man hat besonders in neuerer
Zeit Wert darauf gelegt, daß auch in diese abstrakten Gebilde Kräfte
und Stimmungswerte eingefühlt werden. Man hat aber über dieser
') Vgl. E. Kalischer, Analyse der ästhetischen Kontemplation. Zeitschr. f.
Psych. Bd. 28.
134
KURT THEODOR.
Verwandtschaft mit dem Eindruck tatsächlichen Lebens nicht genügend
betont, wie groß trotzdem die Kluft zwischen beiden Erlebnisqualitäten
bleibt. Damit ist nicht der Unterschied zwischen Illusion und Realität
gemeint — der geht uns in der Kunst nichts an — , sondern ein Unter-
schied der Gefühlswirkung.
Ein solcher Unterschied besteht zunächst zwischen Fläche und
Körper, genauer ausgedrückt : zwischen Fleckenform, Linienbewegtheit,
Farbenkontrasten auf der einen, und Raumform, echter Bewegung,
stofflicher Verschiedenheit auf der anderen Seite. Die Falten eines
Vorhanges wirken mit größerer Wucht als ein Liniengebilde von ver-
wandten Formmotiven. Ein dreidimensionaler Körper regt mein eigenes
Körpergefühl stärker an als eine Fläche. Die Harmonie von Samt und
Seide hat einen volleren Klang als die absoluter Farben. Parallel geht
der Unterschied zwischen der Beseeltheit der Fläche und den tatsäch-
lichen Äußerungen tierischer Lebendigkeit und individuellen Seelen-
lebens. Wenn Böcklin seine Landschaften mit lebenden Wesen be-
völkert, in denen sich die Stimmung der Natur noch einmal verkörpert,
so empfinden wir zwar eine Verwandtschaft zwischen Landschaft und
Staffage, aber in den Menschen, sogar in den phantastischsten Un-
geheuern ist die dargestellte Stimmung uns viel näher gerückt, kon-
kreter, verständlicher geworden. Eine ähnliche Empfindung haben wir,
wenn auf dem Höhepunkte von Beethovens IX. Symphonie die Men-
schenstimmen einsetzen. Schon die abstrakte Musik haben wir als
Ausdruck seelischer Vorgänge und Stimmungen begriffen; aber jetzt
verdichtet sich das Allgemeine der Musik zu bestimmten, ganz mensch-
lichen, persönlichen Erlebnissen. Es ist, als ob ein Geist, der uns un-
sichtbar umschwebte, plötzlich Gestah annimmt. Keine Art der Er-
scheinung ist der anderen überlegen. Die menschliche Verdichtung
wirkt unmittelbarer, individueller, vertrauter; die abstrakte Welt der
Töne und Rhythmen, Farben und Linien wirkt abgeklärter, zeitloser,
scheint befreit von den Zufälligkeiten des bloß Menschlichen.
Mit solchen Gegensätzen, wie sie zwischen dem Bewegungs-
charakter der Linie und dem Eindruck tatsächlicher Bewegung, zwi-
schen der Stimmungslandschaft und der Stimmung eines konkreten
Menschen liegen, haben wir es bei dem Gegensatz zwischen der
Fläche und der auf ihr dargestellten Welt zu tun. Es sind zwei
Aggregatzustände des Seelischen, zwischen denen wir uns bewegen;
das fließende Leben der Fläche verdichtet sich zu den begrenzten
individuellen Gestalten der Körperwelt; die Körperwelt wiederum löst
sich auf in das Alleben der Fläche. Die erste dieser Funktionen ist
es, die als künstlerische Darstellung erscheint; auf die zweite, ent-
sprechende baut Wilhelm Worringer seine Theorie von »Abstraktion
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. I35
und Einfühlung« auf. Worringer erfaßt den Gegensatz zwischen
Naturnähe und Stilisierung in seiner ganzen Schärfe und metaphysi-
schen Bedeutsamkeit; aber für ihn ist Kunst zu einseitig die Über-
windung des Natürlichen durch den Stil, und deshalb entziehen sich
weite Gebiete des Kunstschaffens seinem Verständnis. Erst aus ihrer
Vereinigung und gegenseitiger Beziehung sind beide Prinzipien, Dar-
stellung und Stilisierung, ganz zu begreifen.
Aus dem Vergleich der beiden hier entgegengesetzten Daseins-
formen, der darstellenden Fläche und der dargestellten Körperlichkeit
muß nun der Unterschied von Illusion und Wirklichkeit, wie er in der
Reflexion erscheint und wie ihn Konrad Lange in das Kunsterleben
hineinbringt, ganz fortbleiben. Vom außerästhetischen Standpunkt be-
trachtet, wäre auch die Welt der Fläche nur Schein. Farben und
Linien werden von uns unmittelbar als Kräfte aufgefaßt, und das ist
eine ebenso entscheidende Umsetzung des Gegebenen, wie seine
Deutung als räumlich-körperliche Welt. Will man den Begriff der
Wirklichkeit in diesem Zusammenhange gebrauchen, so muß man ihn
umgekehrt wie in der außerästhetischen Betrachtung gerade auf die
dargestellte Welt anwenden. Denn Körper, Raum, Bewegung, Stoff,
Individualität empfinden wir als wirklich, gegenüber Abstraktionen
aller Art, mögen sie begrifflich sein, wie im Denken, oder anschau-
lich wie in rein formalen Gebilden. Und der Prozeß der Darstellung
ist uns ein Prozeß der Verwirklichung.
Viel weiter kommt man, wenn man beide Seiten der behandelten Be-
ziehung als Form und Inhalt auffaßt. Nur muß man sich klar werden,
daß es sich dabei um eine dreifache Stufung handelt. Schon inner-
halb des Dargestellten scheiden sich Inhalt und Erscheinung. Im Ge-
sicht eines Menschen gewinnt sein Charakter Form. Wird dieses Ge-
sicht gemalt, so tritt die Erscheinung auf der Fläche in ähnliche Be-
ziehung- zur dargestellten Raumform, wie die Raumform zu dem Inneren
des Menschen. Wenn der Regisseur eine Gruppe stellt, so fassen wir
ihre räumliche Erscheinung getrennt von der dargestellten Handlung
auf. Wird die Gruppe nun gezeichnet, so bilden die Linien der Zeich-
nung wiederum eine Welt für sich, abgelöst von der räumlichen Ge-
stalt der Gruppe. Aus der Flächenform erkennen wir die Raumform,
aus der Raumform die Handlung. Alle drei Faktoren haben ihre eigenen
Wirkungsmöglichkeiten und gehen untereinander die mannigfaltigsten
Beziehungen und Verschmelzungen ein, aus deren Gesamtheit erst
das Kunstwerk entsteht. In der vorliegenden Arbeit wird nun eine
dieser Beziehungen herausgelöst, und zwar die für die Malerei beson-
ders kennzeichnende. In der Dichtkunst ruht der Ton vor allem auf
dem gestalteten Inhalt; die Form, äußere und innere, hat dienende
136 KURT THEODOR.
Funktion. In der Musik gibt es wohl auch Bedeutungselemente, aber
die Aufmerksamkeit richtet sich hier hauptsächlich auf die formalen
Faktoren. In der Malerei sind beide Seiten des Kunstwerks im Oleich-
gewicht, und die Aufmerksamkeit liegt mehr als in den anderen Künsten
auf dem Verhältnis beider Faktoren, auf der Entstehung der einen Welt
aus der anderen, mit anderen Worten auf dem Prozeß der Darstellung.
(Es ist wohl kaum nötig, hinzuzufügen, daß hiermit keine festen Schran-
ken aufgerichtet werden sollen. Alle Elemente der Kunst sind in jeder
Kunst enthalten, und jedes Kunstwerk erlaubt verschiedene Einstellung
des Betrachters. Aber die Akzente sind doch verschoben, und zwar
im angegebenen Sinne.)
III.
Drei verschiedene Formen der Entstehung des Gegenstandes auf
der Fläche haben wir zu unterscheiden. (Unter »Gegenstand« ist im
folgenden stets der dargestellte Wirklichkeitsausschnitt im Gegensatz
zur darstellenden Fläche verstanden.) Die erste Form ist unser Wissen
von der Bedeutung. Überall, wo wir wahrnehmend tätig sind,
suchen wir den gegebenen optischen Eindruck zu verstehen, d. h. wir
ergänzen unwillkürlich das tatsächlich Wahrgenommene aus unseren
Erfahrungen soweit, wie es für die Auffassung des Gegenstandes not-
wendig ist. Diese Ergänzung kann ganz unanschaulich — bloß ge-
wußt — bleiben; sie bezieht sich vielfach auf Dinge, die der An-
schauung gar nicht zugänglich sind. So fasse ich jede Wirkung als
Folge einer Ursache auf; ich brauche durchaus nicht an eine be-
stimmte Ursache zu denken, aber diese allgemeine Ergänzung ordnet
die Tatsache in meine Erfahrung ein. Sehe ich einen Gegenstand von
vorn, so ergänze ich mir notwendig die abgewandte Seite dazu, ohne
mir zwar im geringsten eine konkrete Vorstellung von ihr zu machen ;
immerhin, diese stillschweigende Voraussetzung macht mir erst das
Gesehene verständlich. Auch was in unserem Gesichtsfelde liegt, wird
nur zum Teil wirklich wahrgenommen, zum anderen Teil durch unser
Wissen ergänzt; das ist besonders auffallend, wenn wir in der Däm-
merung in den verschwimmenden Schatten bestimmte Gegenstände
erkennen.
Diese Gewohnheit, sich das Wahrgenommene zurechtzulegen,
spielt auch in der bildenden Kunst eine Rolle. Wenn ich einen
Schattenriß sehe, verstehe ich ihn als Körper, aber ich stelle mir die
körperliche Rundung nicht ausdrücklich vor, sie wirkt auch nicht auf
mich, ich weiß nur, daß sie zu dem dargestellten Gegenstand gehört,
und daß ihre Unterdrückung keine Leugnung ihres Vorhandenseins
bedeutet. Ebenso ergänze ich zu jeder einfarbigen Zeichnung die
I
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE, 137
Farbe, aber nicht so, daß ich bestimmte Farben für das Gesehene
einsetze — damit würde ich die Wirkung zerstören ') — ; es muß bloß
ein Wissen um die natürliche Farbe vorhanden sein, und auch dieser
Voraussetzung brauche ich mir nicht ausdrücklich bewußt zu werden.
In solcher Art werden die primitivsten Andeutungen des Zeichners vom
Betrachter unwillkürlich ergänzt, es wird verstanden, welcher Gegen-
stand gemeint ist.
Von dieser Deutung des Wahrnehmungsinhalts als Gegenstand
ist die unmittelbare Anschauung des Gegenstandes scharf zu
scheiden. Sehe ich ein Zimmer oder eine Landschaft — sei es auch
nur mit einem Auge und ohne meinen Standpunkt zu ändern — , so
nehme ich Raum und Körper, Stoffe und Beleuchtung direkt wahr.
Für die psychologische Analyse mag auch hier die Ausdeutung eines
Netzhautbildes vorliegen, phänomenologisch genommen sehe ich die
Dinge unmittelbar. Auch verdrängt die Anschauung des Raumes die
ursprüngliche Erscheinung mehr oder weniger vollkommen aus meinem
Bewußtsein, so daß nur durch Reflexion oder besondere Konzentration
der optische Tatbestand von den Gegenständen losgelöst werden kann.
Diese direkte Anschauung findet sich gleichfalls in der Malerei, am aus-
geprägtesten in den rein illusionistischen Bildern, von denen zu Anfang
die Rede war, aber in allerhand Abstufungen bildet sie auch einen
wichtigen Bestandteil in den Werken der echten Kunst.
Neben dieser unmittelbaren Anschaulichkeit, die wir die exten-
sive nennen wollen, findet sich in der Kunst noch eine intensive.
Ihr Wesen erfassen wir am besten in der Wortkunst. Wenn in der
Dichtung etwas mit vollkommener Anschaulichkeit geschildert wird,
so heißt das nicht, daß wir das Geschilderte auch nur mit einiger
Genauigkeit vor Augen haben, sondern daß der ihm entsprechende
Gefühlswert ganz lebendig in uns wird*). Zu dieser gefühlsmäßigen
Erfassung der Gegenstände mögen sich Bruchstücke anschaulicher
Vorstellungen gesellen, es kommt aber auf sie nicht an. Wollte
jemand einen anschaulichen Vergleich durch eine Zeichnung der ver-
glichenen Dinge illustrieren, so würde er die Wirkung nicht fördern,
sondern zerstören.
Auch in der bildenden Kunst spielt die intensive Anschaulichkeit
eine wichtige Rolle, und nicht nur, wo es sich um seelische Eindrücke
handelt. Auch Raumwerte u. dgl. können in dieser Weise rein ge-
fühlsmäßig für uns erzeugt werden. Sie haben dann zwar die Ten-
') Vgl. Broder Christiansen, Philosophie der Kunst, Hanau 1909.
') Über Vertretung von Vorstellungen durch Gefühle vgl. Wundt, Völkerpsy-
chologie Bd. II.
138 KURT THEODOR.
denz, sich in extensive Anschauung umzusetzen, tun dies aber nur,
soweit die sonstige Beschaffenheit des Bildes sich solcher Verwirk-
lichung nicht widersetzt.
Das Verhältnis dieser drei Daseinsformen des Gegenständlichen
zur Flächenform und ihre Bedeutung für die künstlerische Gestaltung
ist nun verschieden. Positive Bedeutung für die Wirkung des Kunst-
werks hat nur seine Anschaulichkeit, extensive und intensive. Das
bloße Wissen von der Bedeutung spielt eine ähnliche Rolle, wie die
Vorzeichnung, die der Maler mit Kohle auf seiner Leinwand ent-
wirft: Sie soll möglichst mit Anschauung ausgefüllt und überdeckt
werden, und, soweit sie unausgefüllt bleibt, das Verständnis des Vor-
handenen ermöglichen. Oder man kann sie mit dem dunklen Teil des
Mondes vergleichen, der die leuchtende Sichel zum vollen Kreise er-
gänzt, ohne ihre Leuchtkraft irgendwie zu beeinflussen. So ist auch
die Wirkung des Bildes unabhängig von dem, was wir zu dem Ge-
gebenen aus bloßem Wissen ergänzen, aber es wird verhindert, daß
uns das Vorhandene als fragmentarisch erscheint.
Nun kann sich allerdings dieses Bekanntheitsgefühl in allmählichen
Übergängen zur anschaulichen Erfassung des Gegenstandes steigern.
Diese unmittelbare Anschauung des Biidinhaltes verwirklicht sich in
einer Umordnung der gegebenen optischen Elemente. Nehmen wir
als Beispiel die Strichzeichnung einer Landschaft, etwa eine Skizze
von Liebermann. Wir haben da zunächst ein über die Fläche ver-
teiltes Gespinst nebeneinander liegender Striche. Folgen wir der räum-
lichen Suggestion, so liegen die gleichen Striche hintereinander ge-
schichtet. Linien, die sich auf der Fläche berühren, sind im Raum
durch weite Entfernungen getrennt, und solche, die auf der Fläche
weit auseinander liegen, können als Teile eines im Vordergrund be-
findlichen Gegenstandes eng zusammengehören. Bei Verkürzungen
werden die gleichen Linien als lang oder kurz gewertet, je nachdem
ob unser Auge ihnen in den Raum folgt oder sie in das Flächen-
muster einordnet.
In ähnlicher Weise verschiebt sich das Verhältnis der Farben zu-
einander. Farben, die in ihrer sinnlichen Beschaffenheit grundver-
schieden sind, werden gleich gesetzt, indem sie als Abwandlungen
einer Lokalfarbe durch die Luftperspektive aufgefaßt werden; um-
gekehrt werden gleiche Farben als verschieden empfunden, wenn sie
in verschiedenen Raumschichten vorkommen. Entsprechend täuscht
uns das Wissen von der gleichen Lokalfarbe über die Farbenunter-
schiede zwischen belichteten und beschatteten Stellen hinweg, und
Gleichheit von Farbentönen kommt uns nicht zum Bewußtsein, wenn
ihnen verschiedene Lichtwerte zugrunde liegen. Das sind nur Bei-
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 139
spiele, die das Prinzip erläutern sollen. Es ließe sich leicht zeigen,
daß auch die Auffassung von Körperlichkeit und Material auf eine
besondere Anordnung der optischen Elemente zurückgeht oder wenig-
stens notwendig mit ihr verbunden ist.
Auf solcher Umordnung beruht die extensive Anschaulichkeit. Sie
hat im Bilde wie in der Natur das Bestreben, die Flächenordnung aus
unserem Bewußtsein zu verdrängen und ihre Wirkung zu übertäuben.
Dies gelingt ihr aber nicht immer in gleichem Maße, weil die sug-
gestive Kraft der Raumanschauung und die selbstbehauptende Kraft
der flächenhaften Erscheinungsform in ihrem Verhältnis wechseln, in
der Natur und noch mehr in der Kunst. Wie die raumbildende Kraft
einer Darstellung gesteigert wird, darüber gibt es verschiedene Unter-
suchungen, die hier vorausgesetzt werden können. Unbeschadet dieser
Tendenz kann sich die Fläche ihrerseits durch mancherlei Mittel zu
behaupten suchen, so daß ein Kampf um unsere Aufmerksamkeit ent-
steht, eine starke Spannung, die zu einer wichtigen Quelle künstleri-
scher Wirkung wird. Je klarer die Form der einzelnen Striche und
Farbenflecke ist, je wohlgefälliger der Zusammenklang der Linien und
Farben und je leichter faßbar das ganze Flächenmuster, desto mehr
drängt sich die Fläche der Aufmerksamkeit auf. Je weniger sich da-
bei die Flächenelemente im Umriß und Verlauf mit den Gegenständen
decken, die sie darstellen, desto mehr wächst die Spannung zwischen
Fläche und Gegenstand. Eine lehrreiche, wenn auch etwas veräußer-
lichte Anwendung dieses Stilmittels findet man auf neueren Plakaten.
Man denke z. B. an die Art, wie dort Glanzlichter und Schatten zu
selbständigen, festumrissenen Teilen der Fläche gemacht werden und
dabei doch wegen des Widersinnes dieser Abgrenzungen immer wieder
zur Gegenstandsynthese treiben.
Besonders herauszuheben sind solche Bilder, in denen raum-
anregende und flächenbetonende Faktoren nicht nur äußerlich ver-
einigt sind, sondern wo ein einheitliches Darstellungsmittel zugleich
nach beiden Seiten wirkt. Hierher gehört vor allem die Skizzen-
technik. In der Skizze wird nicht alles dargestellt, was zum beab-
sichtigten Wirklichkeitseindruck gehört, es werden nur einzelne Seiten
des Gegenständlichen angedeutet, solche jedoch, die unsere Auffassungs-
tätigkeit besonders eindringlich zur Ergänzung anregen. Die spar-
sameren Darstellungsmittel treten deutlicher hervor und schließen sich
leichter als Flächenmuster zusammen. Nicht etwa jede Vereinfachung
der Darstellung hat solche Wirkung. Eine reine Umrißzeichnung zum
Beispiel vereinfacht sicherlich sehr stark, die Konturen verschmelzen
aber für den Eindruck so fest mit dem Gegenstande, daß sie uns als
Flächenelemente gar nicht zum Bewußtsein kommen. \n solchem Falle
140 KURT THEODOR.
fehlt die Spannung; unsere Anschauung ist vollkommen im Gegebenen
befriedigt. Ist jedoch der Umriß teilweise unterbrochen, so sind wir
gezwungen, die Lücke in unserer Phantasie zu ergänzen. Solche Unter-
brechungen des natürlichen Zusammenhanges lösen einerseits die Linie
als solche vom Gegenstand los, machen anderseits den Gegenstands-
eindruck lebendiger, weil sie uns zur Mitarbeit aufrufen.
Ähnlicher Natur ist die Wirkung der Darstellungsweise, welche
man die Technik der ungesättigten Silhouette nennen könnte. Eine
Silhouette, die das Profil der Gegenstände zeigt, kann mit ihrem be-
wegten Umriß sehr lebendig wirken, treibt aber unsere Auffassung
nicht über die Fläche hinaus, weil sie aus der Fläche ganz verständ-
lich ist. Eine Silhouette, die Menschen oder Tiere von vorn zeigt,
hat einen viel geschlosseneren Umriß und wird viel stärker als Stück
der Fläche empfunden, anderseits aber bleibt sie unverständlich, wenn
wir nicht die räumliche Gestalt zur Erklärung heranziehen. Auf diese
Weise werden wir zu gleicher Zeit auf der Fläche festgehalten und in
den Raum getrieben. Ähnliche Prinzipien verwenden nun manche Maler
in ihrer Bildgestaltung, der ältere Pieter Brueghel z. B., am auffallend-
sten jedoch Michelangelo. Michelangelos Verkürzungen werden sehr
bewundert, aber in ihrer Eigenart kaum richtig erkannt. Man vergleiche
seine Deckengemälde in der Sixtina daraufhin mit Verkürzungen Ra-
phaels, etwa die weisende Hand der erythräischen Sibylle mit der des
Sixtus auf dem Dresdener Gemälde. Bei Raphael kann der Blick auf
der Fläche nicht haften und wird sofort in die Tiefe gezogen; bei
Michelangelo ist ein einfacher Flächenumriß vorhanden, der unser
Auge anzieht, und auf dem wir doch nicht verweilen können, weil
sich seine Form erst als dreidimensionaler Körper erklärt. (Dies Ver-
hältnis zwischen Raum und Fläche in Michelangelos Malerei entspricht
dem Verfahren in seinen reifen plastischen Werken, bei denen er die
stärksten Gegensätze in der Bewegung der Glieder innerhalb einer
einfachen stereometrischen Figur entwickelt; eine Methode, der er
selbst in der bekannten Regel Ausdruck gibt, man müsse eine gute
Statue einen Berg hinabrollen können, ohne daß ein Glied abbricht.
Es läßt sich daraus schließen, daß Michelangelo sich seiner künst-
lerischen Absichten auch in der Malerei bewußt gewesen ist.)
Ist nun auf die eine oder andere Weise ein Gleichgewicht der
Kräfte zwischen Fläche und Raum hergestellt, so kommt keines von
beiden ganz uneingeschränkt zur Geltung. Unsere Aufmerksamkeit,
nach zwei Seiten gezogen, wird in der Mitte festgehalten, die Um-
ordnung vollzieht sich nur halb: was wir sehen, ist ein Übergangs-
stadium zwischen Flächenhaftigkeit und Räumlichkeit; reine Fläche wie
reine Raumform liegen gewissermaßen nur an beiden Rändern des
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 141
Blickfeldes. Unsere Aufmerksamkeit ist dabei nicht starr festgelegt,
sie gleitet, den geringsten Anstößen folgend, bald nach der einen, bald
nach der anderen Seite, ohne doch bis zu einer absoluten Auffassung
der Fläche oder des Raumes zu gelangen. Man darf bei dieser Pendel-
bewegung aber nicht an ein plötzliches Springen von einer Auffassung
zur anderen denken, wie wir es von pseudoskopischen Zeichnungen
her kennen. Das müßte die Einheit der Anschauung zerreißen und
jede künstlerische Wirkung unterbinden. Es handelt sich vielmehr um
allmähliche Verschiebungen der Aufmerksamkeit, den Augenbewegungen
zu vergleichen, mit denen wir das Bild in seiner Flächenausdehnung
durchlaufen, um immer wieder zur Mitte zurückzukehren.
Die Behauptung, daß wir mit unserer Aufmerksamkeit ein Mitt-
leres zwischen Fläche und Raum erfassen, wird vielleicht befremden.
Denn weil ein solcher Ausgleich nur für das hingegebene Schauen
existiert und bei nüchterner Betrachtung in seine Teile auseinander-
fällt, läßt er sich schwer in der Reflexion fassen. Welche Rolle solche
Ausgleichungen in unserer Apperzeption spielen, zeigt schon unser
Verhalten beim praktischen Sehen. Wenn wir einen realen Tiefen-
raum betrachten, so müssen wir im Unterbewußtsein ganz klar so-
wohl die tatsächliche wie die perspektivisch reduzierte Größe der
entfernten Gegenstände auffassen; denn nur indem wir beide mit-
einander vergleichen, gelangen wir zu einer Schätzung der Entfer-
nungen. Zum Bewußtsein kommt uns aber weder das eine noch das
andere ganz, sondern ein Kompromiß dazwischen. Der naive Mensch
sieht die Linien nach hinten zusammenlaufen und nimmt eine starke
Verkleinerung der Gegenstände nach der Ferne zu wahr, aber wie
stark diese Verkleinerungen sind, ahnt er nicht, und er ist sehr er-
staunt, wenn er merkt, ein wie winziger Gegenstand ihm den groß-
mächtigen Berg des Hintergrundes verdecken kann. Entsprechend
sehe ich bei der Luftperspektive weder die tatsächlich erscheinenden
Farbentöne noch die mir bekannten Lokalfarben, sondern ein Mittel-
ding zwischen beiden, und doch muß im Unterbewußtsein ein jedes
für sich zur Geltung kommen, denn nur so gelange ich zu einer
bestimmten Vorstellung von der Entfernung. Hier finden wir also
schon einen solchen Ausgleich entgegengesetzter Auffassungsweisen
in unserem Bewußtsein. Nur ist dieser Ausgleich durch Gewohnheit
erstarrt; es fehlt das freie Spiel der Kräfte, auf dem die lebendige
Wirkung der Kunst beruht.
Der beschriebene Widerstreit zwischen Fläche und Gegenstand
ist ein Kampf um unsere Aufmerksamkeit und entscheidet sich ganz
unabhängig von unserer inneren Anteilnahme. Diese Vorgänge er-
scheinen vielleicht manchem als zu mechanisch, um für die Kunst-
142 KURT THEODOR.
Wirkung ausschlaggebend zu sein. Dem gegenüber sei darauf hin-
gewiesen, daß auch die sogenannten »formalen« Wirkungen auf physio-
logischen Verhältnissen und den Gesetzen der Apperzeption beruhen
und doch als Erlebniswerte empfunden werden. Ganz analog werden
die hier beschriebenen Spannungen zwischen zwei Apperzeptionsweisen
von uns verinnerlicht und erhalten seelische, sogar metaphysische Fär-
bung. Daß sie nicht unserer Subjektivität ihre Entstehung zu ver-
danken scheinen, sondern die gleiche Objektivität besitzen, die wir
dem Verlauf einer Linie, der Farbe eines Gegenstandes zuschreiben,
gibt ihnen den Charakter des Allgemeingültigen, unserer Willkür Ent-
zogenen, der zum Wesen der Kunstwirkung gehört. (Und tatsächlich
sind die Gesetze unserer Auffassungstätigkeit allgemeiner und not-
wendiger, als die des Phantasieablaufs und der Gefühlsreaktion, so
daß auf jenen eine objektivere Gestaltung fußen kann.)
Die Gefühlswerte, in die wir die Spannung zwischen Flächen-
form und Gegenstand umsetzen, lassen sich z. B. bei einer Skizze als
Erlebnis eines ewigen Werdens der Dinge umschreiben. Wir sehen
ein Durcheinander von Strichen, und indem wir es festzuhalten suchen,
löst sich Körper und Raum stets von neuem mit lebendigem Impuls
davon ab. Betrachten wir in einer Rembrandtschen Radierung Einzel-
heiten, etwa den Hund zu Füßen des blinden Tobias, oder das Bahr-
tuch auf der Kreuzabnahme, so steigt aus dem Gewebe der Linien
immer wieder die Form wie aus einem Urgrund hervor. Hier be-
hauptet sich das Gefühl der Existenz neben dem Erlebnis des Wer-
dens. Es ist, als sähen wir dem Strahl eines Springbrunnens zu: wir
verfolgen das Wasser, wie es aus der Erde quillt, hoch emporsteigt
und niedersinkt, und doch bleibt in all dem Wechsel die Form des
Strahles erhalten, der sich aus einer unerschöpflichen Quelle in jedem
Augenblick neu ergänzt.
Man darf also die extensive Anschaulichkeit in ihrer seelischen
Bedeutung nicht unterschätzen. Allerdings verdanken wir der inten-
siven Anschaulichkeit noch eine Steigerung und Verinnerlichung der
beschriebenen Wirkungen.
Die intensive Anschauung geht zurück auf die Wirkung, welche
die Flächenform abgesehen von ihrer gegenständlichen Bedeutung ent-
faltet, d. h. auf ihre formalen Eigenschaften. Deren Mitwirkung er-
schöpft sich nicht, wie meist angenommen wird, in einer Unterstrei-
chung und Färbung des Stimmungsgehaltes der Darstellung, vielmehr
isi sie entscheidend für die Synthese eines objektiven Gegenstandes.
Sie nimmt also nicht die Stelle der begleitenden Musik in einem Melo-
drama ein, sondern hat etwa die Funktion der Vergleiche und Meta-
phern in einer poetischen Schilderung; sie wird am besten geradezu
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 143
als metaphorische Wirkung bezeichnet. Eine ausführliche Untersuchung
über die Natur der Metaphern ginge über den Rahmen dieser Arbeit
hinaus; nur einige für unseren Zweck notwendige Andeutungen können
gegeben werden. Vergleiche bauen sich auf der gefühlsmäßigen und
funktionellen Verwandtschaft auf, durch welche Bewußtseinsinhalte
aller Art: Sinneseindrücke, Vorstellungen, Gedanken, Willensimpulse
und Stimmungen ganz unabhängig von ihrer begrifflichen Zusammen-
gehörigkeit untereinander verbunden sind '). Der Eindruck und mittel-
bar die Vorstellungsintensität dieser Inhalte wird verstärkt durch
einen anderen in der Oefühlsfunktion gleichartigen. Man darf sich
aber den Vorgang nicht so denken, daß stets eine gefühlschwache
Vorstellung von einer gefühlskräftigeren ins Schlepptau genommen
wird. Die Wirkung entzündet sich erst an der Beziehung des Bildes
zu dem verglichenen Gegenstand. Die Vorstellungen zweier disparater
Dinge, die kaum eine sachliche Bestimmung, wohl aber Gefühlswerte
gemeinsam haben, werden in unserem Bewußtsein gewissermaßen auf
die gleiche Projektionsfläche geworfen. Bei dieser Verschmelzung
löschen sich die unterscheidenden sachlichen Merkmale gegenseitig
aus, während der gemeinsame Gefühlscharakter sich in doppelter
Stärke aufdrängt. So wird eine Wirkungsmöglichkeit, die potentiell im
Gegenstande liegt, durch das Bild frei gemacht. Daraus folgt, daß
die Anschaulichkeit oder Gefühlskraft des Bildes an und für sich
sehr gering sein kann; ja gerade das Mißverhähnis zwischen der Be-
deutung des Bildes und seiner Wirkung verstärkt diese und fügt ihr
den Gefühlston des Irrationalen hinzu. Und ferner folgt daraus, daß
in verschiedenen Zusammenhängen das gleiche Bild ganz verschieden
wirken kann.
Von ausgeführten Gleichnissen und von Metaphern unterscheidet
sich nun die Wirkung des Rhythmus und Klanges der Worte, indem
nicht Vorstellungen, sondern Sinneseindrücke als zweites Glied des
Vergleichs herangezogen werden. Der eigene Wert dieser Sinnesein-
drücke ist verhältnismäßig schwach, jedoch in seiner Qualität ziemlich
fest bestimmt; in ihrer Funktion entsprechen sie der Metapher*): die
Vorstellungen, mit denen die Sinneseindrücke verschmelzen, werden
eindeutiger und damit in ihrer Wirkung unmittelbarer. Wichtig für
unseren Zweck ist die Betrachtung der »Wortmalerei«, bei der ver-
gleichendes und verglichenes Element aus demselben Sinnesgebiet
stammen. Der Geräuschwert des Wortes »Donnerrollen» ist verschwin-
dend klein gegen das Geräusch, das damit gemeint ist ; trotzdem dient der
') Vgl. Wandt, außerdem Broder Christiansen, a. a. O.
■■') Vgl. Wundt, Völkerpsychologie Bd. 1.
144 KURT THEODOR.
Wortklang dazu, den Donner anschaulich zu machen. Auch hier wird
durch die Verschmelzung von Klang und Begriff die Richtung unserer
Phantasie gelenkt und die latente Kraft der Vorstellung entbunden.
Den Klängen und Rhythmen der Wortkunst entsprechen in der
Malerei die formalen und technischen Kräfte der Flächenelemente. Auch
ihre darstellende Kraft beruht auf dem Vergleich und wird wirksam
durch die Verschmelzung mit Oegenstandsvorstellungen, sie ist also
einerseits abhängig von der eigenen Qualität, anderseits von der Be-
schaffenheit des dargestellten Gegenstandes. Ein Pinselstrich, dem
wir die Energie ansehen, mit der er hingesetzt ist, verleiht dem Mund,
den er andeutet, energischen Ausdruck. Einer Bewegung würde er
Kraft geben, einem Gewebe Festigkeit usw., je nachdem, welche Seite
des Vergleichs der Gegenstand hervorlockt. Ebenso wirkt die funk-
tionelle Kraft von Linien, Fleckenformen, Farbenqualitäten, Propor-
tionen, oft auch statt der eigenen Kraft der Erscheinungsform ihr
Gegensatz zu der geläufigen Vorstellung (Christiansens »Differenz-
qualitäten«). Auch was der extensiven Anschauung zugänglich wäre,
kann indirekt, d. h. metaphorisch dargestellt werden. Es ist bekannt,
daß swarme« Farben vortreten, »kühle« zurückweichen, und daß diese
Eigenschaft zur Darstellung des Raumeindruckes benutzt wird. Damit
kann nicht gemeint sein, daß solche Raumdifferenz in ihrem Ausmaß
die direkt wahrzunehmenden Entfernungsunterschiede ersetzt; sie tut
das so wenig, wie der Klang des Wortes »Donnerrollen« den wirk-
lichen Donner ersetzt. In einem abstrakten Farbenmuster ist zwar
auch die räumliche Differenzierung zwischen warmen und kalten
Farben wahrzunehmen, aber doch nur als schwache Nuance. Die
auffallende Verstärkung der Wirkung bei der Raumdarstellung ist auf-
zufassen wie jene Phänomene der Klangmalerei: sie entsteht erst aus
der Verschmelzung des formalen Eindruckes mit der Gegenstands-
vorstellung.
Raum kann also nicht nur durch Nachbildung der Wirklichkeit,
d. h. durch Linien- und Farbenperspektive, geschickte Überschnei-
dungen usw. dargestellt werden, sondern auch durch das Verhältnis
der absoluten Farben zueinander. Entsprechend kann ich den Ein-
druck der Bewegung nicht nur erzeugen, indem ich den fruchtbaren
Moment auswähle, sondern auch durch Einordnung der bewegten
Figur in das Linienspiel der Fläche. Die Japaner vernachlässigen ganz
den konstruktiven Aufbau der Gestalten und machen sie doch lebens-
fähig durch die Kräfte, welche die Linienbewegung entwickelt. Einem
Mund verleihe ich nicht nur Ausdruck, indem ich seine Form aus-
führlich nachbilde, auch nicht nur durch Auswahl der Züge, an die
der Ausdruck vorzugsweise gebunden ist : ich erreiche die gleiche Wir-
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 145
kung durch einen kräftigen Pinselstrich, der die Form nur andeutet,
aber sie durch seine metaphorische Kraft mit Leben erfüllt. In Manets
Olympia wirken das Fleisch des Körpers sowohl wie das Laken, auf
dem er liegt, isoliert betrachtet stumpf und unlebendig. Im Moment,
wo man beide zusammensieht, werden sie von Wirklichkeit durch-
strömt, weil das Tonverhältnis der Farben in seinem Gefühlswert dem
Verhältnis von lebendigem Fleisch und kühler Leinwand entspricht.
Während nun aber die extensive Anschauung nur durch Ver-
drängung der Fläche zustande kommt und höchstens ein Ausgleich
der entgegengesetzten Antriebe, ein Schwanken zwischen beiden Polen
möglich ist, kommt die intensive Anschauung gerade durch Betonung
des Flächenzusammenhanges zustande. Ich muß die Farben neben-
einander sehen, wenn sie ihre raumbildende Kraft entfalten sollen.
Der Schwung einer Linie ist abhängig von ihrem Verhältnis zu dem
ganzen Linienorganismus, der sich losgelöst vom Sachzusammenhang
ausbreitet. Erst indem ich die Beziehungen der Fläche in mich auf-
nehme, verwandeln sie sich in Oegenstandseindrücke. Je mehr ich
mich auf den Flächenzusammenhang konzentriere, desto lebendiger
wird das Raumerlebnis; lenke ich meine Aufmerksamkeit allein auf
den Gegenstand, so wird er farblos und unlebendig. Der Gegensalz
zwischen Fläche und Gegenstand ist auch bei der intensiven An-
schauung wirksam, aber der Gegenstandseindruck steht der Flächen-
auffassung nicht im Wege, er schwingt gewissermaßen als Oberton
mit. Das gefühlsmäßige Erleben von Gegenstandseigenschaften hat
allerdings die Neigung, sich in extensive Anschauung umzusetzen:
der lebendig empfundene Mund scheint uns deutlichere Formen an-
zunehmen als er auf dem Bilde besitzt; daß wir die Körperlichkeit
empfinden, begünstigt die Augentäuschung. Aber diese äußere
Anschauung verwirklicht sich nur, soweit die Anlage des Bildes ihr
entgegenkommt; sie kämpft gegen die Flächigkeit des Bildes an, ohne
sie aufzuheben. Die Spannung ist vorhanden, aber sie ist elastisch
geworden.
Die Wirkung der intensiven Anschaulichkeit wird als die eigent-
lich künstlerische empfunden, da sie rein auf der Innerlichkeit des
Menschen ruht und der außerästhetischen Betrachtungsweise allen
Boden abgräbt. Meist bemühen sich daher die Künstler, die unmittelbare
Illusion durch intensive Anschaulichkeit zu ersetzen. Folgerichtig führt
das C^zanne in seiner Raum- und Körpergestaltung durch. Solcher
Rückführung der extensiven Anschauung ist allerdings eine Grenze ge-
setzt. Es handeh sich ja um einen Vergleich, und der wirkt um so
stärker, je anschaulicher seine beiden Glieder sind. Da entsteht nun
eine Antinomie. Je weiter die Illusion geht, desto geringer wird die
Zcilsclir. f. Äsllietik u. allsr. Kunstwissenschaft. XV. 10
146 KURT THEODOR.
selbständige Wirkung der Flächenelemente, also auch ihre darstellende
Kraft. Je ungehemmter anderseits die Flächenanschauung ist, desto
unbestimmter wird die Oegenstandsvorsteilung, und es kommt dann
nur zu verblasenen Stimmungen, statt zu konkreter Gestaltung. In
beiden Fällen verliert sich die Spannung, und die künstlerische Wir-
kung sinkt. Es muß also ein Ausgleich gefunden werden, durch den
Fläche und Gegenstand zu ihrem Recht kommen; dieser Ausgleich
kann sehr verschiedenartig sein und bestimmt wesentlich die Eigenart
der einzelnen Darstellungstile. Ganz verfehlt ist es jedenfalls, auf
Darstellung überhaupt zu verzichten und die Wirkung nur auf den
absoluten Flächenwerten aufzubauen, wie es einige der Jüngsten ver-
suchen. Die Wirkung von Farben, Linien usw. ist ganz gering, so-
weit sie nicht aus dem Inhalt der Darstellung Kräfte zieht, und jeder
schöne Teppich ist solcher gemalten Komposition überlegen. Wenn
wir die Sprache eines Gedichtes nicht verstehen, so ist der Eindruck
seines Klanges verblüffend gering. Ähnlich liegt es in der Malerei.
Nur der Einfluß einer falschen Theorie konnte das gesunde Kunst-
empfinden so irreleiten. Es verführte das Beispiel der absoluten Musik,
aber diese ist an Kraft der einzelnen Wirkungselemente und Ände-
rungsfähigkeit ihres Organismus so weit überlegen, daß jeder Wettstreit
der Malerei mit ihr auf rein symphonischem Gebiete aussichtslos ist.
IV.
Die metaphorische Wirkung der Flächenelemente ist, wie wir ge-
sehen haben, davon abhängig, wie ausgebildet einerseits die direkte
Anschauung eines Gegenstandes ist, und wie weit anderseits die Flä-
chenelemente als solche Selbständigkeit bewahren. Das heißt also, sie
ist abhängig von der Lösung, die jener Konflikt zwischen Fläche und
extensiver Anschauung im Bilde findet. In der Tat, so sehr die Be-
deutung des Kunstwerkes auch von seiner intensiven Anschaulichkeit
bestimmt wird, die Grundlage seiner Gestaltung bilden die extensiven
Eigenschaften.
Es ist oben versucht worden zu zeigen, wie sich Fläche und
Gegenstand die Wage halten können, so daß unsere Aufmerksamkeit
in der Mitte schwebend erhalten wird und leicht zum einen und zum
anderen Pol hinüberzugleiten vermag. Es muß nun aber hinzugefügt
werden, daß dieses lebendige Wechselspiel nur möglich ist, wenn
weder Fläche noch Gegenstand unsere Aufmerksamkeit allzu stark in
Anspruch nehmen. Ist der Gegenstand so mit Einzelheiten belastet,
daß er uns ganz hinnimmt und übermächtig in die Illusion hinein-
reißt, so kann sich die Fläche dagegen nicht behaupten; wenigstens
sind wir außerstande, noch ihre Beschaffenheit im einzelnen aufzu-
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. J47
nehmen: es bleibt nur das allgemeine unanschauliche Wissen von
ihrem Vorhandensein zurück, von dem zu Anfang dieser Arbeit die
Rede war. Ist anderseits das Flächenmuster gar zu selbstherrlich ab-
strakt durchgebildet, etwa in rein geometrischen Formen, so kann kein
lebendiger Gegenstandseindruck zustande kommen, wie uns das die
dekorativen Stilisierungen der Teppiche und anderer extremer Orna-
mentik zeigen. Kunstwerke, die wie die Skizzen auf der einen Seite
große Durchsichtigkeit der Mache, auf der anderen mehr Anregung
zu räumlichem Sehen als ausgebildete räumliche Formen aufweisen, er-
reichen noch am ehesten das geforderte Gleichgewicht. Es ist ja auch
eine bekannte Tatsache, daß gerade solche leicht hingeworfenen Zeich-
nungen besonders feine und spezifisch künstlerische Wirkungen ent-
falten. Dieser Vorteil birgt aber einen schmerzlichen Verzicht in sich.
Wir suchen im Kunstwerk nicht nur Feinheit der Wirkungen, sondern
auch eine gewisse elementare Wucht. Die Töne der Orgel, sogar der
Geige, wirken mächtiger als die prächtigsten Farben, weil sie uns
physisch durchschüttern. Das ausgeführte Bauwerk ist seinem Modell
unendlich überlegen, weil die räumliche Größe einen wesentlichen
Faktor der architektonischen Wirkung ausmacht. Entsprechend wirkt
auch ein dreidimensionaler Körper kraftvoller als eine Flächenform und
ein farbiges Gemälde wuchtiger als die einfarbige Zeichnung. Wie
kann nun diese Wucht der Wirklichkeitsnähe dem Kunstwerk erhalten
bleiben, ohne daß man grober Illusion verfällt, ohne daß die Spannung
zwischen Gegenstand und Darstellungsform vernichtet und die Selb-
ständigkeit der Flächenelemente, auf der die intensive Anschaulichkeit
beruht, aufgehoben wird? Mit anderen Worten: wie kann sich eine
Gegenstandswelt vor unseren Augen entwickeln und trotzdem mit der
Unmittelbarkeit unangefochtener Existenz wirken? Dies ist das wesent-
liche Problem der Malerei im Gegensatz zur Zeichnung. Mit seiner
Lösung, vielmehr mit den verschiedenen Formen seiner Lösung, haben
wir es im folgenden zu tun.
Wir müssen zunächst über die Beziehungen zwischen Fläche und
Raum in der Kunst noch in mehrfacher Hinsicht Klarheit schaffen.
Was liegt doch bei der Skizze vor, wenn das Gleichgewicht zwischen
Fläche und Raum erreicht ist? Dort wird die Aufmerksamkeit von
der Fläche sowohl, wie von der Raumform angezogen und nähert sich
bald dem einen, bald dem anderen Pol. Aber sogar bei der Skizze ist
es kaum möglich, die Fläche ganz unbeeinflußt von dem dargestellten
Gegenstand aufzufassen, und ebensowenig können wir uns auf den
Gegenstand sammeln, ohne daß unser Eindruck von der Flächenform
mitbestimmt wird. An beide Pole der Anschauung kommt nur eine
Annäherung zustande. Fläche und Raum lassen sich ja, wie wir ge-
148 KURT THEODOR.
zeigt haben, als verschiedene Zueinanderordnung der Anschauungs-
elemente betrachten, sie sind darum in der Kunst nicht so unüber-
brückbar geschieden wie als mathematische Begriffe, sie gehen viel-
mehr stufenweise ineinander über. Das klingt zunächst sonderbar, aber
ist nicht das Verhältnis von Linie und Fläche in der Kunst ebenso?
Die feinste Linie der Zeichnung ist mathematisch betrachtet schon
eine Fläche. Werden die Linien stärker, so erscheinen sie allmählich
als Bänder und können nun auch ihrer Wirkung nach bald als Linien,
bald als Flächen gelten. Von diesen Bändern zur unzweifelhaften
Fläche ist der Übergang unmerklich. Ebenso sind auch Fläche und
Raum in der Kunst relative Begriffe, Punkte, nach denen die Anschau-
ung gravitiert, ohne bis zu ihnen gelangen zu müssen. Die Kluft zwi-
schen unbedingter Flächenhaftigkeit und äußerster Raumwirkung läßt
sich nicht ohne weiteres überbrücken; die Verbindung zerreißt bei zu
großer Spannung. Wesentlich für die Bildwirkung ist aber auch nur,
daß eine möglichst große Differenzierung vorhanden ist, daß wir gleich-
zeitig zu einer stark flächenhaften und einer stark räumlichen Synthese
getrieben werden. Die hierdurch erzeugte Spannung kann von ver-
schiedener Weite und von verschiedener Energie sein. Zwischen
beiden Anschauungspolen bildet sich ein Schwerpunkt für unsere
Aufmerksamkeit, in dem sich die entgegengesetzten Kräfte aus-
gleichen. Dieser braucht nicht in der Mitte zwischen absoluter
Fläche und extremer Gegenständlichkeit zu liegen. Er kann stark
nach der einen oder nach der anderen Seite verschoben sein, so
daß sich der Oesamteindruck mehr dem Flächenhaften oder dem
Räumlichen nähert.
Noch ein zweiter Punkt ist von Wichtigkeit. Die natürliche An-
schauung räumlicher Dinge (wir wollen kurz von »Naturform« spre-
chen), in wie starkem Gegensatz sie auch zu der Flächenhaftigkeit
steht, verwirklicht durchaus nicht das Höchstmaß räumlicher An-
schaulichkeit, die für das Auge möglich ist. Ein großer Teil der
plastischen und Tiefen- Werte bleibt meist ganz unanschaulich, wird
nicht einmal vorgestellt, bloß dazugedacht. Die Anschaulichkeit der
Naturform kann außerdem stark wechseln. Nahbild und Fernbild unter-
scheiden sich darin wesentlich; auch die Beschaffenheit der Atmosphäre,
der Beleuchtung, der Formen bedingt erhebliche Unterschiede. Diese
sind für die Malerei von größter Bedeutung, und zwar eignen sich,
wie wir sehen werden, gerade die flächenhafteren Erscheinungsformen
zur Grundlage der künstlerischen Gestaltung.
Wenn ich eine neblige Landschaft male, deren Tiefeneindruck be-
sonders gering und der Bildebene verhältnismäßig angenähert ist, so
kann ich dem Gegenständlichen seine volle Anschaulichkeit belassen.
1
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 149
ohne daß die Bildfläche ganz aus meiner Aufmerksamkeit verdrängt
wird, vorausgesetzt, daß die Fläche genügend betont ist. In diesem
Falle vermag sich das Spiel der Kräfte zwischen Fläche und Raum
ungehindert zu entfalten, ohne daß die realistische Überzeugungskraft
des Bildes darunter leidet.
Der Künstler kann aber auch anders verfahren. Er kann darauf
verzichten, die abstrakte Fläche zur Geltung zu bringen und es zu-
lassen, daß wir sofort in die Illusion der Naturform hineinschnellen,
einer solchen Naturform jedoch, die keinen stark räumlichen Charakter
hat, in der Art unseres Fernbildes etwa. Diese natürliche Raumauf-
fassung nimmt er nun statt der Fläche zum Ausgangspunkt und ent-
wickelt von ihr aus durch die besonderen Mittel seiner Kunst eine
verstärkte Anschauung der Raumtiefe und Körperlichkeit. In diesem
Falle hat sich also das Verhältnis zwischen Naturform und Bildform
umgedreht: die gewohnte Auffassung hält uns hier im Flächenhafteren
zurück, die Bildgestaltung drängt uns in die Tiefe. Das Ergebnis
jedoch ist ähnlich: ein spontanes Entstehen der Gegenstandswelt für
und durch unsere Anschauung. Diese besondere Möglichkeit künst-
lerischer Gestaltung ist es, die Hildebrand im »Problem der Form«
für Malerei und Plastik etwas einseitig gefordert, aber in ihrer Eigen-
tümlichkeit gut charakterisiert hat. Hildebrands eigene Kunst und
Marees' spätere Bilder sind Beispiele für diesen Stil, aber auch die
italienische Hochrenaissance, wie Raphael sie vertritt, gehört hierher.
Die beiden hier angedeuteten Stilprinzipien können nun mitein-
ander vereinigt werden und finden sich auch in der Praxis stets mehr
oder weniger vereinigt. Der Künstler verstärkt einerseits das Ge-
wicht der absoluten Fläche und steigert gleichzeitig das von Natur
schwache Raumerlebnis, hauptsächlich durch Mittel intensiver Art.
Die Wirkung entwickelt sich dann einerseits zwischen Fläche und
Naturform, anderseits zwischen Naturform und künstlerisch gestalte-
tem Raumeindruck. Die naive Gegenstandsynthese (die Naturform)
ist also mitten in die Bildgestaltung wie ein Pfeiler eingebaut, der
gestattet, die Kluft zwischen Fläche und Raum in ihrer ganzen Breite
zu überbrücken.
Aber in noch weitergehendem Maße hilft die Naturform an der
Lösung unseres Problems mit. Es gibt in der Naturanschauung Er-,
scheinungen, die dem Dualismus der Kunst gleichartig sind und auch
entsprechend auf den ästhetischen Betrachter wirken.
Denken wir uns einen dämmrigen Raum, der von einer Licht-
quelle einseitig beleuchtet wird. Helle Massen heben sich von dunk-
len ab, die hellen sind nur spärlich von Schatten unterbrochen, die
dunklen nur von einzelnen Reflexen erhellt. Hier bringen sich Licht
150 KURT THEODOR.
und körpererfüllter Raum gegenseitig zur Anschauung. Die Formen
der Körper und die Gestaltung des Raumes modellieren sich aus den
Helligkeiten und Dunkelheiten, die das Licht über sie ausstreut; ander-
seits wird aber das Licht erst sichtbar an den Körpern, die es be-
leuchtet. Am einzelnen Gegenstand sind modellierte Form und model-
lierendes Licht so eng verschmolzen, daß unser Bewußtsein sie nicht
trennt. Aber jede Stelle des Anschauungsinhaltes gehört als Körper-
form und als Lichterscheinung zwei verschiedenen Zusammenhängen
an, die für unsere Anschauung streng getrennt sind. So sind für
unser Auge gleichzeitig da ein in sich geschlossenes Geflute von Licht
und Schatten und daraus hervorwachsend, halb gesehen, halb geahnt,
die festen Formen von Körper- und Raumgestalt, die sich zu einer
Ordnung ganz anderer Art zusammenschließen. Wir haben hier also
einen Dualismus von Licht- und Körperwelt, der dem von Fläche und
Gegenstand durchaus entspricht. Die Ähnlichkeit geht noch weiter.
Daß die Körper sich aus Licht und Schatten zu entwickeln, nicht von
vornherein fertig dazustehen scheinen, gibt leblosen Dingen den Ge-
fühlsion der Beseeltheit. Dazu kommt, daß die Beleuchtung auch
lebendigen Wesen eine besondere Nuance seelischen Ausdrucks ver-
leiht. Das Licht vermittelt also nicht nur extensive, sondern sogar
intensive Anschaulichkeit. Licht und Schatten wirken zwar durchaus
nicht flächenhaft; die Helligkeiten und Dunkelheiten werden erst zu
Licht und Schatten, weil wir sie räumlich ausdeuten. Aber der Ab-
stand zwischen diesen gestaltlosen, gleichartigen, schemenhaften Ge-
bilden und der gestaltreichen, fest umgrenzten, physisch und psy-
chisch differenzierten Gegenstandswelt ist trotzdem sehr groß und
imstande, bedeutende ästhetische Wirkungen auszulösen.
Wir haben hier also den Fall, daß es genügen könnte, die Illusion
des Natureindrucks zu erzeugen, um die künstlerische Darstellung auf
der Fläche zu ersetzen. Wenn es sich der Künstler nun auch nicht
so leicht macht, so kann er diese Wirkung der Natur doch zur Unter-
stützung der Kunstwirkung heranziehen, genauer: er verstärkt die Span-
nung des Naturvorbildes, indem er sie nach beiden Seiten ausdehnt.
Er entwickelt den Licht-Schattenorganismus aus der Fläche und er-
höht anderseits die Energie der natürlichen Raumanschauung durch die
^extensive und intensive Anregungskraft seiner Darstellungsmittel. Hier
ist also — um den oben benutzten Vergleich noch einmal aufzuneh-
men — statt des einen Pfeilers ein ganzer Brückenbogen in die Bildan-
schauung eingebaut, so daß in drei Bogen, deren mittlerer der Natur-
form angehört, ein besonders weiter Abstand überspannt werden kann.
Zu stärkster Wirkung steigert Rembrandt dieses Stilprinzip. Er macht
einerseits die Farben und Pinselstriche besonders eindringlich und
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 151
selbständig in ihrer Funktion, anderseits gestaltet er aus den Kräften
des Helldunkels so machtvoll individuelle Beseeltheit, daß neben der
extensiven die intensive Anschaulichkeit den denkbar höchsten Grad
erreicht. Mit etwas verschobenem Schwerpunkt finden wir das gleiche
Stilprinzip in der Schwarzweißkunst, vor allem wieder in Rembrandt-
schen Radierungen. Durch die Abstraktion von der Farbe wird der
Organismus von Licht und Schatten noch anschaulicher und geschlos-
sener. Dafür geht allerdings von der Wirklichkeitsnähe und Wucht
der Malerei etwas verloren. Wenn Licht und Schatten zu einem
Muster von schwarzen und weißen Flecken auf der Fläche werden,
wie dies bei Valloton und häufig in der neueren Holzschnittkunst vor-
kommt, so befinden wir uns wieder ganz auf dem Gebiet der Zeich-
nung, die sich durch strengere Betonung der reinen Fläche von der
Malerei scheidet.
In einer anderen Richtung der holländischen Malerei spielt das
Licht nicht diese beherrschende Rolle als körperauflösender und -schaf-
fender Faktor. Sie bedient sich statt dessen als vermittelnder Natur-
form der Atmosphäre, die unaufdringlich, doch dem feinen Blick merk-
bar alle festen Formen umgibt und verbindet, und aus der die Körper
zwar nicht sich zu bilden, aber herauszutauchen scheinen. In diesem Stil,
wie er beispielsweise durch Ter Borch vertreten wird, ist von vorn-
herein mit starker Illusion gerechnet, und die Formen der Fläche können
sich in unserer Aufmerksamkeit nicht behaupten. Dagegen gelingt es
den Malern, die absoluten farbigen Werte für unsere Anschauung zu
retten, durch besonders wohlgefällige, harmonische Zusammenfassung
oder übersichtliche Abstufung. Die Farben wirken indessen nicht als
flächenhaftes Nebeneinander, sondern verschmelzen mit dem Eindruck
der alles umflutenden Atmosphäre. Aus diesen Farbenharmonien ent-
wickeln sich nun die Kräfte, die metaphorisch — also für die intensive
Anschauung — die Plastik der Gegenstände und die Eigentümlichkeit des
stofflichen Eindrucks steigern. Die verhältnismäßig geringe Wirkung
der Natur, in der klare Luft ja nur eine unbedeutende Rolle für den
Eindruck spielt und höchstens die Plastik der Gegenstände dämpft,
wird also hier durch die Kunst wieder nach beiden Seiten verstärkt.
Das allverbindende Medium wird durch die Farbenbehandlung anschau-
lich, die Gegenstände werden nicht schroff aber nachdrücklich aus
diesem Medium herausgehoben. Der Schwerpunkt solcher Bilder ist
sehr weit nach dem Oegenstandspol verschoben, aber der Dualismus,
durch den der Prozeß der Darstellung anschaulich wird, ist auch hier
vorhanden.
Den größten Anteil an der Wirkung hat die Naturform im Im-
pressionismus. Hier bleibt dem Künstler fast nur noch eine Betonung
152 KURT THEODOR.
der Eindrücke, die in der Natur vorgebildet sind, und hier spricht man
deshalb noch mit dem größten Recht von Naturnachahmung; es ist
eine Nachahmung der Vorgänge bei der Auffassung der Natur.
Der Impressionismus wählt zur Darstellung die Erscheinungs-
formen der Natur, bei denen die feste Gestalt der Gegenstände mög-
lichst aufgelöst und ihre stofflichen Eigentümlichkeiten unterdrückt
sind. Das geschieht vor allen Dingen durch Einwirkung der Atmo-
sphäre, die den ganzen Inhalt des Raumes in eine gleichartige Masse
einschmelzen kann; die Gegenstände werden unkörperlich, die Um-
risse verschwinden. Ähnlich wirkt starke Sonnenbestrahlung. Auch
das Spiel der Sonnenflecke auf den Dingen hindert die Auffassung
der plastischen Formen. Während das Licht, wie es die alten Hol-
länder suchten, den Formen zwar die Bestimmtheit nimmt, aber sie
gerade in ihrer Unfestigkeit um so wirksamer macht, zerreißt das
Sonnenlicht des Impressionismus den Körperzusammenhang so gründ-
lich wie möglich. Das Licht der Holländer kann der Darstellung stoff-
licher Eigentümlichkeiten dienstbar gemacht werden; Pelz oder Atlas,
Metalle und alle anderen Stoffe werden ja zum größten Teil durch die
besondere Art charakterisiert, wie sie das Licht reflektieren. Und selbst
Rembrandt erzeugt mit seinem besonderen Licht den Eindruck stoff-
licher Eigentümlichkeit, wenn auch einer solchen, die der Alltags-
erfahrung fremd ist und in ihrer Pracht einer Märchenwelt anzugehören
scheint. Das Licht dagegen, das die Impressionisten lieben, tilgt alle
stoffliche Eigentümlichkeit ebenso, wie die körperliche Geschlossenheit.
Jede Bestimmtheit der Anschauung ist im Flimmern von Luft und Licht
geschwunden. Es bleibt fast nur ein Spiel farbiger Flecken übrig; eine
ungemeine Annäherung der Naturwirkung an den Eindruck der farben-
bedeckten Fläche ist vollzogen.
Nun ist es aber grundverkehrt, in dieser Wirkung nur die auf-
lösende Tendenz, die Ausschaltung aller Gegenständlichkeit zu sehen.
Gerade daß auch wirklichkeitsbauende Kräfte in ihm liegen, gibt
dem impressionistischen Prinzip seine Bedeutung. Zunächst wird
uns an dem Verschwimmen aller Formen Luft und Licht anschau-
lich, so wie die wechselnde Brechung, welche die Gegenstände im
Wasserspiegel erfahren, uns das Wasser und seine Bewegung zur
Anschauung bringt. Es wird also eine Seite des Wirklichkeitsein-
druckes durch die Dämpfung des anderen betont. Ebenso bringen
die Farben, indem sie weniger plastische Form und Stofflichkeit
ausdrücken, um so energischer die Abschattierung der Luftperspek-
tive zur Anschauung. Jedem Gegenstand wird, gerade weil seine Be-
sonderheit unbestimmt bleibt, sein Platz im Raum genau angewiesen.
Dadurch wird unser Blick allmählich aber unwiderstehlich in die Tiefe
n
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 153
hineingezogen, und wir haben stärker als sonst das Gefühl der Raum-
weite, das mit der Anschauung der Atmosphäre in eins verschmilzt.
Jedoch gegenüber dieser Auflösung in den Raum erhalten auch die
Dinge selbst wieder erhöhte Lebendigkeit und Einzelgeltung durch
die stärkere Aktivität, die sich in ihrer Auffassung betätigt und durch
das suggestive Flimmern ihrer Formen. Ihr Leben, das sich sonst
nur im Ablauf der Zeit äußern kann, ist hier schon in die augen-
blickliche Erscheinung eingeschmolzen. So haben wir auch hier
die zwei Pole: gegen die sichtbare Auflösung aller Formen hebt
sich ihre gefühlte Lebendigkeit wirkungsvoll ab. Was das Einzelne,
getrennt betrachtet, an Wesenhaftigkeit verliert, gewinnt es aus dem
Zusammenhange des Ganzen verdoppelt zurück. Die Spannung liegt
hier nun zwar nicht zwischen Gegenstand und Fläche, sondern
zwischen Gegenstand und gleichartigem Räume; aber auch dieser
Raumeindruck entsteht aus der Verselbständigung der optischen Ele-
mente gegenüber ihrem Inhalt und läßt sich leicht in dem Neben-
einander der Fläche nachbilden. Nur muß der Maler diese Selb-
ständigkeit noch etwas übertreiben: er erhält aus der Bestimmtheit
seiner Farbflecke und Pinselstriche die Wirkung, die in der Natur
durch das ungreifbare Fluten der Erscheinung erzeugt wird. Ebenso
bringt er die Farbigkeit des Schattens etwas übertreibend zur Geltung.
Die ältere Kunst ordnete die beschatteten Stellen des Körpers durch
Abschwächung der Farbe den belichteten unter und unterstützte da-
durch die modellierende Kraft des Lichtes. Der Impressionismus sucht
den Helligkeitsunterschieden durch das Oleichgewicht der farbigen In-
tensitäten entgegenzuarbeiten und schwächt so die Plastik der Gegen-
stände. Zugrunde liegt auch hier eine engere Anlehnung an die Natur-
form; daß die Schatten tatsächlich farbiger sind als uns meist zum
Bewußtsein kommt, hat schon Goethe hervorgehoben. Aber wichtig
ist natürlich nicht die physikalische Richtigkeit dieser Erscheinung,
sondern ihre Bedeutsamkeit für die Absichten des Künstlers. Übrigens
findet sich diese gleichordnende Behandlung der Schatten nicht nur
im Impressionismus. Durch sie unterscheidet sich schon die flämische
Kunst der Barockzeit von der holländischen Malerei. Und wiederum
hat die moderne Kunst dieses eine Stilelement vom Impressionismus
übernommen.
Bei alledem läßt sich nicht verkennen, daß dem impressionisti-
schen Stilprinzip eine Schwäche anhaftet. Damit das Erlebnis der
Darstellung seine ganze Kraft entfalten kann, darf der entwirklichende
Faktor nicht nur in einer Negierung der dargestellten Gestaltenwelt
bestehen, er muß ihr auch ein eigenes Formenprinzip entgegen-
stellen; nur ein solches leistet der gegenständlichen Auffassung den
154 KURT THEODOR.
Widerstand, der eine fruchtbare Spannung ermöglicht. Die Atmo-
sphäre impressionistischer Bilder hat aber keine Form für sich, son-
dern entsteht nur als ein Negatives, eine Entformung der darge-
stellten Gegenstände. Die Bildfläche ihrerseits kann sich zwar durch
pastose Behandlung von dem Bildinhah abheben, ist aber ein regel-
loses Gewirr von Farbflecken und Pinselstrichen, das seine Gliederung
nur dem Bildinhalt verdankt. Auch die Farbentöne sind nur durch die
zufällige Beschaffenheit des dargestellten Gegenstandes gefordert und
vereinheitlicht, nicht durch ein eigenes Formgesetz unter sich ver-
bunden und von ihrer Bedeutungsfunktion abgelöst. Durch das Fehlen
jedes formalen Prinzips mit seiner scheidenden Kraft wird die Atmo-
sphäre zu sehr Wirklichkeit, und die Wirklichkeit zu scheinhaft. Die
Spannung ist zu gering und die Illusion zu unmittelbar.
Diesen Mangel des impressionistischen Stils suchten die Neo-
impressionisten zu überwinden. Ihre gleichgeformten und gleichmäßig
verteilten Farbenpunkte haben größere Selbständigkeit gegenüber den
Oegenstandsformen und größere Gesetzmäßigkeit gegenüber den Gegen-
standsfarben. Sie schließen sich zu einem mosaikartigen Muster auf der
Fläche zusammen, das von dem Darstellungsinhalt vollständig los-
gelöst ist. Anderseits gibt den Malern gerade diese Technik der Farb-
tupfen die Möglichkeit, das Verschwimmende der luftumflossenen
Gegenstände und die zarten Übergänge der Luftperspektive noch
überzeugender zur Darstellung zu bringen. Dadurch wird die Span-
nung zwischen Fläche und Gegenstand eindrucksvoll gesteigert. Aller-
dings fehlt nun wieder dem neoimpressionistischen Stilprinzip die Bieg-
samkeit und mannigfache Verwendbarkeit anderer Stile. Es ist eigent-
lich immer dasselbe Bild, das gemaU wird, das gleiche Welterlebnis,
das zum Ausdruck kommt. Deshalb konnte der Neoimpressionismus
eine Schule, aber kein allgemein herrschender Stil werden und die
künstlerische Reaktion nicht aufhalten, die in neuerer Zeit der impres-
sionistischen Gestahungsweise ein Ende gesetzt hat.
V.
In allen bisher besprochenen Beispielen ist es die natürliche Er-
scheinungsweise des Bildinhalts, die den übergroßen Gegensatz zwi-
schen Fläche und Raumform dämpft oder vermittelt. Der Künstler
kann glauben, er ahme nur die Natur nach, weil er sie stets da auf-
sucht, wo sie seinen künstlerischen Absichten entgegenkommt. Nun
sind das aber nur besondere Fälle; ihnen liegt ein allgemeines Prin-
zip zugrunde, nach dem auch ohne oder gegen die Natur die gleiche
Wirkung erreicht werden kann. Was das Naturvorbild in den be-
sprochenen Darstellungstilen leistete, war eine Schwächung der körper-
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. I55
haften und räumlichen Gegenstandsynthese, wodurch die Beziehung
zur Fläche und die Überhöhung der extensiven durch die intensive
Anschauung ermöglicht wurde. Diese Schwächung braucht sich nun
nicht nur durch die natürliche Erscheinungsform, d. h. Beleuchtung,
Atmosphäre, Fernbild, Spiegelung zu vollziehen, sie kann auch durch
rein kunstmäßige Umformung, durch Stilisierung erreicht werden. Der
Maler abstrahiert in seiner Darstellung von einer Seite der Wirklich-
keit, ohne die keine vollständige Gegenstandsanschauung zustande
kommen kann. Er hält dadurch den Vorgang der Individuation auf
halbem Wege an. Dies geschieht ja zum Beispiel auch in der Bau-
kunst, wo die Pflanzenornamente einer Säule halb als Pflanzen, haFb
noch als Formen des Steins gesehen werden. Aber während diese
Ornamente auch in ihrer Wirkung naturfern, d. h. formal bleiben, im
engeren Sinne des Wortes »stilisiert« wirken, ist in der darstellenden
Malerei die eingeschränkte extensive Gegenständlichkeit nur die Grund-
lage: auf ihr fußt die gefühlsmäßige intensive Anschauung, die den
halbfertigen Körper mit ganz individuellem Leben erfüllt. Extensive
und intensive Anschaulichkeit ergänzen sich also dergestalt, daß der
Abstand zwischen Fläche und Gegenstand in seiner äußeren Gegen-
sätzlichkeit verringert, aber durch die intensive Belebung zur vollen
Spannung gesteigert wird. Welches sind nun die Abstraktionen, auf
denen solche Stilisierung beruht?
Die Abstraktion von der Farbe, wie sie in der Schwarzweiß-
kunst voriiegt, entwirklicht zwar auch den Eindruck, hat aber auf die
Körper- und Raumsynthese, auf die es in diesem Zusammenhange an-
kommt, weniger Einfluß. Ein wichtiges Mittel der Abstraktion ist da-
gegen die Herabminderung der Geformtheit, also die Ver-
wischung der Einzelformen, die Auflösung der Körpergrenzen und die
zäsurlose Überführung eines Gegenstandes in den anderen, womit eine
ausgeprägt materielle Kennzeichnung der Dinge durch ihre farbige
Beschaffenheit durchaus vereinbar ist.
Wenn ich ein Porträt Leibls aus seiner älteren, malerischen Periode
unbefangen betrachte, so erblicke ich nicht etwa zunächst nur einzelne
Farbenflecke und Pinselstriche; ich sehe vielmehr Gesichtszüge, einen
Kragen, eine Halsbinde, Weste usw., aber in seltsam aufgeweichtem,
unfertigem Zustand, »malerisch behandelt«, wie man zu sagen pflegt.
Die Dinge sind gewissermaßen bei der Verwandlung aus den Elementen
der Darstellung zur Gestalt auf einer Zwischenstufe stehen geblieben,
man fühlt noch ein gleiches Urmaterial in ihnen allen, und doch son-
dern sie sich schon entschieden voneinander. Dies kommt daher, daß
sie durch die Farben bestimmt charakterisiert sind, während ihre Ge-
stalt gegen die Formeindrücke der technischen Elemente noch nicht
156 KURT THEODOR.
zu voller Geltung kommt. Auch die Verschmelzung der Gegenstände
miteinander vermindert ihre plastische Kraft. Trotz dieser starken
Entwirklichung, die man durchaus nicht übersieht, auch wenn man
sich keine Rechenschaft darüber gibt, ist der Gesamteindruck nicht
der einer dekorativen Stilisierung, im Gegenteil, er ist lebendiger
und wirklichkeitsnäher als in Bildern, deren extensive Anschaulich-
keit entwickelter ist. Denn die Pinselstriche und Fleckenformen,
die aus unserem Bewußtsein nicht ganz durch die Gegenstands-
anschauung verdrängt werden, wirken mit dieser um so entschiedener
metaphorisch zusammen, und während die Aufmerksamkeit auf der
unentwickelten Form haftet, gewinnt die innere Anschauung stärkste
Prägnanz.
Solche malerische Erweichung der Formen wird meist als Nach-
bildung der atmosphärischen Brechung erklärt; aber diese natürliche
Veränderung der Erscheinung wäre dann zum mindesten arg über-
trieben. Denn bei Personen, die dicht vor uns im Zimmer sitzen, bei
gewöhnlichem Tageslicht, kommt eine derartige Auflösung aller festen
Formen nicht vor; und wo die Atmosphäre sich so stark geltend
macht, müßte auch die stoffliche Differenzierung abgeschwächt sein,
wie das impressionistische Bilder zeigen. Auch der Vergleich mit un-
scharfer Fixierung der Dinge, die man wohl herangezogen hat, stimmt
nicht; denn meist ist das ganze Bild gleichmäßig breit behandelt,
außerdem kann unser Blick auch auf den seitlichen Partien solcher
Bilder ruhen, ohne daß wir eine Inkongruenz empfinden. Dagegen
ist zuzugeben, daß solche malerischen Bilder an atmosphärische Ein-
drücke erinnern und durch diese Analogie das Befremdende der
stilistischen Umformung mildern. Das Verhältnis zwischen Kunstmittel
und Natureindruck ist hier ähnlich wie in der Strichzeichnung. Auch
die Linie wird uns zunächst vertraut und verständlich, weil im natür-
lichen Sehen klare Abgrenzungen der Dinge als Linien aufgefaßt
werden. Ihrem Ursprung nach ist also die Linie Abbild der Wirk-
lichkeit. Sie gelangt aber in der Kunst zu so selbständiger und
mannigfacher Verwendung, daß sie ganz als souveränes Kunstmittel
empfunden und nicht mehr auf ihre Entsprechung in der Wirklichkeit
angesehen wird. Man denke nur an die Technik älterer Kupferstiche.
So kann auch die Verwischung der Formen in der Malerei der Wirk-
lichkeit entsprechen, oder nur von fern an sie erinnern, oder schließ-
lich als Stilmittel ganz unabhängig von naturalistischer Begründung ver-
wendet werden.
Eine zweite Möglichkeit künstlerischer Abstraktion besteht darin,
den Eindruck des Raumes und plastischer Form zwar unmittelbar und
unverkürzt zu erzeugen, aber die Differenzierung des stofflichen Ge-
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 157
füges zu unterdrücken. Dadurch gewinnt die Malerei eine gewisse
Verwandtschaft mit der Bildhauerkunst. Auch hier bildet ja die Oegen-
standsform eine gegebene objektive Voraussetzung, dagegen ist der
dargestellte Stoff nicht in gleichem Sinne von vornherein vorhanden,
wir nehmen vielmehr ganz klar den Stein oder die Bronze, das Holz
oder den Ton in unser Bewußtsein auf, und erst sekundär entsteht
in uns die Anschauung der dargestellten Stofflichkeiten: der weichen
Haut, des Haares, der Kleidungstoffe. Ganz entsprechend sehen wir
in Orecos Bildern, Salvator Rosas Landschaften, manchen Werken von
Courbet oder in Rembrandts letzten Porträts — um nur einige Beispiele
zu nennen — Raum und Gestalt unmittelbar: die extensive Anschau-
lichkeit ist so mächtig, daß sie das Bewußtsein von der Fläche in den
Hintergrund drängt. Aber diese Gegenstände, wie wir sie unmittelbar
sehen, zeigen zunächst noch keine stoffliche Differenzierung, sie scheinen
alle aus dem gleichen Material geknetet zu sein. Dies Material ist aller-
dings nicht einfarbig, auch nicht als ein bestimmtes charakterisiert, wie
in der Skulptur, es läßt sich vielmehr am besten als Negation aller
bestimmten Stofflichkeiten auffassen. Am ehesten erinnert es noch
an die Struktur des Farbmaterials, aus dem der Bildbelag besteht. So
sind in Courbets »Welle« Wolke und Wasser gewissermaßen aus
dem gleichen für beider Natur viel zu festem Stoff; in Rembrandts
späten Porträts wirken die Pinselstriche wie modellierende Griffe in eine
Art Ton; in Salvator Rosas Landschaften ist der blaue Himmel von der
gleichen materiellen Schwere wie die Wolken oder die Felsen, ein
Schiff aus gleichem Stoff mit der Welle, die es trägt. Aber dies alles
gilt nur für den ersten Eindruck, eben für die Stufe der extensiven
Anschauung. Für die innere Anschauung entwickeln sich daraus
ebenso überzeugend die individuellen Eigenschaften der Stoffe, wie
sie sich in der Plastik aus dem angeschauten Material entwickeln. Am
stärksten ist diese Wirkung bei Greco. Seine Bilder sind ganz von
einer einheitlichen Materie erfüllt; Himmel und Erde, Menschen und
Dinge sind aus ihr geformt und in ihr verbunden, und gleichsam erst
vor unseren Augen vollzieht sich die Schaffung eines Kosmos aus
diesem Urstoff. In Bildern solcher Art ist der Schwerpunkt mehr als
in dem vorher behandelten Stil von der Fläche in den Raum ver-
schoben. Die vorausgesetzte Illusion geht weiter, aber doch nicht bis
ans Ende. Die volle Formung und Belebung wird vielmehr auch hier
durch die Mittel der intensiven Gestaltung geleistet und auf diese
Weise eine Spannung zwischen extensiver und intensiver Anschauung
erzeugt, aus der die Wirkung des Bildes entspringt.
Eine Abart dieses Stiiprinzips besteht darin, daß nicht nur von
dem stofflichen Gefüge, sondern auch von der individuellen Gestalt
158 KURT THEODOR.
der Gegenstände abgesehen wird. Die Dinge treten uns zwar als un-
mittelbar körperlich und in fest geschlossener Masse entgegen, aber
sie sind noch nicht in ihre endgültigen Formen hineingewachsen, sie
gleichen einem erst roh behauenen Block, an dem es noch allerlei
Ecken und Kanten und summarische Zusammenfassungen gibt, hinter
denen die natürliche Gestalt erst geahnt werden kann. Sehr aus-
geprägt findet sich dieser Stil, der in Ansätzen weit zurück zu ver-
folgen ist, zuerst in Gemälden von Daumier. Auch hier ist der end-
gültige Eindruck nur nebenbei der einer Stilisierung; hauptsächlich
entwickeln die kubischen abstrakten Formen ähnlich wie ein Michel-
angeloscher Figurenblock metaphorisch wirkende Darstellungskräfte, aus
denen eine ganz lebendige und individuell gefärbte Phantasieanschauung
erwächst.
Im Kubismus Picassos und seiner Schüler ist diese Darstellungs-
weise in ihr Extrem gesteigert. Alle gewachsene Form ist auf wenige
stereometrische Grundtypen zurückgeführt. Auch hier ist nicht ge-
meint, daß diese abstrakten Formen die Naturform völlig aus unserem
Bewußtsein verdrängen sollen. Erst daraus, daß wir doch mehr oder
weniger genötigt sind, uns die Vorstellung der wirklichen Form gegen-
wärtig zu erhalten, entsteht die Wirkung, die also auch dualistischer
Natur ist. Wir erleben unter der empirischen Mannigfaltigkeit die
ewige Grundform, und umgekehrt ahnen wir in der Grundforrri die
individuelle Gestalt. Künstlerisch überzeugend wirken nur diejenigen
kubistischen Bilder, welche die Wiedergabe der Naturform nicht ganz
der freien Phantasie überlassen, sondern neben der Anschauung der
abstrakten Form auch das Erlebnis der natürlichen leise aber zwingend
erzeugen. (Der Kubismus ist damit noch nicht völlig umschrieben.
Es eignen ihm noch eine besondere Rhythmik der Fläche und Archi-
tektonik des Raumes, die außerhalb des Bezirks dieser Untersuchung
liegen.)
Eine dritte Art der Abstraktion besteht in der Zerbrechung der
Linienperspektive. Von allen Faktoren der Gegenstandsynthese,
die den Flächeneindruck aus unserem Bewußtsein verdrängen, ist die
perspektivische Verjüngung der kräftigste. Je unvollkommener die Ge-
setze der Perspektive in einer malerischen Darstellung befolgt sind,
desto siegreicher wird der Flächeneindruck des Ganzen, mag auch der
einzelne Gegenstand noch so überzeugend in seiner Körperlichkeit sein.
Solange die Malerei die Gesetze der Perspektive nicht kannte oder nur
unvollkommen ertastete, fiel ihr die flächenhafte Wirkung der Bilder
ungewollt zu. In dem Maße, wie man allmählich lernte perspektivisch
zu zeichnen, wurde der flächenhafte Stil durch räumlichere Kunst-
synthesen ersetzt, oder, was wahrscheinlicher ist, die neuen stilistischen
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 159
Absichten lenkten die Aufmerksamkeit auf die Erscheinungen der Perspek-
tive. Daß man der künstlerischen Absicht zuliebe die Perspektive be-
wußt vernachlässigen kann, zeigt die ostasiatische Kunst, die aus glei-
chen Gründen ja auch den Schlagschatten in ihren Bildern vermeidet.
In unserer jüngsten Kunst verzichtet man größtenteils wieder absicht-
lich auf eine folgerechte Perspektive, man zerbricht deren Wirkung durch
willkürliche Abweichungen und erreicht auf diese Weise eine stark
flächenhafte Verschiebung der Einzelformen und des Oesamteindruckes.
Gerade durch diese Schwächung der extensiven Raumanschauung wird
der Boden geebnet, auf dem man nun durch die anregende Kraft
intensiver Mittel, hauptsächlich durch das Verhältnis der absoluten
Farbentöne, für die innere Anschauung den Raum aufbauen kann.
Die Fläche vertieft sich gewissermaßen mit dem Werden der An-
schauung stufenweise in den Raum, während dieser sonst als von
vornherein vorhanden empfunden wird. Cezanne war der erste, der
bewußt solche Wirkungen erstrebte und bewies, welcher anschau-
lichen Kraft dieser Stil fähig ist. Seine Schüler bewegen sich noch
freier in dieser Hinsicht.
Die Allgemeinheit pflegt diesen Stil mit besonderem Nachdruck
als Vergewaltigung der Natürlichkeit abzulehnen. Mit Unrecht! Die
Abstraktion, die hier vorgenommen wird, ist nicht größer als die Ab-
straktion von der Farbe in der Schwarzweißkunst oder die Umformung
der Erscheinung in Linien. Niemand wird schwarzes Laub oder die
Schraffierung der Schatten in einer Zeichnung für falsch erklären.
Solche Umformungen der Wirklichkeit sind uns eben vertraut. Da-
gegen befremdet uns die im Prinzip nicht gründlichere Abwendung von
der Perspektive, weil die Kunstentwicklung der letzten Jahrhunderte
uns von ihr entwöhnt hat, und sie scheint uns primitiv, weil wir sie
fast nur von primitiven Bildern kennen. Aber in solchen Dingen lernt
das Publikum bald um. Es wird dann erkennen, daß diese Abstraktion
gleich den übrigen dazu dient, an die Stelle des Wissens die An-
schauung, an die Stelle der äußeren Illusion das innere Erleben des
Gegenstandes zu setzen.
VI.
Ein wesentliches Moment künstlerischer Anschaulichkeit, das in
allen Stilarten mehr oder weniger zutage tritt, ist bisher absichtlich
vernachlässigt worden und soll hier in seinem Zusammenhang behan-
delt werden: es ist der Unterschied in der Kraft, mit der sich Fläche
und Raum im einzelnen Teile des Bildes und im Bildganzen geltend
machen. Wenn ich vor der Natur einzelne Dinge gegen ihren Hinter
grund sehe, eine Baumkrone vor dem Himmel, einen Krug vor der
150 KURT THEODOR.
Wand, so wird es mir verhältnismäßig leicht, das Verhältnis zwei-
dimensional aufzufassen, Baum oder Krug als ein Stück Fläche zu
sehen, das inmitten einer größeren Fläche steht, je größer aber der
Ausschnitt wird, den ich betrachte, desto schwieriger wird solche Auf-
fassung, und das Ganze wirkt so unbedingt räumlich, daß eine Pro-
jektion auf die Fläche nur dem geübtesten Auge möglich bleibt. So-
lange es sich bei dem Raumeindruck nur um die Vertiefung senkrecht
zur optischen Ebene handelt, wird er leicht zu der Fläche in Beziehung
gebracht; die Zuordnung mehrerer Gegenstände im Raum ist aber so
verschieden von ihrem Nebeneinander auf der optischen Ebene, und
so verwickeh in den Richtungen, daß unser Bewußtsein ganz von
der Auffassung der räumlichen Beziehung in Anspruch genommen
wird und die Fläche sich daneben nicht behaupten kann. Das gleiche
gilt von Bildern, hier auch in bezug auf die technische Behandlung.
Stark illusionistisch wirkende Gemälde brauchen im einzelnen keines-
wegs mit ängstlicher Glätte modelliert zu sein, besonders bei größerem
Format finden wir unverriebene Pinselstriche und eine gewisse Frei-
heit der Behandlung. Vor dem Eindruck des Ganzen pflegen aber
solche Einzelheiten zu verschwinden, so vollkommen, daß sie oft nicht
einmal unbewußt die Wirkung beeinflussen. In Bildern, die weniger
auf äußere Illusion ausgehen, können die Einzelheiten sogar sehr
flächig behandelt sein, so daß sich auf jedem für sich betrachteten
Bildausschnitt ein freies Spiel von Körper und Fläche entwickelt, und
trotzdem kann für den Gesamteindruck des Bildes die räumliche Ge-
staltung und körperliche Bestimmtheit stark überwiegen. Geht nun
die Breite der technischen Struktur und die Flächigkeit der Auffassung
noch weiter, so bleibt oft ein begrenzter Ausschnitt des Bildes über-
haupt unverständlich in seiner sachlichen Bedeutung. Der Zusammen-
hang des Ganzen ist aber noch klar und zwingend, von ihm aus
werden auch die Einzelheiten in ihrer Bedeutung verständlich und in
ihrer plastischen Funktion gestützt. So hat hier im einzelnen die Fläche
und die technische Struktur, im ganzen der Gegenstand das Über-
gewicht.
Nun pflegen wir bei der Betrachtung von Bildern nicht in einer
Einstellung des Blickes zu erstarren, sondern wir lassen die Augen
wandern und wechseln zwanglos zwischen der Fixierung von Einzel-
heiten und dem Überblicken der Gesamtheit, genau so, wie wir uns
auch im außerästhetischen Sehen verhalten. Damit tritt ein zeit-
liches Moment in die Bildauffassung ein, und diese Folge in der Be-
trachtung von Teil und Ganzem ergibt einen Ausgleich zwischen
Fläche und Gegenstand, der den simultanen Lösungen des Problems,
mit denen wir uns oben beschäftigt haben, gleichwertig zur Seite
I
^
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 161
tritt. Auch außerhalb der Kunstbetrachtung wechseln wir zwischen
Fixierung der Einzelformen und allgemeinem Überblick, doch unter-
scheidet sich dieses Sehen von der Auffassung gemalter Dinge in
einem wichtigen Punkte. Denn in der Natur tritt der fixierte Gegen-
stand körperlich bestimmter hervor, und mit der Einordnung in den
Zusammenhang verliert er an Plastik. In malerisch breit behandelten
Bildern dagegen löst die Fixierung der Einzelheit den Gegenstand in
seine flächenhaften Bestandteile auf, und erst mit der Betrachtung des
Ganzen verfestigt sich der Gegenstandseindruck.
Diese Verschiedenheit der Wirkung von Bildteil und Bildganzem
spielt überall da eine große Rolle, wo wir von malerischer Behandlung
im engeren Sinne zu reden pflegen. Nicht nur daß die technische
Struktur sich im Einzelnen mehr bemerkbar macht, auch die Oegen-
standsteile als solche, etwa eine Halsbinde in dem oben erwähnten
Leibischen Porträt, eine Hand, ein Gerät wirken für sich allein un-
bestimmt, flächenhaft, aufgeweicht, während sie im Bildzusammenhang
in sich geschlossen, plastisch, uneingeschränkt in ihrer Realität er-
scheinen. Besonders stark sind auch Rubenssche Bilder auf diese
Erscheinung aufgebaut. Ein einzelner Arm, ein Pferdekopf oder ein
Baumstamm ist in seinen Gemälden, für sich betrachtet, ganz flächen-
haft hingestrichen, macht oft einen geradezu kraftlosen Eindruck. Hier
ist es der Zusammenhang der Komposition, aus dem sich die Be-
flügelung des Schauens und die räumliche Energie entwickeln, die
dann auf die Einzelheiten zurückstrahlen und ihnen volles Leben ein-
flößen. Dadurch verbinden Rubenssche Gemälde mit kräftiger Plastik
und Tiefenwirkung jene Flächenhaftigkeit, durch die sie sich von grob
illusionistischen Bildern so entschieden abheben. Andere malerische
Wirkungen finden sich in Werken der verschiedensten Schulen. Man
betrachte etwa eine Ruisdaelsche Landschaft daraufhin. So ein Baum-
stamm im Vordergrund seiner Bilder, wie unfest und flächenhaft ist er
doch behandelt, man glaubt ihn vom Bilde ablösen und ihn um den
Finger wickeln zu können; und doch, im Zusammenhang des Ganzen,
wie steht er fest und real, von Luft umflossen an seiner Stelle im
Raum. Auch hier wird mit der Verfestigung der Einzelheit durch die
Raumkomposition der Eindruck des Malerischen erzielt.
Wir sind jetzt mehrfach auf den Begriff des Malerischen ge-
stoßen und haben ihn in dem Sinne angewandt, wie er allgemein
gebraucht zu werden pflegt. Es wird nötig sein festzustellen, was
mit dem Gefühlsurteil, das in diesem Ausdruck liegt, gemeint sei. Der
Begriff bezieht sich bekanntlich sowohl auf eine besondere Behand-
lungsweise von Bildern, wie auf bestimmte Natureindrücke. Das Wort
ist in neuerer Zeit von der Kunsttheorie aufgenommen und in seiner
Zeitschr. f. Ästhetik u, allg. Kunstwissenschaft. XV. 1 1
162 KURT THEODOR.
Bedeutung etwas umgebogen worden. Nur Wölfflin hat versucht, den
volkstümhchen Gebrauch wissenschaftlich zu vertiefen. Er scheidet
der Klarheit halber das »Pittoreske« der Natur von dem »Malerischen«
künstlerischer Behandlung, führt aber beides auf verwandte Grundlagen
zurück. Wir können Wölfflins Definition, die er in letzter Fassung
in seinem Buch »Grundbegriffe der Kunstwissenschaft« gibt, sehr weit
folgen, ohne daß sie uns ganz genügt. Alle Merkmale finden sich in
seiner Analyse, aber das eigentlich Entscheidende und Unterscheidende
ist nicht herausgehoben. Das war für Wölfflin auch nicht möglich,
weil ihm überhaupt die Zweipoligkeit aller Wirkungen der Malerei ent-
geht, die auch hier eine Rolle spielt. Wölfflin betont vor allem das
selbständige Leben der Fläche, das sich unabhängig von den tastbaren
Formen, als Spiel von Licht und Schatten, oder im krausen Gewimmel
der ihrer darstellenden Funktion entledigten Linien entfaltet. Aber nicht
diese Bewegtheit der Fläche ist die Hauptsache. Das Linienspiel der
sich mannigfaltig überschneidenden Dächer ist, für sich betrachtet, kaum
von einem gleichgültigen Gekritzel unterschieden: daß es Dächer sind,
die sich in solcher Weise überschneiden, macht den Anblick malerisch.
Bei einer Ruine wirkt nicht die engere Beziehung malerisch, in die
der Bau durch die Zerstörung seiner regelstrengen Formen zu den
freien Formen der Landschaft tritt, sondern daß wir in dieser schein-
baren Gleichartigkeit eine ganz andersartige, wenn auch zerstörte Ord-
nung in ihren Resten erkennen, bringt eine Zwiespältigkeit in' den
Eindruck, der ihn malerisch macht. Ein weißes Landhaus, das mit
großem roten Dach inmitten grüner Bäume liegt, wirkt malerisch.
Solch ein Komplex weißer, roter und grüner Flecken besitzt im Grunde
nichts, was diesen Eindruck hervorbringen könnte; der kommt erst zu-
stande, indem unser erkennender Blick aus diesen gleichartigen Farben-
flecken das Haus als ein in sich geschlossenes Ganzes heraushebt und
der Landschaft gegenüberstellt. Ebenso hat das Spiel des Lichtes und
der Farben auf dem zerrissenen Mantel eines Bettlers nur äußerst ge-
ringen Eindruckswert; erst der Gegensatz, in den die optische Erschei-
nung des Mantels zu der plastischen Form tritt, von der wir wissen,
ergibt den Tatbestand des Malerischen. Überhaupt wirkt das Licht
stets da malerisch, wo es einen Zusammenhang für unser Auge zer-
reißt, den unser Bewußtsein hartnäckig festhält.
Das Gemeinsame und Charakteristische all dieser Eindrücke ist,
daß ein Wahrnehmungsinhalt zugleich in einen optischen Zusammen-
hang eingeordnet und durch unsere gegenständliche Auffassung daraus
gelöst wird. Aus der so entstehenden Spannung wächst dem Gegen-
stand sowie dem optischen Komplex jener Erlebniswert zu, den man
»malerisch« nennt. Die Verwandtschaft dieses Phänomens mit dem.
I
DIE DARSTELLUNG AUF DER FLÄCHE. 163
was wir als Zentralproblem der Darstellung auf der Fläche zu erweisen
gesucht haben, ist offenbar. Nur daß beim Malerischen in der Natur
(dem »Pittoresken« nach Wölffiins Terminologie) das bloße Wissen
von den sachlichen Zusammenhängen genügt, um der sinnlichen An-
schauung die Wage zu halten, während in der Kunst zwei verschie-
dene Anschauungsynthesen miteinander im Kampfe liegen. Das er-
klärt sich daraus, daß sich das Pittoreske nicht nur bei ästhetischer
Einstellung geltend macht, sondern sich auch im täglichen Leben auf-
drängt, wo wir energischer auf Orientierung und Erkenntnis der Dinge
eingestellt sind. Vor dem Kunstwerk sind wir ausschließlicher dem
sinnlichen Eindruck hingegeben, und unser Wissen wird nur wirksam,
soweit es mit Anschauung verschmolzen ist. Anderseits zerreißt in
der Natur der flächenhafte Zusammenhang sofort, wenn die plastische
Gestalt der Dinge zu anschaulich hervortritt, und darum können sich
hier keine starken Spannungen entwickeln. Im Kunstwerk kann die
isolierende und zusammenhaltende Kraft der Fläche sehr weit gestei-
gert werden, sie behauptet sich auch gegen starke Anschaulichkeit der
Oegenstandsform. Aber bei all diesen Unterschieden zwischen dem
Malerischen in der Natur und der darstellenden Funktion der Kunst,
wie sie in dieser Arbeit bestimmt wurde, überwiegt doch die grund-
sätzliche Verwandtschaft. Wir legen Wert auf diese Tatsache, weil sie
zeigt, wie entwickelt das Gefühl für die eigentümliche Wirkung der
Malerei stets war, obwohl es nie ins Bewußtsein drang und theore-
tisch angemessenen Ausdruck fand.
So wird uns der volkstümliche Gebrauch des Wortes ^malerisch*
zum Schlüssel für das Wesen der Malerei, und wir haben ein Recht,
den Namen auf alle Phänomene der Kunst auszudehnen, die sich aus
dem Dualismus zwischen optischer Erscheinung und Gegenstand er-
geben, ganz gleich, ob die optische Form aus Linien oder Farben
oder Helligkeitsunterschieden aufgebaut ist, und ganz gleich, auf welche
Weise die Gegenstandsynthese erzeugt wird. Der Begriff des Maleri-
schen bezeichnet also die Beziehung zwischen körperlicher und flächen-
hafter Anschauungsynthese, ihren Gegensatz und ihren Ausgleich. Dem
entspräche der Begriff des Plastischen für das Verhältnis zwischen
Körperform und Seele, für jene Phänomene also, die als »Verkörperung
eines seelischen Gehalts« der Ästhetik vertraut sind. Will man daneben
eine körperlich isolierende Auffassung des Sichtbaren von einer räum-
lich und flächenhaft gebundenen unterscheiden — ein Gegensatz, der
ganz anderer Art ist — , so bleiben dafür die Bezeichnungen hap tisch
und optisch die angemessensten.
Es sei zum Schluß nochmals hervorgehoben, daß die Wirkung
eines Bildes nicht auf das Malerische beschränkt ist. Die Malerei hat
154 KURT THEODOR.
an den eigentümlichen Wirkungen sämtlicher Künste teil: am Musikali-
schen in den Rhythmen und Harmonien von Linie und Farbe, am
Architektonischen in Aufbau und Oewichtsverteilung der räumlichen
Komposition, am Plastischen in der anschaulichen Gestaltung von Er-
lebniswerten, am Poetischen in der Beseelung und Verinnerlichung
der Außenwelt. Aber im Mittelpunkt der Wirkung steht doch das
Malerische, d. i. die Entwicklung einer Dingwelt aus der optischen
Erscheinung, räumlicher und körperlicher Gestalt aus dem abstrakten
Organismus der Fläche, und individuellen Lebens aus den unpersön-
lichen Kräften der formalen Gebilde.
V.
Die Begründung der deutschen Kunstwissenschaft
durch Christ und Winckelmann.
Von
Wilhelm Waetzoldt.
1.
In den Jahren 1735—1756 lehrte als »große Zierde« an der Uni-
versilät Leipzig ein gepflegter, vielgereister, -erfahrener, -belesener Mann,
Johann Friedrich Christ. Diese durchaus nicht im Bücherstaub wun-
derlich und trocken gewordene, sondern harmonisch durchgebildete,
geistreiche Natur von aristokratischer Haltung und Lebensweise er-
öffnet den Reigen der Altertumsforscher und Kunstgeschichtsschreiber
des 18. Jahrhunderts. Christ ist Winckelmanns Vorläufer. Und doch
werden wir uns nicht verleiten lassen dürfen, den Ruhm, der Begrün-
der der deutschen Kunstwissenschaft gewesen zu sein, von Winckel-
mann auf Christ zu übertragen. Christs Vorlesungen — in ihnen muß
er sein Bestes gegeben haben — die er durch Vorzeigen von Gegen-
ständen aus seinem reich ausgestatteten »Museum« anschaulich zu
machen liebte, diese Vorlesungen faßten unter dem Titel »Literatur«
oder »Archäologie der Literatur« als einen neuen akademischen Lehr-
gegenstand zusammen: Inschriften-, Statuen-, Münzkunde, Diplomatik,
Geschichte des gedruckten Buches sowie des Kupferstichs u. a. m.
Über alle diese Wissensgebiete hat Christ gelesen und geschrieben.
Archäologie und Kunstgeschichte wurden von ihm sozusagen noch
in eine Windel gewickelt. Winckelmanns Kolumbustat sollte es dann
werden, aus dem Knäuel antiquarischer und kunsthistorischer Diszi-
plinen, die sich unter Christs Sammeinamen -de re Uteraria versteckt
hatten, die »Geschichte der Kunst des Altertums« als Archäologie los-
zulösen und diese neue Wissenschaft nicht als Literaturgeschichte, son-
dern als Denkmäler- und Stilgeschichte zu treiben. Und noch nach
einer anderen Seite muß von vornherein die Grenze zwischen dem
hochtalentierten Christ und seinem genialen Nachfolger Winckelmann
gezogen werden: Christs Wissen, seine Kritik, seine von techni-
schen, ästhetischen, historischen, philologischen Standpunkten aus-
gehenden Forschungen haften am Einzelnen, am Einzelwerk, an Einzel-
166 WILHELM WAETZOLDT.
fragen und einzelnen Künstlern. Ihm fehlt noch durchaus die Ein-
sicht in die Kunst als eine gewordene und gewachsene Gesamtheit
von Erscheinungen. Winckelmann erkannte, daß Kunstwerke nicht
nur illustrieren und monumentalisieren, sondern Sinn und Wert in
sich selbst tragen — und dadurch schuf er sich aus einem Antiquar
zu einem Kunsthistoriker um. Christs kunsthistorische Forschungen
bleiben dagegen stets ein Stück Altertumswissenschaft.
Wir fragen hier nicht nach den Lorbeeren, die Christ als Professor
der Geschichte und Dichtkunst auf philologischen Feldern geerntet hat,
sondern einzig nach seiner Bedeutung als Kunstwissenschaftler. In der
Geschichte unserer Wissenschaft hat er zunächst einen festen Platz unter
den Lexikographen. Seine monographische Studie über Lukas Cranach
(in den Fränkischen Acta erudita et curiosa 1. Slg. Nürnberg 1726)
war eine Probe aus einem geplanten und begonnenen großen Künstler-
lexikon, sein wichtigstes kunsthistorisches Buch ist ein Lexikon: die
1747 erschienene »Anzeige und Auslegung der Monogrammatum«.
Eine »Einleitung in die Geschichte der Malerei nach Nationen und
Schulen, besser eingeteilt« (als z. B. die des Sandrart) ist nie zustande
gekommen, wie so vieles, was diesem ideenreichen Kopfe als Plan und
Einfall entsprang. Christ war der typische Miszellenschreiber, ein
Meister dieser Gattung, der zu größeren Büchern nicht kam, sie auch
wohl für seine Person ablehnte.
Die vielgeschmähte Hofmeister- und Reisebegleiterbildung deut-
scher Gelehrter des 18. Jahrhunderts erwies sich in Christs Falle im
Bunde mit dem Dilettantismus in den bildenden Künsten als eine Er-
ziehung zum freien, geschmackvollen, eleganten, sinnlich aufgetanen
Menschen. Reisen und Sehen, Selbermachen und Sammeln, Sichten
und Forschen, Kunstanschauung und Philologie hielten sich hier glück-
lich die Wage. Christ blieb nämlich Philologe, auch der Kunst gegen-
über. Das kennzeichnet seine Methode. Die Vorzüge altgewohnter
philologischer Arbeit: Kritik der Quellen, Prüfung von Urbild und Nach-
bildern, das Bauen auf richtigen und klaren Merkmalen, Urkunden und
Beweisen und das Ablehnen von Schlußfolgerungen auf ein bloßes
Vermuten hin, alles das zeichnet Christs kunstgeschichtliche Arbeiten
aus, gibt ihnen ihre Eigenbedeutung und ihren Wert und läßt Christ
als einen der ersten die Wege rein empirischer, kritisch-philologischer
Kunstforschung einschlagen, die erst hundert Jahre später von Fiorillo,
Rumohr, Waagen, Passavant u. a. wieder betreten werden sollten.
Christs Leistung als Kunsthistoriker ist nur eine Teilerscheinung des
großen Dienstes, den die Philologie überhaupt durch Ausbildung der
Quellenkritik und -Interpretation zu bewußt gehandhabter Technik der
Geschichtsschreibung geleistet hat. Diese methodische Zucht kam zu-
D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. ] 67
nächst der Altertumswissenschaft zugute, der sie Winckelmann und
Heyne zuführten, und erst nach dem Durchgang durch Kunstdogma
und Kunstkonfession, Theorien und Phantasien fand die Kunstgeschichte
zum Positivismus der Arbeiten eines Christ wieder zurück.
Christ debütierte mit der Schrift über Cranach, und sein Haupt-
interesse blieb der deutschen Kunst. Ais die dunkelste und verwirr-
teste bedurfte sie, so meinte er mit Recht, vorzüglich des Forscher-
fleißes. Die alten deutschen Meister aus der Nacht der Vergessenheit
zu ziehen, war sein Ehrgeiz. Hier war ja noch so gut wie alles zu
tun: Christ tat, was in seinen Kräften stand — und tat es in deutscher
Sprache. Der Meister eines eleganten und fließenden Latein hat mit
der deutschen Sprache ringen müssen, bis er sie sich zu einem ge-
fügigen Werkzeug gelehrten Ausdruckswillens geschaffen hatte. Der
stilistische Gegensatz der beiden um 21 Jahre auseinander liegenden
Schriften zeigt deutlich den außerordentlichen Fortschritt des deutschen
Schriftstellers Christ. Im Cranachartikel noch die mit französischen
und lateinischen Fremdwörtern gespickte Modesprache der guten Ge-
sellschaft im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, im Monogrammen-
lexikon dagegen ein Deutsch, das die »gemeinen Worte unserer Väter
und Großväter« wieder lebendig macht und sich seinem Ideal: dem
lutherischen Kern- und Kraftdeutsch nähert.
Als Christ an seine kleine Cranachmonographie ging, war ihm
klar, daß er seinen kritisch-besonnenen, überall nach den Quellen fra-
genden methodischen Standpunkt nach zwei Seiten hin zu verteidigen
habe, zunächst gegen diejenigen seiner Landsleute, die »entweder aus
Unwissenheit der Kunst oder gefaßtem Vorurteil in der festen Meinung
(stehen), daß Lukas Cranach die Teutsche Malerei auf einen so hohen
Grad erhoben, daß er über die Beurteilung gesetzt, und nur mit Be-
wunderung anzusehen sei«. Ihnen gegenüber wagt Christ eine Kritik
Cranachscher Werke auf ihre verschiedene Wertigkeit hin, denn er
spricht es klar aus, daß man »unter der Güte seiner Sachen, nach der
Zeit, wann und zu wes Ende sie gemacht, einen großen Unterschied
machen muß«. Andere Gegner sah Christ voraus in jenen Kunst-
freunden, welche »mit großen Ideen, aus Betrachtung der schönen
Sachen in Italien, den Niederlanden oder Frankreich, eingenommen, und
mit einem Ekel gegen alles das, was von dem gotischen Wesen bei
sich führt, erfüllt werden«, und nun alles, »was Cranach gemacht, in
Gegeneinanderhaltung ihrer besseren Ideen, gleich anfangs mit ver-
ächtlichen Augen« ansehen und sich wundern, wie »ein dergleichen
Meister so hohe Reputation erhalten mögen«. Ihrer Befangenheit
gegenüber arbeitet Christ vorurteilslos die Merkmale des Cranach-
schen >^gout<ü heraus, der, wie es in einem Schlußurteil heißt, freilich
168 WILHELM WAETZOLDT.
»um ein merkliches gotischer und l<leiner als Dürers« sei. Aus eigener
Anschauung, Prüfung und Vergieichung Cranachscher Werke wird
seinem »Oenie« die Stellung in der deutschen Kunst angewiesen.
Das führt Christ zu einem Versuch, den Begriff der deutschen Kunst
festzustellen und ihren Verlauf erstmals zu periodisieren. »Einen
teutschen Künstler nenn ich, welchen ich nicht nur von den fran-
zösischen und italienischen Malern, sondern auch vornehmlich von
den Niederländern unterschieden wissen will, weil jede dieser Nationen
im Malen ihre besonderen Manieren geheget hat. Weil nun diese
Manieren ab arte restaurata sich mit der Zeit verändert, so teilt man
wieder jede Nation in ihre Kunstperiodos ein. Dieserwegen nenne ich
unter den Teutschen, welche zu Ende des XV. und Anfang des XVI.
seculi floriert haben bis ohngefähr 1580 die älteren, ferner bis 1680
die mittleren, und endlich von da an bis auf die gegenwärtige Zeit,
die neueren teutschen Künstler.« Mit diesem in einer Anmerkung
versteckten Einteilungsversuch kommt Christ weit über den von ihm
oft kritisch zitierten Sandrart hinaus. Daran ändert nichts, daß auch
noch Christs kunsthistorisches Gesamtbild ganz beherrscht ist von
der italienischen, zuerst von Ghiberti in die Welt gesetzten Cimabue-
theorie. Das heißt: »gotisch« nennt er alles, was entstanden ist vom
Einfall der Goten bis auf Wiederherstellung der Kunst (ars restaurata),
»welche in Italien unter Cimabue, Giotto und Gaddi im XIII., in den
Niederlanden unter den beiden van Eyck und einigen unbekannten,
zu Ende des XIV., in Teutschland aber, zu Ende des XV. seculi unter
Dürer, unserem Lukas und Holbein erfolgt« sei.
Beim Zusammenbringen seiner großen Kupferstichsammlung hatte
Christ den mannigfachen Nutzen der Graphik (der »niederen Malerei«)
für alle historische Beschäftigung mit bildender Kunst erkannt. Jedes
Kupferstichstudium setzte voraus die Beschäftigung mit den Maler-
und Stechersignaturen, deren erhellender Wert besonders in der noch
in Finsternis liegenden deutschen Kunstgeschichte Christ wohl an der
Cranacharbeit bereits aufgegangen war. Jahrelang trieb er in leeren
Viertelstunden die »unschuldige Zeichendeuterei< und schenkte schließ-
lich 1747 der Forschung das erste brauchbare und musterhaft ge-
arbeitete Monogrammenlexikon. Der Philologe Christ ging streng von
den Originalblätfern aus, die er von nachgemachten Blättern, von
Kopien und Fälschungen zu scheiden suchte. Im Gegensatz zu den
unzuverlässigen Angaben seiner Vorgänger Sandrart, Marolles, Mal-
vasia, Le Comte, Orlandi schied Christ folgerichtig Selbstgesehenes,
wirklich Beobachtetes von nur Gehörtem, Gelesenem und von anderen
Bemerktem. Hierin wurde er der Vorläufer eines Hagedorn, Heinecken
und anderer wahrer Kenner und Sammler des 18. Jahrhunderts. Christ
D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 169
fällt nicht in den typischen Fehler künstlerischer und wissenschaft-
licher Dilettanten, in sein jeweiliges Problem blind verliebt zu sein
und dessen Bedeutung zu überschätzen. Auch der Zeichendeuterei
gegenüber bewahrt er sich die klare Einsicht in die Grenzen des
methodischen Wertes der Künstlersignaturen. Er will niemand raten,
:.daß er allerdings (= stets) auf Unterschrift und Zeichen traut und
daran hangen soll«. Dieses echt wissenschaftliche Mißtrauen auch
dem scheinbar unantastbar Urkundlichen gegenüber läßt ihn in großer
gedanklicher Kühnheit höher als die Philologie des Auges die Stil-
kritik bewerten. Der Kunstkenner soll sich nämlich nicht auf die
Signaturen verlassen, sondern »die Werke der Meister aus dem gar
deutlichen Unterschied des Geistes, der Regel, des Risses und der
Manieren erkennen lernen«. Das war eine Idealforderung, vielleicht
hätte Christ ihr genügen können; für die antike Kunst löste Winckel-
mann alle Aufgaben, die Christ gestellt hatte.
Winckelmann hat Christs Vorlesungen nicht gehört, ob er seine
Schriften kunsthistorischen Inhaltes gekannt hat, wissen wir nicht.
Als Winckelmann sich von Rom aus dem Leipziger Gelehrten, von
dessen Hand er eine Besprechung seiner Erstlingschrift wünschte,
c^mpfehlen ließ, in der Hoffnung, Christ einmal durch Roms Kunst-
schätze zu führen, war dieser schon gestorben. Aber sein lebendiger
Geist wirkte fort in den Schülern, zu deren größten Heyne und Les-
sing, die artverwandten hellen Geister gehört haben. Durch Oeser
hat Christs edle und reiche Persönlichkeit noch das erwachende Genie
Goethes berührt. Was war es schließlich, das den gelehrten Mann
überdauerte? Daß er in Leben und Werken wirklich war, was er
sein wollte: ein künstlerisch empfindender Mensch. Den Wert der
Empfindung für die »feine und holdselige« Kunst in einer tief ratio-
nalistischen Zeit nicht nur gepredigt, sondern wahrhaft vorgelebt zu
haben, das war Christs Verdienst: »Wie niemand sich dessen zu
schämen hat, wenn er nach dem Maße seiner Erziehung und seines
Standes, unkünstlich und ungelehrt ist: also ist, ohne Liebe und
Empfindung der Kunst und ohne alle Einsicht in das Annehmliche
und Schöne, das in ihren Werken ist, leben und ein Mensch sein
wollen, jedermann, auch den Kleinen und Ungelehrten, eine Schande '.
2.
:»Sodann schlummert hier, hoch über dem Adriatischen Meer, zwi-
schen den Akazienbüschen, die Asche desjenigen Mannes, welchem
die Kunstgeschichte vor allen anderen den Schlüssel zur vergleichen-
den Betrachtung, ja ihr Dasein zu verdanken hat.«
Mit diesen ergriffenen und ergreifenden Worten gedenkt Jakob
170 WILHELM WAETZOLDT.
Burckhardt in seinem Cicerone, im Abschnitt über den Dom von
Triest, seines großen Vorgängers Winckelmann.
Winckelmann ist trotz Christs Leistung der Begründer der Kunst-
wissenschaft in Deutschland, er machte aus Stoffsammlung Geschichts-
schreibung. Dadurch aber, daß Winckelmann als erster Deutscher
Geschichte der Kunst »philosophisch« betrieb, wie das 18. Jahrhundert
sich ausdrückte, indem er kunstgeschichtliche Erkenntnisse auf Grund-
tatsachen geschichtlichen Seins überhaupt zurückführte und die Kunst-
historie in den großen Zusammenhang historischer Wissensgebiete ein-
ordnete, hat er mehr getan als ein neues Fach auf die Füße gestellt,
er hat für seine Nation Unvergängliches geleistet. Winckelmann gab
dem deutschen Geiste ein neues Organ Kunst zu fühlen, er führte die
Welt der Kunst in den Kreis unserer Nationalbildung ein und schließ-
lich : durch den Stil seiner Werke erhob er auch an seiner Statt deutsche
gelehrte Literatur, deutsche wissenschaftliche Prosa zum Range euro-
päischen Schrifttums; die Geschichte der Kunst des Altertums hat für
die deutsche Prosa kaum mindere Bedeutung, wie Klopstocks Messias
für die deutsche Poesie.
Lebens- und Bildungsgeschichte des 1717 geborenen Mannes wird
beherrscht von einem grandiosen Szenen-, Licht-, Stimmungs- und Um-
gebungswechsel. Dieser große Gegensatz gibt auch dem Justischen
Gemälde Winckelmanns und seiner Zeitgenossen die Kontrastwirkung
einer dunklen Hälfte: Winckelmann in Deutschland und einer hellen
Hälfte: Winckelmann in Italien. Hier Winckelmann in kunstloser oder
armer Umgebung, dort im Mittelpunkt großer Kunst, hier Lehrer und
Bibliothekar, dort Präfekt der Altertümer und Kunsthistoriker. Aus
Druck, Entbehrung und Unbekanntsein führt die Lebenskurve auf-
wärts zu Freiheit, Genuß und europäischem Ruhm. Aus theologisch-
philologischer Befangenheit befreit sich sein Geist zu Weltbildung.
Der Drang, dem Ideal nachzuleben, die fast übermenschliche Kraft,
das Sehnsuchtsziel zu erreichen, hat Winckelmann zu einer fast sym-
bolischen Erscheinung werden lassen für deutschen Idealismus und
edelsten Bildungstrieb, symbolisch auch für den Mann des dritten
Standes, der ans Licht drängt, für den Bürger des 18. Jahrhunderts,
der als Gleichberechtigter sich an den Tisch der Fürsten setzt und
mit der Waffe des Geistes in die alte ständisch-aristokratische Welt
einbricht.
Die ersten Kunsteindrücke empfing Winckelmann in einem pro-
vinziellen Winkel mittelalterlich- kirchlicher Kunst. Auf gotischen Back-
steinkirchen und Wehrbauten Stendals ruhen die Knabenblicke, durch
gotische Chorfenster der Franziskanerkirche fällt das Licht auf seinen
Schultisch. In einer sonst kunstlosen Umgebung erlebte er Eindrücke
D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 1 ^ 1
strenger alter Werke, und vielleicht empfing sein Geist hier schon die
Richtung und den Anstoß, ein Erforscher und Liebhaber von Alter-
tümern und ein Kritiker seiner Gegenwart zu virerden.
Zwei Universitätsjahre in Jena und Halle bringen nicht das Auf-
atmen, sondern ein Versinken in Bücherstaub. Den angehenden Theo-
logen Winckelmann zwang ein Edikt Friedrich Wilhelms I. in Halle zu
studieren. Voltaire hatte gesagt, wer die Krone der deutschen Ge-
lehrten sehen wolle, müsse nach Halle gehen, Winckelmann nannte
Halle die Stadt der Blinden. Und doch dankte Winckelmann Halle
die erste Berührung mit seinem späteren Forschungsgebiet, der grie-
chisch-römischen Altertumswissenschaft. Hier las Johann Heinrich
Schulze sein später (1766) als Buch erschienenes Kolleg über grie-
chische und römische Altertümer nach Münzen. Winckelmann hatte
es gehört und die ersten Kleinbilder der Götter in die Hand ge-
nommen, deren Verherrlicher an den Originalen^ der großen Kunst er
werden sollte. Im übrigen erweckte der Besuch der Vorlesungen des
Modephilosophen Christian Wolff und des Begründers der ästheti-
schen Wissenschaft, Alexander Baumgarten, nur seine Abneigung gegen
die Zunftgelehrten, die wissen, was andere gewußt haben, für die es
genug ist, Titel und Indices von Büchern zu kennen im Gegensatz zu
Leuten, die Empfindung haben und denken. Auf der Universität schon
nahm er sich vor, einmal für Menschen, die nicht Universitätskennt-
nisse haben, zu schreiben — er wurde der erste in der Reihe der
Professorenverspotter : Lichtenberg — Schopenhauer — Nietzsche.
Die Berührung des Begründers der Kunstgeschichte mit dem Vater
der Ästhetik hatte bei Winckelmann nur zur Folge den Abscheu vor
den im Zimmer ausgebrüteten metaphysischen Grillen der Weltweisen
und die Sehnsucht nach lebendiger Kunstanschauung, als einzig mög-
licher Rechtfertigung und Quelle aller Kunstschreiberei. Baumgarten
und sein Schüler und Nachfolger G. F. Meier systematisierten die
Kunst, ohne sie zu kennen, sie trieben Ästhetik, ohne ästhetische Er-
lebnisse zu haben und demonstrierten ihre Sätze fast ausschließlich
an den redenden Künsten. Winckelmanns Sehnsucht nach Erfahrung
und Anschauung statt nach Wissen von Begriffen und Worten, die
die Geisteswissenschaft nicht befriedigen konnte, flüchtete zur Natur-
wissenschaft. Auf den gleichen Weg wies ihn ein angeborenes starkes
Naturgefühl, wie es später in schwärmerischer Verehrung des südlichen
Meeres und der großen Naturschauspiele, z. B. des Vesuvausbruchs
(1767) zutage trat. Bei Gottfried Seil in Halle, dann bei Georg Ehr-
hard Hamberger in Jena lernte Winckelmann, was dem Archäologen
zustatten kommen sollte, zu scheiden und zu vergleichen, eine Ge-
samterscheinung zu analysieren, auch das Kleinste zu beachten und
172 WILHELM WAETZOLDT.
das Charakteristische festzuhalten. Den Vorzug naturwissenschaftlicher
Erziehung haben viele Kunstforscher am eigenen Leibe erfahren, z. B.
hat ihn Anton Springer ausdrücklich bezeugt. Winckelmann — ähn-
lich darin Goethe — war so verliebt in diese Welt der Sinne, daß er
in seinen letzten Lebensjahren sich mit dem Plan trug, nach Abschluß
der archäologischen Arbeiten- sich der Physik zuzuwenden. »Meine
letzten Betrachtungen werden von der Kunst auf die Natur gehen.«
Und doch: es darf nicht vergessen werden, daß es der Hallische
Kanzler v. Ludewig war, der Winckelmann auf die geschichtliche Bahn
wies und damit die für sein Leben entscheidende Richtung gab. In
der Bünauschen Bibliothek zu Nötnitz und in der Dresdener Galerie
sowie im Atelier Oesers wird aus Winckelmann, dem märkischen Kon-
rektor und Studenten der Theologie, der zukünftige Historiograph und
Kunstkenner. Die Bedeutung Dresdens für seine Bildungsgeschichte
kann gar nicht überschätzt werden: es hat ihm zu sich selbst geholfen.
Dresden war die erste Kunststadt des Nordens, eine Kolonie Italiens
auf sächsischem Boden, die Stadt des Rokoko, für Winckelmann so
ein Vorgeschmack Roms, wie später für Wackenroder Halle ein Vor-
spiel Nürnbergs. In Dresden traten Kunstwerke an die Stelle der
Bücher, Künstler lösten die Professoren ab, Winckelmann lernte hier
nicht mehr in Hörsaal und Büchereien, sondern in Galerie und Atelier,
eine neue Art der Erkenntnis wurde ihm zuteil: aus den Dingen und
der Anschauung statt aus Begriffen und Worten. Das Gefühl, daß
ihm die Augen geöffnet wurden, war so stark, daß Winckelmann, wie
Goethe in Rom, da er unter die Maler geriet, glaubte, »Gott und die
Natur hätten einen Maler und einen großen Maler aus ihm machen
wollen«. Er wurde es nicht, denn es gibt keinen Raphael ohne Hände.
Was nun diesem literarisch durchtränkten Geist vor Augen trat, waren
die Ausläufer französischer und italienischer festlich-prunk- und pracht-
voller Architektur in Hofkirche, Zwinger, Großem Garten und eine
Galerie, deren Kern die großen Cinquecentisten und Seicentisten bildeten;
ein typisches Zeugnis für Fürstengeschmack und Fürstenmacht des
18. Jahrhunderts. Die Sammlung war nicht zusammengebracht, um
Kunstgeschichte zu lehren — sie besaß nichts aus der Kunstperiode
vor Raphael — sie war für den Genuß des Schönen bestimmt, das
man gerade bei den späten Italienern fand; weder legte man an jedes
Bild den Maßstab höchster Originalität, noch ließ man sich durch den
Begriff des Eklektizismus schrecken; man kostete gern den aus ver-
schiedenen Blumen gesammelten Honig.
In dieser Fülle sah Winckelmann nur wenig. An der Schönheit
der Dresdner Bauten ging er blind vorüber, die Tonkunst großen
Stils, in der Hofkirche stets gepflegt, fand sein Ohr nicht, die Schätze
D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 1 73
des Kolorits bei Niederländern und Italienern rührten sein Auge nicht,
ihm fehlt der Sinn für Helldunkel, Handlung, Komposition, Charakteri-
stisches, Ausdruck, zugänglich war ihm fast ausschließlich der harte
Umriß, die schöne Drapierung, die machtvolle Ruhe und die idealisierte
Natur.
In Dresden wurde Winckelmann zum Schriftsteller. In Oesers
Nachlaß fand sich das Manuskript »Vom mündlichen Vortrage der
allgemeinen neueren Geschichte«. Die hier entwickelten Gedanken
sind der Abschied Winckelmanns von der Beschäftigung mit der
politischen Geschichtsschreibung und zugleich sein Programm für die
Geschichtsauffassung, die den kunstwissenschaftlichen Werken zu-
grunde gelegt wurde. Die Ursachen für das Steigen und Sinken der
Staaten, den großen Kreislauf aller Dinge sucht Winckelmann im
Klimatischen und Kulturellen (in Handel, Industrie, Wissenschaft und
Kunst neben Krieg und Politik). Das »Philosophische« der Geschichts-
auffassung Winckelmanns kennzeichnet sich hier schon deutlich durch
den universalen Zug. Bekannte antike Gedanken über den Zusammen-
hang von Kunst mit Klima, Boden und Rasse verbinden sich mit
modernen Ideen. Montesquieu war in dieser Richtung auf Vertiefung
und Bereicherung der Geschichtsschreibung vorangegangen, indem er
in den Sfaatsgebilden und ihren Lebensformen unter natürlichen und
geschichtlichen Bedingungen Gewordenes erkannte und so die Grund-
lagen für eine historische Geographie schuf. Was Winckelmann in der
Vorlesung nur skizziert hatte, wendete er an auf die Sonderfrage nach
der Entwicklung der Kunst, nach ihrer Vergangenheit, ihrer Gegen-
wart und Zukunft. Es handelt sich um die »Gedanken über die Nach-
ahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«
(1755). Dies Heftchen ist eine Parteischrift, entstanden als leidenschaft-
licher Ausdruck aus der Mitte einer Gegnerschaft: es enthält Winckel-
manns »Reformationsthesen«. Um die Stimmung des Ganzen aus dem
Parteistandpunkt der alten und neuen Kunst gegenüber zu verstehen,
muß man die geistesgeschichtliche Situation zur Zeit seiner Entstehung
begreifen.
Das Buch entsprang dem Zeitgefühl der Ermüdung auf ästheti-
schem, ethischem, politischem Boden, der Empörung gegen politischen
Despotismus des ancien regime und seiner ständischen Gesellschaft,
der Stimmung der Auflehnung gegen den auf Deutschland lastenden
Druck, den auf geistigem Gebiete Dogmatik, Zunftgeist, barbarischer
Ungeschmack, Gelehrtenenge, auf künstlerischem »die freche Moderne«
der letzten Entwicklungsausläufer der Renaissancekunst und -kultur be-
deuteten. Winckelmann trat ein in eine schon im Gange begriffene
Gegenströmung, er wurde von einer rückläufigen Bewegung ergriffen,
174 WILHELM WAETZOLDT.
um schließlich ihr Führer und Herold zu werden. Die Sehnsucht nach
dem Einfachen, Machtvollen, nach der gesunden und guten Kunst ist
nur eine Seite jenes Verlangens nach Erneuerung des gesamten Welt-
bildes. Das Ziel: eine der höchsten Bildungsmöglichkeiten der Mensch-
heit in der Antike wieder zu gewinnen, schien Winckelmann auch mit
dem Preis der Absage an die kranke Kunst der Gegenwart nicht zu
teuer bezahlt. Der Hinweis auf die vorbildliche Oriechenkunst ist
ursprünglich ein Gedanke des Carracci- Kreises, den Bellori aufge-
nommen und verbreitet hatte. Winckelmann will in der Dresdner
Schrift nicht darstellen nur, sondern wirken. Wirken auf die es
ankam zu wirken. Dazu waren nötig ein neuer lebendiger Inhalt
und eine neue Form. Winckelmann wollte in gutem Deutsch nicht
für Professoren, sondern für Weltleute schreiben, er legte keinen son-
derlichen Wert darauf, von Gelehrten gelesen zu werden. Winckel-
mann, dieser leidenschaftliche Leser der Montaigne, Larochefoucault,
Addison, Shaftsbury und anderer weltmännischer Schriftsteller konnte
zeigen, was er gelernt hatte. Die Mischung mannigfaltigster Ele-
mente in seiner Bildungsgeschichte kam der Lesbarkeit seiner Bücher
zugute, es waren fast die ersten deutsch geschriebenen, die von den
höchsten Ständen mit Vergnügen gelesen wurden. Die Grundge-
danken werden uns im Zusammenhange des Winckelmannschen
geschichtlichen Weltbildes beschäftigen, hier einige Andeutungen
über den Stil. Winckelmann legte höchsten Wert auf ihn, sammelte
charakteristische Aussprüche, Kritiken, Grundsätze über StiL Im
Gegensatz zur damaligen gelehrten Prosa mit ihrer Unpersönlichkeit,
Weitschweifigkeit und Schwerfälligkeit suchte Winckelmann eine
»erleuchtete Kürze«, wollte er mit halben Worten von der Kunst
reden, wie die Maler gewöhnt sind. Er will andeuten, statt auszu-
führen, reizen statt ermüden. In der Wärme des Tons, der Markig-
keit und sentenzenhaften Kürze der Sätze, in Leichtigkeit, Beweglich-
keit des Stiles, Durchsichtigkeit des Aufbaues und in der Urbanität des
Vortrags, der den beliebten Prunkschmuck gelehrter Zitate meidet, strebt
Winckelmann nach dem Umgangston der guten Gesellschaft. Für das
Geschliffene wie für das Beschwingte des Tones zwei Beispiele:
»die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet: glücklich ist, wer sie
findet und schmeckt. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen
und Dresden wird nunmehr Athen für Künstler«. »Seht die Madonna
mit einem Gesichte voll Unschuld und zugleich einer mehr als weib-
lichen Größe, in einer selig ruhigen Stellung, in derjenigen Stille,
welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen ließen.
Wie groß und edel ist ihr ganzer Kontur! Das Kind auf ihrem Arm
ist ein Kind über gemeine Kinder erhaben, durch ein Gesicht, aus
D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 1 75
welchem ein Strahl der Gottheit durch die Unschuld der Kindheit
hervorzuleuchten scheint.«
Die »Gedanken« und die nachfolgenden Schriften: der anonyme
Selbstangriff des ^Sendschreibens« und die namentlich gezeichnete
Selbstverteidigung der »Erläuterung? (1756) — das Ganze eine litera-
rische Mystifikation im Zeitgeschmack — nehmen bei noch unzureichen-
der Kunsterfahrung die Grundgedanken der schriftstellerischen Zu-
kunft Winckelmanns so sehr vorweg, daß Herder recht hat, der 1781
im deutschen Merkur schrieb: »In diesem Schriftchen liegt, mich dünkt,
die ganze Knospe von Winckelmanns Seele; Rom konnte sie nur mit
gelehrtem Laube und mit Früchten eines bestimmteren älteren Urteils
krönen. Was Winckelmann in Rom sehen wollte und sollte, trug er
schon in sich.«
Die kultur- und kunstgeschichtliche Bedeutung der 50 Exemplare
der Gedanken war: die Beschleunigung des Endes der Rokokowelt.
Die lebensgeschichtliche Folge des dem sächsischen Kurfürsten ge-
widmeten Buches war eine Pension, die die Übersiedlung nach Rom
ermöglichte. Winckelmann kommt in die Heimat seiner antikischen
Seele, wird verpflanzt auf den Boden, dem die reichste Frucht seines
Geistes erwachsen sollte: die Geschichte der Kunst des Altertums.
Was brachte er an geistiger Ausstattung mit für die großen Aufgaben,
die seiner warteten?
Zunächst die Kenntnis antiker, vor allem griechischer Autoren,
schon in Stendal und Seehausen erworben, Kunstenthusiasmus und
Anfänge der Kunstkennerschaft aus Dresdner Tagen, Quellenstudium
der Rechts- und Weltgeschichte aus der Bibliothek zu Nötnitz. Der
wichtigste Bildungsbestandteil war wohl die Kenntnis der alten Literatur:
sie bedeutete sprachliche Schulung an Schönheit, Logik, Klarheit, Bild-
lichkeit des Griechischen. Genährt mit edelster Sprachnahrung hatte
Winckelmann sich gefeit gegen das Pedantische, Rohe, Abstruse und
Abstrakte, Banausische und Provinzielle des gelehrten deutschen Jargons.
Am Griechischen lernte er edle Einfalt und stille Größe, erkannte er den
Unterschied zwischen antikem Pathos und Esprit des 18. Jahrhunderts.
Innerhalb der griechischen Kunstwelt wußte er zu scheiden zwischen
dem hohen und schönen Stil bei Äschylos und Sophokles. Winckel-
manns Sinnlichkeit erwachte zuerst in der Sprache. Von Wort und
Rhythmus, Anschaulichkeit, Kernhaftigkeit, Wucht und Süße des Sprach-
lichen wurde er unmittelbar berührt, ehe ihm das Auge sich öffnete
für sinnliche Werte der bildenden Künste. Die Bildhaftigkeit der homeri-
schen Sprache möchte er am liebsten unmittelbar für die Motivwelt der
gestaltenden Künste ausbeuten, darin auf den Pfaden der Bodmer und
Breitinger wandelnd, denen sich in den »Diskursen der Mahlern« das
176 WILHELM WAETZOLDT.
Poetische nur vom Grenzgebiet der Malerei her erschlossen hatte:
»Was für ein großes Bild gibt Thetis, die gleich dem Nebel sich aus
dem Meere erhebt!« Aber das Umgekehrte war für Winckelmann nicht
vorhanden: Kolorit und Zeichnung im Gemälde setzte er in seiner Er-
läuterung nicht gleich Rhythmus und Wortklang in der Poesie, sondern
gleich Silbenmaß und Wahrheit der Erzählung. Für das Verständnis
malerischer Formabsichten fehlte ihm jene feine sinnliche Empfänglich-
keit, die er sprachlichen Gebilden gegenüber besaß: »Zwei Verse im
Homer machen den Druck, die Geschwindigkeit, die verminderte Kraft
im Eindringen, die Langsamkeit im Durchfahren und den ungehemmten
Fortgang des Pfeils, welchen Pandaros auf Menelaos abschoß, sinn-
licher durch den Klang als durch die Worte selbst.« Aus dieser Ein-
seitigkeit der Winckelmannschen Sinnlichkeit erklärt sich auch, daß er
bei aller Genußfähigkeit und Neigung, sich jedem Eindruck und jeder
Stimmung ganz hinzugeben, den »bloß sinnlichen Empfindungen« ein
zu enges Herrschaftsgebiet absteckt. Sie »gehen nur bis an die Haut
und wirken wenig in den Verstände Damit verschloß Winckelmann
sich die volle ästhetische Würdigung großer Bildgattungen, wie der
Landschafts- und Stiilebenmalerei, die ja ganz an unsere sinnliche Be-
gabung appellieren. Winckelmann gehört in die Gruppe der nordi-
schen Hellenen, der sinnlich-übersinnlichen Freier um antike Schönheit,
die durch Namen wie Carstens und Thorwaldsen bezeichnet wird.
Goethes Durchtränktheit mit naiver, antikischer Sinnlichkeit war ihm
nicht geschenkt.
Auf Rom hatte sich Winckelmann auch insofern in Dresden un-
bewußt vorbereitet, als er alles, was ihm an moderner europäischer
Kunstliteratur in die Hände fiel, verschlungen hatte. Nichts Wichtiges
ist ihm dabei entgangen. Bei flüchtigem Überblick finden wir in Winckel-
manns Arbeitszimmer von Italienern die Künstlerbiographien Vasaris,
Malvasias, Belloris, die theoretischen Bücher des Alberti, Dolce, Borg-
hini und Baldinucci, die cours de peinture des Roger de Piles und
Dubos Reflektionen über Poesie und Malerei, von englischer Literatur
Richardsons Cicerone durch die italienischen Kunstschätze. Als Winckel-
mann in Rom war, sank seine Achtung vor den Büchern über Kunst
bedeutend, er sah, daß er nichts wußte, da er doch glaubte, alles ge-
lernt zu haben, er erkannte, daß man erst vor den Altertümern selbst
ein Sehender wird, daß Kunstgeschichte sich in erster Linie auf Kunst-
werke, in zweiter erst auf literarische Nachrichten gründet. Ein tiefes
Glücks- und Freiheitsgefühl ergreift Winckelmann — es ist wie ein
großes Aufatmen, nach 30 Jahren des Elends doch noch mit unge-
brochener Schwungkraft die Gefilde der Seligen erreicht zu haben.
»Die mir gegönnte Muße ist eine der großen Glückseligkeiten, die
D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 1 ^^
mich das gütige Geschick, durch meinen erhabensten Freund und
Herrn, in Rom hat finden lassen. Diese seiige Muße hat mich in
Stand gesetzt, mich der Betrachtung der Kunst nach meinem Wunsche
zu überlassen.«
Der große, durch die Gedanken über die Nachahmung im
wesentlichen vorbereitete Wurf war die »Geschichte der Kunst des
Ahertums« (1764). Winckelmann war sich bewußt, etwas Außer-
ordentliches zu schreiben, in diesem der Kunst und der Zeit und be-
sonders dem Freunde Mengs geweihten Buche ein wegweisendes
Werk zu geben. In den »Gedanken« und den anschließenden Schrif-
ten steckten zwar schon originelle methodische Gedanken: die Ab-
hängigkeit der römischen von der griechischen Kunst, der Versuch,
den Stil einer Kunst aus Klima, Landschaft, Volkscharakter zu er-
klären, zwischen Feinheit der Sprache und Feinheit des Muskel- und
Nervenbaus des Sprechenden eine Kausalverbindung herzustellen,
den Einfluß eines reinen und heiteren Himmels sowie guten Wassers
auf die Körperbildung und Schönheit nachzuweisen, die Bedeutung
des Sports und der Sitten zu ergründen u. a. m. Auch hatte die
Tätigkeit in der Bünauschen Bibliothek und die Mitarbeit an Bünaus
Reichshistorie, das Studium vor allem Voltaires und Montesquieus,
Winckelmann gesättigt mit den Kulturbegriffen der Aufklärung, mit ihrer
Auffassung vom Wesen der Geschichte und ihn geschult im Ordnen,
kritischen Bearbeiten von Stoffmengen und der strengen historiographi-
schen Technik. Trotz alledem aber war es eine grundgeniale Idee,
diese Einsichten auf die Welt der Griechen anzuwenden, die Gesamt-
heit unserer Kenntnisse alter Kunst, die verstreut lagen bei Antiquaren,
Philologen, Philosophen, Amateuren, die herausgezogen werden mußten
aus Plinius und Pausanias, zu verschmelzen mit der Anschauung und
eingehenden stilistischen Vergleichung der Bildwerke römischer Paläste,
Villen, Sammlungen und schließlich all dies geistige Gut zu durch-
tränken mit einer persönlichen Schönheitstheorie und darzustellen in
Form einer geschichtlichen Erzählung. Die Leistung Winckelmanns
ruht nicht allein im Stofflichen seiner Werke, so bedeutend sie in dieser
Richtung besonders für ihre Zeit waren. Läge das Verdienst hier, so
wären seine Bücher längst bei der gänzlichen Umgestaltung des Stoff-
lichen in der Archäologie vergessen, sie leben aber, und das danken
sie ihrem Geist, ihrer Methode und ihrer Form. Winckelmann will
Geschichtsschreiber und zugleich Ästhetiker der Kunst sein. Das
Historische und das Theoretische verschlingt sich in diesem Buche aufs
merkwürdigste, es ist ein Lehrgebäude und ist eine Kunstgeschichte,
es behandelt die gleiche Materie zweimal in verschiedener Betrachtung.
Wenn auch eine Welt Sandrart von Winckelmann trennt, in dessen
Zeitschr. (. Ästhetik u. allg. Kiinstwissentcluft. XV. 12
178 WILHELM WAETZOLDT.
Hauptwerk man »die Geschichte der Künstler nicht zu suchen (hat),
denn sie hat auf die Ericenntnis des Wesens der Kunst wenig Einfluß«,
so verbindet beide doch noch die aus romanischer Renaissanceästhetik
stammende Bevorzugung des Systematischen ihrer Lehrgebäude vor
dem Historischen in der Gesamtgliederung der Werke. Der Kern
der Lehre war die absolute Norm der Antike. Antik heißt freilich bei
Winckelmann griechisch, darin aber, wie er den Vorrang des Griechen
begründet, wie er ihre Kunst ableitet und dem »Ursprung, dem Wachs-
tum, der Veränderung und dem Fall« der Künste auf die Spur zu
kommen sucht, Wie er eine Periodisierung der Stile gibt, offenbaren
sich Eigenwuchs und Genialität seines Denkens.
Winckelmann ordnet die Tatsache der Kunst in sehr viel weitere
Kreise des Lebens ein, als sie sich vor den Augen der Historiographen
der Renaissance und des Barock aufgetan hatten. Winckelmann stellt
die Frage nach den Kräften, welche die Verschiedenheit der Stile in
der antiken Welt bedingen und findet sie nicht nur in den Verschie-
denheiten des Könnens, der Inhalte, der Künstlermoral (wie Sandrart
und seine Nachfolger), sondern in den natürlichen und historischen
Existenzbedingungen der Völker, in Bodenbeschaffenheit, Klima,
Rasse, Staat, Gesellschaft, Religion. Damit läßt Winckelmann die
Kunstgeschichte nicht mehr auf einem Seitenstrang der allgemeinen
Geschichte stehen, sondern er verknüpft sie mit dieser auf das . alier-
engste, indem er sie Anteil gewinnen läßt an den allgemeinen histo-
rischen Fragestellungen. Und noch ein Weiteres und Wichtigeres:
Sandrart und noch J. G. Sulzer in seinem kurzen Begriff aller Wissen-
schaften (1745) hatten zur Beurteilung der Kunst in der Hand ge-
habt nur die Wertbegriffe der künstlerischen, individuellen Erfin-
dungsgabe und des persönlichen technischen Könnens, Winckelmann
geht von den Künstlern zurück auf die Kunst, von den Schöpfungen
auf die geistige Macht, die sie gebildet hat: er führt den Begriff des
Stiles und der Stilgeschichte ein und tut damit den entscheidenden
Schritt über Sandrart hinaus. Damit ändert sich auch die ganze Ton-
art. Statt der didaktisch-panegyrischen Methode gibt Winckelmann die
historisch-analysierende Betrachtung, von der referierend pragmatischen
sucht er den Weg zur genetischen. Um die Entwicklung des nationalen
Stiles zu fassen, verfeinert Winckelmann die wissenschaftlichen Ver-
fahren und schafft er sich neue Hilfsmittel. Er verbindet Urkunden-
studium und Denkmäleranschauung, Deutung des Gegenständlichen
und Formanalyse, er lernt mit Hilfe ausgedehnter und eindringender
Selbstschau Original und Kopien, Fälschungen und Restaurationen zu
scheiden; daß dabei die Wertung der persönlichen künstlerischen Lei-
stung hinter der Darstellung des allgemeinen Entwicklungsablaufes
D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 1 79
zurücktrelen mußte, ist selbstverständlich. Didaktische Nebenabsichten
und akademische Befangenheiten berühren aber weder das Grundsätz-
liche noch die Größe seiner Leistung. Auch die Tatsache, daß die
neuen Begriffe entwickelt werden an einem verhältnismäßig kleinen
Material, ja an einem Traumbild der Antike, wird aufgehoben durch
die geniale Intuition Winckelmanns, durch seine Gabe des Zusammen-
sehens und Zusammendenkens von Kunst und Leben. Seine Arbeit
hat neue Möglichkeiten des geschichtlichen Verstehens geschaffen.
Winckelmann fand den Begriff der organischen Einheit zwischen
Kunst und Leben, während nach Hamanns Worten »das Feld der
Geschichte . . . wie jenes weite Feld (war), das voller Beine lag und
siehe, sie waren sehr verdorrt«.
Dieses Erwachen eines vertieften geschichtlichen Verständnisses
wäre aber nicht denkbar ohne jene enthusiastische Hingabe, ohne das
Sicheinfühlen und Sicheindenken Winckelmanns in den Gegenstand
wissenschaftlicher Behandlung. Die neue Leidenschaft erschließt erst
die Tür zur neuen Wissenschaft. Die Idee der Schönheit, der Winckel-
mann sein Leben geweiht hatte, durch die seine Person und sein Ge-
schick die allgemeine menschliche Bedeutung erhalten haben, suchte
Winckelmann auch im Stil seines Hauptwerkes, er stellte sich die Auf-
gabe, die Schönheit der Gedanken und der Schreibart aufs Höchste
zu treiben. »Die Beschreibung des Apollo wird mir fast die Mühe
machen, die ein Heldengedicht erfordert.« In der Beschreibung der
Statuen des Belvedere hatte Winckelmann die ersten Versuche ge-
macht, das Problem zu lösen, Anschauliches in Worte, Kunsterlebnis
in Kunstbeschreibung zu verwandeln. Diesem zugleich feierlichen und
doch lebens warmen, kräftigen und gleichermaßen zarten, traumhaft
idealischen und doch erdennahen Stil dankt Winckelmanns Buch nicht
weniger als seiner Methode und der genialen Grundidee, daß es, wie
Goethe sagte, >ein Lebendiges ist, für die Lebendigen . . . geschriebene
Winckelmann ist der erste deutsche Kunstforscher, der bewußt die
Verfahren der Beschreibung ausbildet. Er schafft nicht nur eine neue
literarische Form, sondern öffnet neue Wege zum Verständnis des
Kunstwerks, er packt es von Seiten, die vor ihm keiner sah, er ver-
schmilzt Sachkenntnis und Formencharakteristik. Vor ihm war die
Bildbeschreibung eingestellt wesentlich unter zwei Gesichtspunkten:
erstens dem Messen des Werkes an der Natur, zweitens der Deu-
tung des Sachgehaltes. Will man sich die Leistung Winckelmanns
klar machen, so lese man hintereinander die Beschreibung des lite-
rarisch doch hervorragenden und die gesamte europäische Literatur
über Kunst bis zu Winckelmann beherrschenden Vasari von Leonardos
»Mona Lisa« als Beispiel für ein Befangensein in den Forderungen
180 WILHELM WAETZOLDT.
illusionistischer Kunst, ferner — um für die Inhaltserklärung eine gute
Probe zu haben — die Beschreibung, die Rubens von seinem be-
rühmten Bilde: »Der Krieg« gibt und schließlich Winckelmanns Ana-
lyse des Herkulestorso im Belvedere.
Vasari: »Wer da sehen wollte, bis zu welchem Grade Kunst die
Natur nachzuahmen imstande ist, konnte es leicht an diesem Bildnis
lernen; denn da waren alle jene Feinheiten wiedergegeben, die sich
mit Subtilität machen lassen. Die Augen hatten jenen Glanz und zu-
gleich jene Feuchtigkeit, die man jederzeit in der Natur beobachten
kann; rund herum sah man die bläulichen Schimmer und die Härchen,
welche ohne die größte Feinheit sich nicht wiedergeben lassen. Die
Augenbrauen konnten nicht natürlicher sein, denn er hatte wieder-
gegeben, wie das Haar aus der Haut herauswächst, hier dichter, dort
spärlicher und wie es sich nach den Poren der Haut legt. Die Nase,
mit feinen, rosigen Öffnungen, war wie belebt. Der Mund, mit leiser
Öffnung und den durch das Rot der Lippen verbundenen Mund-
winkeln, und das Inkarnat des Gesichtes schien nicht mehr Malerei,
sondern wirkliches Fleisch. In der Halsgrube sah man beim genauen
Betrachten den Pulsschlag. . . .<
Rubens: »Die Hauptfigur ist Mars, welcher den geöffneten Tempel
des Janus . . . verlassen hat und mit dem Schilde und dem blut-
befleckten Schwert den Völkern ein großes Unheil drohend einher-
schreitet; er kümmert sich dabei wenig um Venus, seine Gebieterin,
die sich von ihren Liebesgöttern und Amoren begleitet, vergebens be-
müht, ihn mit Liebkosungen und Umarmungen zurückzuhalten. Von
der anderen Seite aber wird Mars von der Furie Alekto, die eine Fackel
in der Hand schwingt, einhergezogen. Dabei Ungeheuer, welche die
Pest und die Hungersnot, die untrennbaren Genossen des Krieges be-
deuten. Auf dem Boden liegt rücklings hingestürzt ein Weib mit einer
zerbrochenen Laute, welche die mit der Zwietracht des Krieges unver-
einbare Harmonie bedeutet, ebenso auch eine Mutter mit ihrem Kinde
im Arm, welche andeutet, daß die Fruchtbarkeit, die Erzeugung und
die elterliche Liebe durch den Krieg behindert werden, der alles zer-
stört und vernichtet. . . .«
Winckelmann: »Fragt diejenigen, die das Schönste in der Natur
der Sterblichen kennen, ob sie eine Seite gesehen haben, die mit der
linken Seite (des Torso) zu vergleichen ist. Die Wirkung und Gegen-
wirkung ihrer Muskeln ist mit einem weislichen Maße von abwechseln-
der Regung und schneller Kraft wunderwürdig abgewogen, und der
Leib mußte durch dieselbe zu allem, was er vollbringen wollen, tüchtig
gemacht werden. So wie in einer anhebenden Bewegung des Meeres
die zuvor stille Fläche in einer nebligen Unruhe mit spielenden Wellen
D. BEGRÜNDUNG D. KU NSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 181
anwächst, wo eine von der anderen verschlungen und aus derselben
wiederum hervorgewälzt wird, ebenso sanft aufgeschwellt und schwe-
bend gezogen fließt hier eine Muskel in die andere, und eine dritte,
die sich zwischen ihnen erhebt und ihre Bewegung zu verstärken
scheint, verliert sich in jener und unser Blick wird gleichsam mit ver-
schlungen ... Ich wurde entzückt, da ich diesen Körper von hinten
ansah, so wie ein Mensch, der, nach Bewunderung des prächtigen
Portals an einem Tempel, auf die Höhe desselben geführt würde, wo
ihn das Gewölbe desselben, welches er nicht übersehen kann, von
neuem in Erstaunen setzt. Ich sehe hier den vornehmsten Bau der
Gebeine dieses Leibes, den Ursprung der Muskeln und den Grund
ihrer Lage und Bewegung, und dieses alles zeigt sich wie eine von
der Höhe der Berge entdeckte Landschaft, über welche die Natur den
mannigfaltigen Reichtum ihrer Schönheiten ausgegossen. So wie die
lustigen Höhen derselben sich mit einem sanften Abhänge in gesenkte
Täler verlieren, die hier sich schmälern und dort sich erweitern, so
mannigfaltig, prächtig und schön erheben sich hier schwellende Hügel
von Muskeln, um welche sich oft unmerkliche Tiefen, gleich dem
Strome des Mäander, krümmen, die weniger dem Gesichte, als dem
Gefühle offenbar werden.«
Winckelmann geht in seinen Beschreibungen von der Wirkung
des Kunstwerkes auf den Beschauer aus, die er tiefer und genauer
zergliedert, dank eigener Kunstempfindlichkeit, als seine Vorgänger.
Er sucht mit Worten das den Eindruck Bestimmende herauszuholen,
die Einzelheiten nach dem Grade ihrer Wichtigkeit geordnet, folgen
zu lassen und den künstlerischen Absichten bis ins Traktament (die
Technik) zu folgen. Diese eigene und bahnbrechende Art des kunst-
historischen Denkens und Schreibens hat Winckelmann zusammen-
hängend nicht auf das Gebiet neuerer Kunstgeschichte übertragen.
Daß er eine Entdeckernatur war, hat er gewußt, schreibt er doch
einmal: »Vielleicht geht ein Jahrhundert vorbei, ehe es einem Deut-
schen gelingt, mir auf dem Wege, welchen ich ergriffen, nachzugehen
und welcher das Herz auf dem Flecke hat, wo es mir sitzt.« Aber
er dachte bei solchen stolzen Worten nur an seine Leistung als Über-
winder der betagten antiquarischen Gelehrsamkeit und archäologischen
Unmethodik. Über die neuere Kunst urteilte Winckelmann nicht aus
der kühlen Ferne des Historikers, sondern aus dem heißen Nahkampf
des Parteimannes. Er sah die Kunst seiner Zeit vorwiegend kritisch
an. In seiner Stellung zu ihr lassen sich zwei Stufen unterscheiden:
zunächst die Dresdner Zeit, hier erscheint Winckelmann alles, was
die Gegenwart hervorbringt und was nach Raphael geleistet ist, die
Zeichen des Verfalls an der Stirn zu tragen und die Minderwertigkeit
182 WILHELM WAETZOLDT.
des Rokoko zu erweisen, in Rom suchte er dann die neueren Kunst-
werke als Vergleichsobjekte den alten gegenüberzustellen. Die Kritik
Winckelmanns bezieht sich zunächst auf die Form. Das schöne Gleich-
gewicht zwischen dem Mageren und dem Fleischigen, zwischen »schwül-
stiger Ausdehnung des Fleisches« und »ausgehungertem Kontur« ist
verloren. Der »große Rubens (von kleineren zu schweigen) ist weit
entfernt von dem griechischen Umrisse der Körper«. Das Antike,
quellfrisch Lebendige im Rubenswerke sah Winckelmann nicht. Ein
gewöhnlicher Realismus beherrscht die Absichten der Künstler. Er
führt nicht zu griechischen, sondern zu holländischen Formen und
Figuren. Beweis etwa Caravaggio und Jordaens, die zur Gattung
niederer Geister gehören, weil sie die Natur malten, wie sie sie fanden.
In der Bildhauerei signalisiert die illusionistische Wiedergabe aller Zu-
fälligkeiten, z. B. der Hautfalten an gedrückten Körperteilen, und der
»gar zu sinnlich gemachten Grübchen« den Verfall. Dazu kommt die
Maßlosigkeit im Ausdruck, »das freche Feuer«, das ungewöhnliche
Stellungen und Handlungen begleitet. Bernini ist für Winckelmann
der Antichrist, der große Kunstverderber, gegen den sich eigentlich
alles Geschütz Winckelmanns richtet. Talent und Geist werden ihm
nicht abgesprochen, wohl aber die Grazie und die Achtung antikischer,
kanonischer Gesetze. Die Linie des griechischen Profils hat er »in
seinem größten Flor nicht kennen wollen, weil er sie in der gemeinen
Natur, welche nur allein sein Vorwurf gewesen, nicht gefunden«.- Das
dritte Verfallsmerkmal ist die Verbrauchtheit der Stoffe, daher die Ge-
dankenleerheit der Gemälde. Als Heilmittel empfiehlt Winckelmann,
wie vor ihm die Renaissanceästhetiker, die Allegorie, die alles Mytho-
logische umfaßt, eine Fundgrube für gebildete Maler. Aus der Masse
der geistlosen Maler, die immer wieder die Geschichte der Heiligen,
die Mythologie und die Verwandlungen Ovids zu Gegenständen wählen,
ragt Rubens durch die unerschöpfliche Fruchtbarkeit seines Geistes
hervor, er ist »reich bis zur Verschwendung«, er hat gedichtet wie
Homer. In diesem Satze seiner Erläuterung stellt Winckelmann als
erster die beiden zusammen, die J. Burckhardt die größten Erzähler
nannte, welche unser alter Erdball bis heute getragen hat.
Je tiefer Winckelmann in die Welt des Altertums mit Geist und
Seele untertauchte, um so kühler und ablehnender wurde sein Ver-
hältnis zur neueren Kunst. Ihn verfolgt die Frage, die er einmal vor
Werken der beliebten Maler van der Werft und Denner auf wirft: »was
aber würde das Altertum sagen?« So kam es, daß Winckelmann, auf
den die Werke der Uffizien und des Pitti keinen tiefen Eindruck ge-
macht hatten, in Rom sogar bedauert, aus Gefälligkeit einigen neueren
Künstlern einige Vorzüge eingeräumt zu haben. Er ladet die moderne
D. BEGRÜNDUNG D. KUNSTWISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN. 1 83
Malerei vor seinen Richterstuhl, um ihre Leistungen, ihre Entwicklungs-
stadien, Ursprung, Fortgang, Wachstum, mit der antiken Kunst zu ver-
gleichen. Daß die Entwicklung der neueren Malerei ein Spiegelbild
der antiketi Kunst sei, war ein Stück der großen von Vasari bis
Bellori gültigen Oeschichtskonstruktion. Winckelmann nahm den Ge-
danken auf - auch darin ein Erbe italienischer Historiographen. Da
aber Winckelmanns Kenntnisse sehr beschränkt waren und er sich
auf römische Handzeichnungsammlungen angewiesen sah, um sich
einen Überblick über den Verlauf der neueren Kunst zu verschaffen,
sind auch die Ergebnisse fragwürdig und in Bruchstücke zerfallend.
Das Ziel kennt Winckelmann schon, ehe er die Untersuchung be-
ginnt, es ist: der »deutliche Begriff von dem Wege zur Vollkommen-
heit unter den Alten«. Aus seinen Parallelen zwischen alten und
neuen Entwicklungsstufen einige Beispiele: Die Zeichnung des Mittel-
alters war einfach und ideal, wie die ägyptische, alt-etrurische, alt-
hellenische. Die Wiederbelebung der Kunst unter Julius II. und Leo X.
gleicht ihrer Erhebung unter Perikles. In Raphael, dessen bisher noch
von niemand erkannte Vorzüglichkeit ins rechte Licht gesetzt zu haben,
Winckelmann für einen Hauptvorzug seiner »Gedanken« hielt, in Ra-
phaels Kunst wird die Antike neu geboren. Das war ja einer der
Trümpfe, den die mit Belloris Beschreibung der vatikanischen Stanzen
aufgekommene Raphaelverehrung gegen die Michelangelo-Apotheose
Vasaris ausgespielt hatte. Der unabgesetzte Federstrich Raphaelischer
Handzeichnungen gleicht den Figuren kampanischer Gefäße. Leonardo
und Andrea del Sarto arbeiten wie die antiken Künstler, voller Unschuld
und Grazie. Die Grazie Leonardos verhält sich zu der Correggios
wie Praxiteles zu Apelles, aber es fehlen die hohen Ideen. Einzig zu
Michelangelo gibt es keine Analogie in der griechischen Kunst; denn
der Vergleich seiner Zeichnung mit dem archaischen Stil wird kaum
von Winckelmann selbst als überzeugend betrachtet worden sein.
Winckelmann wußte mit dem Genie, ja schon mit dem eigenwilligen
Original, nichts anzufangen. Das Genie als seelischer Sonderwert war
für Winckelmann ebensowenig entdeckt, wie für Sandrart. Rembrandt
und Michelangelo, ja auch Dürer und Leonardo fügen sich nicht in
Winckelmanns Kreise, und Rubens läßt er nur passieren als den
»genialen Dichter des Pinsels«. Als die Raphaelsche Schule, welche
nur wie eine Morgenröte hervorkam, aufhörte, »verließen die Künstler
das Altertum und gingen, wie vorher geschehen war, ihrem eigenen
Dünkel nach«. Durch die beiden Zuccari hob das Verderbnis an,
das dauerte, bis den Eclectici der bolognesischen Schule die Augen
wieder aufgingen und sie nun die Reinheit der Alten und Raphaels
mit dem Wissen des Michelangelo, dem Reichtum der venezianischen
184 WILHELM WAETZOLDT.
Schule, sonderlich des Paolo Veronese und der Fröhlichkeit des
Pinsels bei Correggio zu verbinden suchten. Auch diese Theorie
— Mengs und Winckelmann gemeinsam — taucht schon in Albanis
Briefen an Bellori auf. •
Wer den Kern der Winckelmannschen Ästhetik fassen und seine
Urteile über neuere Kunst gerecht beurteilen will, muß bedenken, daß
Winckelmann von der Literatur her zur Kunst kam. Nach Goethes
Urteil ist es schwer, ja fast unmöglich, von Poesie und Rhetorik zu
den bildenden Künsten überzugehen, weil zwischen ihnen eine un-
geheuere Kluft liegt, über welche uns nur ein besonders geeignetes
Naturell hinüberhebt. Winckelmann ist die Überbrückung nie ganz
gelungen. Das wird einem klar, wenn man die Schrift liest, an deren
Inhalt ihm unendlich viel gelegen war, die von der »Allegorie«. Winckel-
manns Vorliebe für die Allegorie ist nicht eine Marotte, nicht ein Schön-
heitsfehler in dem glänzenden Bilde seiner Geistigkeit. Diese Neigung
entspricht vielmehr ganz natürlich seinen ästhetischen Grundsätzen wie
seiner geistesgeschichtlichen Ahnenreihe. Schon in den »Gedanken«
hatte es geheißen: »Die Malerei erstreckt sich auf Dinge, die nicht
sinnlich sind, diese sind ihr höchstes Ziel.« »Der Pinsel, den der
Maler führt, soll in Verstand getunkt sein« usw. In der Verstandes-
forderung steckt die tiefe, ja leidenschaftliche Sehnsucht eines Sohnes
der sinnenfrohen Rokokozeit nach gehaltvollen Kunstwerken. Schön-
heit, Grazie, Formvollendung der nachbarocken Kunst abzusprechen,
so blind war Winckelmann keineswegs, aber Gehalt, Bedeutung, Ernst
vermißte er an ihr. Das Vermögen, Bedeutendes auszudenken, nennt
Winckelmann »Verstand«. Wer so argumentierte und forderte, mußte
auch den Weg weisen, denn der Maler, der weiter denkt, als seine
Palette reicht, wünscht einen gewissen Gedankenvorrat zu haben, eine
Ikonologie; dieses Ideenmagazin nennt Winckelmann >Allegorie«. Alles,
was durch Bilder und Zeichen angedeutet wird, kurz alles Symbolische,
ist für Winckelmann allegorisch. Aus seiner riesigen römischen Denk-
mälerkenntnis und seinen Literaturauszügen gab Winckelmann eine
Übersicht des Sinn- und Beziehungsreichen, bei denen der Kenner zu
denken und der bloße Liebhaber zu denken lernen sollte. Er erfand,
wie Wilhelm Schlegel bemerkte, eine neue Hieroglyphen schrift. Trotz-
dem Winckelmann von der Allegorie »Einfalt«, d. h. Eindeutigkeit ver-
langt, schlägt er selbst allegorische Begriffseinkleidungen vor, die jedem
Nichtantiquarius völlig unverständlich sein müssen, z. B.: der Begriff
des neuen Jahres soll allegorisch durch eine Figur dargestellt werden,
welche einen großen Nagel in einen Tempel einschlägt, denn der
•römische Prätor schlug zu Beginn jedes Jahres den »clavus annalis«
ein. Die Kunst soll mit allegorischem Geiste durchsetzt werden bis
D. BEGRÜNDUNG D. KUNST WISSENSCH. DURCH CHRIST U. WINCKELMANN, 1 85
hinein ins Kunstgewerbe. Die Allegorie, das regte der Dresdner
Winci<elmann schon an, könnte eine Oeiehrsaml<eit an die Hand
geben, auch die kleinsten Verzierungen dem Orte gemäß zu machen,
wo sie stehen und so die Rokokoschnörkel und das Muschelwerk
durch bedeutend Sinnbildliches zu verdrängen. Ein Herkules mit einer
Hydra von Eisen ist eine Anspielung auf die harte Arbeit, die er zu
leisten hatte. Gleich dem Künstler sei auch der Beschauer überall
auf der Oedankenjagd. In einem Unterricht zur Empfindung des
Schönen, wie ihn gebildete junge Leute erhalten sollen, gehört hinein
das Aufmerken auf allegorische Züge: z. B. auf den lechzenden Hirsch
am Wasser als Sinnbild der Brunst des Jupiters im Jo-Bilde Correg-
gios. Carstens hat später gezeigt, in welche Sackgassen eine solche
Lehre die Kunst locken kann, als er sich sogar unterfing, die Kant-
schen Kategorien »Raum« und »Zeit« allegorisch darzustellen.
Es liegt uns fern, die Grenzen Winckelmanns zu verkennen oder
die erkannten Schranken seines Geistes zu verschweigen. Mit seinen
weitgespannten Theorien, die in einer Zeit des erschöpften künstleri-
schen Formenempfindens formuliert wurden — Goethe hat eine gesetz-
liche Beziehung zwischen Theorie und sinkender Schöpferkraft er-
kannt — ist Winckelmann nicht nur der Vater der deutschen Kunst-
bildung, sondern auch der europäischen Bildungskunst geworden. Es
hat lange gedauert, bis an die Stelle der Lehre vom Ideal wieder die
Lehre von der Natürlichkeit trat, bis Begriff und Gedanke durch sinn-
liche Empfindung und Instinkt, abgeleitete Schönheit durch elementare
Ausdruckskraft verdrängt wurden. Wintkelmann und seine Nachfolger
maßen Wert oder Unwert einer künstlerischen Form an ihrer Zu-
gehörigkeit zu einer bestimmten, als kanonisch empfundenen Stilwelt,
wir haben als Kriterium nur die künstlerische Wertigkeit, und diese
kann nicht auf Begriffe abgezogen, sondern sie muß unmittelbar er-
lebt werden.
Und doch bleibt Winckelmann. Seine Person ist größer als seine
Lehre; er hat seine Ideale nicht nur gepredigt, sondern vorgelebt und
die Gestalt des Stendaler Schustersohnes, den sein Dämon sicher auf
die Höhen des Lebens führte, bis ihn der Mordstahl eines Buben jäh
aus dem Glänze riß, ist in ihrer edlen Einfalt und stillen Größe, in
ihrer Verkettung von Glück, Schicksal und Willen ewig erzieherisch
im höchsten Sinne. Diese tief ethische Bedeutung Winckelmanns
schwebte Goethe vor, wenn er 1827 zu Eckermann äußerte: »Er
(Winckelmann) ist dem Kolumbus ähnlich, als er die Neue Welt
zwar noch nicht entdeckt hatte, aber sie doch schon ahnungsvoll im
Sinne trug. Man lernt nicht, wenn man ihn liest, aber man wird
etwas.«
186 WILHELM WAETZOLDT.
Literatur.
Zu Johann Friedrich Christ:
Kurt Eberlein, Die deutsche Literärgeschichte der Kunst im 18. Jahrhundert. Dissert.
Berhn 1919.
Julius von Schlosser, Materialien zur Quellenkunde der Kunstgeschichte. Heft VII,
Wien 1920.
Vgl. ferner Ed. Dörffel, J. Fr. Christ. Lg. 1878. — Justis Winckelmann, Bd. I, S. 344 ff.
— H. Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert. Braun-
schweig 1893, I. Buch, S. 282 ff. — J. Fr. Christ, Abhandlungen über die Lite-
ratur und die Kunstwerke. Herausgegeb. von J. K. Zeune. Lg. 1776.
Zu Johann Joachim Winckelmann:
C. Justi, Winckelmann. Lg., 2. Aufl., 1898.
Julius von Schlosser, Materialien usw. a. a. O.
Ernst Heidrich, Beiträge zur Geschichte und Methode der Kunstgeschichte. Basel 1917.
Vgl. Stark im Handbuch der Archäologie der Kunst. Lg. 1880, Bd. I.
R. Hamann, Winckelmann und die kanonische Auffassung der antiken Kunst. Inter-
nationale Monatsschrift 1913.
VI.
Philosophie und Dichtung.
Typen ihrer Wechselwirkung von den Griechen
bis auf Hegel.
Von
Hermann Glockner.
»Wihre Philosophie aber ist es, die Verschiedenheit und
Mannigfaltigkeit einer Sache durch alle Zeiten zu ver-
folgen.^ Kant.
Zu den frühesten Zeiten der hellenischen Philosophie waren
Dichter und Denker so untrennbar miteinander verknüpft, daß »jene
Ältesten, mit denen es hell und geistig wird in der Geschichte . . .
jene Väter der Wissenschaft, die man die Patriarchen Europas nennen
kann« (Joel), in gleicher Weise in der Geschichte der griechischen
Poesie wie in der Philosophiegeschichte aufgeführt werden müssen.
Aus dem Geiste des Mythos geboren, hat das seltsam hellseherische
Denken jener Menschen das plastische Gewand erlebter Dichtung ein
halbes Jahrtausend hindurch eigentlich niemals ganz abgelegt und
Geburt und Grab, dithyrambische Lust und all die Schatten und
Schauer unseres so beweglichen und flüchtigen Lebens mit bunten
Hüllen umkleidet und mit zwar mannigfach entgegengesetzten, letzten
Endes aber doch in einer einzigen kühlen und reinen Harmonie aus-
klingenden Gedankendichtungen umsponnen. Jene »naive ungebrochene
Einheit eines harmonischen Menschentums« freilich, in der einst
Herder, Schiller und selbst bisweilen noch Hegel die wundervolle
Einzigartigkeit des griechischen Geisteslebens zu erkennen glaubten,
hat sich uns als die idealisierende Vorstellung einer Zeit erwiesen,
die mit innigem Bemühen das zu erreichen strebte, was den Griechen
angeblich mühelos in den Schoß gefallen war: ein Weltbild von der
abgewogenen Geschlossenheit ihrer Marmortempel, in sich ruhend
und vollkommen wie die plastischen Werke ihrer klassischen Epoche,
klar-bestimmt und wolkenlos wie die Landschaft am Gestade des
»veilchenfarbenen« Meeres '). Lernten wir doch — der wesentlichste
Erziehungsfaktor unserer Nation! — unserer ganzen geistigen Ent-
') Vgl. Natorp, Was uns die Griechen sind. Akad. Festrede 1901.
188 HERMANN GLOCKNER.
Wicklung nach die antike Welt Griechenlands gewissermaßen als ein
geniales Vorspiel des jugendlichen Weltenwerdens betrachten, derart,
daß wir uns durch die künstlerische Einheit des Ganzen über die
mannigfachen Disharmonien und gegeneinander anstürmenden Motive
hinwegtäuschen ließen, in denen sich der ganze Ernst einer folgenden
dramatischen Handlung doch nur allzu deutlich ankündigt! Diese
künstlerische Einheit ist keine tatsächliche gewesen, und die wissen-
schaftliche Forschung hat das verfrühte Urteil enthusiastischer Be-
wunderer richtiggestellt; aber insofern sich hinter jedem Einzelakkord
einer gedrängten, raschflutenden Entwicklung bei den Griechen mit
einzigartiger Deutlichkeit gleichsam die waltende Hand eines Meisters
zeigt, der alle Töne beherrscht, war die Täuschung begreiflich und
zugleich möglich, daß die spätere Welt am Sein und Werden dieses
Volkes unendlich lernen konnte und ewig lernen wird. Die Erörte-
rung fast jeder geisteswissenschaftlichen Frage muß deshalb, wenn
sie historisch vorzugehen gewillt ist, bei den Griechen beginnen, ganz
besonders aber eine so grundsätzliche wie die vorliegende Unter-
suchung.
Ich glaube nämlich, daß jener hinter den tatsächlichen wider-
spruchsvollen Einzelerscheinungen stehende »Meister«, dessen führende
Hand wir im griechischen Geistesleben beständig zwischen den Tat-
sachen zu spüren glauben, nichts anderes ist, als was Simmel jenes
»Dritte« nennt, in dem er eine unerläßliche Grundeigenschaft des
Philosophen findet. »Es muß im Menschen — sagt er — ein Drittes
geben, jenseits ebenso der individuellen Subjektivität wie des allgemein
überzeugenden, logisch-objektiven Denkens; und dieses Dritte muß
der Wurzelboden der Philosophie sein, ja, die Existenz der Philosophie
fordert als ihre Voraussetzung, daß ein solches Drittes da sei. Man
mag dies — mit sehr ungefährer Charakteristik — als die Schicht der
typischen Geistigkeit in uns bezeichnen, denn Typus ist doch ein
Gebilde, das sich weder mit der einzelnen, realen Individualität deckt,
noch eine Objektivität jenseits der Menschen und ihres Lebens dar-
stellt. Und es äußern sich tatsächlich in uns geistige Energien, deren
Betätigungsinhalte nicht subjektiv-individuellen Wesens sind, ohne
darum doch die Nachzeichnung eines Objektiven, das dem Subjekt
gegenüberstünde, zu sein. So scheidet ein Gefühl in uns, oft mit
großer instinktiver Sicherheit, zwischen solchen Überzeugungen und
Stimmungen, die wir uns als unsre rein persönlichen und subjektiven
anzuerkennen bescheiden, und andren, für die wir zwar ebensowenig
objektive Beweise anzuführen wüßten, die wir aber doch andern,
oder gar allen andern zu teilen zumuten — als spräche ein Allge-
meines in uns, als bräche jener Gedanke oder jene Empfindung aus
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG. 189
einem tiefen und genereilen Grunde in uns hervor, der von sich aus
ihren Inhalt rechtfertigte. Vielleicht liegt hier auch der Fruchtboden der
Kunst«'). Die Griechen sind also deshalb das philosophischste und das
poetischste Volk gewesen, weil in ihnen der Besitz dieses »Dritten« —
ich möchte sagen: Nationalcharakter gewesen ist. Aus diesem Grund
hat auch jede der flüchtigen Formen, die ihr Geist prägte, etwas »Typi-
sches« und die gemeinsame Wurzel aller seiner Gestaltungen, die uns
auch das Gebrochene, das Zerrissene, das Widerspruchsvolle, als eine
künstlerische Einheit erscheinen läßt, ist hier zu suchen. »Es wird
nicht Tag werden in der ewig ringenden Platoforschung«, meint Joel,
»als bis man den größten Philosophen der Antike als Dichter begriffen
hat.« Ich möchte dies von meinem vorgetragenen Gesichtspunkt aus
dahin mäßigen, daß Piaton in seinen Dialogen in allerdings einzig-
artiger Weise an der ursprünglichen Gabelung steht und der Geist,
der in ihnen lebt, befindet sich gleichsam noch vor der Entschei-
dung, ob er in poetischer oder philosophischer Weise
an den Tag treten soll. Denn Dichten und Philosophieren
(Dichten hier im weitesten Sinn eines künstlerischen Hervorbringens
überhaupt versfanden!) sind die beiden Formen, in denen sich die
ursprüngliche Fähigkeit einer typischen Geistesbewegung auslebtj Sie
werden notwendig nah verbunden und eng miteinander verknüpft sein,
wenn die gemeinsame bewegende Kraft die Triebfeder einer glück-
lichen Volksgemeinschaft bildet, wie dies bei den Griechen in einer
später nie mehr erreichten Weise der Fall war, so daß man sie mit
Recht das Volk der Genies genannt hat — getrennt aber, und nur
durch ein mühsames Rückwärtssichversenken in die letzten Quellen
der schaffenden Kraft zu erreichen, wenn das Talent künstlerische
Weltvisionen zu gestalten, oder die Fähigkeit die mit einem bestimmten
auf die Ganzheit der Lebenserscheinungen gerichteten Organ aufge-
faßte Welt begrifflich nachzubilden, zu gewaltsam emporgetriebenen
Einzelerscheinungen werden, die in einsamer Höhe über ihren Zeit-
genossen stehen und nach rückwärts und vorwärts schauen müssen,
um ihresgleichen zu begegnen. Doppelt getrennt und geschieden aber,
wenn der forschende Denker auf das in seiner Ganzheit erlebte Bild
der Wirklichkeit zu verzichten beginnt und das Denken selbst zum
Gegenstand seines Denkens macht! Es ist rührend zu lesen, daß
Sokrates, der Verkünder der absoluten Unabhängigkeit des Gedankens,
dessen welthistorische Tragödie und Schuld in dieser Hinsicht Hegel
zuerst erkannte % kurz vor seinem Tod aus dem Gefühl einer gewissen
') Simniel, Hauptprobleme der Philosophie S. 25 f.
') »In Sokrates hat sich der Gedanke selbst erfaßt und sich über die schöne
IQO HERMANN GLOCKNER.
Unsicherheit heraus, ob sein Weg auch wohl der rechte gewesen sei,
anfing Verse zu machen — bezeichnet doch dieser Philosoph in einer
nur mit dem Auftreten Kants, das doch erst mehr als zwei Jahr-
tausende später erfolgte, zu vergleichenden Weise den so überaus
bemerkenswerten Augenblick in der Geschichte der Philosophie, wo
das Denken anfängt, sich auf sich selber zu besinnen'). Sokrates war
kein schöpferischer Poet: »etwas Prosaisches und Nüchternes« (Windel-
band) haftet seinem Wesen an und Piaton überliefert uns, daß er in
seinen letzten Tagen dem Gott nur insofern dienen konnte, als er
lediglich die prosaischen Fabeln des Äsop in Verse brachte — Kant
aber mußte einen angebotenen Lehrstuhl »der Dichtkunst« ablehnen,
weil es ihm scheinen mochte, daß er hier nicht am schicklichen Platze
sei. In beiden Männern — den größten ihrer Art! — hat sich der
Gedanke auf Kosten der übrigen geistigen Vermögen in einer Weise
in den Vordergrund gedrängt, daß der ursprüngliche Fruchtboden,
den die Wissenschaft des denkenden Forschens mit dem phantasie-
vollen Gestalten gemeinsam hat, überwuchert wird. Alle derartige
Verselbständigung und Vereinzelung jedoch ist eigentlich die (not-
wendige) Sünde schlechthin. In der Einseitigkeit liegt die Kraft des
Fortschreitens, aber auch die Überhebung, der die Rache des Gött-
lichen folgt, an dem der Mensch nie freveln soll. So vollzieht sich
die Weltgeschichte in lauter Tragödien — im Hegeischen Geiste- ge-
sprochen.
Die folgenden Entwicklungsepochen der europäischen Kultur (auf
die ich mich beschränke) bieten prinzipiell zunächst wenig Neues;
denn in wie seltsamen Mischungen sich auch in den ersten Jahr-
hunderten des Mittelalters Gefühls- und Gedankenwerte, poetische
und philosophische Elemente überschichtet und durchdrungen haben
mögen, so wird es doch immer nur einer nacherlebenden Forschung
Sinnenwelt emporgehoben, zu welcher sich das Griechentum gestaltet hatte.« Windel-
band, Präludien I (S.A.), S. 77. — Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der
Geschichte, Ausgabe Brunstäd, S. 350 ff.
') Wenn man die Entwicklung griechischer Kunst und Kultur von einem wahr-
haft geistesgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, so wird man den Gegensatz
zwischen dem sogenannten klassischen und dem sogenannten hellenistischen Denken,
der klassischen Kunst und der hellenistischen Kunst usw. vor allem aufgeben müssen.
Allerdings hat der griechische Geist einmal an einem — man darf wohl sagen:
weltbewegenden — Wendepunkt gestanden, aber nicht in die Zeit Alexanders fällt
die Krise, sondern schon viel früher, nämlich in die Zeit des Sokrates. Die Philo-
sophiegeschichte ist sich dieser Tatsache im allgemeinen bereits bewußt: vielleicht
werden die Literaturgeschichte und die Religionsgeschichte, sowie vor allem die
Archäologie noch einmal die notwendigen Konsequenzen dieses plötzlichen geistigen
Andersseins an ihrem Material entdecken und so die Richtigkeit dieser geistes-
geschichtlichen Behauptung bestätigen.
I
II
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG. IQI
möglich sein, im einzelnen den lebendigen Fluß des Entstehens aus
den Lehrsätzen des gewaltigen kirchlichen Gebäudes herauszulösen,
das uns wie ein versteinerter Riesenorganismus von jenen Tagen her
geblieben ist. Eine Betrachtung, die lediglich auf die richtunggeben-
den Tatsachen jener Zeit hinblickt, wird zu dem Ergebnis kommen,
daß sich die beiden großen Ströme des Dichtens und des Denkens
im eigentlichen Mittelaller immer weiter voneinander entfernten. Es
war das Bestreben der Scholastik: logisch -zwingend beweisen zu
wollen, was sich an dogmatischen Lehren um jene ethischen und
religiösen Werte herumgruppierte, die — einem plötzlichen vulkanischen
Ausbruch von welterschütternder Gewalt vergleichbar — das Jahr-
hundert, in dessen Mittelpunkt die verklärte Gestalt des Heilands
steht, zutage gefördert hatte. — Am Ende der Scholastik aber tritt
uns Dantes großes Lebenswerk entgegen und zeigt uns Dichtung
und Philosophie in einem Verhältnis zueinander, das insofern lehrreich
ist, als es dem besprochenen hellenisch-platonischen geradezu ent-
gegengesetzt ist. Die Divina Commedia ist mit Philosophie durchaus
durchwachsen; Karl Voßler sagt: »Wir kennen kein zweites Kunstwerk
in der Weltliteratur, das so tief mit Philosophie durchtränkt wäre« —
und doch behaupte ich, daß Dichten und Denken sich gar nicht
weiter voneinander entfernen und einander fremder gegenüberstehen
können als es in Dantes Dichtung geschieht. Obwohl nämlich der
Dichter Dante zugleich ein gelehrter Scholastiker war, ist hier doch
kein »gemeinsamer Fruchtboden« des Welterlebens mehr vorhanden,
vielmehr bietet uns die Divina Commedia das trefflichste
Beispiel einer zweiten möglichen Haltung, die der Dichter
der Philosophie gegenüber einnehmen kann — indem er
nämlich das fertige gedankliche System zur starren Grund-
lage seiner Überzeugung macht. Dieses System war bei Dante
das thomistische, in dem der »gläubige Grübler« (Voßler) nach
den Irrwegen seiner Jugend und dem Verlust Beatrices eine Ruhe
gefunden hatte, die, obwohl sie auf einen Glauben gegründet war, der
sich tatsächlich »in keinem wesentlichen Punkt von der Kirche ent-
fernte«, doch das spekulative Bedürfnis empfand, sich »über die Lehren
sowohl wie über die Einrichtungen seiner Kirche Rechenschaft zu
geben«. Dante betrachtete seine Dichtung selbst als eine Tat frommer
Gläubigkeit und hatte sogar erzieherische Absichten damit — es handelt
sich also im wahrsten Sinne des Wortes um »Dichtung im Dienste
einer fertigen Weltanschauung« '). Die mächtige Kraft der schaffen-
') Ich stütze mich hier vor allem auf Karl Voßlers Dantekommentar, und zwar
wäre zu vergleichen l/I, S. 259, 16, 264 f., 74, 77, 80, 127 ff., 258 sowie Dantes Selbst-
schilderung Convivio 11, 13. Über den »Zweck« der Komödie und die einem solchen
|g2 HERMANN GLOCKNER.
den Phantasie freilich überflutet an allen Ecken und Enden das tote
Lehrgebäude, kleidet den nackten Gedanken in das bunte Federkleid
poetischer Gesichte und reißt ihn, zusammen mit den Gefühlen und
Gestalten des geborenen großen Dichters in den fließenden Rhythmus
fester Form gefügt, mit in die vielleicht unverdiente Unsterblichkeit.
Die notwendige Konsequenz der Scholastik heißt gemäß der in
Gegensätzen fortschreitenden Geschichte des Geistes: Renaissance!
Es war keine einheitliche Strömung gewesen, was wir zusammen-
fassend mit diesem Kennwort bezeichnen: sinnlichsprühende Lebens-
kraft und ein Wissensdurst, der auch vor einer Arbeit, die mönchische
Askese erfordert, nicht zurückscheut, naturwissenschaftliche Entdecker-
lust und mystische Neigungen gehen nebeneinander her. Was an
philosophischer Welterklärung geleistet wird, das ist zunächst aus alten
Quellen geschöpft — und nicht zuletzt aus der kastalischen. Es ist
wahr: wir erleben eine Wiedergeburt der Antike — aber gebrochen
durch das Medium der Sehnsucht darnach. Wenn also der byzantinische
Gelehrte Konstantinos Laskaris im 15. Jahrhundert von der Philosophie
verlangt hatte, daß sie Kunst sein solle, so entsprang das der an der
Hand gelehrter Studien erwachten Erkenntnis des Geistes, wie nah
man doch in anderen Tagen an der gemeinsamen Quelle gewesen
war, wo (wie aus derselben Empfindung heraus später Schelling in
seiner Identitätsphilosophie schreiben sollte) »in ewiger und ursprüng-
licher Vereinigung in einer Flamme brennt, was in der Natur und
Geschichte gesondert ist und was in Leben und Handeln ebenso wie
im Denken ewig sich fliehen muß< i). Einheit — hieß das Losungs-
wort jeder tieferen philosophischen Bestrebung schon damals von
Marsilius Ficinus bis auf Bruno und Vanini. In jenen Tagen ist der
Paradiestraum von einer »naiven ungebrochenen Harmonie« der griechi-
schen Antike entstanden — und in der Tat, sie war »naiv« zu nennen
im Vergleich zu den »sentimentalischen« Bestrebungen von Menschen,
vor deren erstaunten Blicken sich das Weltall ins Ungemessene er-
weiterte, die Erde zur Kugel rundete und die Milchstraße bald in ein
Heer von rollenden Gestirnen verwandeln sollte. Jedoch: »Jedes er-
weiterte Lebensgefühl führt zuletzt zur Mystik« (Joel). Dichter und
Denker wollen sich die Hand geben, weil sie die Kluft erkannt
haben, die sie trennt, und ihnen ein solcher Gegensatz unerträglich
Verhältnis der Poesie zum Gedanklichen stets eigentümliche und notwendige alle-
gorische Dichtweise vgl. auch Franz X. Kraus, Dante 1897, S. 359—364.
') Werke I, 3, S. 627 f. Zu vergleichen wäre Mars. Ficinus, Über die Liebe.
Ausgabe Hasse S. 186 u. a. a. O. sowie z. B. auch Jakob Böhme, Morgenröte. Aus-
gabe Orabisch S. 30 f. — Für das folgende ist zu vergleichen Joel, Ursprung d.
Naturphilosophie aus d. Geiste der Mystik, S. 163 und 14 (Zitat).
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG.
193
erscheint, und sie nähern sich einander auf eine alles weniger als
naive Art, indem der Dichter anfängt zu philosophieren und der Philo-
soph zu dichten! Dies ist die dritte Möglichkeit, auf die gegebenen-
falls der Denker mit dem Sänger geht — ihre Betrachtung mutet uns
modern an und führt uns in die Gegenwart hinüber.
Am Eingang der Epoche stehen Voltaire und Lessing: zwei Geg-
ner, an Charakter und Fähigkeiten verschieden, jeder in gewissem Sinn
der geistige Wortführer seiner Nation, und dennoch beide in ihrem
letzten Wollen nah verwandt, weil es das Wollen des gemeinsamen
Jahrhunderts gewesen ist '). Obwohl beide in unseren Augen nur
Schriftsteller, keine Dichter gewesen sind, so verlangte doch der scharf-
geschliffene, blitzende Gedanke, mit dessen Hilfe sie die Bahnbrecher
des modernen Geistes wurden, so gebieterisch nach irgendwelcher
künstlerischen Gestaltung, daß man sagen kann: die ihrem Wirken
zugrunde liegende Kraft bediente sich zwar nur der Poesie oder der
Philosophie oder der Naturwissenschaft oder der Geschichte als der
jeweils brauchbarsten Äußerungsform — aber sie ist doch selber ihrem
Eigenwesen nach letzten Endes die Kraft des Künstlers gewesen.
Dieser auf die mannigfachste Art und Weise überkommene, umge-
staltete und neugeschaffene Werte in das Leben der Menschheit hinein-
arbeitende Geist ist nicht das philosophische Denken selber — im
Gegenteil ! — aber er bedarf desselben in allererster Linie, und hierin
erblicke ich eine weitere Stellungnahme des künstlerischen Geistes zum
denkenden — nämlich die not wendige Verknüpfung. In der
Renaissance wollte der Poet mit dem Philosophen gemeinschaftliche
Sache machen; denn das erstrebte Ziel hieß Einheit — die Aufklärung
zwang den künstlerischen Geist, wie er sich in Voltaire und Lessing
verkörperte, sich »heute Newtons zu bemächtigen, die Natur zu ver-
stehen, morgen Bolingbroke zu ergreifen, die Geschichte zu revolutio-
nieren, nach allen Seiten zu blicken, jede Bewegung zu gewahren«,
vor allem aber zu philosophieren; denn das erstrebte Ziel hieß
Enzyklopädie-). Diese neue Tendenz der Zeit mußte dem gründ-
licheren, tieferen Geiste des Deutschen, den kein Einzelproblem los-
ließ, ehe er es nach allen Richtungen hin betrachtet und durchforscht
') »Wenn es ein richtiger Instinl<t des französischen Voll<es gewesen ist, im
Pantheon neben Voltaire als seine ergänzende Hälfte den im Leben ihm so wider-
wärtigen Rousseau aufzustellen: so wird im Elysium unser deutscher Lessing sich
nicht weigern dürfen, den ihm moralisch so wenig achtbaren, pnetisch so wenig
zusagenden Dichter des Mahomet als seinen französischen Mitarbeiter anzuerkenn>;n.>
Dav. Fr. Straul^, Voltaire, Schlußbetrachtungen.
'-') Vgl. Diltheys Charakteristik Vohaires in »Das Erlebnis und die Dichtung«
(5. Aufl.) S. 253.
Zcttsclir. {. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XV. 13
1^4 HERMANN GLOCKNER.
hatte, notwendig in höherem Orade ein Wunschbild bleiben als dem
hurtigen Franzosen — und so ist die Weltanschauung, mit der Lessing
aus dem Leben ging, jenes iv xal Jiäv geblieben, in dem sich Spinoza
und Leibniz, in dem sich die Sehnsucht der Renaissance und das
enzyklopädische Ringen nach Ganzheit vereinigten.
Wir nähern uns der klassischen Zeit des deutschen Geistes: in
Kant und Goethe gewinnen die beiden Grundstellungnahmen des
Menschen der Welt gegenüber ihre ausgeprägte Form. Waren es nicht
zuletzt spekulative Momente gewesen, die einen Mann wie Kopernikus
in ähnlicher Weise wie Kolumbus zu Entdeckungen streng naturwissen-
schaftlicher Art hingeführt hatten, so ergriff Kant umgekehrt die Prin-
zipien der sich entwickelnden exakten Naturwissenschaft, um damit
gegen die Metaphysik zu Felde zu ziehen. Dem Wesen seiner ganzen
Methode nach war er kein Philosoph, der dem schaffenden Künstler
normalerweise hätte nahestehen können, und zwar vor allem deshalb,
weil dieser es mit dem für den nichtkritischen Philosophen Primären
zu tun hat, nämlich mit dem Leben als solchem, mit jenem Leben, das
der Dichter in sich und um sich wachsen und pulsieren fühlt, dessen
Rhythmus er sich in Augenblicken gesteigerten Empfindens mit Lust hin-
gibt, während er spürt, wie es an den grauenhaften Tagen der Leere
im erschütternden Gleichtakt der Bewegung mit ihm ins Dunkel rinnt.
So ist es eigentlich auffallend, daß dieser Philosoph einen Dichter
zum Schüler gehabt hat, der bewundernd zu ihm aufblickte — Schiller,
an dessen Verhältnis zu Kant wir zuerst zu denken gewöhnt sind,
wenn überhaupt die Frage nach dem Wechselverhältnis von Dichtung
und Philosophie nur aufgeworfen wird! Goethe hat Schillers Kant^
Studien mehrfach gerühmt (z. B. Eckermann gegenüber); andere haben
sie bedauert und an gewissen Eigentümlichkeiten des Schillerschen
Schaffens dem Philosophen die Schuld gegeben. Am lichtvollsten
und am gedrängtesten scheint mir das ganze Verhältnis Schillers zu
Kant trotz neuerer eingehender Arbeiten immer noch von Wilhelm
von Humboldt (der mit Recht sagen durfte: »Schwerlich hat je jemand
Schiller so genau gekannt als ich«, Brief an eine Freundin 5. Mai 1832)
dargestellt worden zu sein — mich kümmert hier nur das Neue und
Typische, wodurch es sich vor den schon besprochenen Verhältnissen
des Dichters zur Philosophie überhaupt auszeichnet. Humboldt schreibt
von Schiller: »Er eignete sich die neue Philosophie, seiner Natur gcr
maß, an. In den eigentlichen Bau des Systemes gieng er wenig ein;
er heftete sich aber an die Deduction des Schönheitsprincips und des
Siltengesetzes«^). Hierin liegt das Wesentliche enthalten. Über die
') Briefwechsel zwischen Schiller und Wilh. von Humboldt. Dritte vermehrte
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG. 195
gelehrten Epochen der Renaissance, des Humanismus, der Aufklärung
weg hatte sich der Typus des »Gebildeten t herausentwickelt. Er be-
zeichnet einen Menschen, dem es weniger einzigartige geistige Fähig-
keiten als vielmehr ein ausgebreitetes, insbesondere historisches Wissen
und eine gewisse handwerksmäßige Gewandtheit im Betrachten der
Dinge möglich machen, gewissermaßen in mehreren Dimensionen zu-
gleich zu leben. Wie von einer telegraphischen Zentralstelle die Kabel
nach allen Richtungen auseinanderlaufen, so steht der »Gebildete«
nicht allein in seiner Zeit und nicht allein an seinem Ort, sondern es
bedarf nur einer bestimmten Einstellung seiner Blickrichtung: und eine
vergleichende Verbindung mit den Haupfepochen der Weltgeschichte
ist hergestellt. Ebenso werden gleichzeitige Ereignisse jeder Art,
geistige Zielrichtungen, soziale Zustände, künstlerische Bestrebungen
— kurz der ganze umfassende Lauf einer kulturellen Entwicklung mit
einem Blick überschaut und mit lebhaftem Interesse gewürdigt; es wird
mit ihnen gerechnet, sie werden zu einem Faktor des eigenen Einzel-
lebens gemacht, soweit dies nur immer möglich ist. In welchem um-
fassenden Maße auf diese Weise die geistigen Fäden um die Wende
des 18. Jahrhunderts in Jena und Weimar zusammenliefen, das ist
genugsam bekannt. Der Goethe-Schillersche Briefwechsel breitet die
ganze Fülle der Interessesphären jener beiden Männer vor uns aus, die
eine an geistiger Bewegtheit reiche Zeit in all ihren Einzelerscheinungen
gleichsam durch sich hindurchströmen ließen, die in sich geschlossene
Form ihres Weltempfindens hineinlebten und so das Aggregat zu einer
Kultureinheit erhoben, deren lebendiges Gefühl uns auf jene Epoche als
auf unsere klassische Zeit zurückblicken läßt. Schillers Verhältnis
zu Kant ist zunächst das Verhältnis des Gebildeten zur
zeitgenössischen Philosophie gewesen! Er war Kantianer,
aber er war es nie in einem so unbedingten und umfassenden Sinn
wie etwa Dante Scholastiker gewesen ist, und das Kanlische Denken
ist dem geistigen Leben, wie es sich in Schillers Werken auswirkte,
auch nicht parallel gegangen, wie etwa Goethes Weltanschauung sich
zur Philosophie Spinozas wie zu etwas Verwandtem hingezogen fühlte,
sondern Schiller war (wie uns die Briefe an Körner lehren können)
zunächst lediglich philosophisch interessiert genug, um eine so be-
deutende geistige Bewegung, wie sie durch Kant hervorgerufen wurde,
zu erkennen, auf sich wirken zu lassen und sich ihrer Ergebnisse zu
vergewissern. Wenn Humboldt schreibt: »In den eigentlichen Bau
des Systemes gieng er wenig ein«, so bezieht sich das auf die respekt-
Ausgabe von Albert Leitzmann 1900, S. 3-38: Ȇber Schiller und den Gang seiner
Oeistesentvvickiung«. Vgl. besonders S. 23.
ig(j HERMANN GLOCKNER.
volle Anteilnahme des »►gebildeten« Dichters an der Vernunftkrilik.
Wäre Kant nach Vollendung dieses seines Hauptwerkes gestorben, so
würde zwar Schiller, bei dem »der Gedanke das Element seines Lebens
war« (Humboldt), ganz gewiß nicht gleichgültig an Deutschlands
größtem Philosophen vorübergegangen sein, aber als Kantianer würden
wir ihn heute schwerlich bezeichnen können. Nun ging aber Kant
auf dem eingeschlagenen Weg logisch weiter und baute sein kritisches
System nach drei Seifen hin aus. Denn »wenn man unter Wahrheit
die Norm des Geistes versteht, so gibt es ethische und ästhetische
Wahrheit so gut wie theoretische. Darum schrieb Kant nach der
Kritik der theoretischen Vernunft diejenigen der praktischen und der
ästhetischen« (Windelband) und bahnte in letztgenanntem Werke, näm-
lich der Kritik der Urteilskraft, eine im Geist des Hauptwerks gehaltene
analytische Betrachtung der beiden Hauptbegriffe an, mit denen es
der Dichter zu tun hat, nämlich des Schönen und des Erhabenen —
und damit war der Grundstein zu einer wissenschaftlichen Ästhetik
gelegt. Eben die Kritik der Urteilskraft aber war es, die Schiller, nach-
dem er sich zunächst lediglich bei seinen geschichtsphilosophischen
Arbeiten hatte von Kantischen Ideen anregen lassen, als erstes größeres
Werk Kants genauer kennen lernte (Brief an Körner vom 5. März 17Q1 !)
und die ihn für lange Zeit nicht mehr losließ. Vom Jahre 1792 ab
befaßt er sich sozusagen als Fachmann damit und arbeitet auf seinem
besonderen Gebiet als Kantianer'). Das grundsätzlich Neue
daran ist, daß wir es an dem Verhältnis Schiller-Kant
zum ersten Male erleben, wie sich zwischen den Dichter
und den Denker als vermittelndes Bindeglied das System
einer Ästhetik schiebt. Ein hervorragendes Zeichen für die
Vortrefflichkeit und Elastizität der Kantischen Methode aber wird
es immer bleiben, daß Schiller innerhalb dieser Einzeldisziplin sich
mit Hilfe der Kantischen Begriffsformen Klarheit über die Bedeu-
tung des Künstlerischen erarbeiten konnte, ja »über die Sendung
des Künstlers in der menschlichen Kultur überhaupt« (Kühnemann),
und daß er es von da aus vermochte, »zur tieferen Ableitung des
eigenen dichterischen Charakters« fortzuschreiten, »den er dem Goethe-
schen gegenüberstellt«, so daß 2) »die Philosophie für ihn das wird,
was sie seit Sokrates für die Menschheit ist, das große Mittel der
Selbsterkenntnis«. Was den Standpunkt Kants im allgemeinen anbe-
') Briefe an Körner vom I.Jan. 1702 und dann besonders vom 15. Okt. 1792.
»Jetzt stecke icli bis an die Ohren in Kants Urtlieilskraft « Aber selbst noch am
20. Juli 1794: »Das Studium Kants ist noch immer das Einzige, was ich anhaltend
treibe, und ich merke doch endlich, daß es heller in mir wird.«
2) Kühnemann, Schiller (5. Aufl.) S. 354.
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG. 107
langt, so mußte Schillers selbstherrliches Schaffen einer ästhetischen
Welt, die eine andere ist als die gemeine, in der Art und Weise, wie
bei Kant der Verstand »der Natur die Gesetze vorschreibt«, ohne
Zweifel sich selbst wieder finden, aber trotzdem und vielleicht letzten
Endes eben deshalb konnten sie sich nur auf dem Gebiet der Ästhetik
begegnen. Kant zerstörte den alten Begriff einer »Weltanschauung«
und was nach der gewöhnlichen Voraussetzung ein »Gegenstand« ist,
dessen »Abbild« das Denken leistet, das ist ihm Regel der Vorstellungs-
verknüpfung. Schiller geht nun ebensolchen Verknüpfungen, wie sie
sich jedoch im künstlerischen Schaffen darstellen, nach, und sucht so
den Boden einer kritischen Ästhetik zu gewinnen. Das Gespräch
»Kallias«, das leider nicht ausgeführt worden ist, über dessen Inhalt
uns aber die Briefe an Körner gut orientieren, sollte auf diese Weise
den objektiven Begriff des Schönen deduzieren. Sowohl diese grund-
legenden Studien als auch seine späteren Arbeiten ethischen Einschlags
zeigen den männlich-ernsten, wissenschaftlichen Sinn Schillers, der sein
Problem ausschreitet, ohne etwa allzukühnen Intuitionen zu folgen und
den Rahmen des Kantischen Kritizismus im wesentlichen zu sprengen.
Wie leicht konnte doch dem Künstler seine ästhetische Welt, die Welt
der Freiheit in der Erscheinung, zur »Wahrheit« werden! Wie nahe-
liegend mußte es für ihn sein, am eigenen Schaffen orientiert, den
Sprung von der Ästhetik zurück in die Erkenntnistheorie zu machen
und diese so aufs neue in Metaphysik zu verwandeln! »Was sich nie
und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie« — stellen diese
Verse Schillers den Wahrheitsgehalt jener »ästhetischen Welt« nicht
bereits über den der »Wirklichkeit«, während doch beide im Sinne
Kants gleichwertig nebeneinander stehen müssen, da theoretische und
ästhetische Wahrheit in gleicher Weise Normen des Geistes sind? Ich
glaube, daß Schiller als Künstler bereits die Brücke zwischen Kant
und Schelling bildet, ebenso wie er als autonomer Schöpfer notwendig
die Brücke zwischen Kant und Fichte bilden mußte, während er selbst
in seinen Untersuchungen der ethischen und kulturphilosophischen
Richtung seines Geistes zuliebe von erkenntnistheoretischen Spekulatio-
nen absieht. »Das Universum — schreibt Jean Paul an einer schönen
Stelle seiner Vorschule der Ästhetik (§ 57) — ist dem Dichter unab-
sichtlich, frei und leise in sein Herz geschlüpft und ruht darin unge-
sehen und wartet, bis es die warmen Strahlen der Dichtstunde wie
einen Frühling vorrufen.« Sollte da ein Künstler, der der Überzeugung
war, daß der vollkommene Dichter »das Ganze der Menschheit* aus-
zusprechen imstande ist (an Goethe 27. März 1801), wenn er die
Welt mit ihren Gesetzen und Forderungen als Philosoph zu begreifen
sucht, sich nicht gleichfalls vor allem in die eigene Brust vertiefen und
rgs HERMANN GLOCKNER.
von dem Schritt, den er als Poet vom Subjekt zum Objekt macht, auf
den Schritt vom Subjekt zum Objekt überhaupt schließen? Ja, durfte
er sich hiebei nicht sogar mit einem gewissen Recht auf Kant berufen,
der freilich mit einem allgemeineren »Bewußtsein« rechnet, als das
umfassende, schöpferische und trotzdem sehr besondere des Dichters
nun einmal ist? Auf jeden Fall können wir bereits an Schillers Kant-
studien sehen, wie selbst ein philosophisch hochbegabter kritischer
Dichter von vornherein und seiner ganzen Veranlagung als Künstler
nach sich irgendwelche erkenntnistheoretische und auch ethische
Lehren der Philosophie ästhetisch zu assimilieren geneigt ist.
Schiller war der große Arbeiter unter unseren Dichtern. Er erringt
sich eine Erkenntnis und fügt sie zu dem übrigen Schatz seiner Er-
kenntnisse. Anders bei Goethe. Grillparzer charakterisiert den Unter-
schied vortrefflich, wenn er sagt: »Schiller geht nach oben, Goethe
kommt von oben.« Goethe konnte an Kant vorübergehen und zwei
Jahre vor seinem Tod zu Eckermann sagen: »Von der Philosophie
habe ich mich selbst immer frei erhalten; der Standpunkt des gesunden
Menschenverstandes war auch der meinige«, weil er im Zentrum seiner
lebenden und wirkenden Persönlichkeit jenes Unerforschliche, doch
nicht Unbewußte findet, das wir »ruhig verehren« sollen, weil es das
in sich faßt, was wissenschaftliches und künstlerisches Bestreben von
zwei verschiedenen Seiten her zu erreichen suchen! Wer wie Goethe
die Einheit der Welt in sich fühlte, der brauchte sie freilich nicht der
Natur »mit Hebeln und mit Schrauben« abzuzwingen und mußte be-
dauernd über Schiller urteilen: »Es war nicht seine Sache, mit einer
gewissen Bewußtlosigkeit und gleichsam instinktmäßig zu verfahren,
vielmehr mußte er über jedes, was er tat, reflektieren« (zu Eckermann).
Man kann sagen: Goethe hat in seinen tiefsten Momenten erreicht,
worauf der ganze Geist des Griechentums abzielte, und er hat es
durch eine vermittelnde Sphäre des sich seiner selbst bewußt- und
gebildet-werdenden Geistes hindurch, mit ihrer Hilfe und trotz ihrer
erreicht 1). Wenn er einmal sagt, es sei wohl »die größte Schwierig-
keit«, etwas als »still und feststehend« zu behandeln, »was in der
Natur immer in Bewegung ist«, so hat er damit jenes gefährlichste
aller Probleme ausgesprochen, über dessen Widerspruch das hellenische
Denken eigentlich niemals hinweggekommen ist, den Urdualismus der
Welt, nämlich des Seins und des Werdens. Noch Schleiermacher gab
in dem schönen Abschnitt seiner »Monologen« eine nur unbestimmte,
gefühlsmäßige Lösung von religiöser Grundstimmung; Hölderlin*)
') Vgl. Oundolf, Goethe S. 27.
») Vgl. Dilthey, Das Erlebnis u. d. Dichtung (5. Aufl.) S. 375.
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG. IQQ
kam zunächst durch seine Kunst über den Zwiespalt weg, ohne
freilich zu einer in dauernden Gedanl<en befestigten Klarheit vorzu-
dringen. Was er fühlte und Schelling aussprach, aber in einseiliger
Weise auf die Kunst beschränkte '), das hat in unseren Tagen Simmel*)
folgendermaßen verallgemeinert: »Jedes Kunstwerk, das die ganze aber
doch weiterflutende Lebensinfensität seines Schöpfers in sich aufnimmt,
jedes Dogma einer irgendwie vertiefleren Religion, jede sittliche Norm,
die unseren praktischen Kräften ein umfassendes und höchstes Ziel
gibt, jeder echte philosophische Grundbegriff ist je eine Art, die Un-
endlichkeit von Welt und Leben in eine Form zu fassen, den Wider-
spruch zwischen dem ewig Weiterschreitenden und Unerschöpflichen
des Daseins auf der einen Seile und dem Festen, Anschaulichen, zur
Form Verendlichlen auf der anderen irgendwie zu lösen.« Goethe
aber — und hierin liegt seine eminente philosophiehistorische Be-
deutung! — hat nicht nur als Künstler jene Kluft überbrückt, son-
dern er hat auch zum erstenmal eine philosophische Forme! geprägt,
deren Inhalt und Wesen bis auf die heutigen Tage nicht mehr ver-
loren ging, obgleich der Ausdruck ein rein Goethescher geblieben
ist: ich meine seine Lehre vom »Urphänomen«, jenem
Kreuzungspunkt poetischer und philosophischer Wegf-
richtungen, in der ich den Ausdruck einer ganz einzigartigen
Einstellung des Geistes der Welt gegenüber erblicke und ohne die
ich mir weder Hegels Dialektik noch Schopenhauers Willensmeta-
physik denken kann. Goethes Urphänomen ist die Antwort des
Künstlers auf das grenzsetzende Forschen Kants. »Wie ihm jeder
Augenblick ein Repräsentant der Ewigkeit war, nicht ein isolierter
Zeitabschnitt, sondern der Träger aller Zeitfülle, aus der er hervor-
gestiegen, von der er hervorgedrängt war, so ist ihm jedes einzelne
Phänomen, jede Gestalt oder Kraft symbolisch für die gesamte Wirkung
der Gottnatur« (Gundolf). «Vom Absoluten im theoretischen Sinne
— sagt er — wag' ich nicht zu reden; behaupten aber darf ich: daß
wer es in der Erscheinung anerkannt und immer im Auge behalten
hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird«. »Er sucht also das
Ding an sich niemals hinter den Dingen, sondern er wußte be-
seligt, daß er es in den Dingen selber besitze, daß er im Augenblick
die Ewigkeit, in dem individuellen Vergänglichen die Gottnatur erfahre.
,Am farbigen Abglanz haben wir das Leben'. So überbrückte er
') Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur. Ausgabe
Otto Weiß III. Bd , S. 3<39 (Oes.-Ausg. 1/7, S. 303): »Die Kunst, indem sie das
Wesen in jenem Augenblick darstellt, hebt es aus der Zeit heraus; sie läßt es in
seinem reinen Sein, in der Ewigkeit seines Lebens erscheinen.«
») Simmel, Goethe S. 239 f.
200 HERMANN GLOCKNER.
den theoretischen Gegensatz zwischen Erfahrung und Idee, den er
begrifflich sehr wohl anerkannte durch seine Vorstellungsart und durch
sein wissenschaftliches Verfahren« (Oundolf). Er arbeitet also das
Absolute in die Erscheinung, das Sein in das Werden mit Hilfe dieses
»Urphänomens« hinein, oder vielmehr: er erblickt in diesem Dritten
die beiden Gegensätze verschlungen. Hiemit ist eine Einheit und
Harmonie nicht nur nach der Richtung des Lebens, sondern nach
jeder Richtung hin erreicht und eine Grundlage gegeben, von der aus
die menschlichen Kräfte des Aufnehmens, Verarbeitens und Produzie-
rens in glücklicher Weise sich zu entwickeln imstande sein werden;
denn das »Urphänomen« ist ja nur eine Methode, deren sich ein als
Entelechie wirkender Genius bedient, nicht aber ein Faulbett, auf dem
man sich etwa wohlig ausstrecken könnte. Goethes sämtliche natur-
philosophische Anschauungen, vor allem sein Glaube an eine durch-
gängige Polarität, lassen sich leicht an diese seine Grundeinstellung
anknüpfen und aus ihr wie eine notwendige Folge herausentwickeln;
denn sie beruhen auf nichts anderem als auf dem empirischen Natur-
studium eines spekulativen Geistes. Hier aber liegt der Punkt, an den
Schelling anknüpfen sollte, dessen Gedanken Hegel dann weitergebildet
und systematisch ausgestaltet hat.
Goethe steht als Gesamterscheinung sozusagen jenseits von Philo-
sophie und Dichtung. Schiller hatte ein »Verhältnis« zur Philosophre
— Goethe war das Philosophierende selbst. Ich wage es nicht, ihn
als Typus hinzustellen — er bleibt ein einzigartiges Sichzusammen-
fassen des Dichtenden und Philosophierenden und ist so »unser vor-
zugsweise klassischer Mensch« (Gundolf) geworden. In dem Verhält-
nis der Zeitgenossen seines Alters zu ihm wiederholt sich denn auch
das Verhältnis der Renaissance zur Antike. Das umfassendere Welt-
bild, die nach jeder Richtung hin vertiefte und erweiterte Bildung fügen
doch dem Wechselverhältnis des dichtenden Geistes zum denkenden,
wie es sich nun als ein allseitiges, durchgehendes zeigt und dem
ganzen Zeitabschnitt seinen Charakter gibt, zunächst nichts Wesent-
liches hinzu, das es prinzipiell von der dichtenden und philosophieren-
den Hochrenaissance unterscheiden würde. Im Drang, das als Epoche
zu erreichen, was man in Goethes vereinzeltüberragender Wesenseinheit
als erreicht ahnte, beginnen Philosophen wie Schelling zu dichten und
Poeten wie Novalis zu philosophieren — beide aus innerstem Antrieb,
wie um künstlerisches und wissenschaftliches Weltfühlen zu zwingen
in einen Strom zusammenzuschießen i), aus dem der Dürstende mit
') »Alle Kunst soll Wissenschaft und alle Wissenschaft so'l Kunst werden;
Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.« Fr. Schlegel, Lyzeumsfragmente von
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG. 201
einem Trunk ein doppeltes Begehren zu stillen imstande wäre, worauf
Goethe freilich, der gleichsam getrunken hatte, ehe er auf diese Erde
niederstieg, hatte verzichten können. Doch er
»ging heim. Das Diadem zersprang,
Das achtzig Jahre seine Stirn umschlang.
Nun zeigt wohl mancher ein Juwel daraus,
Doch wer verflicht sie abermals zum Strauß?
Wer ist es, der den Geist und die Natur,
Wie er, ergreift auf ungetrennter Spur?« (Hebbel.)
Hatte Goethe in Kant eine völlig andere, seinem Wesen entgegen-
gesetzte, jedoch ebenso berechtigte Art und Weise in die Welt hinein-
zuschauen anerkannt und geachtet, so triumphierte Schelling: »Jene
einfache Zeit ist nicht mehr, wo die Kantische Scholastik, zwar mit
bleiernem Scepter, aber doch sanft einwiegend, die Köpfe beherrschte
und das Andenken alles Lebendigen in der Wissenschaft verdrängte«
und bezeichnet als »Dinge, die allein des Begreifen s werfh sind —
Gott, die Natur und den Menschen i).« Konnten solche Worte in der
Tat die Kantische Philosophie treffen? Sie zeigen nur, wie tief Schelling
unter Goethe stand! Wenn er den Anseimo im »Bruno« sagen läßt:
»Ist es nicht begreiflich, daß diejenigen, welche geschickt sind, schöne
Werke hervorzubringen, die Idee der Schönheit und Wahrheit an und
für sich selbst oft am wenigsten besitzen, eben, weil sie von ihr be-
sessen werden« — so hat er sein eigenes Urteil damit gesprochen.
In Schelling hat »der Philosoph mit dem Künstler gehandelt« (um auf
ein bekanntes Sinngedicht Lessings anzuspielen) und indem er in der
Polemik gegen Fichte eifert: »Der Mensch ist nicht aus zwei so dis-
paraten Hälften zusammengesetzt, daß, wenn die eine derselben, die
Vernunft, den Himmel erlangen soll, die andere gekreuzigt und getötet
werden müßte. Der Verstand ist eben auch die Vernunft und nichts
anderes; nur die Vernunft in ihrer Nichttotalität . .. Alle Irrtümer des
Verstandes entspringen aus einem Urteil über die Dinge, in der Nicht-
totalität gesehen. Zeige sie ihm in der Totalität, und auch er wird
begreifen und seinen Irrtum erkennen« — spricht er das Streben des
Künstlers nach einem einheitlichen, das Ganze überblickenden Gesichts-
punkt aus, das ihn leitete. Den raschesten Weg zur absoluten und
1797, Nr. 115. — »Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch
Kunst«. Fr Schlegel, Athenäumsfrigmen^e von 1798, Nr. 255. — »Der dichtende
Philosoph, der phi.osophierende Dichter ist ein Prophet.« Ebenda Nr. 249.
') Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der
verbesserten Fichteschen Lehre. Weike 1/7, S. 49. Vgl. auch ebendort S. 40 und
wei'.erhin S. 42. — Das Zitat aus »Bruno« nach der Ausgabe Otto Weiß S. 435
wiedergegeben.
202 HERMANN GLOCKNER.
einheitlichen Ganzheit des Daseins führt jedoch jederzeit die mystische
Versenkung in die zentrale Einheit des eigenen Wesens. Schelling
ist diesen Weg gegangen — schon während seiner früheren Epochen
und bevor er noch an Jakob Böhme angeknüpft hatte! Insofern er
aber in sich selbst einen schaffenden Künstler vorfand, brachte er einen
schaffenden Künstler in philosophische Formeln und deklarierte eine
Einheit der Welt, die in Wahrheit die Einheit des schöpferischen
Genies und in letzter Vollendung die Einheit Goethes war. Obwohl
aber diese letzte Einheit in der Identitätsphilosophie als im Absoluten,
wo die Kunst ist und die Wissenschaft hinkommen soll, gegeben er-
klärt wird, ist Schelling dennoch gerade über jenen Dualismus nie-
mals weggekommen, den so völlig kampflos und von vornherein
überwunden zu haben Goethes einzigartige klassische Größe ausmacht:
ich meine den Gegensatz des Schöpfers und der Schöpfung. Wenn
in der Rede über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur das
Schaffen des Künstlers dem Naturschaffen nachgezeichnet wird, so ist
dies an und für sich ein sehr schöner Parallelismus, wer aber die An-
schauungen Schellings einer genaueren Betrachtung unterzieht, der
wird bemerken, daß überall in Wirklichkeit umgekehrt das Schaffen der
Natur vorzüglich am Schaffen des Künstlers einleuchtet. Wie aber der
Schöpfer und sein Werk nachträglich ebenso auseinandertreten wie die
Mutter und ihr Kind, nachdem die Geburt vollzogen ist, so finde ich
in der ganzen Schellingschen Naturphilosophie hinter den Phänomenen
doch immer erst »die eigentliche Natur«, die natura naturans im Gegen-
satz zur natura naturata, nämlich das schaffende Prinzip, und nirgends
ist der Rat befolgt, den Goethe den Naturforschern gegeben hat: »Man
suche ja nicht hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre!« —
mit einem Wort: nirgends ist im Geiste des »Urphänomens« verfahren.
Wenn es aber Schelling niemals versäumt, eine nachträgliche Ineins-
setzung dieses ursprünglichen Gegensatzes vorzunehmen, so ist hier
der Wunsch der Vater des Gedankens und die Parallele mit den Be-
strebungen der hellenisierenden Renaissance vollkommen. Was ihn
von den mittelalterlichen Piatonikern unterscheidet, ist lediglich eine
Konsequenz, die seine Lehre für die junge Disziplin der Ästhetik hat,
in die sie einmündet und zu der sie sich verengert. Wenn nämlich
die Natur ebenso arbeitet wie der Künstler, so ist doch der Philosoph
selbst ein Künstler, in dem sich der schaffende Geist seiner selbst
bewußt geworden ist. Auf diese Weise identifiziert sich die Philosophie
notwendig mit der Ästhetik, insofern man nur mit diesem Wort den
über Kant hinausgehenden Sinn einer Philosophie des künstlerischen
Schaffens verbindet.
Kann aber von einem Wechselverhältnis zwischen Dichter und
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG. 203
Denker noch die Rede sein in einem Augenblick, wo der Denker selbst
zum Dichter wird? Ich glaube: nein. Nach den voraufgegangenen Ent-
wicklungsstufen bleibt vielleicht überhaupt nur noch eine Möglichkeit
übrig, auf die der Künstler, der nur Künstler, aber Künstler im umfassend-
sten Sinn ist, zum Denker in lebendige fruchtbringende Beziehung treten
kann, indem der Philosoph nämlich — was Schelling nie gelungen
ist! — dem Epigonen die Ergänzung darbietet, deren Goethe nicht be-
durft hatte: ein auf gedanklichem Weg gewonnenes Prinzip, das in
irgendwelcher Weise einen Ersatz für Goethes ursprünglich-erlebtes
»Urphänomen« liefert. Wir werden dann den neuen, bisher noch nicht
dagewesenen Fall eintreten sehen, daß der Dichter nicht zwar das
System des Denkers (wie Dante!), aber doch den gedanklichen Quell-
punkt desselben zur lebendigen Grundlage auch seines Schaffens über-
nimmt oder — wie die Verhältnisse wohl in Wirklichkeit meistens ge-
lagert sein werden — sich vielmehr von einer geistigen Strömung
tragen läßt, in deren Element er so gut lebt wie nur irgendwie in den
politischen oder sozialen Verhältnissen seiner Zeit, und die ihm in
einer im einzelnen oft kaum zu ergründenden Weise jenes gedank-
liche Moment an die Hand gibt, ohne das er in einer Epoche, die von
allem Urquell und jeder Möglichkeit eines vollkommen reflexionslosen
und naiven Schaffens durch Jahrtausende getrennt ist, seinem künst-
lerischen Genius nicht genügen kann. Nun fiel das Ende der eigent-
lichen Romantik beinahe mit dem Tod Goethes zusammen und die
Reaktion blieb in der Gestalt von realistischen Tendenzen nicht aus.
Spröder und ungläubiger geartet als Hölderlin und Novalis, deren bild-
samen, einheitsbedürftigen Naturen noch unter Goethes Augen (zu
dessen harmonischem Weltfühlen sie aufstrebten) Dichten und Denken
in eines zusammenflössen, bedurfte ein großer Dichter jener späteren
Tage: Friedrich Hebbel, den die Natur vor allem zum Künstler ge-
schaffen und in' eine zerrissene, widerspruchsvolle, der Deutung be-
dürftige Welt hineingestellt hatte, ohne ihm die klassischen Maße und
das harmonisch lösende Ineinsempfinden Goethes mitzugeben, eines
äußeren gedanklichen jtoo ot», um mit sich selbst und der Welt ins
Reine zu kommen. An diesem neuen möglichen Kreuzungspunkt
zwischen Denken und Dichten aber konnte sich weiterhin eine Ästhetik
— die Ästhetik Fr. Th. Vischers — entwickeln, die nicht mehr bloß
eine Philosophie des dichtenden Absoluten war, sondern — obwohl
metaphysischen Ursprungs — sich schrittweise immer mehr dem
Realismus nähern mußte, weil sie dem Geiste eines tapferen, mit beiden
Füßen fest auf dem braunscholligen Erdboden stehenden Mannes ent-
sprungen war, der zugleich ein Künstler gewesen ist, und den in allem
sein eigener Merkspruch leitete:
204 HERMANN GLOCKNER.
»Trunkenes Wiegen
Bleibe mir ferne !
Oiine zu fliegen
Find icfi die Sterne.
Fuß über Grüfien,
Fest auf dem Festen,
Haupt in den Lüften,
So ists am besten.«
Der Mann aber, der das gedankliche Prinzip in das Gewebe des
Geistes hineingesponnen hatte, von dem aus der Künstler und der
Ästhetii<er eine Brüci<e fanden vom Werden zum Sein und vom
Irdischen zum Ewigen, hatte seltsamerweise von dem ungleich poeti-
scheren Scheiling weg über die abstrakte naturlose Philosophie Fichtes
seinen seltsamen Weg »zurück zu den Griechen« nehmen müssen, um
auf dem felsigen Pfad der logischen Spekulation dahin zu gelangen,
wohin Goethe von Natur gestellt war. Er hieß Hegel ').
') E'ne zur JMonographie erweiterte Fortsetzung dieser Studie bildet meine
Schrift »Fr. Tfi. Viscfiers Ästhetik in ihrem Verhältnis zu Hegels Phänomenologie
des Geistes«. Leipzig, Verlag von Leopold Voß, 1920.
Bemerkungen.
Sachliche Kunstbetrachtung und persönliche Kunstpolitik.
Von
Fritz Hoeber.
Man wird dem so dringlichen Problem, wie sicli Kunst und Kunstkritilt zuein-
ander zu verhallen haben, am ehesten dann gerecht, wenn man grundsätzlich unter-
scheidet zwischen der objektiven Kunstbetrachtung, die mit Recht einen
Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit erheben darf, und einer persön-
lich aktiven Stellungnahme zur Kunst, de, wie jede willentliche Lebens-
äußerung, natürlich immer nur auf das eigene Individuum beschränkt bleibt, und
die man wohl am treffendsten mit »Kunstpolitik« bezeichnet.
I. Das innere Nachschaffen des Kunstwerks.
Zu der von der Kunstbetrachtung gestellten Aufgabe gehört zuerst eine ge-
horsame Phantasie, die allen individuellen Al^sichten des gestaltenden Künst-
lers getreu nachwatidelt : Sie soll nicht nur die Elemente des Aufbaus richtig er-
kennen, sondern auch ihre jedesmal anders gewollten Beziehungen intuitiv er-
raten und deren Anordnung ganz Im Sinne des Schöpfers treffen. Denn gerade
hierin wird häufig gesündigt, daß ein Kunstwerk nach einer ihm fremden Regel
verstanden wird und dann im geistigen Abbild des Aufnehmenden zur Karikatur
verunstaltet erscheint.
Die Beispiele sind so häufig, daß sich fast eine Aufzählung erübrigt: Berühmt
sind vor a'lem die Schwierigkeiten, die seinerzeit der neuen Wagnerschen Kompo-
sition der unendlichen Melodie und des kurzen Leitmotivs von der liedartig ge-
schlossenen Melodie bereitet wurden. Berühmt ist die kunstfiemde Überspannung
der »Relief Forderung« in den bildenden Künsten, wie sie die Hildebrandschule aus-
übt, die aberdimit bei sämtlichen anderen, außerhalb ihres engen Ursprungskreises
stehenden, Richtungen eine falsche Synthese vollzieht. (Vgl. die an den Vortrag von
Hans Cornelius »Zur Ansichtsforderung in Archi'ektur und Plastik« anknüpfende
Diskussion auf dem Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissen-
schaft, Beriin 7.-9. Okt. 1Q13, Bericht, Stutigart 1914, S. 268 ff. und Fritz Hoeber,
»Die Unzulänglichkeit der Hildebrandischen Raumästhetik« im Repertorium für Kunst-
wissenschaft XXXVI II. Jahrg., 1915, S. 171-184.)
Also Grundbedingung einer objektiven Kunstbetrachtung ist die objektive Ein-
stellung auf das individuelle Kunstobjekt. Das läßt sich durch Übung bis zu einem
bestimmten Grade erlernen, falls eine gewisse instinktmäßige künstlerische
Begabung als Voraussetzung vorhanden ist, die sich am deutlichsten vielleicht in
einer dilettantischen Beschäftigung mit der Kunst: in Zeichnen, Musizieren, Literari-
sieren usw. ausspricht.
Wenn der Student der Kunstgeschichte zur umständlichen Beschreibung und
Analyse vieler, verschiedenartiger Kunstwerke immer wieder angehallen wird, so ist
das die bewährte Methode, die individuelle Einstellung auf die inhaltlichen, formalen
206 BEMERKUNGEN.
und geistigen Eigenschaf tskomplexe der ihm zunächst fremdatiigen Kunstwerke ver-
gangener Zeiten und ferner Länder sich anzueignen: er zeichnet sozusagen mit
seinem Verstand jene Schöpfungen in ihrem Wachsen und ihrer Vollendung nach.
Allein irgend eine wertende, persönliche Stellung nimmt solche objektivierende
Betrachtungsweise dem Kunstwerk gegenüber noch nicht ein.
II. Die wertende Stellungnahme zum Kunstwerk,
Gefühl und Verstand spie'en in der kontemplativen Einstellung zur
Kunst die Hauptrolle, Gefühl und Wille in der aktiven: Dort herrscht die neu-
trale Berichterstattung über den ästhetischen Sachverhalt, hier — was scharf
davon zu unterscheiden ist — die persönlich-politische, kritische Stel-
lungnahme. »Die Beschäftigung mit moderner Kunst ist Politik, aber mit
Politik will ich mich nicht befassen«, sagte einmal ein berühmter Beriiner Kunst-
historiker und zog sich mit seinen Studien ins frühe Mittelalter zurück.
In der Tat geht das eigentliche ästhetische Werturteil, das das eine Kunst-
werk annimmt und das andere ablehnt, auf den schöpferischen Kern der Persön-
lichkeit zurück, den Ursitz der Willensäußerungen, der sittlichen Wertungen. Diese
Werturteile beanspruchen nicht, wie jene Feststellungen individueller künstlerischer
Sachverhalte, über persönliche, objektive Geltung. Ihr Wesen erfüllt sich, wenn
sie aus autonomer Überzeugung getroffen sind und nicht von einer fremden Kon-
vention übernommen, von einer oberflächlichen Mode diktiert werden. Das ist der
tiefere Grund, warum man heute wieder die Ehrlichkeit der Gesinnung auch
in künstlerischen Dingen vorausstellt.
JVlan muß sich nun darüber klar sein, daß jede Lebens- und Gesellschaftssphäre
ihre eigenen Wertmaßstäbe hat, von denen das Individuum natürlich aufs
stärkste beeinflußt wird. Das politische, das soziale, das religiöse, das kulturelle
und das Zivilisationsmilieu — sie alle stellen ihre eigenen Stufenleitern auf, die für
sämtliche Lebensäußerungen, damit vor allem auch für die Kunst, ausschlaggebend
erscheinen. Ein historisches Beispiel: Der von reformatorischer Inbrunst erfüllte
Augustinermönch JVlartin Luther bewertete auf seiner Romfahrt 1511 den gerade da-
mals begonnenen Bau von St. Peter ganz anders, mit einer zornerfüllten ethischen
Negation, als die Bramantes und Raffaels, die darin die Verwirklichung ihres harmoni-
schen, ästhetischen Architekturideals sahen.
Es gibt also bestimmte Wert kreise, die oft gleichzeitig erscheinen, woraus
sich dann der große Kampf um die Wertgeltungen erklärt. Der Streit um die
asketische oder die hedonistische Lebensauffassung, das diesseitig Irdische oder das
jenseitig Vergeis igte, um die klassische Formbejahung oder die romantische Form-
auflösung zerspahen ganze ZeitaUer in bezug auf ihren Wertmaßstab und haben
natürlich auch stärksten Einfluß auf das Kunsturteil: Man denke an das grundsätz-
liche Mißverstehen, das der gealterte Olympier Goethe dem romantischen Drama
des Jünglings Heinrich v. Kleist entgegenbrachte. Man erinnere sich des heutigen
Kampfs zwischen dem irdisch-sachlichen Impressionismus und der transzendentalen
Pathetik der neuesten Kunst.
lU. Die notwendige Rolle des Kritikers.
Hat die Kritik in solche Kämpfe einzugreifen oder aber sich neutral zu halten?
Wenn ihre Aufgabe schon mit jener beschreibenden Einfühlung in alle Kunst-
werke getan wäre, könnte sie sich allerdings zurückhalten. Aber mit Recht wird ja
von ihr positive oder negative Stellungnahme gefordert, geistige Wertung: sie
soll Führerin sein einer Menge von Wertblinden.
I
BEMERKUNGEN. 207
Und dies verlangt nun die starke Persönlichkeit, die schöpferische Individualität,
die sich nicht zurückhalten darf, weil sie an der kulturellen Entwick-
lung mitarbeiten muß. Ja, wenn wirklich das Verhältnis von Kunst zu Kunst-
kritik sich so einfach abspielte, daß zuerst der Künstler eine »objektive Sache«
schafft, die dann nachher der böse Kritikus mit allerlei liebevollen Bemerkungen
versieht !
Allein das Kunstwerk ist ja keine »objektive Sache«, sondern ein persön-
liches Erlebnis, das erst durch die Berührung zwischen Künstler und Publi-
kum wird, wobei dem äußeren, aufgeschriebenen, vorgespielten, gemallen, ge-
meißelten, gebauten Werk nur die vermittelte Rolle einer geistigen Leitung
zufällt. Dieses »ästhetische Objekt« unseres inneren, starken Erlebens zu schaffen,
dazu müssen sich Künstler und Publikum innerlich nahe kommen. Und da
kann Wegbahner der Kritiker sein.
Er steht natürlich als Einer aus dem Publikum Künstler und Kunstwerk
gegenüber. Aber da von ihm eine größere Übung in der sachgemäßen Synthese
des »ästhetischen Objekts« seines inneren Erlebens vorausgesetzt werden kann,
ebenso auch eine gewissenhaftere Wertung auf Grund einer gefestigten Kultur-
überzeugung, als sie das in seiner Alltagspraxis zerstreute, größere Publikum nun
einmal zu besitzen pflegt, kann er als dessen Protagonist auftreten: Er setzt sich
kritisch mit dem Kunstwerk auseinander und schafft damit eine neue geistige
Kultur. Dadurch, daß er das Kunstwerk erklärt, kritisiert, wertet, spielt er seine
notwendige Rolle im geistigen Stoffwechsel seiner Zeit, seiner Nation, des modernen
Lebens.
IV. Das Lebendige der Kunstkritik.
Was ist nun diese Lebendigkeit, und stellt sie den einzigen Maßstab zur kriti-
schen Wertung der Kunst dar? iVlax Liebermann sagte einmal: Ob alte Kunst, ob
neue Kunst — es gibt nur die Kunst, die lebt !
Wirklich tritt diese Forderung nach »Lebendigkeit«, nach »Erfüllung des Zeit-
willens« heute in allen kritischen und ästhetischen Programmschriften auf: Fragt
sich nur, was darunter konkret zu verstehen ist, ein auflösender Stil, der etwa
die Linie des Impressionismus im Expressionismus fortsetzt, oder ein zusammen-
fassender, der die alte Monumentalmalerei zum Kubismus stereorretrisiert? Oder
sollten nicht, wie das die neuere Kunstgeschichte häufig schon er'ebt hat, in Zu-
kunft beide Richtungen nebeneinander hergehen und sich ergänzen?
Diese Frage wird nur die Intuition des Kunsikritikers beantworten können,
welche die Gesamtkultur unserer Zeit synthetisch umspannt. Des Kunstkritikers,
der in ihr ständig aktiv mitlebt, der sich nicht absondert und spezialisiert wie der
Fachgelehrte.
Das wertende Prinzip der Lebendigkeit in der Kunstkritik von heute ist zu
begrüßen als Reaktion auf den Historismus des 19. Jahrhunderts, der sich auch
hier eingenistet hatte. Das Historische war so ins Kraut geschossen, daß man auch
in der Kunst alles nur noch zeitlich- örtlich erklären wollte, wodurch das eigent-
lich Künstlerische sehr zu kurz kam. (Man erinnere sich beispielsweise an
das Elend der historisch-philologischen Schule, wie sie in Erich Schmidt und seinen
kunstfremden Jüngern ihre Blüte erlebt hat.)
Nun beginnt aber in der Kunstkritik von heute wieder eine Hetze gegen die
außerhalb der Tageskämpfe stehenden historischen Werte. Schaffende Künstler und
betrachtende Schriftsteller überbieten sich gegensei ig, in der Vergangenheit eine
umfassende ^Umwertung aller Werte« vorzunehmen, die keineswegs bescheiden als
persönliches Bekenntnis, sondern mit dem bewußten Anspruch auf Allgemein-
208 BEMERKUNGEN.
gül.igkeit auftritt: Raffael wird unter den Greco rangiert, die Gotik ist der einzige
Stil und die Renaissance ist eine bloße Entartung — das suclite allen Ernstes
einer der iiervorragendsien Berliner Kunstkritiker in einem Buch zu beweisen, das
sein Erlebnis einer italienischen Reise — in bewußter Gegnerschaft zu Goethe —
schildert. (Vgl. Karl Scheffler, »Italien, Tagebuch einer Reise«, Leip7ig 1913, wo
Raffael und Michelaneglo sich schlechte Noten des nordischen Schulmeisters holen.
Im Gegensatz dazu die allumfassende Gerechtigkeit eines schöpferischen Impressio-
nisten wie Liebermann, der nach seiner lialienreise als din Höhepunkt se ner
künstlerischen Eindrücke die — so ganz anders als das eigene Kunstschaffen ge-
arteten — Deckenbilder der Sixtinischen Kapelle preist. — Vgl. ferner von Scheffler,
»Der Geist der Gotik«, Leipzig 1917, der eine volkstümliche Vereinfachung sein will
der von Wilhelm Woninger in seinem Buch »Formprobleme der Gotik«, München
1911, aufgestellten Wertantilhese: Gotik— Renaissance. Deren innere Haltlosigkeit
beweist Julius Baum, »Der Geist der Gotik«, Kunstchronik Nr. 14, 11. Januar 19i8,
weiterhin in seiner Einleiung zur Baukunst und dekorativen Skulptur der Früh-
rentissance in Italien, Stuttgart 1920, über »Fortleben oder Wiedergeburt der Antike?«)
Solche Art der »Verlebendigung« der Geschchte, indem man nach einem spe-
zifischen Programm die Kunstwerke auswählt und als wertvoll betont, erscheint
natürlich für eine objektive Kunstkritik unstatthaft. Vorhin wurde als Unterbau
jeder Kunstkritik die individuell richtige Betrachtung jedes Kunstwerks verlangt, da
z. B. eine mit gotischen Augen angesehene Renaissanceschöpfung — oder um-
gekehrt — eine Karikatur geben muß.
Erlaubt wird eine derartige Einseitigkeit höchstens dem schaffenden Künst-
ler in dem Augenblick sein, wenn er bewußt sein eigenes Schaffen in dieser Rich-
tung steigern will. Interessant mögen solche einseiligen Künstleräs.hetiken auch
stets für die Erkenntnis des Werkes des Meislers selbst, seiner Schule und seiner
stilistischen Verwandtschaft sein. Aber wo sie darüber hinausgehen, sich als
kritisch allgemein verbindlich aufspielen wollen, werden sie zu dem baren
Unsinn, wie ihn z. B. die übertriebene Raumästhetik der Hildebiandschule darstellt
Also erscheinen Künstlerkritiken immer als ein zweischneidiges Schwert,
da sie entweder etwas sehr Richtiges oder etwas sehr Falsches aussagen. —
Welches ist nun die praktische Möglichkeit zu einer ihren Daseinszweck erfüllenden
Kunstkritik?
V. Persönlichkeit und Gesinnung des Kritikers.
Es wurde gezeigt, daß Kunstkritik im Sinn einer normativen Wissenschaft un-
möglich ist, da die von ihr vorgenommenen Wertungen aufs innigste mit der Per-
sönlichkeit oder einer zum wertgemeinsamen Kreis erweiterten Persönlichkeit zu-
sammenhängen. Wenn gewisse Epochen der Kunstgeschichte, das gotische Mittel-
alter, Ostasien, Ägypten, durch eine große Übereinstimmung der Wertungen, die
sich äußerlich in straff zusammengenommener Stilisierung kundtut, zunächst in Er-
staunen setzen, so sei an die streng hierarchischen Religionen erinnert, auf deren
Grund sich alle diese Kunstäußerungen aufbauen. Wertgemeinschaft dürfen also
auch wir nur auf Grund einer Gesinnungsgemeinschaft erhoffen. Und ob
wir diese erhalten, das ist eine Frage an das Schicksal, die weit über das künst-
lerische Sondergebiet hinausgreift.
So müssen wir uns denn doch nur an die Werte erkennende Persönlich-
keit halten, und diese scheint mir in dem Kunstkritiker verkörpert. In ihm hat
sich die schöpferische Phantasie, die allem Bestehenden in Kunst und Kultur
gerecht zu werden vermag, mit einem scharfen Verstand zu verbinden, der
^
BEMERKUNGEN. 209
die Gesinnung, den ewigen Untergrund des Kunstschaffens nach echt und
unecht unterscheiden l<ann. Dazu ist natürh'ch nur ein Charaicter fähig, der selbst
gesinnungsgemäß durchaus gefestigt erscheint.
Aufgabe der Kunstkritii« wird sein, immer die richtige Mitte zu halten zwischen
al<ademischer Kunstbetrachtung, die nichts mehr als sachliche Grundlage sein darf,
und lebcnserfüllter Kunstpolitik, hier gleichzeitig das wertvoll Zukunftsreiche heraus-
hebend, das schnell vorübergehende Alltagsgebilde aber als belanglos beiseite schie-
bend: für die jugendstarke neue Kunst, aber gegen eine oberflächliche neue
IVlode!
Kritik wird dann nicht Lob oder Tadel einzelner Kunstwerke oder einzelner
Künstler bedeuten. Sondern diese Kritik als schöpferisches Erlebnis einer star-
ken Persönlichkeit ist die künstlerische Auseinandersetzung mit dem
ganzen Kulturumkreis unserer Zeit, die geistig umfassendste Synthese,
die allein unter den zeitlichen Werten die ewigen zu erkennen vermag.
VI. Entwurf zu Kursen für Ku nst betrachtung, für Kunstkritik und
K u n s t p o I i t i k.
Nach obigen Ausführungen besteht die Aufgabe der Kunstkritik in der IVtitarbeit
an einer künstlerisch gerichteten Kultursynthese.
Sie kann dagegen nicht in dem für Künstler, Kritiker und Publikum gleich ent-
würdigenden, schulmeisterhaften Zensieren sämtlicher auf dem Kunstmarkt auftauchen-
den Produktionen bestehen, die hierdurch in ihrer Preishöhe bestimmt werden sollen.
Diese wirtschaftliche Beeinflussung von Kunstangebot und -nachfrage möge künftig-
hin dem Reklameteil der Presse überlassen werden, als bezahlte Annonce oder
als unbezahlter »Waschzettel«, wo solche Ankündigung allein hingehört und wo
ihre Verbindlichkeit für die Allgemeinheit von vornherein wegfällt.
Der ernsthafte Kunstaufsatz aber hat sich nicht mehr mit den tausenderlei
Tageserscheinungen eines vor allem wirtschaftlich bestimmten Kunstmarkts zu be-
schäftigen, sondern allein mit dem Wesentlichen: mit dem, was zum Aufbau
unserer Oesamtkultur beitragen kann. Dadurch wird zugleich das Feuilleton ent-
lastet und in ihm Platz geschaffen für eine großzügige Geistespolitik.
Um diese grundsätzliche kritische Neueinstellung in der Anschauung der künst-
lerisch interessierten Allgemeinheit vorzunehmen, sei hier der Plan zu einer Organi-
sation entwickelt, wie sie ähnlich Fritz Wiehert in seinem Mannheimer > Freien
Bund zur Einbürgerung der bildenden Kunst«, in seiner »Akademie für jedermann«
und dem beiden Vereinigungen dienenden «Kunstwissenschaftlichen Institut« an der
Mannheimer Kunsthalle bereits verwirklicht hat.
Die neuen Kurse für Kunstbetrachtung, Kunstkritik und Kunstpolitik sollen
3 Kunstkritiker« ausbilden. Nach den obigen Ausführungen wird dieser Begriff
alle Kunstbetrachtenden im weitesten Umkreis umfassen, nicht nur den kritischen
Schriftsteller, sondern auch das ganze Publikum und den Künstler selbst — soweit
er Betrachter fremder oder alter Kunstwerke ist.
Grundlage der Schule wird eine allgemeine Abteilung für Kunst- und Kultur-
philosophie sein müssen: Sie hat sich mit dem Begriff des Kunstwerks wie dem
der ästhetischen Erkenntnis zu beschäftigen, um zu objektiven Synthesen im Sinn
individueller Kunstleistungen aller Zeiten und Völker zu erziehen. Anleitung dazu
können Werke wie Broder Christiansens »Philosophie der Kunst« oder Moritz
Geigers »Phänomenologische Untersuchungen« geben.
Um nun die eigentlichen Kulturwerke, auf Grund deren das entscheidende Ur-
teil zu fällen ist, sich in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit vorzu-
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissensdialt XV. 14
Ito^
210 BEMERKUNGEN.
führen, gilt es, sich die großen kulturwissenschaftlichen Zusammenhänge wesentlich
klar zu machen, nicht nur in der geschichtlichen Art, wie sie Lamprecht pflegte,
sondern auch philosophisch analytisch unter stärkstem Bezug auf die Gegenwart,
wie sie in den Werken von Georg Simmel, Walter Rathenau, Oswald Spengler
verwirklicht erscheint.
Diese vorbereitende Abteilung wird für sämtliche ernsthafte Teilnehmer der
Ausbildungskurse zu durchlaufen sein, bevor sie sich den einzelnen Fachabtei-
lungen für Kritik fest verpflichten. Letztere gliedern sich, wie üblich, nach den
verschiedenen Künsten: 1. Musik, 2. Dichtung, 3. Theater und Tanz, 4. bildende
Künste, diese dann wieder in die drei Unterabteilungen, Malerei und Zeichnung,
Plastik, Architektur und Kunstgewerbe, zerfallend.
In all den vier Abteilungen soll von fachmännischer Seite das Wesen der Einzel-
künste in seinem geschichtlichen Werden, seinen technischen Voraussetzungen, seinen
geistigen und formalen Ergebnissen dargestellt werden. Möglichst unter gleich-
zeitiger Hinzunahme praktischer Übungen : sei es, daß in der Kunst selbst Versuche
unternommen werden, sei es, daß Konzert- und Theaterbesuche, der Vortrag von
Dichtwerken, Besichtigung von Kunstausstellungen, Museen, Bauten mit anschließen-
den kritischen Debatten und schriftlichen Skizzen stattfinden, die als Prüfung für die
Studierenden gelten können.
Die beiden ersten Abteilungen unserer Kurse, die philosophische und die fach-
künstlerische, sind ihrem konzentrierten Arbeitszweck entsprechend exklusiv ge-
dacht, etwa in der Art unserer Hochschulseminarien : gemeinschaftliche Lektüre,
Einzelreferate, sachlich begrenzte Debatten stellen ihr Hauptprogramm dar. Anderer-
seits unterscheiden sie sich von dem bloß gelehrten Universitätsbetrieb durch eine
stete Verbindung mit dem schaffenden Künstlertum selbst. Hier intellek-
tuelle wie auch moralische Sympathien zu wecken, muß Hauptaufgabe der fach-
künstlerischen Einzelabteilungen sein. Sie wird bestimmt erfüllt werden, erinnert
man sich des einmütigen Beifalls, den die Ausführungen von schaffenden Künst-
lern, wie dem Schauspieler Friedrich Kayßler und dem Architekten Peter Behrens,
über Wesen und Ziele ihrer Kunst gerade bei den Wissenschaftlern des »Kon-
gresses für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« im Herbst 1913 in Berlin
geerntet haben. (Siehe Bericht S. 251— 265: Peter Behrens, Über den Zusammen-
hang des baukünstlerischen Schaffens mit der Technik. S. 392—404 : Friedrich
Kayßler, Das Schaffen des Schauspielers.)
Dennoch sollen für die beiden ersten Abteilungen der Kurse in der Regel nur
solche Teilnehmer zugelassen werden, die durch ihre künstlerische oder wissen-
schaftliche Vorbildung das unbedingt hier zu fordernde geistige Niveau von vorn-
herein gewährleisten.
Dagegen wendet sich die dritte Abteilung der Kurse, für Kunstpolitik und
künstlerische Volkserziehung, an viel breitere Kreise. Sie will die ganze,
jetzt so aktuelle Volkshochschulbewegung den künstlerischen Bestrebungen der Neu-
zeit dienstbar machen durch öffentliche Vorträge und Spiele, durch Führungen und
Demonstrationen, alles möglichst umsonst oder gegen denkbar geringes Entgelt.
Hier sollen dem großen Publikum die Wege zur neuen Kunst gebahnt werden, in
vorbereitenden Vorträgen, durch wesensgemäß eingestellte Aufsätze in der Tages-
presse, am besten vielleicht auch noch durch eine eigene, wirklich führende
Kunstzeitschrift.
Erst dadurch würde der ernsthaften Kritik der Boden bereitet: in einem Publi-
kum, das aus einer umfassenden Kulturgesinnung heraus das neue Kunstwerk
richtig versteht und wertet. Damit wäre die Brücke zwischen Künstler und Publikum
BEMERKUNGEN. 211
geschlagen durch die Arbeit des schöpferischen Kritikers, des idealen Vertreters des
Publiicums, der sich des Kunstwerks in mitschaffender Phantasie annimmt.
In diesem Sinn will der »Deutsche Werkbund«, der Förderer eines quali-
täterfüllten Ausgleichs zwischen Industriestrenge und künstlerischer F'hantasie in
Architektur und Kunstgewerbe, für seine Ideen mit dem Mittel der Volkshochschule
werben. Warum soll nun dieser Versuch nicht auch auf alle anderen Künste
ausgedehnt werden und das Verständnis für sie in breiteste Massen tragen?
Voraussetzung ist natürlich, daß sich die richtigen Persönlichkeiten
für diese ernsthafteste Kulturaufgabe finden: Denn wie der schöpferische Künstler,
so wird auch der schöpferische Kunstbetrachter, der mit Phantasie und instinktivem
Urteil ausgestaltete Kritiker, geboren. Das Studium kann der Ausbildung seiner
kunstkritischen Fähigkeiten helfen, sie aber niemals aus bloßer Gelehrsamkeit heraus
erschaffen.
So wäre denn an sich der hier entwickelte Plan der Kritikerkurse sehr frag-
würdig, wenn nicht das tatsächliche und geistige Bedürfnis mehr Kritiker
und mehr Kunstbetrachtungen verlangte, als es geborene kritische Genies gibt: Auf
daß sich aber nicht, wie eine böse Erfahrung lehrt, in diese so ernsthafte Aufgabe
unberufene Dilettanten oder gar schmutzige Schieberseelen eindrängen, darum haben
die Kritikerkurse, welche man sich als gelegentliche Veranstaltung, wie auch als
bleibende Einrichtung denken kann, für die Ausbildung eines gut gerüsteten, stän-
digen Ersatzes in diesem geistigen Beruf zu sorgen.
Probleme der Uterarischen Kritik bei Aug. Wilh. Schlegel.
Von
Heinrich Merk.
1.
Die Würdigung von A. W. Schlegels kritischer Tätigkeit ist Sache des Literatur-
historikers. Die Untersuchung der Probleme jedoch, mit denen er das Arbeitsfeld
des Kritikers durchfurcht hat, gehört zur Geschichte der Ästhetik.
Kritik gilt gewöhnlich nur als eine Oeschmacksäußerung; es fehlt jede ver-
pflichtende Überlieferung. Für den Kunstrichter handelt es sich meist darum, Inter-
esse zu wecken — sei es für sich oder seinen Gegenstand. Wie er dies zustande
bringt, ist Privatangelegenheit; die Hauptsache ist, daß es ihm gelingt Schlegels
Bemühungen, so wenig sie auch beachtet worden sind, können daher noch nicht
als erledigt betrachtet werden. Es ist darin der Versuch gemacht, den entscheiden-
den Fragen auf die Spur zu kommen und so von Grund auf zu bauen').
Wie es für den Erkenntnislheoretiker unerläßlich ist, den »Gegenstand der Er-
kenntnis« scharf zu erfassen, so ist es nicht minder bedeutsam, über den Gegen-
stand des kritischen Urteils- Klarheit zu besitzen. Man muß doch schließlich wissen,
womit sich der Kritiker auseinandersetzt. Diese Frage ist scheinbar äußerst einfach
') Schlegels Werke werden in folgenden Abkürzungen angeführt: Sämtliche
Werke = S. W. Kritische Schriften = Kr. Sehr. Beriiner Voriesungen über schöne
Literatur und Kunst — B. V. Voriesungen über philosophische Kunstlehre = K.
212
BEMERKUNGEN.
und darum auch ziemlich überflüssig. In Wirklichkeit aber ist es anders als man
glaubt.
Schlegels Entwicklung ist im kleinen ein Abbild der verschiedenen Strömungen,
die in unserer Zeit noch nicht versiegt sind. Bei seinen frühsten Versuchen ist für
ihn das Kunstwerk nur ein Durchgangspunkt, um zum Künstler zu gelangen. In
einer Dantestudie fordert er vom Kritiker: ». . . in die Zusammensetzung eines frem-
den Wesens einzudringen, es erkennen, wie es ist, belauschen, wie es wurde, nicht
allein die verliehene Kraft gegen das, was sie gewirkt hat, wägen, sondern auch den
ganzen Zusammenhang der Dinge, den Widerstand oder die Hilfe des vielfach bilden-
den Schicksals mit berechnen« (S. W. HI, 199). Qundolf bemerkt in seinem Goethe-
buch über eine solche Hervorhebung des biographischen Moments treffend: >Man
kann günstigenfalls zeigen, welche Stimmung, welcher Raum, welche Erlebnisart und
Gesinnung nötig war, damit ein solches Kunstwerk überhaupt entstehen konnte.
Daß es daraus entstehen mußte und wie es in die letzten Züge hinein gerade so
wurde, läßt sich nicht feststellen.« Leben und Kunst sind eben zwei Welten, die
durch keine sichtbare Brücke miteinander verbunden sind. Wenn ein Schriftsteller
erklärt, die Schöpfung seines Werkes sei für ihn eine Notwendigkeit gewesen, so
hat diese Erklärung nicht den geringsten Erkenntniswert. Und wenn ein Kritiker
an einer Dichtung die schöpferische Notwendigkeit vermißt, so sagt er genau so
.wenig wie jener Schriftsteller.
Schlegels Methode führt außerdem noch zu philologischen und psychologischen
Exkursen, die uns von der Kunst selbst immer weiter entfernen. Sie begnügt sich
gewöhnlich mit der Sammlung von Tatsachenmaterial, das an sich äußerst lehrreich
sein mag, aber für das kritische Urteil selbst ohne Bedeutung ist. Anderseits kommt
sie zu Ergebnissen, die der Eigenart ihres Gegenstandes in keiner Weise gerecht
werden. Ein berühmtes Beispiel hiefür ist Schillers Bürgerkritik. Die dichterischen
Unvollkommenheiten des Leonorendichters werden hier aus dessen menschlichen
Schwächen hergeleitet: Was dem Menschen abgehe, fehle auch dem Künstler.
Schiller stand auf demselben Boden wie Schlegel. Dieser mußte daher entweder
die völlig einwandfrei gezogenen Folgerungen anerkennen oder seinen bisher ein-
genommenen Standpunkt aufgeben. Er entschloß sich zu einer Standpunktsänderung.
Schillers moralisierender Tendenz hielt er folgende grundlegenden Sätze entgegen:
»Die Zufälligkeiten, welche die Entstehung eines Kunstwerkes umgeben, dürfen
nicht in Anschlag gebracht werden, wenn von einer Beurteilung nach Kunstgesetzen
die Rede ist . . . Mit dem Hinstellen für die äußere Anschauung ist das Gedicht oder
sonstige Erzeugnis des Geistes von der Person des Hervorbringers ebenso losgelöst,
wie die Frucht, welche genossen wird, vom Baume; und wenngleich die sämtlichen
Gedichte eines Mannes seinen poetischen Lebenslauf darstellen und zusammen
gleichsam eine künstlerische Person bilden, in welcher sich die Eigentümlichkeiten
der wirklichen mehr oder weniger, unmittelbar oder mittelbar offenbaren: so müssen
wir sie doch als Erzeugnisse der Freiheit, ja der Willkür ansehen« (Kr. Sehr. II, 7 f.).
Das Kunstwerk ist nach dieser Auffassung ein selbständiges Ganzes, das seine
eigenen Gesetze in sich trägt und aus diesen heraus verstanden werden muß. Der
in ihm verkörperte Gedanke, und zwar nur soweit er darin in die Erscheinung tritt,
ist Gegenstand der Betrachtung. Was einer künstlerischen Schöpfung vorangegangen
ist, was ihr zugrunde liegt, kann ihr Verständnis fördern, aber wertbestimmend ist
es nicht. Es gibt sogar Kritiker, die auch diese Förderung nur ganz gering an-
schlagen. In Schlegels Ausführungen haben wir die Anfänge jenes ästhetischen
»Objektivismus«, wie er in unseren Tagen von Max Dessoir u. a. vertreten wird.
Die Bedeutung dieser »objektivistischen« Richtung hat Schlegel selbst erkannt
BEMERKUNGEN.
213
und hervorgehoben: »Wenn wir uns, ohne über den Urheber richten zu wollen,
bloß an das Geleistete halten, so bekommen wir statt eines unbekannten, uner-
gründlichen und ins Unendliche hin bestimmbaren Subjekts, das auf sich selbst
hätte handeln sollen und können, bestimmte Objekte, auf die der Dichter gehandelt
hat: nämlich seine Vorbilder, 'die poetischen Gattungen, wie sie sich historisch ge-
bildet haben oder durch ihren Begriff unwandelbar festgesetzt sind; die gewählten
Gegenstände, die ihm vielleicht von außen her überliefert wurden; endlich die
Sprache und die äußerlichen Formen der Poesie, die Silbenmaße, wie er sie vor-
fand und bearbeitete« (Kr. Sehr. II, 11). Schlegel faßt einmal das Problem in der
Antithese zusammen: »Die moralische Würdigung ist der ästhetischen völlig ent-
gegengesetzt. Dort gilt der gute Wille alles, hier gar nichts« (Kr. Sehr. I, 427).
In diesem Streben, die Probleme klar zu erfassen und alle Unklarheiten auszu-
schalten, bewährt er sich als Sohn eines von rationalistischem Geiste getragenen
Zeitalters. Wie Lessing die Grenzen von Poesie und Malerei, wie Kant die Gren-
zen der Vernunft, wie Wüh. v. Humboldt die Grenzen der staatlichen Wirksamkeit
zu ergründen sucht : so betrachtet auch er es als eine wichtige Angelegenheit, Gren-
zen zu ziehen und das Gebiet der erreichten Einsichten genau zu bestimmen.
Schlegel bewegt sich bereits in den Bahnen, die später mit größerer Energie
Wilh. Scherer eingeschlagen hat. Er hat jedoch vor diesem voraus, daß er nicht
»theoretisiert«, d. h. daß er die Tatsachen nicht in unzulängliche Theorien hinein-
zwängt. Scherer vergewaltigt die Dichtung mit einem wissenschaftlichen Dogmatis-
mus ; er verliert sich in Erörterungen von technischen Problemen und glaubt dabei
von der Kunst etwas gesagt zu haben*). Schlegel aber geht in der Anwendung
seiner Grundsätze nie zu weit, er bleibt immer zur rechten Zeit stehen. Er weiß
die Kunsttechnik von der Kunst, das bloß Formale von der eigentlichen Form wohl
zu unterscheiden. »Es gibt in der Poesie Geist und Buchstaben, einen schaffenden
und einen ausführenden Teü. Ein Gedicht kann nur unter bestimmten Bedingungen
zum äußerlichen Dasein gelangen, und insofern es diese in Übereinstimmung und
ohne Widerspruch untereinander erfüllt, kann es korrekt heißen. Niemand darf auf
den Namen eines Künstlers Anspruch machen, der nicht in dieser Technik Meister
ist. Allein sie geht zuvörderst auf das Große und Ganze, Reinheit der Dichtart,
Anordnung, Gliederbau und Verhältnis und betrachtet das Einzelne immer in Be-
ziehung auf jenes« (Kr. Sehr. II, 63 f.).
Für den Kritiker handelt es sich darum, eine Schöpfung als Einheit zu erfassen, |
ihre Eigenart und Einzigartigkeit zu durchdringen. Schlegel bekämpft jede >atomistische
Kritik«, die »ein Kunstwerk wie ein Mosaik, wie eine mühsame Zusammenfügung
toter Partikelchen, betrachtet . »Man wird finden, daß die meisten Menschen an
einem Kunstwerke nur das Einzelne loben und tadeln: von dieser oder jener Schön-
heit, wie man zu sagen pflegt, sind sie ergriffen; das Ganze als solches aber ist
für sie eigentlich gar nicht vorhanden, besonders wenn es von bedeutendem Um-
fang ist« (B. V. I, 25). Wenn man daher das Problem in eine kurze Formel zu
fassen versucht, kommt man zu folgendem Ergebnis: Das Kunstwerk, als
organische Einheit gesehen, ist »Gegenstand des kritischen Ur.
teils«.
Die Aufgabe, die damit gestellt ist, enthäh Schwierigkeiten, deren sich die
ästhetische Forschung erst allmählich bewußt geworden ist. Lessing hat bereits in
seiner Abhandlung über die Fabel die Frage aufgeworfen, worin die Einheit eines
/
') Über Scherer vgl. Rud. Unger, Philosophische Probleme in der neueren
Literaturwissenschaft.
214 BEMERKUNGEN.
I
K
Ganzen bestehe. Er findet sie in der Ȇbereinstimmung aller Teile zu einem End-
zwecke«. Der Zweckzusammenhang macht demnach aus Einzelheiten ein Ganzes.
Wenn nun ein Kunstrichter auf irgend welche Weise feststellt, daß sich die einzelnen
Teile in Beziehung auf den sie beherrschenden Zweckgedanken nicht widersprechen,
so hat er damit noch keine »organische Einheit- erfaßt. Er hat nur eine technische
Frage erörtert, deren Lösung den Wert eines Kunstwerkes nicht entscheidend be-
einflußt. Schlegel erblickt darum auch in Lessing nur einen genialen Techniker, der
alles mit der Verstandesbrille untersucht (vgl. B. V. 1, 30, II, 91, S. W. VI, 12).
Die neuere Ästhetik betrachtet das Problem mehr von der Innenseite her, so-
weit das möglich ist. Ein Kunstwerk steht vor uns als ein selbständiges, von einem
eigenen, ursprünglichen »Leben« durchseeltes Ganzes, an dem wir genießend Teil
zu nehmen glauben. Dieses objektivierte »Leben« ist aber in Wirklichkeit nur als
unser »Erlebnis« vorhanden. Sein Reichtum besteht für uns einzig in der Fülle der
»Erlebnismöglichkeiten«, die sich daran entfalten können. Man wäre daher ver-
sucht, hier von einer ästhetischen Fiktion zu sprechen: Wir verhalten uns vor einer
Kunstschöpfung, als ob sie eigenes Leben in sich berge. Eine solche Annahme
wird jedoch den Tatsachen nicht gerecht ; sie stört die Unbefangenheit und zerstört
den ästhetischen Genuß. Neue Zweifel stellen sich entgegen, sobald wir die im
Kunstwerk angeblich vorhandene »organische Einheit« suchen. Wir finden, wenn
wir uns an das äußerlich »Gegebene« halten, nur ein »Aggregat von Einzelheiten«,
die sich vielleicht um einen Mittelpunkt gruppieren; aber worauf es zurückzuführen
ist, daß durch eine solche Gruppierung ein Ganzes zustande kommt, das sagen uns
die »Tatsachen« nicht. Das »vereinheitlichende Moment« müssen wir also anderswo
suchen.
Auf dem Weg von Lessing zur neuen Ästhetik steht Schlegel. Er sieht die
Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen; er ahnt überall, worauf es an-
kommt. Aus dem Sprachgebrauch einer veralteten Psychologie spricht ein beachtens-
werter Tatsachensinn.
Ein Objekt der Außenwelt ist für uns vorhanden, sobald wir es wahrnehmen.
Anders liegt der Fall beim Kunstwerk. Solange uns dieses nur als Gegenstand der
äußeren Wahrnehmung gegenübersteht, hat es keine andere Bedeutung als etwa
der Baum, den wir zufällig sehen. Als Kunstwerk kommt es erst »durch ein
wunderbares Spiel der menschlichen Seelenkräfte zu einer praktischen Existenz in
uns«. Wir bezeichnen darum den ästhetischen Genuß auch als schöpferische Tätig-
keit, für deren Erklärung Schlegel eine besondere Fähigkeit: den »Kunstsinn« oder
das »Kunstgefühl« annimmt (K. 252, B. V. I, 23). Der Kritiker muß außerdem noch
imstande sein, »eine ganze Reihe von Eindrücken zu einem Oesamteindruck zu ver-
einigen« (B. V. 1, 25). Schlegel spricht hier von einer »poetischen Synthese« (K. 253).
Das Wesen dieser Synthese erschöpft sich nicht darin, daß ein Mannigfaltiges bloß
verbunden, sondern daß es zu einer Einheit verbunden wird.
Schlegel steht der neueren Ästhetik näher als seinem Vorgänger Lessing. Mit
dem Begriff der »poetischen Synthese« betont er das in jedem kritischen Urteil lie-
gende erzeugende Moment. Das Kunstwerk, wie es äußeriich in die Erscheinung
tritt, ist uns nur in seinen objektiven Grundlagen gegeben. In seiner Wesenheit er-
fassen wir es erst, wenn sein »Geist« in uns lebendig wird. Dies geschieht jedoch
nicht durch Überiegung und Analyse, sondern durch einen Akt des unmittelbaren
Schauens und Ergreifens. Es fragt sich natüriich, was wir hier finden. Die Ant-
wort kann zunächst nur lauten: uns selbst. Das Kunstwerk ist der Rahmen, inner-
halb dessen unser Seelenleben eine bestimmte Form empfängt — nämlich diejenige,
zu der sich die schöpferischen Kräfte des Künstlers entfaltet haben, in der sich der
BEMERKUNGEN.
215
Schaffensprozeß vollzogen hat. Je größer diese Verähnlichung Ist, um so reicher
ist unser Kunsterlebnis; um so eindringlicher wird daher auch unser Kunstverständnis
sein. Indem wir das »organische Werden« eines Werkes, wie es in der Seele des
Künstlers vor sich ging, in uns selbst nacherleben, gelingt es uns, seiner »organi-
schen Einheit« inne zu werden. Die einzelnen Eindrücke, die gewissermaßen nur
Strahlenbündel bilden, werden so auf ihre gemeinschaftliche Lichtquelle zurück-
geführt.
Natürlich liegt auch hier noch eine Fülle von unberührten Problemen vor. Was
gibt uns z. B. — um nur einiges hervorzuheben — die Gewißheit, daß wir den
Geist eines Kunstwerkes wirklich erfaßt, daß wir es nicht verfälscht haben ? Worin
unterscheidet sich ferner der »poetische Prozeß« beim Kritiker von dem des Künst-
lers? Dort findet er in einem Urteil, hier in einem Kunstwerk seine Vollendung.
Diese Verschiedenheit des Ziels deutet darauf hin, daß hier mit dem Wort »poetisch«
verschiedene Tatsachen gemeint sind. Die Zweifel werden nicht beseitigt, wenn
man die Tätigkeit des Kritikers zum Unterschiede von der schöpferischen des Künst-
lers als »nachschaffend« bezeichnet. Für den romantischen Denker ist ja der Be-
griff »poetisch« ein allumfassendes Wort; gerade darum ist es immer wichtig, fest-
zustellen, in welcher Bedeutung er gebraucht wird.
Mit den letzten Erörterungen haben wir bereits in das Gebiet des kritischen Ur-
teils übergegriffen. Es ist eben auf die Dauer nicht möglich, Probleme, die zu-
sammengehören, künstlich zu trennen und getrennt zu behandeln.
II.
Der Kritiker spricht weniger von den Dingen, die ihn beschäftigen, als vielmehr
von sich, von der Art und Weise, wie er sich zu den Dingen verhält. Worin be-
steht also das Wesen des kritischen Urteils? Ist es mehr als nur eine Wiedergabe
von bloßen »Impressionen«, von persönlichen Eindrücken?
Schlegel gibt folgende Begriffsbestimmung: »Ganz einfach erklärt, ist Kritik die
Fähigkeit, Werke der schönen Kunst zu beurteilen« (B. V. I, 23).
Der Begriff der »Beurteilung« hat erst in der neueren Philosophie tiefer drin-
gende Beachtung gefunden (Windeiband, Sigwart, B. Erdniann). Bei der Beurtei-
lung urteilt man »über« einen Gegenstand, wie man sich auch »über« einen Gegen-
stand freut. Der Gedanke liegt nahe, daß zwischen dem Akt der Beurteilung und
unserem Gefühlsleben zum mindesten gewisse Analogien bestehen, die auf eine in-
nere Verwandtschaft schließen lassen. Beide sind Reaktionen auf einen Eindruck,
mit dem sich ein Individuum dabei auseinandersetzt.
Die logische Eigenart der Beurteilung tritt in den Vordergrund, wenn wir nach
ihrem Sinn fragen. Beurteilen heißt, wie schon der Sprachgebrauch sagt, an etwas
Wertmaßstäbe anlegen. Der Begriff der »Normation« ') steht dabei im Mittelpunkt.
Wichtig ist hier die Feststellung, woher diese Maßstäbe genommen werden, welche
Bedeutung ihnen zukommt. Man kann überhaupt die Frage aufwerfen, ob in einem
kritischen Urteil wirklich Maßstäbe angelegt werden. Die Beobachtung, daß vor
allem Künstler und Kunstkenner nichts davon wissen wollen, muß zur Vorsicht
mahnen. ♦
Die beiden Probleme, die wir soeben formuliert haben, schließen zugleich die
Frage in sich: Ist die Beurteilung etwas anderes als die Anerkennung einer Tat-
sache, eines Vorganges, einer Beziehung oder nur die Anerkennung eines beson-
deren Tatbestandes?
') Über die ästhetische Normation vgl. vor allem Karl Groos, Ästhetik in »Die
Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. Hrsgb. v. W. Windelband, S. 490—505.
216 BEMERKUNGEN.
Wenn wir uns von den hier aufgestellten Gesichtspunkten aus Schlegels Ge-
dankengängen zuwenden, so müssen wir uns natürlich vor einer Auslegung hüten,
die mehr herausliest als darin liegt.
Ein Kunstwerk kann — wie Schlegel immer wieder hervorhebt — nur in un-
serer Gefühlsphäre lebendig werden. »Was mit dem Gefühl nicht aufgefaßt wird,
ist in dem Kunstwerk für uns nicht vorhanden« (B. V. I, 30). Der tiefere Sinn dieser
Forderung besteht darin: »Die Hervorbringungen der schönen Kunst sollen nicht eine
Sache des Verstandes sein, sondern in einer näheren Beziehung auf unser ganzes
Wesen stehen« (B. V. 1, 32). Dieser Satz gilt sowohl von dem, der sie schafft, wie
von dem, der sie in sich aufnimmt. Voraussetzung für das kritische Urteil ist daher
Empfänglichkeit, und zwar »in jedem Augenblicke die reinste und regste Empfäng-
lichkeit für jede Art von Geistesprodukt«. Schlegel fügt mit Recht hinzu: »Dahin
bringt es aber vielleicht niemand« (B. V. I, 26; vgl. S. W. VII, 26). Das Kunst-
erlebnis soll nun in Erkenntnisbesitz umgesetzt werden. Es fragt sich dabei: Ist
die Beurteilung »Ausdruck« eines ästhetischen Gefühlszustandes — ein »Gefühls-
urteil« — oder nur ein »Bericht«, eine Feststellung der Eindrücke, die der Kritiker
empfangen hat')?
Nach Schlegels Auffassung ist der Kunstrichter ein Sprecher der »gemeinsamen
Empfindungen«, denn »Mitteilung und Verständigung darüber erhöht den Genuß«
(Kr. Sehr. Vorw.). Er muß also vor allem Klarheit darüber besitzen, wovon er
sprechen will. Ein Kunstwerk ist in seinem Wesenskern eine psychische Erschei-
nung; also kann das kritische Urteil letzten Endes nur eine psychologische Tatsachen-
feststellung sein. Das Problem der Selbstbeobachtung wird so für Schlegel zu einem
Grundproblem der Kritik. »Es soll und darf nichts an unserem Gefühle selbst mit
Willkür verändert werden, sondern wir müssen nur frei darüber reflektieren, unsere
Empfänglichkeit selbst zum Gegenstande unserer Selbsttätigkeit machen« (B. V. I, 24,
K. 252 f.). Schlegel sucht auch den Weg anzugeben, wie wir dazu kommen. Die
ersten Eindrücke stehen unter dem Zeichen der Befangenheit; wir haben die Hen-
schaft über uns selbst verloren und sind nicht imstande, ein entsprechendes Urteil
abzugeben. »Erst durch häufige Übung bekommt die freie Tätigkeit im Gemüte die
Oberhand und es lernt vergleichen und unterscheiden, also urteilen, indem dies ja
nichts anderes ist. Die Fähigkeit zu beurteilen, beruht also darauf, daß man die
Eindrücke nicht ihrer Beschaffenheit, sondern ihren außerwesentlichen Be lingungen
nach in seine Gewalt bekomme: daß man sie festhalten, sie beliebig in der Er-
innerung erneuern ... kann« (B. V. I, 24 f.). Bedeutsam an diesen Ausführungen
ist die Schlußbemerkung. Sie verrät überraschendes Verständnis für das Wesen der
psychologischen Methode, vor allem für den experimentellen Charakter der so-
genannten Selbstbeobachtung.
Wir haben hier die Frage nach dem Wesen der Beurteilung insoweit aufgerollt,
als sie Schlegel behandelt hat. Mit diesen Bemerkungen ist natüriich der eigentliche
Sinn der kritischen Aufgabe nicht erschöpft, ja nicht einmal gestreift. Kritik ist
doch — wie die tatsächliche Übung zeigt — schließlich immer Anerkennung oder
Ablehnung eines Werkes, d. h. »Beurteilung«. Es ist möglich, daß die Maßstäbe
und Bewertungsgründe des kritischen Urteils dem Inhalte der Selbstbeobachtung
') Über den Sinn der Begriffe »Ausdruck«, »Bericht« vgl. Theod. Lipps : »Inhalt
und Gegenstand; Psychologie und Logik« (Sitzungsber. der Bayer. Akademie d.W.
Philos.-hist. Kl. 1905). Auch Ant. Marty hat sich in seinen sprachphilosophischen
Untersuchungen mit diesem Problem beschäftigt. — Über den Terminus »Qefühls-
urteil« siehe Th. Lipps, »Leitfaden der Psychologie'«, S. 198 f.
BEMERKUNGEN. 217
II
entnommen werden, wodurch der Zusammenhang mit den vorausgehenden Be-
trachtungen hergestellt wäre.
Schlegel ist unermüdlich bemüht, ein tragfähiges Fundament zu errichten. Man
wird finden, wie er sich immer die Frage nach dem Rechtsgrunde seiner Bewertungen
vorlegt. Man sieht eben bei jeder Gelegenheit, was er für ein Rationalist ist. Voll-
blutromantiker hätten sich durch solche Oewissensfragen nicht im geringsten be-
unruhigen lassen. Das »Erlebnis« — sowohl das einem Kunstwerk zugrunde lie-
gende, wie das von ihm geweckte — war für sie der untrüglichste Maßstab, um
die Berechtigung ihrer Anschauungen darzutun. Schlegel hingegen begnügt sich
nicht damit; er ist rastlos bestrebt, seine Erlebnisse mit 'dauernden Gedanken« zu
befestigen. Er geht darum niemals an grundsätzlichen Fragen vorüber; er geht
den Schwierigkeiten, die sie bieten, niemals aus dem Weg.
Wir können ganz allgemein die Frage stellen: Steht das ästhetische Urteil auf
gleicher Höhe mit der wissenschaftlichen Wahrheit, d. h. kann es wie diese An-
spruch auf allgemeine Gültigkeit erheben? Hat es Erkenntniswert oder nur Be-
kenntnischarakter? Darin ist zugleich die Frage nach den Rechtsgründen, nach den
Wertmaßstäben der Beurteilung enthalten. Wir müssen dabei Kants Lehren als
geistigen Hintergrund ständig voraussetzen.
Jeder Tätigkeit, wobei der Mensch Selbstzweck ist, kommt nach Schlegel das
Prädikat »absolut« zu. Die Kunst ist solch ein absoluter Zweck. Daraus folgt, daß
wir »ihr Gesetz im menschlichen Geist« aufsuchen müssen. »Bei allen Dingen, die
ihren Grund im Menschen selbst haben, geht die Praxis der Theorie voran; so
auch bei den schönen Künsten und der Poesie« (K. 251; vgl. B. V. I, 8 f.). Aus
der Tatsache nun, daß man die Kunst nicht erlernen kann, folgert Schlegel ganz
im Geiste Kants, daß die Einsichten, die uns die Wissenschaft hier vermittelt, »bloß
negativ« sind. Wir erfahren daraus nur, was wir vermeiden müssen ; »aber sie kann
nicht zur Hervorbringung eines Kunstwerks beitragen«. »Das Wesentliche bei den
schönen Künsten ist eben das, was uns die Natur gibt. Von einem schönen Kunst-
werk fordern wir wirkliche Energie. Diese kann nicht aus einem Begriffe als etwas
Totem herkommen. Das Genie bringt daher etwas hervor, das sich nicht erlernen
läßt« (K. 251). Hier finden wir bereits Ansätze zu der berühmten Unterscheidung
Schopenhauers zwischen »Idee« und »Begriff« (vgl. Welt als W. und V. I, 3, § 49).
Was uns im vorstehenden als »wirkliche Energie« entgegentritt, ist schließlich nichts
anderes als die im Kunstwerk wirkende »Idee«.
Im Verlauf der Untersuchung gibt Schlegel dem Problem eine schärfere Formu-
lierung, eine positive Wendung. »Man muß immer zwischen den Forderungen an
die Kunst (die mit dem Umfang und der Höhe der intellektuellen Bildung ins Un-
endliche steigen) und den Gesetzen der Kunst, die auf bestimmten Verhältnissen
beruhen, die immer dieselben bleiben, weil sie auf die innere Eigentümlichkeit des
Menschen gegründet sind, unterscheiden. Die Regeln der Kunst dürfen den Forde-
rungen nicht aufgeopfert werden« (K. 285). Die Gesetze sind die Voraussetzungen,
ohne die ein Werk nicht bestehen kann: aber sie machen nicht sein Wesen aus.
Sie können abgeleitet, sie können gelehrt und gelernt werden. Sobald wir ihren
Sinn erfaßt haben, wissen wir auch, was wir zu vermeiden haben. Sie besitzen
keine schöpferische Kraft, sie sind nur Technik. Schlegel meint damit z. B. Lehren
wie die Aristotelischen Einheiten, die man psychologisch erklären kann. Die »For-
derungen« hingegen, die wir stellen, beziehen sich auf etwas ganz anderes; sie
zielen auf eine »Ästhetik von oben«. Sie erst verleihen einem Werk seinen eigent-
lichen Inhalt und Gehalt. »Das Ideal des Menschen soll in der Form eines Kunst-
werks ausgedrückt sein« (K. 251). Jene »Forderungen« sind wie das menschliche
218 BEMERKUNGEN.
Ideal, auf das sie gerichtet sind, in steter Wandlung begriffen und Icönnen gleich
ihm nicht in feste, begriffliche Formeln gebracht werden.
Mit diesen Feststellungen ist die Kunstlehre, d. h. die Lehre von dem, was in
der Kunst gelernt werden kann, als Grundlage für die Kritik erledigt. Wenn man
diese zur Theorie in Beziehung setzen will, so ist ihr Verhältnis direkt umgekehrt.
»Die kritische Reflexion ist eigentlich ein beständiges Experimentieren, um auf
theoretische Sätze zu kommen« (B. V. 1, 27). Die Prinzipien, die der Kritiker be-
nötigt, muß er vermöge »eines philosophischen Instinkts«, »durch eine Art philo-
sophische Divination« selbst finden (K. 253).
Der Unterschied zwischen der schöpferischen Tätigkeit des Künstlers und der
nachschaffenden des Kritikers kann hier tiefer erfaßt werden. Die Ideen, die ein
Kunstwerk zum Leben wecken, sind etwas Ursprüngliches; man kann sie nachträg-
lich verstehen, aber nicht voraussehen. Ebensowenig läßt sich die Welt des Psychi-
schen, in der sie zeugend wirken, in der sie zu neuem Leben erwachen, auf eine
psychologische Formel bringen, aus der man die Erscheinungen ableiten könnte.
Warum ferner ganz bestimmte Ideen in einem Künstler schöpferische Kraft ge-
winnen, warum sie in einer ganz bestimmten Form in die Erscheinung treten,
auch das läßt sich nicht erklären. Eine Kritik, die — wie z. B. Nietzsche fordert —
vom Künstler ausgehen soll, ist darum eine Unmöglichkeit. Der Kritiker muß zwei-
fellos vom Kunstwerk ausgehen. Wie dieses in ihm zur Entstehung gelangt, haben
wir bereits angedeutet. Das kritische Verständnis, das mehr sein will als bloße Be-
schreibung von Empfindungen und Gefühlen, muß sich also darauf beschränken, die
»Wirkungen des Kunstwerkes aus den Anlagen der menschlichen Natur, aus den
Forderungen des äußeren Sinnes, der Einbildungskraft, des Geschmackes, des Ver-
standes und des sittlichen Gefühls befriedigend zu erklären ; und überall von dem
besonderen Fall auf allgemeine Wahrheiten und Grundgesetze zurückzuweisen« (Kr.
Sehr. Vorw). Alle Erkenntnismittel, mit denen wir den Geist eines Kunstwerkes
und der Kunst überhaupt zu erfassen suchen, sind nur voriäufiger Ersatz für eine
»Theorie der Poesie, worin die Vorschriften dieser Kunst aus den unabänderilchen
Gesetzen des menschlichen Gemütes hergeleitet, nach dessen notwendigen Richtungen
die ursprünglichsten Dichtarten bestimmt und ihre ewigen Grenzen festgestellt wären«.
Der Kunstrichter wäre dann in der Lage, »die schon bekannte Lehre auf einen vor-
liegenden Fall anzuwenden« (S.W. XI, 183 f.; vgl. K. § 166). Man darf hier natür-
lich nicht die einzelnen Worte auf die Wagschale legen, sondern muß den Sinn des
Ganzen zu erfassen suchen. Diese Anschauungen verraten unverkennbar ihre Her-
kunft aus dem Gedankenkreis der Aufklärungsphilosophie. Um die Rechtsverbind-
lichkeit ihrer ästhetischen Maximen und Prinzipien zu beweisen, beriefen sich z. B.
die Schweizer Theoretiker — Bodmer, Breitinger — auf die Forderungen des mensch-
lichen »Gemüts«'). Was in der Natur der Seele begründet schien, konnte sicher auf
Anerkennung rechnen.
Wilhelm Wundt hat bereits auf die Ähnlichkeit zwischen der Aufkiärungsphilo-
sophie und dem philosophischen Denken unserer Zeit aufmerksam gemacht*). Dort
wie hier besitzt die Psychologie eine beherrschende Stellung. Auch Schlegels Be-
strebungen weisen darum nicht nur nach rückwärts, sondern auch nach vorwärts.
Die Einsichten des Kritikers können sich vorläufig nicht mit den Erkenntnissen
der Wissenschaft vergleichen. Ihre Voraussetzungen sind unzureichend, ihre Ergeb-
') Vgl Ernst Cassirer, Freiheit und Form, S. 106. Herrn. Hettner, Lit.-Gesch.
d. 18. Jahrh. III, 1, S. 343.
") Vgl. W. Wundt, Psychologie in »Die Philos. z. Bez. des 20.Jahrh.<, S.2.
BEMERKUNGEN. 219
nlsse daher unvollkommen; der Bekenntnischarakter überwiegt. Wir sprechen deshalb
auch, wenn wir uns streng ausdrücken, nicht von der Richtigkeit, sondern von der
Fruchtbarkeit einer Kritik. Wir sagen: Sie ist ihres Gegenstandes würdig; sie ent»
spricht ihm, sie ist ihm angemessen. Die Grundfrage ist daher: Wie können diese
Schranken der Subjektivität überwunden werden? Wenn eine Theorie der Poesie
aufgestellt werden soll, so darf sie nicht aus den individuellen Eigenschaften eines
einzelnen, sondern muß aus den Forderungen der menschlichen Natur überhaupt
abgeleitet werden. Welche Schwierigkeiten sich hier entgegenstellen, können wir
bei jeder Gelegenheit beobachten. Wir schweigen von den Hemmungen, die wir
zu überwinden haben, wenn es sich um ein Werk einer fremden Kultur, einer
fernen Vergangenheit handelt. Schlegel weist nachdrücklich darauf hin, wie schwierig
es Ist, ein solches Werk aus seinen historischen Bedingungen heraus kritisch zu
würdigen (Kr. Sehr. I, 27 f. ; II, 94). Die Literatur- und Kulturgeschichte muß dabei
ergänzend und berichtigend eingreifen (vgl. K. 253; B. V. I, 26 f.). Der Kritiker
gliedert aber seinen Gegenstand nicht nur in einen objektiv-historischen Zusammen-
hang ein, d. h. er betrachtet ihn nicht nur nach den näheren Umständen, unter denen
er entstanden ist, sondern er sucht zugleich die Eindrücke, die er empfängt, seinem
eigenen geistigen Besitzstand anzupassen. Er legt an jede neue Erscheinung Maß-
stäbe an, die er seinen bisherigen Erfahrungen entnimmt. Das Urteil wird also ver-
schieden sein, je nach der Entwicklung des Urteilenden. »Solange die Gegenstände
der Vergleichung mit dem vorliegenden nur diejenigen sind, die sich gerade vor-
finden, die wir so zufällig gesammelt haben, bleibt das Urteil immer bloß subjektiv;
objektiv, über unsere Person hinaus gültig, kann es nur dadurch werden, daß die
Vergleichung mit solchen Gegenständen angestellt werde, die wirklich dazu ge-
hören und einen wahren Maßstab der Vollkommenheit abgeben können, welches
denn keine andere ist, als die vortrefflichsten Werke derselben Kunst in verschiedenen
Gattungen« (B. V. I, 26). Auch diese »Vergleichung« ist natürlich für Schlegel nur
ein unvollkommener Ersatz für die fehlende Theorie. In welchem Sinne er diesen
Begriff, der leicht mißverstanden werden kann, genommen haben will, zeigt z. B.
seine Kritik von »Hermann und Dorothea<:. Er geht hier von einer Betrachtung des
epischen Gedichtes aus, wie es in Homers Werken verkörpert ist, um von hier in
den Sinn von Goethes Dichtung einzudringen. Diese ^Vergleichung mit klassischen
Vorbildern« besteht jedoch nicht darin, daß der Kritiker den griechischen und den
deutschen Dichter gegenüberstellt, sondern das Homerische Gedicht ist für ihn nur
der Fundort des epischen Gedankens. Diesen allein will er ergründen, um Goethes
Schöpfung zu würdigen.
Die Schwierigkeilen, die wir hier erörtert haben, sind jedoch nur von sekundärer
Bedeutung gegenüber dem Problem : Was berechtigt uns überhaupt, für unsere kriti-
schen Urteile allgemeine Anerkennung zu beanspruchen? Wir haben bereits darauf
hingewiesen, wie wichtig es ist, daß der Urteilende »in jedem Augenblicke die
reinste und regste Empfänglichkeit für jede Art von Geistesprodukt in sich hervor-
rufe«, daß er »alles, was bloß von der Stimmung herrührt«, von der Kunstbetrach-
tung ausschließe (B. V. 1, 26; K. 253). Der Kritiker soll ein Kunstwerk mit dem
Gefühl aufnehmen; er soll aber dabei, wie Schlegel hervorhebt, nicht als Individuum,
sondern als Mensch affiziert werden. Er darf sich darum nicht von Stimmungen,
d. h. von zufälligen, rein persönlichen Gefühlszuständen bestimmen lassen. Alle
diese Zufallsmomente müssen ausgeschaltet werden. Es wird eine Allgemeingültig-
keit der Gefühle, eine Gefühlsobjektivität gefordert. Für den Aufbau der Poetik
stellt Schlegel gelegentlich den Satz auf, daß sie »aus dem reinen Objekt, aus dem,
was der Mensch ohne alle empirische Bestimmung an sich ist, schöpfen müsse i.
220 BEMERKUNGEN.
(K.250). Seine Anschauungen münden damit ein in Kants Begriff der »subjektiven
Allgemeinheit« '). In unserer Zeit haben im Anschluß an Fichte vor allem Husserl
und Lipps diese Lehre weiterzubilden versucht: Bei jedem logischen, ethischen oder
ästhetischen Urteil wird aus dem empirischen, individuellen Ich das »reine«, »über-
individuelle« Ich herausgelöst. Alles, was wir als »Norm« bezeichnen, was allge-
meine Gültigkeit beansprucht, hat hier seinen Ursprung, nimmt von hier seine ver-
pflichtende Kraft. Diese Antwort ist natürlich keine »endgültige« Lösung, sondern
eine neue Problemstellung. Schließlich ist jede wissenschaftlich bedeutsame Antwort
nur eine neue Problemstellung auf einer höheren Stufe. Die Annahme einer »sub-
jektiven Allgemeinheit«, eines »reinen Ich« ist mit unverkennbaren Schwierigkeiten
belastet. Vor allem dürfte sie ziemlich unfruchtbar und logisch nicht ganz unbe-
denklich, sein. Unser Urteil kann Allgemeingültigkeit beanspruchen, wenn das »reine
Ich« urteilt. Wann aber ist dies der Fall? Das Kriterium hiefür fehlt. Oder soll es
die tatsächliche Anerkennung sein? Wenn man sich nicht in einen Zirkelschluß
verlieren will, gerät man in metaphysisches Nebelreich. Kart Oroos bezeichnet die
Hypothese eines »zeitlosen überindividuellen Bewußtseins« mit Recht als >ein dünnes
und schwankes Seil, das über dem .Abgrund der Metaphysik' ausgespannt ist«^).
Gerade für den Kritiker, der über seine Tätigkeit nachdenkt, müssen diese
Probleme und die darin verborgenen Widersprüche von Bedeutung sein.
Eine Kunstschöpfung ist keine schemenhafte Idee, sondern greifbare Wirklich-
keit. Aus dem Persönlichsten eines Künstlers ist sie hervorgegangen ; nur in einem
reich ausgeprägten Seelenleben kann sie wieder lebendig werden. Und doch suchen
wir gerade in der Kunst überall den »typischen Fall«. Wir fordern von einem Kunst-
werk, daß es mehr sei als ein Werk der Willkür und des Zufalls; wir vertangen
vom kritischen Urteil, daß es nicht von Laune und Stimmung diktiert werde.
Sind mit dieser Gegenüberstellung Gegensätze aufgesteUt? Ist das Typische die
Aufhebung des Individuellen oder erst dessen eigentliche Vollendung? Ist es nur
eine wirklichkeitsfremde Abstraktion oder der tiefere Sinn aller konkreten Erschei-
nungen? Jeder Versuch, Allgemeingültiges zu schaffen, Maßstäbe und verpflichtende
Forderungen zu formulieren, endigt mit solchen Fragen.
Schlegels kritische Grundgedanken, die er aus einem umfassenden Material
herausgearbeitet hat, sind ebensowenig, wie die neuesten Untersuchungen auf diesem
Gebiete, befriedigende Antworten ; aber sie sind Beiträge zur Entwicklung der ästhe-
tischen Probleme, die nicht übersehen werden dürfen.
') Vgl. Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 340 f.
2) Vgl. K. Oroos a. a. O., S. 502.
Besprechungen.
Vom Altertum zur Gegenwart. Die Kulturzusammenhänge in den Haupt-
epochen und auf den Hauptgebieten. Verlag von B. O.Teubner in Leipzig, 1919.
gr. 8°. 308 S. — Das Gymnasium und die neue Zeit Fürsprachen
und Forderungen für seine Erhaltung und seine Zukunft. Verlag von B. G. Teub-
ner in Leipzig, 1919. gr. 8». 220 S.
Die beiden in der Überschrift genannten Bücher gehören nicht eigentlich in
unser Fachgebiet, dennoch sollen sie hier erwähnt werden, da ihre Absicht, die Be-
deutung des klassischen Altertums und des humanistischen Gymnasiums ans Licht
zu stellen, auch in unsere Wissenschaft eingreift. Das erste Buch zeigt die Zu-
sammenhänge zwischen Altertum und Gegenwart erst im allgemeinen (Mittelalter,
Renaissance, Neuhumanismus, neunzehntes Jahrhundert), dann auf den einzelnen
Gebieten. Hier kommen für uns namentlich bildende Kunst und Literatur in Be-
tracht; über jene schreibt L. Curtius, über diese Roethe. Beide Aufsätze sind zu rühmen,
denn ihre Verfasser haben die Fähigkeit, aut zwanzig Seiten bekannte Hauptsachen
rein und klar darzustellen, ohne in bloßes Geschwätz zu verfallen; andere Mitarbeiter
sind der Gefahr eines leeren, mehr oder mindergut klingenden Geredes nicht ausgewichen.
Noch höher aber möchte ich einen Beitrag stellen wie den von Ernst Goldbeck über
Weltbild und Physik, weil in ihm neue Gesichtspunkte überzeugend verwertet
sind. Das zweite Buch, aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetzt, wirkt durch
seine Buntfarbigkeit. Ich habe meine helle Freude daran gehabt, zu beobachten,
wie verschieden die Persönlichkeiten sich äußern, obwohl sie alle auf der Seite
der Bejahung stehen. Wäre ich gefragt worden, ich hätte zwischen dem Gym-
nasium, das mir vorschwebt, und der Schule, in der ich elf Lebensjahre verbringen
mußte, einen dicken Trennungsstrich gemacht.
Berlin. Max Dessoir.
Theodor A. Meyer, Die ästhetische Erziehung in der Schule. Tü-
bmgen 1919, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 30 S.
Das Problem der ästhetischen Erziehung, das eine Zeitlang lebhaft erörtert wurde
wird jetzt bei den mancherlei pädagogischen Reformplänen leider zu wenig berück-
sichtigt. Es ist daher sehr zu begrüßen, daß Th. A. Meyer dieses Problem zum Gegen-
stand eines Vortrags auf der Jahresversammlung des Württembergischen Philologen-
vereins gemacht hat. In klar formulierten Ausführungen behandelt er die prinzipielle
Frage nach dem Charakter und dem Wert der ästhetischen Erziehung in der Schule,
ohne dabei auf praktische Vorschläge über die Anwendung im einzelnen einzugehen.
Als erste Aufgabe der ästhetischen Erziehung stellt Th. A. Meyer im Gegensatz zu
anderen Ansichten nicht die Darbietung von Kunstgenüssen auf, sondern die Heran-
bildung zur Form, zur freien Menschlichkeit. Ästhetische Erziehung soll zum Hervor-
bringen, zum Schaffen des Schönen anleiten in ganz elementarer Weise, auf münd-
lichen, schriftlichen und zeichnerischen Ausdruck der Schüler, auf körperliche Bc
222 BESPRECHUNGEN.
wegung und persönliches Auftreten soll sie sich erstrecken. Das Ideal der griechi-
schen Kalokagathie will Meyer erreichen. Der Begriff der ästhetischen Erziehung
wird hier also in einem sehr weiten Sinn genommen, Form ist als Form der indi-
viduellen Lebensführung überhaupt verstanden. »Man erziehe die Schüler zu grö-
ßerer Selbsttätigkeit, man gebe ihnen mehr Freiheit der Bewegung, dann wird sich
die Form als Frucht fast von selber einstellen« (S. 14), so meint Th. A. Meyer, viel-
leicht doch etwas zu optimistisch von der Selbsttätigkeit und ihrer Wirkung urteilend.
Als zweite Aufgabe erscheint die Erziehung zum Verständnis des Schönen, also
eine ästhetische Erziehung im engeren Sinn. Hier gibt Meyer eine dithyrambische
Schilderung über den idealen, allgemeinbildenden Wert der Kunst und das Interesse
der Jugend an ihr — da wünschte man doch positivere, psychologisch begründete
Darlegungen : man wird zweifeln, ob den Kleinen gerade für die »Treuherzigkeit
und Gemütswärme von Meistern wie Richter und Thoma« das Verständnis leicht
zu erwecken wäre (S. 14) oder ob moderne erwachsende Knaben nacherlebend »in
sich den großen Heroismus des Willens und der Freiheit« entdecken, der ihnen
»aus Schiller entgegenleuchtet« (S. 20). Das Kunstwerk ist für Meyer vor allem
Ausdruck der Künstlerpersönlichkeit, des Volkscharakters und des Menschentums.
Aber so wichtig solcher Lebenswert der Kunst für die Erziehung auch ist, so fragt
es sich doch, ob darin die Hauptaufgabe der ästhetischen Erziehung beschlossen ist
oder ob nicht auch eine andere Betrachtungsweise der Kunst berechtigt sein kann,
die darum nicht in Ästhetizismus auszuarten braucht. Meyer geht so weit, daß er
es geradezu als »eine Versündigung an der Nation- ansieht, »wenn man die Kunst-
erziehung an griechischen und italienischen Werken ihren Anfang nehmen läßt'<
(S. 23). Von der Einführung eines besonderen Lehrfachs der Kunstgeschichte glaubt
er, daß dadurch nur der »Notizenkram der Schule« vermehrt und die »Kunstfreudig-
keit untergraben würde« (S. 27). Das wird bei einem Unterricht, der mit pädagogi-
schem und ästhetischem Verständnis methodisch geleitet wird, keineswegs der Fall
sein, vielmehr bietet sich gerade hier ein wichtiges Mittel der ästhetischen Erziehung.
Mit Recht weist aber Th. A. Meyer am Schluß seines Vortrags darauf hin, daß
die Kunsterziehung nicht nur ein Problem der Schulreform, sondern auch eines der
Lehrervorbildung sei (S. 28), daß unsere Lehrer auch zu Kunstverständigen heran-
gebildet werden müßten.
Mag man auch in manchen Punkten mit Th. A. Meyer nicht übereinstimmen,
so wird man doch aus seinen klugen, feinsinnigen Worten Anregung schöpfen.
Oreifswald. Willy Moog.
Rudolf Bernauer, Die Forderungen der reinen Schauspielkunst.
Ein erkenntnistheoretischer Versuch. Erich Reiß Verlag, Berlin 1920. gr. 8°.
181 S.
Hätte Bernauer — ähnlich wie Engel in seinen Ideen zu einer Mimik —
in zwangloser Folge seine Gedanken über Schauspielkunst aneinandergereiht, er
hätte uns die Besprechung seines Buches bedeutend erleichtert. Daß er es mit dem
anspruchsvollen Apparat wissenschaftlicher Beweisführung auszustatten sucht, und so
zum Vergleich mit dem einzigen wirklichen Wissenschaftler auf diesem Gebiet zwingt,
den er seltsamerweise nicht erwähnt — nämlich Rötscher — das kommt dem
Ganzen nicht zustatten.
Es ist der grundlegende Irrtum dieses Buches, zu glauben, der reichliche Ge-
brauch wissenschaftlicher Ausdrücke trage wesentlich zu einer Beweisführung bei.
Man wird diesen irrtümlichen Respekt vor der Kraft der Deduktion dem Nicht-
wissenschaftier gerne nachsehen, aber gesagt muß doch werden, daß der scharf-
BESPRECHUNGEN.
223
sinnigste logische Aufwand da schmählich vertan ist, wo von falschen Voraussetzungen
ausgegangen wird.
I Das Ergebnis der Bernauerschen Untersuchung sind drei Gesetze: die »konzen-
trische Perzeption«, die Verkörperung der dichterischen Figur durch die Mittel der
Menschendarstellung und drittens, das Zusammenspiel im Sinne der höheren dich-
terischen Einheit. Um zu diesen Gesetzen, die eigentlich Selbstverständlichkeiten
sind, zu gelangen, baut der Verfasser eine breite grundsätzliche Untersuchung auf,
deren Gedankengang etwa der ist: Alle Künste ergehen sich in ihren Bezirken.
Auch die sogenannten reproduktiven Künste. Der Musiker spielt Musik. Spielt aber
der Schauspieler auch Schauspiel? Nein. Der Schauspieler spielt Dichtung. Hie
Lßchauspiel —- hie Dichtung. Zwei gänzlich verschiedene Gebiete, die überbrückt
"werden müssen. Die Brücke zu beiden schlägt die reine Schauspielkunst. So an-
regend diese Ausführungen sind, so haben sie doch leider den Fehler, von einer un-
fruchtbaren Grundüberlegung auszugehen, nämlich der,derSchauspieler spiele Dichtung.
Der Schauspieler spielt lediglich Schauspiel. Auch für das Stegreif-Schauspiel —
also die nicht schriftlich fixierte Komödie — müßten die Forderungen der reinen
Schauspielkunst gelten. Daß das schriftlich niedergelegte, nicht gespielte Drama in
Buchform ein Eigenleben führt, ist keineswegs ausschlaggebend. Die Schrift ist das
Mittel, dessen sich der Dichter bedient, dem Theatermann sein Werk vorzulegen.
Genau so wie die Noten das übermittelnde Medium für den Musiker sind. Ber-
nauers Versuch, von der Schauspielkunst im Gegensatz zur Musik nachzuweisen,
sie lebe sich im »exogenen« Element aus, ist trotz aller Anstrengungen gescheitert.
Der Komponist schreibt für den Musikspieler; der Dichter schreibt nicht für den
Schauspieler« heißt es bei Bernauer. Aber er übersieht völlig das Zwingende in der
Transkription eines Kunstschaffens. Das Musikstück wird ebensowenig komponiert
im Hinblick darauf, gespielt zu werden, wie das Drama aufführungshalber geschrieben
wird. Beide werden zunächst lediglich um ihrer selbst willen geschaffen. In Noten
und Buchstaben niedergelegt, erwachen sie zu ihrem wahren Leben durch die
Wiedergabe. Das Theaterstück, nur gelesen, entspricht der Sinfoniepartitur, die man
auf dem Klavier spielt. Die Forderungen der reinen Schauspielkunst, die ein Vor-
recht eben dieser aprioristischen Erkenntnisse sein sollen, gelten sinngemäß ebenso
für die Musik. Auch der Violoncellist im Streichquartett muß das »Gesamtwerk«
verstanden haben, um seine Stimme richtig auszuführen; auch hier genügt nicht
mechanische Wiedergabe. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Verhältnis
des reproduzierenden Musikers zum Musikstück und des Schauspielers zum Schau-
spiel ist in keiner Hinsicht bewiesen, läßt sich nach unserer Meinung auch nicht
beweisen. Es ist also ein unnützer Umweg, wenn der Verfasser, um zur Erkenntnis
seiner Gesetze zu gelangen, eine Sonderstellung der Schauspielkunst konstruiert.
Es liegt nicht an dieser Sonderstellung, wenn die drei Gesetze, die er aufsteih,
richtig sind, sondern ihre Begründung stammt aus dem Wesen der reproduzierenden
Kunst überhaupt. Ohne die Konstruktion dieser Sonderstellung sind andere Schrift-
steller aus dem Begriff der Schauspielkunst heraus zur Aufstellung der gleichen
Gesetze gelangt.
Die Lektüre dieses Buches hat vielfach angeregt, obwohl sie meist zum Wider-
spruch herausfordert. Wenn Fachleute ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen
bei Ausübung der Kunst uns mitteilen, ist das nur aufs lebhafteste zu begrüßen;
aber sie tun gut daran, sie uns in schlichter Form weiterzugeben. Dem Wissen-
schaftler mag es dann vorbehalten bleiben, diese Bausteine zu systematischen Er-
kenntnissen zu verwerten.
Beriin. Robert Klein.
224 BESPRECHUNGEN.
Der Schauspieler. Von Ferdinand Gregor i. Aus Natur und Oeisteswelt
Bd. 692. Verlag von B. O. Teubner, Leipzig, kl. 8°. 132 S.
Dies Werkchen ist aus einer vielseitig reichen Erfahrung geboren, ist getragen
vom Liebeshaß gegen das Theater, ist in einem guten, männlichen Deutsch ge-
schrieben — und bleibt dennoch unterhalb der dem Verfasser erreichbaren Voll-
kommenheit, weil es mit einer inneren Unruhe behaftet ist, die keinen der an-
geschlagenen Töne ausklingen läßt. Nach einem flüchtigen Rückblick auf die ge-
schichtliche Entwicklung kommen zuerst ein paar Seiten über das Leben des Schau-
spielers als Mensch, die allerdings jeder Anwärter des Berufs Wort für Wort lesen
sollte, die aber auch viele Fragen offen lassen. — Uns Theoretikern ist der dann
folgende Abschnitt wichtiger. Es handelt sich da um das Verhältnis zur Dichtung,
zum Spielleiter und zum Publikum; wir finden in diesem Abschnitt ausgezeichnete
Bemerkungen, schlagende Beispiele, doch nicht jene Bohrarbeit, zu der Oregori
wie kein anderer seiner Berufsgenossen befähigt ist und der er hier trotzdem ent-
sagt — aus irgendwelchen Gründen, aus Raummangel oder aus Rücksicht auf die
Masse der jugendlichen Leser. Einen wirklichen Gewinn bringt im nächsten Kapitel
die Unterscheidung von Stufen beim schauspielerischen Schaffen: das Ertasten, das
Zergliedern, das Aufbauen. Weniger kommen für uns in Betracht die späteren Ab-
schnitte, in denen vom Lehrer, vom Bühnenweg, vom Film und von der sozialen
Stellung gesprochen wird. Ich wünschte also sehr, daß Gregori einmal eine bis
in die Tiefen dringende Untersuchung seiner Kunst durchführte, unabhängig von
diesem Büchlein, das dem Schauspieler-Anfänger auf der einen Seite, dem Theater-
freund auf der anderen Seite durchaus nützlich, indessen weder der Problematik der
Schauspielkunst noch der geistigen Bedeutung des Verfassers völlig angemessen ist.
Beriin.
iVlax Dessoir.
Hans Hildebrandt, Wandmalerei; ihr Wesen und ihre Gesetze. Mit
462 Abbildungen, darunter 266 Hilfszeichnungen des Verfassers. Deutsche
Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1920. X und 351 S.
Dieser stattliche Band kennzeichnet sehr deutlich die Tendenz der jüngeren
Kunstgeschichte nach kritischer Selbstbesinnung und systematischer Aufklärung. Ihr
Erfolg soll in Aufdeckung der Gesichtspunkte und Leitbegriffe bestehen, die eine
Auswertung des kunsthistorischen Materials in angemessener Weise ermöglichen.
Hildebrandt merkt man die Lippsschule an, besonders dessen »ästhetische Mechanik«.
Er ist aber nicht einseitig; die Kunstdiskussionen der letzten Jahre spiegeln sich in
seiner Schrift. Sie zeichnet sich durch lebendige Kunstnähe und geschmackvolle
Darstellung aus; die etwas ermüdende Breite kommt jedoch nicht einer letzten Ver-
tiefung zustatten. Der Verfasser liebt die Nebeneinanderstaffelung, meist ohne dem
sie erzeugenden Rechtsgrund nachzuspüren. Dazu gesellt sich noch eine merk-
würdige Literaturbehandlung: im Anhang werden auf 15 Seiten eine Unzahl von
Arbeiten genannt — sehr flüchtig und mit störenden Druckfehlern — der Text aber
bekümmert sich wenig um sie. So ist z. B. das einleitende Kapitel — über die
Begriffsbestimmung des Kunstwerks — auffallend dürftig. Doch sollen diese Mängel
nicht den Blick für die Vorzüge dieses verdienstvollen Werkes trüben, das ein weites
und sprödes Gebiet klar und kenntnisreich durchforscht.
Das Tafelbild erscheint als ausschließliches Werk der Malerei ; das Wandgemälde
als Werk der Malerei und der Architektur. Darum werden in besonderen Ab-
schnitten die Elemente des Bildes und die der Wand geprüft; ihre Vereinigung ist
nur möglich, wenn Malerei wie Architektur auf strengste Durchführung ihrer beson-
I
i
BESPRECHUNÜEN.
225
deren Schaffensgesetze verzichten, um eine neue Einheit zu schaffen. Weitere Unter-
suchungen gelten der geistigen Angliederung des Wandgemäldes und seiner Ein-
teilung in das Formgefüge des Bauwerks. Ein eigener Abschnitt ist der räumlichen
Wirkungsrolle der Wandmalerei gewidmet. Ihre einzelnen Arten (Decken- und
Oewölbemalereien, Fassadenmalereien usw.) werden behandelt, ebenso ihre Technik.
Betrachtungen über Ergänzungen der Wandmalerei (Schmuck des Fußbodens, Olas-
gemälde, Intarsia, Wandteppich und Vorhang) bilden den Abschluß. — Schlechthin
bewundernswert sind die Druckausstattung des Buches und die überreiche, vor-
treffliche Illustrierung.
Rostock. Emil Utitz.
Carl Robert, Archäologische Hermeneutik. Anleitung zur Deutung klas-
sischer Bildwerke. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1919. 8". 432 S.
Während Robert bereits im Jahre 1886 in seinem »Bild und Lied« betitelten
Werk eine systematisch angelegte Untersuchung des Verhältnisses der literarischen
Überlieferung, des Stoffes, zu den Kunstwerken des Altertums gegeben hat, betont
er in dem kurzen Vorwort zu seinem neuen Buch, daß er nur Regeln vortrage, die
sich ihm auf rein empirischem Wege, also während seiner jahrzehntelangen erfolg-
reichen Lehrtätigkeit, ergeben haben. Er überläßt es »philosophischeren Köpfenc, die
Gesetze der Hermeneutik in ein System zu bringen. Daraus geht hervor, daß Robert
den Begriff der Hermeneutik nicht in ihrem eigensten Sinn, als Theorie von den
verschiedenen möglichen Methoden der Erklärung faßt, sondern — wie es auch die
Theologen bei dem geläufigeren Begriff der biblischen Hermeneutik tun — als die
dem modernen Archäologen selbstverständliche sachliche Exegese, die historisch-
literarische Erklärung und Auslegung der Bildwerke selbst. Auch die Beschreibung,
die doch nicht selbst Hermeneutik ist, sondern nur ihre notwendige Grundlage
bildet, behandelt Robert ausführlich im ersten Abschnitt und zieht sie dann immer
wieder heran. An der Hand von 300 Abbildungen, die er größtenteils mustergültig
beschreibt und analysiert, lehrt Robert den Leser die Kunst des klassischen Alter-
tums erkennen und verstehen. Er dringt vor allem darauf, jedes Kunstwerk zu-
nächst aus sich selbst heraus zu erklären, den Absichten des Künstlers nachzuspüren,
dann aber Mythologie, Literatur, besser erhaltene andere Bildwerke, Umgebung,
Pendants und Fundort mit Vorsicht und ohne »übel angewandte Gelehrsamkeit«
als Hilfsmittel der Deutung heranzuziehen. Reine kritische Tatsachen-Forschung
will Robert geben. Da es aber zwischen beschreibender und normativer Wissen-
schaft keinen scharfen Schnitt gibt, so berührt Robert immer wieder systematische
Grundfragen, obwohl er ihre grundsätzliche Behandlung ablehnt. Während ihm jede
theoretische Beschäftigung mit den Formen und Gesetzen der Kunst, jedes ästhetische
Urteil über formale Eigenschaften der Kunstdenkmäler fern liegt, gibt er glänzende
Analysen nicht nur des stofflichen oder geistigen Inhalts, sondern auch der Elemente
der künstlerischen Gestaltung, z. B. für den Ostfries des Parthenon (S. 31 f.). Seine
vorzüglichen Interpretationen der Kunstwerke erziehen zu genauem Sehen und zum
Nachempfinden der Absichten des Künstlers. In einigen Fällen freilich veriührt
das lebhafte Temperament des Verfassers ihn zu so abstrusen Deutungen wie die
des Ares Borghese auf Paris (S. 42 f.) und des Ostgiebels von Olympia auf den
Auszug zweier Krieger zum Kampf (S. 290 ff.) oder zu den übertriebenen Aus-
deutungen des Ausdrucks der Augen auf attischen Vasenbildern (S. 122 ff. u. 359 f.).
Höchst gefähriich ist die Behauptung, daß es in der Wissenschaft unendlich mehr
auf die Methode als auf die augenblicklichen Resultate ankommt. Für Robert selbst,
dessen geniale Methode mit ungeheurem, kritischen Scharfsinn und ausgebreiteter,
Zeitichr. f. Ästhetik u. Mg. Kunttwiuenschaft. .KV. 15
226 BESPRECHUNGEN.
lebendiger Gelehrsamkeit verbunden ist, so daß sie ihn zu relativ wenigen falschen
neben vielen zutreffenden Ergebnissen geführt hat, ist sie richtig. Dagegen l<ann sie
auf kleinere und unreife Geister verheerend wirken, wenn sie nach diesem Rezept
es für unnütz halten, die vorauseilende Divination mit vorsichtiger Prüfung zu vereinen.
Nach der scharfen, aber höchst parteiischen Scheidung, die kürzlich Eugen Lüthgen
(Aufgaben der Kunst und des kunstgeschichtlichen Hochschulunterrichts, Verlag
Kurt Schröder, Bonn und Leipzig 1919) zwischen der »offiziellen Kunstgeschichte«
und der »jüngeren Schule« vorgenommen hat, gehört Robert zu der nach Lüthgen
überlebten, unfruchtbaren älteren Schule, die der beschreibenden Methode den
weitesten Spielraum einräumt. Roberts Buch beweist, daß diese Methode von dem
richtigen Meister angewendet das Ziel erreicht, das Lüthgen mit Recht als Haupt-
ziel der kunstgeschichtlichen Forschung hinstellt : den Schlüssel zur Erschließung
von Sinn und Wesen des Kunstwerks zu finden. Sehr richtig hebt Lüthgen auch
hervor, daß die Archäologie viel mehr als die neuere Kunstgeschichte es als ihre
selbstverständliche Aufgabe betrachtet, die Kernfrage nach dem Wesen des Künst-
lerischen zu klären. Wenn Robert diese Frage nicht systematisch angefaßt hat, so
hat er doch durch ein praktisches Lehrbuch in einer Reihe von Fragen einen Zu-
wachs an Klarheit gebracht, der einen ästhetischen Genuß gewährt. Er hat beson-
ders in den letzten Abschnitten über Fehlerquellen, Ergänzungen, falsch Gedeutetes,
Ungedeutetes und Undeutbares die Grenzen unseres Wissens abgesteckt und er-
weitert.
Wie geläufig und selbstverständlich Robert die von ihm nicht behandelten
künstlerischen Gesetze von der Ausnutzung des Raums, der Anordnung der Haupt-
linien im Kunstwerk u. dergl. sind, beweist die Ausstattung seines Buchs. Die Ein-
fügung der Textabbildungen in den Schriftsatz und das Verhälinis der Abbildungen
auf den beiden gegenüberliegenden Textseiten zueinander ist mit bescheidenen
Mitteln zu einem mustergültigen, sorgsam abgewogenen, ästhetisch durchaus be-
friedigendem Oesamteindruck ausgestaltet.
Gießen. Margarete Bieber.
W.Stein, Die Erneuerung der heroischen Landschaft nach 1800.
Straßburg, J. H. Ed. Heitz, 1917. 116 Seiten Text mit Vorwort und 18 Licht-
drucktafeln.
Wenn die bedeutsame deutsche Jahrhundertausstellung Berlin 1906 auch keine
durchgreifende Revision der Kunstgeschichtschreibung für den von ihr umspannten
Zeilraum notwendig gemacht hat, so hat sie doch in mehr als einem Falle bedeut-
same neue Wertungen ermöglicht und veranlaßt: sei es durch Heraushebung einer
Künstlerpersönlichkeit und ihres Werkes (z. B. A. Feuerbach), sei es durch Schaffung
einer zusammenfassenden Übersicht wie der »über die künstlerischen Werte jener
idealistischen Landschaftsauffassung, die sich im Zeitalter des Klassizismus wie der
Romantik entwickelt hatte«. Hierdurch kam auch J. A. Koch, der Landschafter,
zu neuer Anerkennung. Es hatte wohl schon 1905 E. Jaffe eine Monographie
über Koch geschrieben. In ihr war Kochs Leben gut zur Darstellung gebracht,
aber nicht sein Werk. Die Arbeit, die so noch zu tun blieb — über die Skizze von
H. Riegel (1876) hinaus — , nahm Stein in Angriff und löste sie in der vorliegen-
den Schrift.
In sorgfältiger Weise, die bis zu »historischer Kleinarbeit« geht, bearbeitet Stein
unter dem entwicklungsgeschichtlichen sowie stilkritischen Gesichtspunkt das Werk
. Kochs. Dabei wurden »namentlich auch der reiche zeichnerische Nachlaß Kochs in
der Wiener Akademie, die wichtigen Aquarelle und Sepiablätter der Berliner National-
BESPRECHUNG!
227
galerie, der Alberfina und des Stuttgarter Ktipferstichkabinetts verwerfet. (Vorwort
S. X). Leicht fällt die große Exaktheit in der Bilderbetrachtung auf: die Bild-
beschreibung zeichnet sich durch ihre Treffsicherheit aus. Mit Begriffen logisch
klarer Prägung dringt der Verfasser in die S'.ruktur des Bildorgatiismus ein, nicht
ihn zerstörend, sondern seine Gesetzmäßigkeit im Sinne des esse est pircipi er-
weckend: •. . . Kochs Landschaft ist dort wo sie sich erfüllt hat, normhaft. Damit
rückt sie in die Sphäre jener Kunst, die vom Beschauer mehr verlangt, als bloß
empfängliche Organe: nämlich den Sinn für die Gesetzmäßigkeit alles Lebendigen.
Die Schönheit dieses Gesetzes zu empfinden zwingt uns mit seiner Landschaft
Koch .... (S. 8S).
Um »die besondere Leistung Kochs als Gestalters der Landschaft ..., inwie-
fern Koch die heroische Landschaft, deren Schöpfer Poussin ist, erneuert hat«, darum
ist es dem Verfasser vor allem zu tun (S. X).
Um diese Untersuchung durchführen zu können, mußte auf Poussins Land-
schaftskunst zurückgegangen werden. Ihr ist ein eigenes Kapitel, das erste, gewidmet.
Es ist für den Aufbau der Studie von besonderer methodischer Bedeutung: der Ver-
fasser wollte erst die Poussin eigene Landschaftsform und seinen Weg zu ihr
(wenigstens skizzierend) darlegen und daraus eine Definition des Wesens der heroi-
schen Landschaft gewinnen — W. Friedländer, O. Orautoff, E. Magne hatten ihren
Werken über Poussin ein breiter genommenes Ziel gesteckt und waren deshalb diesem,
freilich am stärksten in die Tiefe führenden Begritf nicht mit der Schärfe der Haupt-
unttrsuchung nachgegangen. Von J. Gramms Arbeit (»Die ideale Landschaft«) aber
sagt (S. XI) der Verfasser, sie irre vom Wesentlichen ab. Darum das eigene Be-
mühen. Den methodischen Gesichtspunkt, von dem Stein dabei sich leiten ließ,
formuliert er scharf dahin: »ohne den Weg zu einer letzten Form klarzulegen, läßt
sich diese letzte Form nicht definieren. (S. X).
Mag nun auch diese methodologische Behauptung in der Form ihrer Aus-
schließüchkeit angefochten werden können, das bleibt bestehen: für den vorliegenden
Fall, wo es sich um einen Begriff aus dem Bereich des künstlerischen Gestaltens
handelt, nicht um einen urtümlich-formalen, sondern um einen mit einem bestimmten
Lebensgefühl gesättigten, empfiehlt sich der genetische Weg, trotz des metaphysi-
schen Einschlages in jenem Begriff. Ja gerade das metaphysische Moment in ihm
weist die Untersuchung auf diesen Weg, denn so gewinnt sie für ihren Gegen-
stand und dessen Oefüge eine empirisch nachprüfbare Unterlage: man kann
stufenweise sehen, wie das Heroische Gestalt gewann, wie der Künstler fortschrei-
tend, wenn auch mühsam, sich des Heroischen mit den ihm zu Gebote stehenden
Mitteln bemächtigte, und wie der Begriff des Heroischen, den man schließlich
gewonnen hat, mit der Gestalt des Heroischen, die der Künstler ihm verliehen
hat, verwachsen, ja gewachsen ist. Die längere Erstreckung des Weges zum Resultat
nützt seiner Reifung auch in der Weise, daß hiedurch der Gefahr, die in Frage
stehende Wesensbestimmung von einem zu knapp genommenen oder unrichtig ge-
wählten Bildmaterial abzulesen, mehr vorgebeugt ist. Und in der Tat macht der
Verfasser auch geltend, daß bei der Bestimmung des Stiles der heroischen Land-
schaft, die Poussin geschaffen, nicht die »Polyphem-Landschaft. in den Vordergrund
gestelh werden darf (S. 16, 38), wie es sich bei Friedländer (N. Poussin, S. 95 f .)
findet.
Und nun des Verfassers eigene Auffassung vom Wesen der heroischen Luid-
Schaft bei Poussin und bei Koch, soweit ihre Besprechung an dieser Stelle von
Interesse sein kann. An einer der Hauptstellen (S. 16 f.) schreibt der Verfasser:
». . . gerade die Überwindung jenes romantischen oder wissenschaftlichen Hanges
228 BESPRECHUNGEN.
nach dem Sonderbaren in der Natur . . ., die Überwindung von Panorama und von
Wildnis führt Poussin zu seiner großen Landschaft, die heroisch ist, weil in ihr der
Affekt bezwungen, das Pathetische, aber nicht die Spannung, verflogen in der klaren
Festigkeit endgültiger Formen, die ihre Kraft im Ruhen, ihre Gültigkeit im Sein er-
weisen. Zu nichts drängt Poussin unbedingter als, die Form so endgültig zu er-
ledigen, daß die Gebärde des Geschehens wie Blätterrauschen durch die Räume zieht,
ihre Tektonik nur noch sichtbarer bezeugend.« Vor allem soll also das Wesen der
heroischen Landschaft, das Heroische, nicht in der Relation der Landschaft zum
menschlichen Affekt liegen (S. 104). »Der Affekt bezwungen, das Pathetische,
aber nicht die Spannung, verflogen in der klaren Festigkeit endgüHlger Formen.«
Auch hier kann die psychologische Formel lauten: nicht Pathos, sondern Ethos.
Damit könnte nun freilich auch von der Landschaftsdarstellung Weitabliegendes
charakterisiert sein, etwa Typen oder Perioden plastischen Qeslahens. Die not-
wendige Präzisierung liegt in der näheren Bestimmung des Ethos und in der Ein-
beziehung der Darstellungsmittel. Das Ethos beschreibt Stein nach Poussins Land-
schaft der fünfziger Jahre als das »Oroß-Hirtenmäßige der Frühzeit, wo Götter sich
den Menschen gesellen, welchen aus diesem Hirtendasein die Kraft zum Helden-
tum erwächst (S. 18). Es ist ein Hirtendasein, wo die Menschen in der Landschaft
wohnen, »nicht büßend oder frönend, sondern erfüllt von einer gläubigen, klaren und
tiefen, von einer heroischen Liebe zu ihrer Erde« (S. 21).
Und wenn nun dieses Ethos zur Bilderscheinung im Bildorganismus gebracht
wird, dann sind es etwa Worte wie die folgenden, die das Heroische, ausgedrückt
durch die Bildgestaltung, zu definieren vermögen (es handelt sich um das Bild von
Koch »Unterseen« in Innsbruck): ». . . ein Eingehen in die Gestalt der Erde, und
nichts als ihre Sprache, von Bäumen, Hirten, Herden, Bauten in den Raum hinein-
getragen, daß er sie fasse und daß sie mit ihrem Dasein ihn aufbauen helfen.«
Der Verfasser verstärkt noch seine Charakteristik des Heroischen im Kompositionellen
und fragt: ». . . ist das nicht das Heroische diese provinzielle Natur, ohne' ihr Ge-
walt anzutun, zur allgemeinen erhoben und ein Haus und einen Menschen darin
aufstehen lassen, die beide etwas Regelhaftes, unterschieden von jener Natur, den-
noch ganz hineinwachsen in sie, die ordnungsfrohe« (S. 83).
Noch viel weiter, bis in die letzten Elemente hinein, verfolgt der Verfasser,
man möchte sagen, die Heroik des Formalen — als Vorlage dient Poussins »Fin-
dung Mosis« im Louvre. »Das Zwingende an diesem Bild,« betont er, »ist die Statik.
Ihrem Gesetz fügen sich die Figuren, jedes Bauwerk, Baum und Berg. . . . ihre lo-
gische Durchdringung . . . nicht errechnet, sondern aus dem Charakter eines jeden
Dinges entwickelt . . . dieses Eingliedern von Menschen, Bäumen, Bauten in die
Gestalt der Erde, wo jedes seine Festigkeit und Würde wahrt, wo jedes sich aufs
andere bezieht und dennoch für sich ist . . .« (S. 11). Stein sieht hierin Poussins
neue Form, die Pforte zur heroischen Landschaft. Auch die Terrainentwicklung hat
ihren bestimmten Charakter. Der Verfasser liest ihn ab von Poussins »Landschaft
mit Hirten« im Prado: »Diese Disposition aufstrebender Stämme und Bauten in
den verschiedenen Gründen, wodurch der Landschaftsraum, ohne in einen Rahmen
gespannt zu werden, frei sich entfaltet, das Gleichgewicht und die Erstreckung bis
in den letzten Grund klarlegend: diese Disposition bleibt eine Grundforderung der
heroischen Landschaft. . . . Bedingung ist, daß diese klare Begrenzung nicht im
Atmosphärischen sich löse, daß vielmehr Licht und Farbe der Klarheit des Aufbaues
dienen. . . . Das Reiz- oder Spukhafte der Erscheinung, das oft den Charakter des
Dings verrät, soll nicht herrschen dürfen über das Wesen« (S. 19).
Es geht nicht an, all die für das Problem ergiebigen Stellen hieher zu setzen.
BESPRECHUNGEN 22Q
Es sei nur noch hingewiesen auf das Qesetz der Bildorganisation nach der Seite
der Zusammenordnung des Ganzen und des Besonderen (S. 88, 89, 11), auf die
Funktion der Farbe (S. 87; z. v. S. 7 f., 10, 19 f.: Poussin), die oft, doch nicht immer
(Tschudi) bei Koch getadelt worden war, auf die Baumbiidung (S. 86, 85, 93). Noch-
mals ins Ganze greifend: Kochs Sinn für die Form der Erde als der formalen
Grundlage für jedes Wachstum über ihr (S. 44 f.). Und das Antlitz der Erde: »In
Bindung und Fügung atmet sie frei, nie aufgezehrt vom Licht, aber auch nie ver-
stört durch elementare Gewalten« (S. 86; S. 40, 44 f. berücksichtigen einen Durch-
gangspunkt).
Im Entscheidenden, glauben wir, hat Stein mit seiner Bestimmung des Wesens
der heroischen Landschaft das Richtige getroffen: das gilt, rückschauend können
wir seine methodisch bedingte Gegenüberstellung umkehren, für die Charakte-
risierung der Form wie auch für dieAufzeigung desWeges zu ihr. Nur
macht sich in dem Poussin gewidmeten Abschnitt das Skizzenhafte der Darstellung
geltend, insofern als die Klarheit und damit die Sicherheit in der Führung der
Entwicklungslinie durch den skizzenhaften Wechsel des Gesichtspunktes der Be-
trachtung: historisch-stofflich-formal, beeinträchtigt wird. Gegenüber der Ablehnung
der Auffassung: heroische Landschaff — das vom menschlichen Affekt getragene
Landschaftsbild (S. 16, Anm, 11) könnte man fragen, ob diese Wesensbeslimmung
wirklich von der des Verfassers: eine Landschaft, die heroisch ist, weil in ihr der
Affekt bezwungen, das Pathetische (.iber nicht die Spannung) verflogen in der klaren
Festigkeit endgültiger Formen, grundsätzlich verschieden ist, wenn doch auch der
Verfasser in seine Definition das Moment der Spannung aufgenommen hat und es
gerne hervorhebt. Von Poussins »Landschaft mit Orpheus und Eurydike« im Louvre
schreibt er: ». . . Das Schicksalvoile in dieser unbewegten Landschaft, die nicht
theatralisch ist, aber voll Spannung. Es ist eine getragene Spannung; nichts ver-
möchte wie sie die innere Dramatik der Szene zu steigern« (S. 18). Besonders aber
jene Stelle von der Farbe der heroischen Landschaft: »Die Farbe als Reiz gehört
für ihn zum unbedeutend Natürlichen, das den großen Sinn, ja die Spannung seiner
Landschaft aufheben würde. Denn die problemlose Lieblichkeit des sinnlichen Da-
seins, selbst das schuldlos Vegetative der Blumen weiß nichts von jenem großen
Sinn und von der Spannung des vom Tiefsten bewegten iV\enschen. Der sinnliche
Wohllaut der Farbe löst die Spannung. (S. 87). Und noch mehr: der Verfasser
sieht in Goethes Definition der heroischen Landschaft gleichsam eine Norm (Anm. 11,
S. 86), die ihm die Richtigkeit der von ihm selbst erarbeiteten Bestimmung bestätigt.
In ihr kommt aber das Moment der Spannung nicht zur Geltung (Goethes Schriften
und Aufsätze zur Kunst: Künstlerische Behandlung landschaftlicher Gegenstände
(Hempel-Klassikerausgaben: Goethe, Bd. XXVIII S. 882; z. v. 8"8 f.]).
Wir verstehen es nun so: im Affekt — es ist hier nicht die Frage, was er
rein an sich als Bewußtseinsphänomen ist, sondern wie er als herrschendes ideelles
Element die Landschaftsgestaltung durchwirkt — in ihm sieht der Verfasser etwas
grundsätzlich Dualistisches (z. v. S. 21, 7 f.), das einen ganz anderen Bildbau be-
dingte als der ist, den Poussins und Kochs heroische Landschaften aufweisen. Was
der Verfasser unter der Spannung versteht, soll nach der einen Seite das Herein-
stoßen eines fremden Elementes oder das Hinausgreifen nach einer jenseifigen
Sphäre ausschließen. Nach der andern aber soll dadurch die innere Erregung be-
zeichnet sein, ohne die kein Leben und kein Lebenszustand zu denken ist, und ihre
formal-architektonische Gestaltung im Bilde. Diese innere Erregung darf aber nicht
wiederum psychologisch individuell zugespitzt (z. v S. 7, 20, 21), sondern muß, wir
möchten fast sagen: biologisch-elementar verstanden werden. Schon E. Förster
230 BESPRECHUNGEN.
empfand in Kochs heroischen Landschaften »jene reine Stille der Natur in der Mit-
tagsstunde, welche die Alten unter dem Namen der Pansruhe kannten« (S. 100).
Ob die vom Verfasser abgelehnte Definition der heroischen Landschaft sich
wirklich bei Gramm (Die ideale Landschaft) und »nach Gramms Vorgang« bei
Orautoff (N. Poussin) findet, wie der Verfasser in Anm. 11 sagt? Wenigstens fan-
den wir sie nicht an der vom Verfasser zitierten Stelle bei Grautoff. Seine Auf-
fassung würden wir Bd. I S. 243ff. , besonders S. 245, nicht S 251, suchen Und
bei Gramm erschien uns S. 16 zur Feststeilung seiner Ansicht wichtiger als S. 76 ff.
Außerdem: Grautoffs Auffassung geht tiefer als die Gramms (S. 16 mft 37) und steht
in ihren entscheidenden Momenten, die Grautoff nach der formalen Seite hin von
der heroischen Landschaft »ihre vom heroischen Empfinden beseelten Formen, ihre
gleichsam übermenschlichen Dimensionen« (S. 244) hervorheben und nach der
psychologisch-ethischen Seite hin betonen lassen: »Poussin erkannte sich als willen-
losen Faktor im großen Kausalzusammenhang und ordnete alle seine Erkenntnisse
und subjektiven Einsichten dem Allgefühl vor der Natur unter« (S. 245) dem »von
menschlichem Affekt getragenen Landschaftsbild« ferne. Doch auch Gramms vor-
wiegend deduktiv abgeleitete Definition scheint uns in ihrem ursprünglichen Kern
Steins Auffassung nahe zu stehen. Nur ermangelt sie wohl der letzten Klärung:
Gramm will Merkmale vereinen wie: »in all ihren Formen das Einfach-Klare, Große
und Bedeutende verkörpernd« und: das »Hin- und Herwogen der Stimmung« wider-
spiegelnd (S. 16).
Es mag noch angeschlossen werden, daß der Verfasser außer von der heroi-
schen Landschaft auch von der historischen bei Koch spricht. Er unterscheidet:
Erste historische Landschaft. Die neue heroische Landschaft. Zweite historische
Landschaft. Es ist uns das als innere Gliederung oder als Absetzung der einen
Form von der andern in der Ausführung nicht verständlich geworden. Die Be-
merkungen auf S. 33, 8") greifen nicht durch. Es möchte uns scheinen, daß gerade
an diesem Punkte das Übermaß an formaler Analyse oder doch das teilweise Aus-
bleiben der begrifftichen Synthese besonders fühlbar wird. Die Bemerkungen {S.33
mit den Anm. 43-45, S. 92, 100, 102) zu dem Begriff des Historischen (ohne Be-
ziehung zum Begriff des Heroischen) sind beachtenswert. Bei Feuerbach (Brefe
an seine Mutter Bd. I S. 31: aus dem Jahre 1845) findet sich eine interessante Pa-
rallele zu Kochs Auffassung, wie der Verfasser sie (S. 33) feststellt. Im »Ver-
mächtnis. (S. 286 ff. der Ausgabe von 1913) erscheint der Begriff wieder, inhaltlich
wie formal bereichert und vertieft.
Es ist dem Verfasser sichtlich darum zu tun gewesen, das Psychische, wenn
auch nicht vom Wesen der heroischen Landschaft auszuschließen, so doch möglichst
elementar, möglichst unpsychologisch, d. h. möglichst wenig psychologisch differen-
ziert zu fassen und in den Begriff einzusetzen. Die Formanalyse alsdann ist aus-
gesprochen objektiv gehalten: es ist die Rede von der »klaren Festigkeit end-
gültiger Formen, die ... ihre Gültigkeit im Sein erweisen.« Es ist das wie eine
Erinnerung an Piaton, den baumeisterlichen Mann, wie Goethe ihn einmal nennt.
Im einzelnen findet sich aber doch auch manches, das psychologisch angeschaut
und gut gesehen ist, z.B. Kochs Künstlerfyp nach der geistigen Seite hn (S. 31).
Dabei die feine Bemerkung aus zweiter Hand, je feiner der Mensch geistig fühlte
und lebte, desto abgestumpfter würde jener elementare Sinn, der ihn befähigte, von
dem eigentümlichen Leben jeder Form berührt zu werden. Oder die Parallele mit
Poussin, bei der man auch an Dürer oder Feuerbach denken mag: »Poussin sah in
der Malerei eine geistige Tat, welcher eine umfassende Bildung den BoJen bereien
half. Für solche Künstler ist es ein Bedürfnis an den Ideen teilzuhaben, die ihre
BESPRECHUNGEN. 231
Zeit bewegen, und wenn ihre Zeit ihnen ideenlos erscheint, so fassen sie desto
intensiver das Gedachte und Gebildete gröBerer Zeiten auf- (S. 31). Von Kochs
Typ nach der i<ünstlerisch-schaffenden Seite hin sagt der Verfasser, man spüre, »wie
Koch, oft ungeschlacht, durchaus von dem ihn bestimmenden Eindruck in der Land-
schaft ausgeht, daß er das Gesetzmäßige in ihr sieht, auffaßt und in schwerer Weise
sich zum i<ünstlerischen Ausdruck dieser Gesetzmäßigkeit durchringt« (S. 68). Ein
andermal (S. 88) betont er »Kochs phanlasievolle Art, wie nach Jahren etwas Oe-
schautes bei ihm wiiksam wird«: ein echtes Künstlerphänomen. Von Kochs Alters-
werken liest er als Gesetz ab, »daß typische Gestaltung durch eine Formel niemals
erzielt werden kann, daß zum Gestalten untrennbar gehört ein stets erneutes Um-
greifen des Stoffs von einem lebendigen Zentrum aus« (S 89). Der entgetiengesetzfe
Fall: »Als eigentliches Movens darf Kochs Bedürfnis gelten, dem Druck der Formel
auszuweichen, worin sein Landschaftsgefühl zu erstarren drohte« (S. 40. Damit soll
die Hinwendung zu den wilden Formen der Natur um 1800 erklärt werden).
Unmittelbar wendet sich die Betrachtungsweise ins Psychologische, wenn der
Verfasser sein Problem: Koch und die heroische Landschaft, hineinverfolgt in die
individuelle geistige Konstitution des verehrten Meislers. Aus einer doppelten
Wurzel und nach zwei Seiten hin glaubt er Kochs heroische Landschaft erklären zu
können. Seine Kraft der Gestaltung leiiet er ab von der besonderen Art seines
Kunstsinnes: »Koch hat die provinzielle Natur zur allgemeinen machen können, weil
in ihm der Kunstsinn rege war, der aufs Gültige geht und der, genährt von An-
schauung, Werke schafft von allgemeiner Bestimmtheit — nicht von al'gemeiner
Flauheit . . .« (S. 87 f.; dazu noch S. 23 f. mit der bedeutsamen Briefstelle). Die Tat-
sache, daß Koch die Landschaft gerade heroisch auffaßte, sieht Stein begründet in
Kochs Mißtrauen gegen das Fach, wie es aus dem Worte spricht: »Wenn die Land-
schafter über die Kunst und über ihr Fach recht nachdenken, dann ists auch aus
mit der Landschafterei. Die Kunst soll eins sein, wie die Natur, und nicht in
Fächer getrennt« (S. 87. Kochs Abneigung gegen das »Fach« in der Kunst spricht
auch aus seiner »Kunstchronik«, z. B. S. 50, 15. Ausg. Carlsruhe 1834). Die Mög-
lichkeit einer realistischen Landschaftsdarstellung ist aber deswegen nicht als für
Koch in jedem Betracht ausgeschlossen zu denken. Im Hinblick auf das Bild
»Oberhasli« und seine Baumzeichnung betont der Verfasser geradezu: »Das Wissen
um die besondere Form hat Koch wie nur ein Realist der Zeit besessen ... er ist
ebenso naturwahr, wie sie aber charakteristischer, weil er das nicht Wesentliche aus-
zuschalten weiß (S. 76 f ). In Kochs psychischer Struktur war dem Sinn für die
Einzelbildung die Potenz die das Ganze durchwaltende und gerade das Heroische
fundamentierende Gesetzlichkeit zu fassen übergeordnet. Aber, viel mehr als beim
Denker etwa, wäre gerade beim Künstler, zumal dem, der über die nature morte
hinaus will, die psychische Struktur für sich nur ein Halbes. Sie verlangt nach der
Technik, dieses Wort nicht bloß im Sinne der Übung des Handgelenkes verstanden.
Koch selbst erklärte: »Wer die Welt, das Leben und die Natur nicht durch lange
Studien und Erfahrungen in sich verarbeitet und das Verarbeitete sich ganz pflichtig
gemacht hat, der wird . . . kein Landschaftsmaler.« Es ist das ein für jede Land-
schaftsmalerei, ob klassisch, ob impressionistisch, ob expressionistisch, für diese viel-
leicht noch ganz besonders, wertvolles Wort.
»Weil unsere Zeit wieder zur Gestalt drängt, stehen ihr Schellenberg und Koch
so nahe« (S. 106). Diese »Nähe« spürt der Beschauer nahezu körperhaft, wenn er
in der neu eingerichteten Neuen Pinakothek in München vor der Wand mit den
drei »Koch« steht: »Landschaft mit Regenbogen« (in der Mitte), »Schniadribach«
(rechts), »St. Georg« (links). Man ist geradezu betroffen von dem Eindruck, wie
232 BESPRECHUNGEN.
stark und lebendig der alte Koch wirkt. Das wirklich Unwesentliche an den Bildern
fällt von selbst ab. Dazu gehört die Figurenstaffage und das Kolorit der Figuren.
Nicht aber die Gestaltung des Landschaftscharaklers mit ihrem Flächenaufbau in
Linie und Farbe. Vor allem die Farbe: Sie gemahnt an entscheidenden Stellen in
ihrer Weichheit, ihrem verhaltenen Leben und in ihrer Kraft Flächen zu formen,
die von innerem Leben bewegt sind, besonders im Bilde mit dem St. Georg, an
Cezanne. Freilich erreichen durchaus nicht alle Bilder Kochs diese Höhe. So können
wir z. B. das Bildchen »Ziegelhütten von Olevano« (Schackgalerie) nicht so gut fin-
den wie der Verfasser (S. 84). Es ist doch im ganzen farbig hart und im Aufbau
gestückt. Es mag dies als Beispiel dienen, wie doch auch den Verfasser die Kon-
zentration auf seinen Gegenstand da und dort zu einer leisen Wertsteigerung ge-
führt hat. Es ist natürlich, daß dabei die Kritik am verehrten Meister doch nicht
fehlt (z. B. S. 93f., 96,98, aber auch schon S. 39, 48). Mit dem Urteil: »dem
Deutschrömer Koch . . . ist gelungen was keinem vor und nach ihm gelang: sie
(= Hochgebirgslandschaft des Obersteinbergs) bildhaft zu gestalten« (S. 81), streift
der Verfasser das Problem der Gebirgsmalerei. Es hätte sich wohl empfohlen
darauf einzugehen, um die Leistung Kochs am Problem zu messen und die Lösung
des Problems hinwiederum vom Werke Kochs aus zu versuchen. Daß der Ver-
fasser gerade in diesem Zusammenhang Koch als Deutschrömer ansprechen kann
ist noch von spezieller Bedeutung. »Deutschrömer« hat sonst keinen so starken
Klang: man wollte ihrer Kunst keine solche Erdennähe und erobernde Kraft zu-
trauen.
Als Standort für »St. Georg« muß jetzt Neue Pinakothek München angegeben
werden, nicht mehr Galerie Augsburg (Verzeichnis der Tafeln). Außer den drei
genannten Bildern besitzt die Neue Pinakothek noch ^ Diana und Aktaeon« (in
Hochformat, nicht die Fassung, die auf Tafel II abgebildet ist) und »Italienisches
Winzerfest«.
München. Georg Schwaiger.
n
I
Schriftenverzeichnis fär 1Q19.
Zweite Hälfte.
I. Ästhetik.
1. Geschichte und Allgemeines.
Immisch, O., Das Nachleben der Antike. X, 64 S. Das Erbe der Alten. N. F.
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d. Wiss. in Wien. Phil.-hist. Klasse. 61. Bd. 1. Bch. A. Holder in Komm. 25 M.
Oiese, F., Der romantische Charakter. I. Bd. Die Entwicklung des Androgynen-
problems in der Frühromantik. VIH, 466 S. gr. 8°. Langensalza, Wendt u. Klau-
well. 15 M.
Michel, E., Der Weg zum Mythos. Zur Wiedergeburt der Kunst aus dem Geiste
der Religion. 139 S. 8». Jena, E. Diederichs.
2. Prinzipien und Kategorien.
Vischer, Fr. Th., Das Schöne in Natur und Geschichte. Eine Auswahl aus
Vischers »Ästhetik«. Herausgeg. von A. Buchenau. 360 S. Deutsche Bibliothek.
126. Bd. kl. 8°. Berlin, Deutsche Bibl. 3 M.
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B. G. Teubner. 9 M.
Klinger, M., Malerei und Zeichnung. Inselbücherei. Nr. 263. 48 S. Leipzig, Insel-
verlag. 1 .20 M.
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und 32 S. Abb. gr. 8«. Berlin, Wasmuth. 8 M.
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517 S. gr. 8". Leipzig, E. Reinicke. 16.80 M.
Duvals Grundriß der Anatomie für Künstler. Deutsche Bearb. von E. Gaupp.
5. Aufl. Mit 4 Tafeln und 108 Textabb. XII, 321 S. gr. 8». Stuttgart, F. Enke.
16 M.
234 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919.
4. Ästhetischer Eindruck.
Koffka, K., Beiträge zur Psychologie der Gestalt. I. Bd. VII, 324 S. mit Fig. gr. 8».
Herausgeg. J. A. Barth. 12 M.
Werner, H., Rhythmik, eine mehrwertige Oestaltenverkettung. Zeitschr. f. Ps.
Bd. 82. S. 198—218.
Wjngender, P., Beiträge zur Lehre von den geometrisch-optischen Täuschungen.
Zeitschr. f. Ps. Bd. 82. S. 21— 66.
II. Allgemeine Kunstwissenschaft.
1. Das künstlerische Schaffen.
Seitz, F., Künstler und Dichter. Die Tat. 11. Jahrg. S. 602-613.
Hof mann, E, Künstlertum und Politik. Nord und Süd. 44. Jahrg. S. 84— 90.
Lüljeharms, J. F., Genie — Entwicklung. 3. Tl. 8». Kassel, Lütegia-Verlag. (Leip-
zig, Carl W. Schulze.) 307 S. 12 M.
2 Anfänge der Kunst.
Schäfer, H., Von ägyptischer Kunst, besonders der Zeichenkunst. Eine Einfüh-
rung in die Betrachtung ägyptischer Kunstwerke. 2 Bde. XII, 203 S. und III,
S. 205—251 mit Abb. und 54 Tafeln, gr. 8". Leigzig, J. C Hinrichs. 18 M.
With, K., Buddhistische Plastik in Japan bis in den Beginn des 8. Jahrhunderts
n. Chr. 2 Bde. Lex. 8». Wien. Kunstverl. A. Schroll & Co. Textb. 28 Abb. auf
8 Tafeln. 207 S. — Tafelb. mit 224 Tafeln.
Achelis, H., Der Entwicklungsgang der altchristlichen Kunst. Mit 5 Tafeln
47 S. 8°. Leipzig, Quelle & Meyer. 2 M.
Springer, A., Handbuch der Kunstgeschichte. II. Frühchristliche Kunst im Mittel-
alter. 10 , umgearb. Auflage. Bearbeitet von J. Neuwirth. Mit 732 Abb. im Text
und 14 Farbendr. -Tafeln. X, 525 S. Lex. 8". A. Kröner. 15 M.
3. Tonkunst und Bühnenkunst.
Riemann, H., Grundriß der Musikwissenschaft. 3., verm. u. verb. Aufl. 156 S.
Wissenschaft und Bildung. 34. Bd. Leipzig, Quelle & Meyer. 2.50 M.
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gangen aus einer langjährigen Praxis. 3., verb. Auflage. VIII, 298 S. gr. 8'.
Berlin, A. Parrhysius. Pappb. 9.50 M.
K r e h 1 , S., Die Dissonanz als musikalisches Ausdrucksmittel. Vortrag. Zeitschr.
f. Musikwiss. 1. Jahrg. S. 645— 654.
Cahn- Speyer, R., Handbuch des Dirigierens. VIII, 284 S. gr. 8". Leipzig, Breit-
kopf & Härtel. 15 M.
Heuß.A., Kammermusikabende. XXIV, 152 S. Leipzig, Breitkopf & Härtel. Musik-
bücher. 4.50 M.
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lage. VII, 864 S. Leipzig, Breitkopf & Härtel 25 M.
Kretzschmar, H., Geschichte der Oper. VI, 286 S. Kleine Handbücher der Musik-
geschichte nach Gattungen. Bd. 6. Leipzig, Breitkopf & Härtel. 14 M.
Riemann, H., Handbuch der Musikgeschichte. I. Bd. Altertum und Mittelalter.
1. Teil: Die Musik des Ahertums. 2., verb. u. verm. Auflage. XVI, 276 S. Leip-
zig, Breitkopf & Härtel. 15 M.
Riemann, H., Kleines Handbuch der Musikgeschichte. 3., durchges. Auflage.
SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919. 235
XI, 296 S. Handbücher der Musiklehre. 2. Bd^Xeipzig, Breitkopf & Härtel.
7.50 M. ^k
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478 S. Redams Univ.-Bibl. N. 1511-1513a, b. ^*
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Breitkopf & Här.els Musikbücher. 8".
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25. Jahrg. VIII, 106 S Lex. 8». Leipzig, C.F.Peters. 4M.
Olück-Jahrbuch. 4. Jahrg. 1918. Im Auftrag der Glück-Gesellschaft herausgeg.
von Herrn. Abert. V, 172S. 8". Leipzig, Breitkopf & Härtel. Halbleinwandbd. 10 M.
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8.50 M.
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R. Lechner. 10 M.
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Filmdichtung, Filmregie etc. 84 S. 16*. Wien, K. Harbauer. 1.50 M.
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139 S. Abb. gr. 8°. Magdeburg, K. Peters. 40 M.
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238 SCHRrFTENVERZEICHNIS FÜR 1019.
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15. Lieferung 20 Tafeln und 1 Blatt Text. Ber;in, E. Wasmuth. 30 M.
Graf, H., Altbayerische Frühgotik. Ein Beitrag zu Bayerns Bauergeschichte. Mit
mehr als 180 Einzeldarstellungen auf 17 Tafeln. X, 151 S. gr. 8". München,
P. Pieper & Co. 5 M.
Much, H., Norddeutsche Backsteingotik. 3., völlig umgearb. Auflage. Mit 87 Tafeln.
48 S. 87 S. Abb. Braunschweig, O. Westermann. 18 M.
Stahl, F., Danzig, eine deutsche Stadt. 4 S. mit 1 Abb. und 13 Tafeln. Wasmuths
Kunsthefte. 5. Heft. Berlin. 3.60 M.
Tietze-Conrat, E., Die Bronzen der fürstlich Liechtensteinschen Kunstkammer.
96 S. mit 75 Abb. 31 x 23,5 cm. Wien, Kunstverlag A. Schroll & Co.
H i 1 d e b r a n d , A. v.. Über Museen und Ausstellungsanlagen. Südd. Monatshefte.
17. Jahrg. S. 81-84.
Migge, L., Großstadtfriedhöfe als Kulturmale. Kunstwart. 32. Jahrg S. 150-158.
Orässel, H., Über Friedhofsanlagen und Grabdenkmäler. Mit 54 Abb. 4., umge-
arbeitete und vergrößerte Auflage. 46 S. Flugschriften zur Ausdruckskultur.
Nr. 60. München, Q. D. W. Callwey. 4 M.
6. Bildkunst.
Ozenfant et Jeanneret, Apres le cubisme. Paris, Edition des commentaires
sur l'art et la vie moderne, kl. 8«. 1918. 60 S 5 Fr.
Hildebrandt, H., Der Expressionismus in der Malerei. Vortrag. 27 S. Stuttgart,
Deutsche Verlagsanstalt. 1.60 M.
Woermann, K., Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker. 2., neu bearbeitete
und verm. Auflage. (Zu 6 Bdn.) 4. Bd. Die Kunst der älteren Neuzeit von .1400
bis 1550. Mit 337 Abb. im Text. 6 Tafeln in Farbendruck und 59 Tafeln. XVI,
636 S. Lex. 8». Leipzig, Bibl. Inst. 28 M.
Springer, A., Handbuch der Kunstgeschichte. 5 Bd. Die Kunst von 1800 bis zur
Gegenwart. 7., verb. u. verm. Auflage. Bearb. von M. Osborn. Mit 585 Abb. u.
16 Tafeln. XVI, 504 S. Leipzig, Kröner. 15 M.
Filow, B., Die altbulgarische Kunst. Mit 58 Tafeln und 72 Abb. im Text. VIII,
88 S. Bern, R. Hempl. 35 M.
Reichold, K., Skizzenbuch griechischer Meister. Ein Einblick in das griechische
Kunststudium auf Grund der Vasenbilder. Mit 300 Abb. III, 167 S. Lex. 8».
München, L. Bruckmann. 15 M.
Stahl, E. K., Die Legende vom blinden Riesen Christophorus in der Graphik des
15. und 16. Jahrhunderts. Textbd. und Tafelbd. XII, 225 S. und 63 Tafeln. Mün-
chen, J, J. Leutner, 100 M.
Schmarsow, A., Das Franziskusfenster in Königsfelden und der Freskenzyklus
in Assisi. Berichte über die Verhandl. d. sächs. Akad. der Wiss. zu Leipzig.
Phil.-hist. Klasse. 71. Bd. 3. Heft. 38 S. Leipzig, B. G. Teubner. 1 60 M.
Wölfflin, H., Die Kunst Albrecht Dürers. 3., durehgearb. Aufl. Mit 143 Abb. und
Tafeln. X, 340 S. Lex. 8". München, Bruckmann. 15 M.
Schuritz, J., Die Perspektive Alb. Dürers. 50 S. mit 36 Fig. und 22 Tafeln. Frank-
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SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919. 239
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240 SCHRIFTENVERZEICHNIS FÜR 1919.
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Der AnbrucJi. Flugblätter aus der Zeit. Herausgeg. von Otto Schneider und
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Der silberne Spiegel. Zeitschrift für neue Kunst und Kritik. Herausgeg. von
E. Rothschild. Juli 1919 bis Juni 19'.i0. 12 Nrn. Nr. 1 12 S. mit 1 Abb. Lex. 8«.
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Das neue Hamburg. Wochenschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur. Heraus-
gegeben von H. Bubendey. Viertelj. 6 M.
Die junge Kunst. Herausgeg. von W. v. Hanstein. 1. Jahrg. Juni 1919 bis Mai 1920.
Nr. 1. 16 S. Berlin, Leydecker & Co. G. m. b. H. Je 1 M.
Literarisch-musikalische JVlonatshefte. Bundesorgan der Vortragsgenossen-
schaft deutscher Schriftsteller. Schriftleitung G. Carlheinz Junker und K. Martin.
1. Jahrg. Juli 1919 bis Juni 1920. 1. Heft 12 S. Weinböhla, Verlag Aurora.
Viertelj. 1.50 M.
Die Kritik. Zeitschrift und Sammelwerk für Theaterinteressenten. Herausgeg.
von J. V. le Suire. Ausg. A: Schauspiel. Ausg. B: Oper, Operette, Tanz. 1. Jahrg.
August 1919 bis Juli 1920. Nr. 1 24 bzw. 20 S. Güstrow. Viertelj. je 15 M.
Freie deutsche Bühne. Herausgeg. von M.Epstein und E. Lind. 1. Jahrg.
August 1919 bis August 1920. Nr. 1—9 220 S. 8". Berlin. Jähri. 25 M.
Bühne und Volk. Eine Monatsschrift für alle neuzeitlichen Theaterfragen.
Herausgeg. von A. Kronacher und A. Schmidt-Volker. 1. Jahrg. Oktober 1919 bis
September 1920. 1. Heft 40 S. 8». Leipzig, Rainer Wunderiich. Jährl. 12 M.
Literatur, Kunst und Kino. Illustrierte Halbmonatsschrift für Literatur, Kunst,
Bühne, Film, Mode, Gesellschaft. Hauptschriftleitung: A. Fritz. 1 . Jahrg. Okto-
ber 1919 bis September 1920. Magdeburg, Burg-Veriag. Viertelj. 5.50 M.
Der deutsche Film in Wort und Bild. Eine Kampfzeitschrift für deutsche
Kinokunst und -technik. Hauptschriftleitung: H. Distler. 1. Jahrg. Juli 1919 bis
Juni 1920. Nr. 1 16 S. mit Abb. Lex. 8». München. Viertelj. 10 M. (Durch
K. F. Koehler, Leipzig.)
VII.
Die lyrische Stimmung.
Von
Hans Klaiber.
Die lyrische Stimmung in der Poesie ist der Gegenstand dieser
Untersuchung. Wir versuchen ihrem Wesen zuerst dadurch näherzu-
kommen, daß wir sie den anderen Künsten gegenüber abgrenzen und
dann positive Merkmale zu ihrer Beschreibung suchen. Dabei legen
wir, wie aus der Fassung des Themas zu begreifen ist, allen Nach-
druck auf die Vorgänge gerade des Gefühlslebens, während in der
Psychologie der Lyrik sonst vielfach mehr auf die Vorstellungsseite
der einschlägigen Bewußtseinsvorgänge eingegangen wird. Die Not-
wendigkeit und Bedeutung solcher Untersuchungen, wie z. B. über die
Rolle des Ich in der Lyrik oder ähnliche Fragen, soll damit in keiner
Weise bestritten werden. Die lyrische Veranlagung ist nicht auf die
Poesie beschränkt, man spricht von Lyrikern bei Dichtern, Musikern
und Malern, weniger überzeugend bei den raumbildenden Künsten der
Architektur und Plastik. In dieser allgemeinen Fassung ist Lyrik eine
Neigung zum subjektiven Gefühlsausdruck, zur Stimmungsdarstellung,
wobei es sich um Gefühle ohne Stoß- und Zugkraft auf unser prak-
tisches Wollen handelt. Wo derlei praktische Wirkungen beabsichtigt
sind, mischt sich die Tendenz in die reine Kunst ein. So nicht selten
in der vaterländischen, kriegerischen und religiösen Lyrik; doch blüht
auch auf allen drei Gebieten die tendenzfreie, reine Kunst. Eine ge-
reimte Predigt, die dogmatisch belehren oder zu sittlichem Lebens-
wandel anhalten will, ist leicht zu unterscheiden vom Gefühlserguß
einer frommen Seele, die in demütiger Hingabe an die göttliche Macht
Genüge findet, oder vom pantheistischen Hochgefühl des Sicheinsfühlens
mit dem Weltgeist. Die patriotische und kriegerische Dichtung der Befrei-
ungskriege z. B. ist vielfach mit politischen und militärischen Tendenzen
durchsetzt, die sachlich ebenso in Ansprachen, Aufrufen und Proklama-
tionen der Zeit wiederkehren. Doch hat sie auch die Töne einer ab-
sichtslosen, nur sich selbst objektivierenden Gefühlswelt gefunden, in
der opferwilligen Hingabe an das Ganze, der gläubigen Ergebung in
den Willen des Schlachtenlenkers, in der wilden Lust an Trompeten-
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenscha«. XV 16
242 HANS KLAIBER.
schmettern und Schwerterklang oder in der bangen Todesahnung. Ein
Streben wohnt freilich auch diesen Gefühlsvorgängen inne, das aber
nicht über ihre ideale Welt in das wirkliche Leben hinausreicht; es
ist der Drang zur Objektivierung, d. h. durch sinnlichen Ausdruck gegen-
ständlich zu werden. Dieser Produktionsdrang fehlt dem Träumer,
der sonst in der allgemeinen Richtung seines Phantasie- und Gefühls-
lebens dem Lyriker nahesteht. Auch er liebt es, statt mit tatkräftiger
Hand die Zügel seiner Gedanken und Gefühle zu führen, sich ihrem
Spiel hinzugeben, von ihrem Strom sich treiben zu lassen und auf sein
Innenleben zu horchen, aber es fehlt ihm, abgesehen von der Be-
schaffenheit seiner Gefühlserlebnisse, der künstlerische Gestaltungs-
trieb, sein Innenleben strebt nicht, nach Ribots^) treffendem Ausdruck,
sich zu materialisieren. Wir erleben wohl in träumerischen, dem prak-
tischen Leben abgekehrten Stunden lyrische Stimmungen, aber soweit
wir nicht produktive künstlerische Begabung besitzen, entbehren wir
der Fähigkeit sie in adäquater Form gegenständlich zum Ausdruck zu
bringen. Prüfen wir nun, um dem Wesen der Lyrik in der Poesie
näherzukommen, die Anwendung des Begriffes auf andere Künste.
Am wenigsten ist er in der Architektur üblich, obwohl er in der
oben gegebenen, allgemeinsten Fassung auf Baukünstler, denen die
Erzielung einer bestimmten Raumstimmung am meisten am Herzen
liegt, mit gutem Sinn anzuwenden wäre. Unter den Plastikerri gibt
es Naturen von entschieden lyrischer Richtung, die man nicht nur an
der Wahl der Motive, sondern auch an Komposition und Linienführung
erkennt. Allerdings kommt der Bildhauer mit seinen Kunstmitteln über
eine allgemeine Andeutung der Stimmung nicht hinaus, wenn er uns
etwa den stillen, dem tätigen Leben entrückten Seelenzustand der
Träumerei in Haltung und Ausdruck vor Augen stellt. Die Herkunft,
die Formen des Ablaufs, die fein unterschiedenen Stufen, mannigfaltigen
Komponenten und gegenständlichen Beziehungen dieser Seelenzustände
wiederzugeben ist ihm versagt. Besser stellt sich hierin die Malerei.
Sie hat reichere Mittel zur Versinnlichung lyrischer Stimmungen in
Linie, Farbe und Licht und verwendet sie in Einzelfiguren und Gruppen-
bildern wie in der Landschaft, der wir unsere Gefühle leihen. Auch ist
sie imstande, durch Leitung unseres Blickes vermittelst der genannten
Wirkungen gewisse Beziehungen zwischen Personen oder zwischen
Personen und Dingen, Mensch und Natur anzudeuten. Durch Ver-
teilung von Licht und Schatten, Wahl und Abstufung von Färb- und Licht-
werten und Harmonien vermag sie tiefer in die Nuancen unseres Seelen-
lebens einzudringen. Aber verglichen mit den Künsten der Zeit bleibt der
') Ribot, Die Schöpferkraft der Phantasie. Deutsch von Mecklenburg, 1002.
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 243
Maler dabei doch in groben Umrissen stecken. Es liegt nun einmal,
dem Futurismus zum Trotz, im Wesen und den Grenzen der bildenden
Künste, daß sie das zeitlich im Raum Koexistierende zum Stoffgebiet
haben. Schon in der Wiedergabe der materiellen Bewegung sind ihnen
enge Schranken gesetzt, der Seelenbewegung stehen sie machtlos gegen-
über. Wie ein seelischer Vorgang durch Ursachen angeregt und in
Fluß gebracht, durch kreuzende Motive beeinflußt und etwa nach
anderen Richtungen abgelenkt wird, wie ein Gefühlszustand durch neu
dazutretende, einander ablösende Gefühlstöne bereichert, variiert und
schließlich umgebildet wird, wie eine zuerst noch unbestimmte, ver-
schwommene Stimmung, durch Zerlegung in ihre Komponenten geklärt,
zuletzt voll und rein erklingt, wie sich zwischen einem fühlenden Be-
trachter und der umgebenden Natur Beziehungen anspinnen, die in
erotischen, religiösen oder philosophischen Gefühlen ihren Ausdruck
finden, wie ein uns selbst unbewußtes oder nur dunkel geahntes
körperliches Gemeingefühl auf unser geistiges Leben ausstrahlt und
sich im Verlauf des Prozesses in ein Schmerz- oder Wehmutsgefühl
um geistige Werte umsetzt, — wie vermöchte der Maler mit Linien,
Formen, Farben und Lichtwirkungen derlei Erlebnisse wiederzugeben?
Kann er doch in der Hauptsache nur die Personen und Dinge vor uns
hinstellen und die zwischen ihnen laufenden Beziehungen lediglich an-
deutungsweise erraten lassen. Seine Aufgaben liegen ja auch auf
anderem Feld. Selbst der Landschaftsmaler versagt hiebei gänzlich,
so gewiß er auch in all den Formen, Farben- und Lichtwerten seiner
landschaftlichen Gebilde die allgemeinen Stimmungen des Heiteren,
Düsteren, Anmutigen, Erhabenen, Schwermütigen u. dgl. ausdrücken
kann. So bleibt das Reich des lyrisch gestimmten Malers entsprechend
den Grenzen, die den Raumkünsten gezogen sind, deutlich genug dem
Dichter gegenüber abgeschrankt. Ihm kommen wir wenigstens in
manchen Beziehungen mit der Musik am nächsten; sie ist hervor-
ragend befähigt, in zeitlicher Folge verlaufende seelische Entwicklung
wiederzugeben, und hat mit der sprachlichen Kunst nicht nur die Mög-
lichkeit gemein, das aufeinander zu beziehen, was in zeitlich aufeinander-
folgender Darbietung gegeben wird, sondern auch eine Reihe von
Mitteln in der Wiedergabe seelischer Abläufe. Es ist bekannt, welche
Rolle diese musikalischen Momente in einer gewissen Richtung der
lyrischen Poesie spielen. Daß ihre Überschätzung zu einer geistigen
Verarmung des lyrischen Erlebnisses führen kann, bestätigt wohl am
besten die Ansicht jener Franzosen, die vom Dichter nur die Geschick-
lichkeit des sprachlichen Handwerkers verlangten, ohne an seine geistige
Bildung höhere Ansprüche zu stellen. Für ihn (den Dichter) haben
die Worte an sich, abgesehen von ihrem Sinn, eine eigene Schönheit
244 HANS KLAIBER.
und einen eigenen Wert gleich kostbaren Steinen, die noch nicht ge-
schliffen und noch nicht in Armspangen, Ketten und Ringe gefaßt
sind. Sie entzücken den Kenner, der, aufmerksam geworden, sie aus
ihrem Versteck ans Licht zieht< (Oautier). Bei manchem dieser Sprach-
juweliere ist die Kennerfreude am Klangwert des Wortes zur Oleich-
gültigkeit gegen Sinn und Bedeutung geworden, so daß dem Nicht-
eingeweihten ein Verstehen kaum mehr möglich ist, da die sprach-
lichen Ausdrucksmittel nicht durch den Zusammenhang der Vorstel-
lungen und Gefühle, sondern durch die Forderungen melodischer und
rhythmischer Effekte bestimmt werden. Wohl ist es im Wesen der
lyrischen Kunst begründet, wenn sich der Dichter der musikalischen
Hilfsmittel zum Ausdruck seiner Oefühlserlebnisse gern bedient, und
es kommt seinen Wirkungen zustatten. Aber es gab und gibt Lyriker,
bei denen das musikalische Element stark in den Hintergrund tritt, ja
es kann, abgesehen vom Rhythmus in seiner elementarsten Form, —
davon ist später ausführlicher zu sprechen — ganz fehlen, ohne daß
man solchen Gebilden den Charakter echter lyrischer Stimmung ab
streiten dürfte. Es ist tatsächlich möglich, zum mindesten gewisse
lyrische Stimmungen durch entsprechende Auswahl und Anordnung
der gefühlstragenden Sprachvorstellungen auch ohne sie zu erzeugen,
mag sich auch der Dichter dabei erprobter Hilfsmittel begeben: Das
Wesen der lyrischen Stimmung ist nicht unbedingt an sie gebunden,
so adäquat sie ihr auch sein mögen. Jedenfalls führt uns eine Be-
trachtung der Wesensunterschiede zwischen Musik und Sprachlyrik')
besser zum Ziel als eine Oleichsetzung der beiden Künste auf Grund
gewisser Übereinstimmungen. Dabei muß natürlich die absolute Musik
zugrunde gelegt werden, nicht etwa Lieder- oder Opernkomposition;
denn in diesen Gattungen hat sich bereits ein Kompromiß zwischen
Tonkunst und Sprachdichtung vollzogen, bei dem die Musik allerlei Zu-
geständnisse an die poetische Form auf Kosten ihres Eigenwesens macht.
Wie es in der Lyrik eine musikalische Richtung gibt, so vertritt umge-
kehrt die lyrische Stimmung nur einen Typus des Musikers bzw. ein zeit-
weiliges Verhalten des Tonkünstlers, der daneben »auch anders kann .
Wollten wir den lyrischen Dichter unter einen jener Typen künstlerischer
Tätigkeitsformen, wie sie z. B. Müller-Freienfels aufgestellt hat, einreihen,
so müßten wir ihn doch wohl zu den subjektiven, rezeptiv-sensiblen
Ausdruckskünstlern rechnen, wobei innerhalb der Gattung natürlich
ein mehr oder weniger bei den einzelnen Eigenschaften möglich ist
und je nach der Vorliebe für Bewegung oder Zuständlichkeit, für geistige
') Vgl. Th. A. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, S. 207, mit der Polemik gegen
Vischer.
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 245
Innerlichkeit oder äußere Sinnlichkeit, für das akustische oder visuelle
Sinnesgebiet usw. Untertypen zu unterscheiden wären. Die Zustände
des Subjekts, die inneren Vorgänge sind ihm alles, äußere haben für
ihn nur Bedeutung, sofern sie seelisches Leben widerspiegeln oder
beeinflussen. Ohne Neigung, selbst in den Verlauf der Dinge tätig
einzugreifen, Menschen und Zuständen den eigenen Willen aufzu-
zwingen, lauscht er hingegeben den Schwingungen, in denen das emp-
findliche Instrument seiner Seele auf äußere Eindrücke oder innere
Vorgänge im Gefühl reagiert; dieser passiv-rezeptive und sensible
Zug eignet dem Wesen des geborenen Lyrikers. Sein Schaffen geht
von innen nach außen, was im Innern Erlebnis geworden ist, sucht
Ausdruck in einer Form zu gewinnen, die in gleichgestimmten Seelen
suggestiv gleiche Vorgänge weckt, während beim >Oestaltungskünstler«
ein zur Verarbeitung lockender Stoff den Trieb anregt. Soweit der
echte Lyriker Objektives in sein Werk hineinzieht, sind es, wie Simmel
von George sagt, nur die verschiedenen Rollen, in denen seine Seele
sich spielt. So treffend diese Charakterisierung für den lyrischen
Dichter sein mag, so ist doch klar, daß sie für den Musiker viel zu
eng wäre. Oft genug ist es gerade ein Tonmotiv, das durch seine
rhythmischen oder melodischen Eigenschaften den Musiker zum Aus-
spinnen reizt und seinen tonbildnerischen Sinn anregt; neben den sub-
jektiven Naturen gibt es auch objektive unter den Tonkünstlern, denen
es weniger um den Ausdruck einer inneren Stimmung als um die Ver-
wirklichung eines nach den Gesetzen der Tonkunst gebauten Gebildes
zu tun ist. Ja bei einem und demselben Komponisten kann je nach
der musikalischen Gattung — nennen wir etwa die Fuge als Aufgabe
für den Gestaltungskünstler — bald die eine, bald die andere Schaffens-
art vorwiegen. Wichtiger ist uns ein zweiter Unterschied. Der Zu-
sammenhang zwischen den stimmungsanregenden Vorgängen (a), dem
Verlauf der Gefühle (b) und ihrer Verkörperung in mitteilbarer Form
(c) ist in den beiden Künsten grundverschieden. Zunächst ist die Be-
ziehung zwischen den zwei erstgenannten Faktoren (a und b) in der
Musik viel weniger bestimmt faßbar als in der Dichtung und nicht
nur dem Nacherlebenden, sondern auch dem Künstler selbst unbekannt
oder nur dunkel und bruchstückweise bewußt. Die verschiedenartigsten
Erlebnisse äußerer und innerer Art aus Natur und Menschenwelt wirken
auf den Musiker ein. »Es affiziert mich alles, sagt Schumann von sich,
was in der Welt vorgeht, Politik, Literatur, Menschen, über alles denke
ich In meiner Weise nach, was sich dann in der Musik Luft machen,
einen Ausweg suchen will. Deshalb sind auch viele meiner Kompo-
sitionen so schwer zu verstehen, weil sie an entfernte Interessen an-
knüpfen, oft auch bedeutend, weil mich alles Merkwürdige der Zeit
246 HANS KLAIBER.
ergreift und ich es dann musii<aiisch wieder aussprechen muß.« Da-
bei handelt es sich nicht etwa um ein Transponieren von literarischen,
politischen und anderen Vorgängen in Musik, sondern nach des Kom-
ponisten eigenen Worten nur um ein affiziert und angeregt werden.
Jene Vorgänge wirken auf das Gefühlsleben des Künstlers und er-
zeugen in ihm Stimmungen, die in ihren Verlaufsformen bereits er-
kennbare Beziehungen auf Vorstellungen von Tongebilden und Rhythmen
haben, hi der Verfolgung, Klärung und Herausarbeitung solcher Be-
ziehungen entsteht dann das musikalische Kunstwerk. Wie beim Dichter
die Gefühle in sprachlicher Form, so ringen sie beim Musiker in Ge-
stalt von Tonvorstellungen nach Ausdruck und finden für ihre Eigen-
art durch nichts klarere Versinnlichung als eben durch solche. So
verstehen wir, wenn sich Mendelssohn gegen eine Textdichtung zu
seinen Liedern ohne Worte wehrte mit der Begründung, die Musik
definiere besser als das Wort und sie durch Worte erklären hieße
sie verdunkeln. »Ich glaube nicht, daß Worte dafür genügen und
wenn ich vom Gegenteil überzeugt wäre, würde ich nicht komponieren.
Es gibt Leute, die die Musik der Vieldeutigkeit zeihen und meinen,
Worte verstände man immer. Für mich ist gerade das Gegenteil wahr.
Worte erscheinen mir vag, zweideutig, unverständlich im Vergleich
mit wahrer Musik, welche besser als die Sprache die Seele mit tiefen
Gefühlen erfüllt. Was mir die geliebte Musik ausdrückt, ist mir -eher
zu klar als zu unklar, um es durch Worte zu erläutern.« Auch hier
ist offenbar, daß es sich nicht um das Verhältnis zwischen den an-
regenden Umständen (a) und der Komposition (c), sondern zwischen
den Gefühlseriebnisfen (b) und ihrer Verkörperung in Tönen (c) handelt.
Das Auf- und Abwogen, Anschwellen und Nachlassen, Spannung und
Lösung, Erregung und Beruhigung, Hinschmelzen und Aufraffen und
all die anderen Stadien und Formen, die sein Gefühl durchläuft, lassen
sich für ihn am klarsten und treuesten in Tönen, Rhythmen, Melodien
wiedergeben. Während nun der Dichter die Gefühlsvorgänge in sich
selbst dadurch wiedereriebt, daß er sich jene erregenden Umstände in
Erinnerung ruft, und in uns ein Nacherleben ermöglicht, indem er jene
Geschehnisse oder Zustände in suggestiver sprachlicher Form schildert,
braucht der Musiker die anregenden Vorgänge wie z. B. Sonnen-
untergang, Landschaftsbild, Begegnung mit der Geliebten oder dgl.
überhaupt nicht in das Kunstwerk hereinzuziehen. Die Zusammen-
hänge zwischen ihnen und seinen nachmals in Musik umgesetzten
Stimmungen brauchen ihm selbst nicht bekannt zu sein, noch weniger
dem Nacherlebenden. Meist wird es sich nicht um zwei parallel
laufende Prozesse handeln wie bei Gefühls- und Tonbewegung, son-
dern um Anregungen, Anstöße, Assoziationen der Ähnlichkeit und
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 247
des Gegensatzes. Bei dieser Deutung des Mendelssohnschen Selbst-
bekenntnisses braucht man sich also kein Gewissen daraus zu machen,
trotzdem von der Vieldeutigkeit oder Unbestimmtheit der Musik etwa
im Sinn von Dessoir^) zu sprechen, der die hier besprochenen Unter-
schiede so formuliert, daß der Maler Darstellungsfähigkeit, der Dichter
Ausdruckskraft und der Musiker Suggeriervermögen besitze. Die
Schwäche der einzelnen Künste ist eben als notwendiges Korrelat
zu ihren spezifischen Wirkungsmöglichkeiten zu verstehen. Der wich-
tigste Unterschied zwischen Musik und lyrischer Poesie ruht schließ-
lich in der Verschiedenheit der Darstellungsmittel: beim Dichter die
gefühlsdurchlränkte Sprache, beim Musiker das nach Dauer, Höhe,
Stärke, Klangfarbe und harmonischen Verhältnissen abgewandelte und
zu Einheiten verarbeitete Tonmaterial.
In der Verschiedenheit der Darstellungsmittel liegt es begründet,
daß selbst da, wo Musik und Lyrik sich auf gemeinsamem Boden treffen,
noch große Unterschiede walten. Nicht entfernt kann sich der sprach-
liche Rhythmus in der Poesie an Genauigkeit der Charakterisierung,
Feinheit der Übergänge, Reichtum der Abstufungen, unmittelbar packen-
der Wirkung auf unsere motorischen Empfindungen mit dem musi-
kalischen messen. Grundlegende Gegensätze wie schwer-leicht, ruhig-
cregt, geläufig-stockend, rasch-langsam, schaukelnd-gemessen u. dgl.
vermag der sprachliche Rhythmus auszudrücken. Wo es sich aber
um feinere Unterscheidungen handelt, muß der Dichter gegenständliche
Erinnerungen an entsprechende Vorgänge in uns wachrufen, an Be-
wegungen belebter oder unbeseelter Körper wie schreiten, schweben,
trippeln, gleiten, rollen, wirbeln usw., ohne doch die sinnlich packende
Wirkung des musikalischen Rhythmikers zu erreichen. Die Klänge
der Musik sind eben, wie Dessoir in dem angeführten Zusammenhang
treffend unterscheidet, ein gefügigeres Material für rhythmische Wir-
kungen als die Worte der Sprache, die schon Eigenwerte an Länge
und Kürze, Haupt- und Nebenton mit sich bringen und den Dichter
vor die Aufgabe stellen, »einen metrischen Rahmen mit einem bereits
rhythmischen Material auszufüllenc In der Feinheit der Dynamik wird
selbst der geübteste Vortragskünstler sich mit dem Musiker in keinen
Wettstreit einlassen wollen. Lustreize der Melodie und Klangfärbung
fehlen zwar der Sprache nicht, aber die Bedeutungsentwicklung der
Worte ist nicht von melodischen Rücksichten geleitet. Will also der
') Dessoir, Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft (1906), sieht in der Unbestimmt-
heit der musil<a!ischen Oleichnissprache ein gefühlsmäßiges Gegenstück zum Allge-
meinbegriff. Die Töne geben den Kreis an, nicht was in diesem Kreis an bestimmten
Vorgängen sich abspielt. Hierfür liefern dann programmatische Andeutungen des Kom-
ponisten über seine Anregungen, seinen Weckruf eine Ergänzung und Besonderung.
248 HANS KLAIBER.
Dichter sich nicht mit einem melodischen Wortgekiingel begnügen,
sondern einen Sinn ausdrücl<en, so muß er die Worte nach der Be-
deutung wählen und der musikalische Reiz kommt für ihn erst als
wirkungverstärkendes Moment hinzu. Kann daher der Dichter in den
musikalischen Elementen den Wettbewerb mit dem Tonkünstler nicht
aufnehmen, so hat er dafür die besonderen Vorzüge seines sprach-
lichen Vorstellungsmaterials vor ihm voraus. Auf der Grundlage des
Gemeingefühls baut er eine konkret faßbare Gefühlswelt auf, die den
weitesten Kreis unserer geistigen Interessen in sich aufnehmen kann.
Natur und Menschenleben, erotische, philosophische, religiöse Vorstel-
lungen — alles ist dem Lyriker zugänglich, die Wechselbeziehungen
zwischen Zuständen und Vorgängen in der äußeren Natur und im
Seelenleben des Menschen sind ihm vor anderen vertraut. Demgegen-
über kommt die Musik, wo sie statt Gefühls- und Willensvorgängen
äußere Ereignisse, Zustände oder gar ursächliche Zusammenhänge
zwischen solchen schildern will, über allgemeine, unbestimmte An-
deutungen nicht hinaus. Selbst überzeugte Anhänger der Programm-
musik können nicht behaupten, daß sie zusammenhängende Gescheh-
nisse und deren kausale Beziehungen — ohne sie bliebe doch ein
größerer Zusammenhang unverständlich — mit ihren Mitteln deutlich
erfaßbar mache. Diesem Vorstellungsreichtum der Lyrik entspricht der
inhaltliche Reichtum der Gefühlswelt. Die verwickeltsten seelischen
Zustände, ihre feinsten qualitativen Nuancen, ihre geheimnisvollen Über-
gänge, Schattierungen und Verschmelzungen erleben wir da in einer
Klarheit, die uns ohne die Hilfe des lyrischen Dichters niemals erreich-
bar wäre. Auch der Musiker hat z. B. sehnsuchtsvolle Klänge, aber
ihnen fehlt die gedankliche Bestimmtheit. Ist es die Sehnsucht nach
der fernen Heimat, nach verlorenen Lieben, nach entschwundenen Idealen,
nach religiöser Befriedigung in der Unrast des Lebens, ist es mehr ein
ungestilltes Wünschen, oder ein Ausmalen der lustvollen Erinnerung,
des Vermissens, ist sie strebend, resignierend oder zum Entschlüsse
führend, und welche Stelle nimmt sie ein in der Kette der seelischen
Entwicklungen? Erwächst sie aus konkreten Erinnerungen an vermißtes
Glück, ist sie aus allgemeinem Weltschmerz geboren, hat sie ihren
Untergrund in der Unlust des Gemeingefühls, die sich allmählich zu
greifbaren Gefühlsregungen persönlichen, nationalen, religiösen Cha-
rakters abklärt? Ist sie ein Teilklang unseres seelischen Akkordes,
baut sie sich aus ihren Komponenten auf oder zerfließt sie im Ab-
lauf der inneren Vorgänge in ihre Partialtöne, um schließlich in un-
vermerkten Übergängen in einen neuen Seelenzustand überzuführen?
Mit diesen Fragen, die der Musiker mit seinen Mitteln gar nicht be-
antworten kann und will, betreten wir das ureigenste Gebiet der
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 249
lyrischen Stimmung in der Poesie, das wir seither wesentlich negativ
durch Abgrenzung gegen andere Künste umschrieben haben.
Dem lyrischen Dichter eignet vor anderen die innere Notwendig-
keit und Geschlossenheit seiner Oefühlserlebnisse, die sie aus allem
auf die praktischen Interessen Bezüglichen heraushebt und vor der
Durchkreuzung durch die Zufälligkeiten unserer durch äußere Ein-
drücke oder aufsteigende Erinnerungen geweckten Gedankenverbin-
dungen bewahrt.
Für die Charakterisierung der dem Lyriker eigenen Oefühlserleb-
nisse wird man immer wieder auf die in ihrer Art unübertreffliche
Schilderung Diltheys') zurückkommen müssen. »Den lyrischen Dichtern
ist gegeben, den stillen Ablauf innerer Zustände, der sonst vom Ge-
triebe der äußeren Zwecke gestört und von dem Lärm des Tages über-
tönt wird, in sich zu vernehmen, festzuhalten, zum Bewußtsein zu er-
heben. Indem sie so in uns selber einen Zusammenhang inneren
Lebens wieder aufrufen, der auch in uns einmal da war, aber nicht so
stark, nicht so eigen, in so ungestörtem Ablauf und so mit Bewußt-
sein aufgenommen, wird ihre Kunst zum Organ, uns im Persönlichsten
besser zu verstehen und unseren Gesichtskreis über die eigenen Ge-
mütserlebnisse hinaus zu erweitern. Die Genies des Gemüts offen-
baren einem jeden von uns seine eigene innere Welt und sie lassen
in eine fremde, die uns doch auch verwandt ist, hineinblicken . . . Das
lyrische Genie liegt zunächst in der Eigenheit des lyrischen Dichters,
kraft deren er diesen inneren Vorgang nach der ihm eigenen Gesetz-
lichkeit voll und rein durchlebt, ihm ganz hingegeben, unberührt von
dem, was von außen diesen gesetzlichen Ablauf stören könnte . . .
Wie ein anfänglicher Oefühlszustand sich in seinen Teilen entfaltet und
schließlich in sich zurückkehrt, nun aber nicht mehr in seiner ersten
Unbestimtheit, sondern in der Erinnerung des Verlaufs zusammen-
genommen zu einer Harmonie, in welcher die einzelnen Teile zusammen-
klingen; wie unser Gefühl anschwillt und dann in einer Wendung des
seelischen Verlaufs langsam sinkt; wie ein Kampf kontrastierender Ge-
fühle in uns sich löst oder wie der höchsten Steigerung eines allzu
Schmerzlichen die Beruhigung folgt.« — Zu diesen die Verlaufsformen
betreffenden Zügen kommt also noch hinzu, daß der Lyriker die Stim-
mungen tiefer und intensiver als unsere an der Oberfläche verrauschen-
den Gefühle erlebt, inhaltlich reicher und dabei doch so klar, daß
die Teilgefühle nicht im ganzen unbemerkt untergehen, sondern ihm
eine spezifische Färbung verleihen, und selbst wenn sie zeitweise in
den Unterströmungen verschwunden scheinen, wieder auftauchen. Nur
') Dilthey, Erlebnis und Dichtung S. 372 ff.
250 HANS KLAIBER.
diese abgestufte, vom Dichter erlebte Mannigfaltigl<eit ermöglicht ihm
bei der Objektivierung seiner Gefühle in sprachlicher Form die Zer-
legung der Totalgefühle in ihre Komponenten, und die Klarheit der
inneren Entwicklungslinien verbürgt die Folgerichtigkeit und Ge-
schlossenheit der äußeren Form. Die Forderung, daß die Gefühlsvor-
gänge ein eigenartiges, das individuelle Wesen spiegelndes Gepräge
tragen müssen, stellen wir an jedes Kunstwerk; es ist keine Besonder-
heit der lyrischen Poesie, wohl aber bei ihr in stärkster Prägnanz aus-
gebildet. Dagegen ist für den Lyriker neben der Gabe, Gefühlszustände
der geschilderten Art zu erleben, ebenso v/ichtig die Fähigkeit, sie in
der Erinnerung klar und bestimmt festzuhalten, um sie beim Objektivie-
rungsprozeß gegenwärtig zu halten. Das will nicht wenig besagen,
wenn man bedenkt, wie flüchtig uns der Verlauf wechselnder Stim-
mungen zerrinnt, wie schwer wir über gewisse allgemeine Erinnerungen
hinauskommen. Dem Lyriker ist das in erster Linie dadurch möglich
gemacht, daß seine Gefühle schon im Augenblick des Erlebens ge-
wisse Beziehungen auf Sprachvorstellungen (wie beim Musiker auf
Tonvorstellungen) an sich tragen, die natürlich im Lauf der Ausarbei-
tung sich mehren und klären, aber doch von Anfang an der Repro-
duktion die notwendigste Hilfe bieten. Während uns sonst bei neu-
artigen, noch nie erlebten oder komplizierten Stimmungen gerade das
Dunkle, Verschwommene, in Worten Unfaßbare besonders eindrücklich
wird, ist dem Lyriker schon in der Art seines Erlebens die erste Möglich-
keit geboten, sie sprachlich zu verständlichem und auf einen auch auf
andere Personen unmittelbar wirkenden Ausdruck zu bringen. Geiger i)
spricht von einer Tendenz des inneren Bildes zum sprachlichen Ausdruck,
der nicht von außen an dasselbe herantritt, sondern sich aus ihm selbst
herausentwickelt wie die Blüte aus der Pflanze, und in diesem Sinn läßt
sich auch das Wort Hebbels anführen: »Das erste Stadium der Form
ist das Wort, in dem der Gedanke sich verkörpern muß, um nun
selbst zu werden.« Da dem Dichter die Phantasie analoge Vorgänge
auf dem gleichen oder einem anderen Gebiet des körperlichen und
geistigen Lebens zur Verfügung stellt, vermag er selbst die zartesten
und feinsten inneren Vorgänge oder die im Halbdunkel des Bewußt-
seins ablaufenden, für unsere Gesamtstimmung so überaus wichtigen
Organgefühle noch in Worte zu fassen. Was gäbe es z. B. Feineres
und sprachlicher Einkleidung gegenüber Empfindlicheres als das Nach-
zittern eines vorübergerau sehten lustvollen, überwältigenden Affektes
und wie unmittelbar packend weiß Hölderlin in seinem »Sonnenunter-
gang« (»Wo bist du? trunken dämmert die Seele mir von all deiner
') E. Geiger, Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik 1905.
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 251
Wonne«) diesen seelischen Zustand durch einen gefühlsverwandten wie
die selige Verzücktheit des Rausches, die Benommenheit und Um-
nebeiung des Bewußtseins im halbwachen Zustand, das hingegebene
Lauschen auf den Nachhall eines verklingenden Saitenspieles faßbar
zu machen! Ermöglicht wird ihm dies durch sein reiches Gefühlsleben,
das ihm eine fein abgestufte Leiter von Oefühlstönen verfügbar hält,
die, an die verschiedensten Vorstellungen geknüpft, durch die Asso-
ziation der Ähnlichkeit geweckt werden. Was in ihm vorgeht, läßt die
Saiten seines Inneren erklingen und gemahnt ihn an Erlebnisse, die,
in der Gefühlsbetonung verwandt, zur Verdeutlichung angezogen
werden können. Dieser Reichtum an qualitativ und in den Intensitäts-
graden verwandten Gefühlstönen erklärt es ja auch, daß bei Künstlern
die Synästhesie häufig vorkommt, jenes Überfließen der Empfindungen
über die Grenzen ihres Sinnesgebietes. Zwar die Synästhesie im
streng physiologischen Sinn, wobei durch eine Sinnesempfindung eine
regelrechte (subjektive) Empfindung auf dem Gebiet eines anderen
Sinnes ausgelöst, also ein Ton gesehen, eine Farbe gehört wird u. dgl.,
ist keineswegs notwendig. Es genügt, wenn die Ähnlichkeit der Re-
aktion unseres Bewußtseins auf zwei verschiedene Erlebnisse durch
Reproduktion zu einer mehr oder minder innigen Verkettung derselben
führt, von der losen Assoziation, bei der beide Vorgänge deutlich als
getrennt empfunden werden, bis zur engsten Verwachsung. Mit Hilfe
dieser Gefühlsassoziation gelingt es auch dem Dichter, den wichtigen
Anteil des körperlichen Gemeingefühls in Worte zu bringen. Die
Traumpsychologic ') lehrt uns, wie stark die Organempfindungen samt
den daran geknüpften Gefühlen in Zuständen, wo die Leitung des Willens
zurücktritt oder ganz ausgeschaltet ist, auf unsere Phantasie einwirken.
Hunger, Durst, Übelkeit, Störungen des Gemeingefühls durch schwere
Atmung, unbequeme Lage des Leibes oder Schmerzen einzelner Körper-
teile und anderes weckt Vorstellungen von ähnlicher Gefühlsbeto-
nung. So vermag auch der Dichter durch Tätigkeits- oder Zustands-
vorstellungen von entsprechender Gefühlbetonung, die sich ihm beim
Hinhorchen auf seine inneren Vorgänge ungesucht einstellen, die
Qualitäten des Gemeingefühls, das Gehobene und Gedrückte, Leichte
und Schwere, Freie und Beengte, Aufstrebende und Gepreßte, Kraft-
volle und Matte, Gierende und Satte, Ruhelose und Behagliche usw.
unserem Mitempfinden nahezubringen. Ein weiterer Faktor des Ge-
meingefühls, auf den Elsenhans in seiner Psychologie aufmerksam macht,
die Reaktion auf die verschiedene Intensität unserer Empfindungen,
') Du Prel, Psychologie der Lyrik 1S80, spricht des längeren über das Traum-
hafte der künstlerisclien Schöpfung, ohne aber viel Greifbares aufzudecken. Auch
Vischer hat sich an verschiedenen Stellen dazu geäußert.
252 HANS KLAIBER.
kommt im praktischen Leben des Alltags selten zu bewußtem Erfassen,
spielt aber für den Gefühlsmenschen eine wichtige Rolle. Er kennt
die Lust, die das bewußt zum stärksten Grad gesteigerte Sinnesempfinden
begleiten kann. Wir denken an G. Kellers >Trinkt, o Augen, was
die Wimper hält, von dem goldenen Überfluß der Welt«. Das Ein-
saugen der Sinnesreize mit allen Poren, das genießende Schlürfen, das
Ein- und Untertauchen mit der Lust des Schwimmers in der klaren,
kühlen Flut, dieses bewußte Erstreben einer dargebotenen Empfindung
ist unabhängig von ihrem Inhalt von sinnlichen Gefühlen begleitet,
die für unsere gesamte Stimmung von großer Wichtigkeit sind. Noch
häufiger treffen wir entsprechend dem rezeptiven Zug im Charakter
des Lyrikers Gefühle, die ein hingegebenes, des bewußten Strebens
bares Aufnehmen der Eindrücke bezeichnen. Ihm rinnen und gleiten,
rauschen, raunen und singen die Töne ins Ohr, er fühlt sich von
Lüften gestreift, umfangen, umflattert, von Düften umwogt, umwölkt,
von Dunkel umhüllt, vom Fluß umspült und angefühlt, von Licht um-
faßt, von lebender oder toter, aber durch die einfühlende Phantasie
belebter Natur freundlich angeschaut, angelacht oder drohend ange-
starrt und erlebt die Passivität dieser Zustände zu ihrem Inhalt hin.
»Mein Fluß« von Mörike enthält die schönsten Beispiele dafür.
»Er fühlt mir schon herauf die Brust;< heißt es in der ersten Strophe.
»Die Woge ringet aus und ein
Die iiingegebenen Glieder:
Die Arme hab ich ausgespannt,
Sie kommt auf mich hinzugerannt,
Sie faßt und läßt mich wieder.«
So malt mit Rhythmus und Laut die zweite das Spiel der Wellen, dem
sich der Dichter im Geist in wohliger Hingabe überläßt. Oder in der
fünften Strophe: »Mit Grausen übergieße mich!« Mit dem Traumleben
hat die Lyrik die Objektivierung des Gemeingefühls im Sinne einer Über-
tragung auf Gebilde der poetischen Phantasie gemein. Mörikes
»Um Mitternacht « überträgt den persönlichen Zustand einer müde hin-
gelehnten Träumerei, bei der man rein passiv und rezeptiv sich die Ge-
räusche der Außenwelt ans Ohr schlagen und sich von ihrem gleich-
förmigen Rhythmus schließlich überwinden und einschläfern läßt, auf
die Gestalt der am Berg gelehnten Nacht. Ein Hauptreiz der > Serenade
auf dem Meer« von Isolde Kurz ruht in der Verkörperung der sinn-
lichen Gefühle, die von den Rhythmen der Musik erregt in uns mit-
schwingen. Geisterhaft klingt von fernher eine Serenade über die mond-
hellen Wasser, das einförmige Murmeln der um die Klippen waschenden
Wellen übertönend. Das Gefühl des Mitschwingens und -schwebens
mit ihren über die Wogen gleitenden Rhythmen wird zum flockigen
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 253
Wolkenbette, das uns umschwellt, zur Cherubimgiorie, die uns auf-
nimmt, durcii die Mondnacht schweben läßt und im Verklingen schlafend
in ein seliges Traumreich emporträgt.
»Wolkenbette mich umflockt!
Jeder Ton ein Cherub goldgelockt!
Übers Meer hinan
Schweb ich helle Mondenbahn.
Mit den Wolken aufwärts wallend,
Sanft verhallend,
Trägt mich der beschwingte Chor
Schlafend zu den Seligen empor.«
Für eine andere, gleichfalls stark vom Oemeingefühl durchsetzte Stim-
mung, das Sichschaukeln und -wiegen in schillernden Hoffnungen, das
frohe Schweben in Illusionen — wer denkt nicht an die Reizträume
des Fliegcns, die leichte Atmung und gehobenes Gemeingefühl in uns
erwecken — darf noch ein bezeichnendes Stück von Ricarda Huch
zitiert werden.
Hoffnung.
»Hoffnung wiegt sich auf dem Aste Flügel, wie sein Rad der Pfau,
Meines Herzens; bleibe, raste Spannt sie hundertangig, blau;
Noch ein Weilchen in der Laube Duckt sich, schwingt sich auf; es wanken
Meiner Brust, du wilde Taube. Meines Herzens leichte Ranken. <
Im allgemeinen wird das lyrische Erlebnis sich nicht sogleich in
einem fertigen, sprachlich abgerundeten, formgeklärten Ausdruck nieder-
schlagen. Immerhin dürfte ein derartiges improvisierendes Gestalten
gerade bei der Lyrik noch am ehesten vorkommen, da sie unter den
redenden Künsten vor allem prägnante Kürze liebt und mit wenigem
vieles zu sagen weiß. R. M. Werner ^) erklärt das Improvisieren für
eine Virtuosität, welche mit der Dichtkunst nicht viel mehr als die Form
gemein habe. In diesem Sinn einer äußerlichen Reim- und Versmaß-
technik scheidet es aus unserer Erörterung selbstverständlich aus. Wir
verstehen es vielmehr wie E. Geiger seine »Gelegenheitsdichtung«, daß
nämlich der Dichter beim Erleben selbst in produktiver Stimmung
ist. Das Gegenteil wäre die > Erinnerungsdichtung«. Wenn sich im
ersten Fall Erinnerungsmomente einmischen, so ist das u. E. für die
vorliegende Unterscheidung belanglos und berechtigt uns nicht, von
einer Zwischenstufe zwischen Gelegenheits- und Erinnerungsdichtung
zu sprechen. Denn das unterscheidende Merkmal, das Vorhandensein
der produktiven Stimmung fehlt. Dagegen bezeichnet Geiger mit Recht
alle Lyrik insofern als Erinnerungsdichtung, als nicht im Augenblick der
') R. M. Werner, Lyrik und Lyriker 1890.
254 HANS KLAIBER.
Erregung selbst, sondern unter dem Eindruck der im primären Gedächtnis
vorhandenen Erregung geschaffen wird. Der Zustand muß zu einem ge-
wissen Abschluß gekommen, eine Losiösung vom Erlebnis eingetreten
sein, damit noch unter seiner unmittelbaren Nachwirkung die schöpfe-
rische Tätigkeit einsetze. Dies ergibt sich für uns schon aus unserer
Auffassung der Stimmung als eines aus verschiedenen Komponenten
gebildeten Ganzen, das erst zusammengefaßt, als Einheit erlebt und
empfunden sein muß, bevor es sich in einer Form niederschlagen kann.
In das Schema einer physiologischen Erklärung, die das lyrische Produkt
alle Zustände des werdenden Organismus vom Keim bis zum äußeren
Wachstum durchlaufen läßt, will freilich das Improvisieren schlecht
hereinpassen, dafür ist es aber durch das Selbstzeugnis bedeutendster
Lyriker wie Goethe, Heine und anderer verbürgt. Wohl tragen die Ge-
fühle, wie oben bemerkt, ihre Beziehungen zu rhythmischer und sprach-
licher Formulierung an sich, aber ihre Stärke und Klarheit wird beim
einzelnen verschieden sein. Sie sind die Hilfen, die, beim Schöpfungs-
prozeß dem Schaffenden selbst nur dunkel bewußt, Rhythmen, wir-
kungsvolle Störungen, Abänderungen und Unterbrechungen des viel-
leicht aus äußeren Gründen der Tradition gewählten Versmaßes, Wechsel
im Tempo durch leichte oder gehemmte Atemführung, die melodischen
Elemente des Klangreizes, Reimes, der Lautmalerei finden lassen. Schiller
sagt von sich, das Musikalische eines Gedichtes schwebe ihm oft
deutlicher vor der Seele als der klare Begriff vom Inhalt. Von Hebbel
wissen wir, daß ihm das Gedicht oft mit einer Melodie kam, leise
singend, summend fand er seinen Ausdruck. Ebenso unterstützen den
Schaffenden jene Beziehungen in der Wahl der suggestiv wirkenden
sprachlichen Bezeichnungen für innere Zustände und Entwicklungen, die
er anderen zugänglich machen möchte. Je stärker diese Mitwirkung
schon unter dem unmittelbaren Eindruck des Erlebnisses ist, je bereit-
williger sich da schon die treffenden sprachlich-musikalischen Aus-
drucksmittel zu Gebot stellen, um so eher wird es zur improvisieren-
den Inspiration kommen. Daß sie weder das Regelmäßige noch not-
wendig ist, hat man mit Berufung auf Selbstzeugnisse zahlreicher
Dichter nachgewiesen. Doch möchten wir ein solches Bekenntnis
von Sully Prudhomme aus Ribots zitiertem Werk als besonders lehr-
reich hier einfügen. »Ich habe die Gewohnheit, eben gedichtete Verse
beiseite zu legen und einige Zeit im Schreibtisch zu lassen, bevor
ich die letzte Hand an sie lege. Wenn sie mir verfehlt erscheinen,
vergesse ich sie bisweilen und es kommt vor, daß ich sie nach mehreren
Jahren wieder finde. Ich dichte sie dann um und ich habe die Fähig-
keit, das Gefühl, das sie mir eingegeben hatte, mit großer Deutlichkeit
wachzurufen. Dieses Gefühl lasse ich in meinem Inneren sozusagen
I
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 255
Modell stehen und kopiere es mit der Palette und dem Pinsel der Sprache.
Es ist gerade das Gegenteil des Improvisierens und es scheint mir,
daß ich alsdann nach der Erinnerung des Gefühlszustands arbeite.
Wenn ich mich der Gemütsbewegung erinnere, die mir der Einzug
der Deutschen verursacht hat, so ist es ganz unmöglich, daß ich nicht
gleichzeitig und in untrennbarem Zusammenhang damit diese Gemüts-
bewegung selbst aufs neue empfinde, während das Gedächtnisbild des
damaligen Paris sich von jeder gegenwärtigen Wahrnehmung ganz
deutlich abhebt. < Mögen übrigens die Gefühlserlebnisse bis zur Aus-
drucksgestaltung scheinbar in Vergessenheit geraten oder bis zum
letzten Ausfeilen im Schreibtisch ruhen, so brauchen sie darum in
dieser Zwischenzeit nicht tot zu liegen. Die reproduzierende Phan-
tasie bringt sie nicht unverändert zum Vorschein, insbesondere werden
die gefühlsbetonten Momente an Kraft gewonnen haben, andere dafür
verblaßt oder ausgefallen sein, und die Auslese, die schon bei der
Wahrnehmung unwillkürlich nach dem Gefühlscharakter erfolgt ist,
wird sich bei der Reproduktion verstärkt haben. Die verklärende Um-
bildung, die wir alle als Zauberkraft der Phantasie kennen, wird nun
durch bewußte künstlerische Gestaltung und Ordnung im Hinblick
auf ein bestimmtes Ziel unterstützt, oder mit Hebbel zu sprechen, die
Phantasie bekommt Versland. Damit sind wir auf den Weg gelangt,
den wir in den bildenden Künsten in Studien und Skizzenbüchern ver-
folgen können, und der bei dem einen langsamer, bei dem anderen
rascher zum Endergebnis des Kunstwerks führt. Es ist nicht zu leugnen,
daß sich zu diesem Entwicklungsgang manche Parallelen aus dem
Werden des Organismus ziehen lassen, allein sie sind weder für die
Lyrik noch auch nur für die Kunst eigentümlich, sie lassen sich bei-
spielsweise ebenso einleuchtend auf das Keimen, Heranwachsen und
Ausgestalten wissenschaftlicher Gedanken oder Theorien anwenden.
Aus den bisherigen Ausführungen erhellt schon, daß wir unter
der Stimmung ein Totalgefühl verstehen, in dem verschiedene Gefühle
beziehungsweise Nachwirkungen von solchen sich miteinander ver-
binden. Wann legen wir nun einem Totalgefühl vorzugsweise den
Namen Stimmung bei? Als wichtigstes Merkmal betrachten wir, daß
es im Vergleich zu den rasch ablaufenden einzelnen Gefühlsvorgängen
etwas Bleibendes, Dauerhaftes an sich hat; in diesem Sinn pflegt
z. B. eine heftig abgelaufene Gemütsbewegung einen eine gewisse
Zeit anhaltenden Niederschlag in einer Stimmung zu hinterlassen.
Ferner wissen wir, daß unser geistiges wie körperliches Verhalten,
letzteres durch das Gemeingefühl gleichermaßen daran beteiligt ist, daß
also eine Mehrheit von Faktoren dabei mitwirkt, ohne daß wir uns
jedoch über sie im einzelnen oder ihren jeweiligen Beitrag im klaren
256 HANS KLAIBER.
wären. Gerade das Unbestimmte, nicht auf spezielle Inhalte Bezieh-
bare ist diesem Zustand eigen. Endlich ist es für dieses Zusammen-
gesetzte und verhältnismäßig Andauernde bezeichnend, daß ein einzelner
Faktor in ihm die Herrschaft derart an sich reißen kann, daß er der
ganzen Bewußtseinslage seine Färbung verleiht i). Im praktischen Leben
sind diese Stimmungen von großer Wichtigkeit für unsere Willensvor-
gänge und wir sind bald in der Stimmung, bald nicht in der Stimmung
dies oder jenes zu tun. In diesem Sinn einer seelischen Disposition
gebraucht R. M. Werner den Begriff, für ihn ist es der von Tages- und
Jahreszeit, Wetter, menschlicher und landschaftlicher Umgebung ab-
hängige ahnungsvolle Zustand, die innere Sammlung, die den Dichter
befähigt, sich von einem Erlebnis anregen zu lassen. Eine solche Dis-
position, die bei den einzelnen unter individuell verschiedenen Ein-
flüssen steht, wird von den Künstlern selbst zur Genüge bezeugt;
sie hat aber mit der Stimmung in unserem Sinn nichts zu tun. Wir
verstehen darunter nach der obigen Erklärung den eine seelische Einheit
bildenden Niederschlag des lyrischen Gefühlserlebnisses, den der Nach-
erlebende als Ertrag des selbst als Einheit genossenen und erfaßten
Gedichtes gewinnt. Für den Dichter ist sie die Zusammenfassung der
Einzelgefühle, der Ausgangspunkt des Schaffens, muß er doch den
sprachlichen Ausdruck für die einzelnen gefühlsbetonten Vorstellungen
im Hinblick auf die zu erzielende Gesamtstimmung, bildlich gesagt
als Einzeltöne eines ihm vorschwebenden Akkordes wählen. Der
Akkord aber muß feststehen, wenn man seine Einzeltöne anschlagen
will, wie bereits bei der Frage des improvisierenden Dichtens voraus-
geschickt worden ist. Die Stimmung in diesem Sinn hat mit allem
ästhetischen Verhalten gemein, daß ihr die Beziehungen auf unser prak-
tisches Wollen fehlen. Außerdem möchten wir ihr zwei Merkmale zu-
sprechen; erstens, daß sie keine Gefühlskombination, sondern eine Ge-
fühlsverbindung ist, was wir sofort näher erklären, zweitens, daß sie
ein in sich geschlossener, durch formale und inhaltliche Beziehungen
als Einheit empfundener Vorgang ist, dessen Ergebnis einen Zustand
unseres inneren Seins darstellt.
Unter Gefühlskombination verstehen wir mit M. Geiger-) ein Total-
gefühl, das sich aus zufällig gleichzeitigen Elementen zusammensetzt,
unter Gefühlsverbindung dagegen ein solches, dessen gleichzeitige
Gefühlselemente in ihren Entstehungsbedingungen im Zusammenhang
stehen. Nehmen wir dafür ein Beispiel aus dem täglichen Leben. Wir
') Störring, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gefühl. Archiv f. d. ges.
Psychologie 1906, S. 316 f.
-) M. Geiger, Bemerkungen zur Psychologie der Gefühlselemente und Oefühls-
verbindungen. Archiv f. d. ges. Psychologie 1905, S. 233 ff.
DIE LYRISCHE STIMMUNG.
257
sitzen an einem i<aiten Wintertag im wohldurcli wärmten, behaglichen
Heim und blicken auf die Straße und die Vorübergehenden hinaus.
Da fällt uns eine dürftig gekleidete Familie ins Auge, die in eisigem
Frost zitternd obdachlos ihren ärmlichen Hausrat auf der Straße ein-
herkarrt, und ein Gefühl des Mitleids gesellt sich zur Stimmung be-
haglich-wohliger Geborgenheit, das in seiner Entstehung durch die
vorhandene Stimmung mitbedingt ist. Kämpften wir uns selbst etwa
auf einem Berufsgang zu gleicher Zeit mühsam durch Wind und
Wetter, so könnte dasselbe Bild eindruckslos am Auge vorüberziehen.
Wenn wir endlich von unserm Fensterplatz aus einen Bekannten ent-
deckten, den wir längst abgereist wähnten, so hat das Gefühl der Über-
raschung mit der vorhandenen Stimmung nichts zu tun, ist nur ein
gleichzeitiges Element, das in unser Totalgefühl zufällig eingeht. Nun
noch ein Beispiel aus der Dichtkunst, das zarte kleine Bildchen von
Chr. Morgenstern, betitelt:
Erster Schnee.
Aus silbergrauen Gründen tritt
Ein schlankes Reh
Im winterlichen Wald
Und prüft vorsichtig, Schritt für Schritt,
Den reinen, kühlen, frischgefallenen Schnee.
Und deiner denk ich, zierlichste Gestalt.
Das Bild des schlanken, vorsichtig aus verschneitem Winterwald heraus-
tretenden Rehs verschmilzt in der Phantasie des Dichters mit der Vor-
stellung der zierlichen Gestalt der Geliebten, und damit ist die Orund-
stimmung geschaffen, die für die Auswahl der Einzelzüge des Bildes
maßgebend wird. Wieviele Einzelzüge enthielt das Wahrnehmungs-
bild selbst, wieviele gefühlsbetonte Assoziationen kann es wecken!
Die Kälte kann die Vorstellung des molligen, wohlgeheizten Hauses,
die Stille des Winterwalds das bange Gefühl der Vereinsamung oder
das beseligende Bewußtsein des Alleinseins mit sich selbst, das Auf-
tauchen des Rehs Erinnerungen an traute Kindermärchen oder fröh-
liche Jagd hervorrufen. Unter dem bestimmenden Einfluß der Stim-
mung haben sich aber nur Vorstellungen ausgesondert und sind gleich
verwandten Elementen zusammengeschossen, die in ihren Entstehungs-
bedingungen mit der Grundstimmung und untereinander zusammen-
hängen. Die schlanke Gestalt des Rehs von feinem silbergrauem Hinter-
grund sich abhebend, mit zierlich-scheuem Tritt die frische Kühle des
keuschen, unberührt in weißer Reinheit glänzenden Neuschnees be-
tastend — lauter Eindrücke der Gesichts-, Temperatur-, Bewegungs- und
Berührungssinne, deren Gefühlsbetonung zu einheitlicher Stimmung zu-
sammenwirkt. Die Analogie zum Schaffen des bildenden Künstlers liegt
Zeitschr. f. Ästhetik u »llg. Kunstwissenschaft. XV. 17
258
HANS KLAIBER.
nahe. Wie bei ilim der Leitstern die vorschwebende Raumgestalt oder
Biidwirkung ist, zu deren idarer Herausarbeitung er die Mittel finden muß,
so hier die durch Verschmelzung von Natureindruck und Erinnerungs-
bild entstandene Stimmung, deren Komponenten es zu erfassen und
auf sprachlichen Ausdruck zu bringen gilt. Je überzeugender das ge-
lingt, um so klarer und reiner kommt die Stimmung heraus, um so
sicherer überträgt sie sich auf den Nachfühlenden. Daß dieses Nach-
fühlen bei verschiedenen Personen selbst wieder eine verschiedene
individuelle Note bekommt, ergibt sich aus der Verschiedenheit der
Erlebnisse, deren Oefühlsniederschlag beim Hören oder Lesen des Ge-
dichtes zum Klingen gebracht wird. Ein Auftauchen jener für den Ge-
fühlston im Leben des einzelnen maßgebenden Vorstellungen kann
dem Nacherlebenden nicht verwehrt werden, sind sie doch wesentlich
für sein innerstes persönliches Verhältnis zum einzelnen Gedicht. Für
das Nacherleben in den bildenden Künsten ist ja die Frage, welche
Assoziationen der Beschauer ausspinnen darf, welche er als ästhetisch
belanglos abzuweisen hat, in den bekannten Untersuchungen von Külpe,
Groos, V. Allesch und anderen eingehend behandelt worden. Natürlich
hat schon die Stimmung eine Auslese unter den Details des Wahr-
nehmungsbildes getroffen, die nicht gleich stark zur Wirkung kamen,
aber es können zunächst doch noch manche Elemente sich einmischen,
die in der Gefühlskombination nicht stören, in die Gefühlsverbindung
dagegen nicht hereingehören und im Verlauf des Schöpfungsvorganges
noch beseitigt werden müssen. Schwieriger als in diesem einfach ge-
wählten Fall liegt die Sache, wo der Dichter es unternimmt, eine unab-
hängig von äußeren Eindrücken, aus den Tiefen des Gefühls als Aus-
strahlung des ganzen Gemütslebens aufsteigende Stimmung durch das
Prisma seiner Sprachkunst in ihre Regenbogenfarben zerlegt uns vor
Augen zu führen. Wie muß ihm da die durch die Stimmung in Tätig-
keit gesetzte und befruchtete Phantasie mit ahnungsvoller Treffsicher-
heit die Bahnen der Sprachvorstellungen weisen, auf denen wir über
die einzelnen nacheinander angeschlagenen Töne zum Erleben des ge-
samten Gefühlsakkordes gelangen. Wie behutsam muß alles nur zu-
fällig Gleichzeitige ausgeschieden werden, damit im Akkord nichts an-
klingt, was nicht dazustimmt, nichts, was in unserem Innern tot und
ohne Widerhall bliebe oder einen Mißton erweckte.
Das zweite Merkmal der lyrischen Stimmung ist ihre innere Ge-
schlossenheit, die auch, wo es sich um einen sukzessiven Ablauf
verschiedener ineinander übergehender Einzel- oder Totalgefühle handelt,
den Eindruck eines dauernden Zustandes machen kann. Dabei muß
zunächst zu einer Begriffsbestimmung der Lyrik Stellung genommen
werden, die das Feld dieser Kunst unbillig einengt. Schon E. Geiger
DIE LYRISCHE STIMMUNG.
259
charakterisiert sie gegenüber der Epik und dem Drama dadurch, daß
sie nicht wie diese eine Zeitreihe und Entwicklung gebe, sondern zeit-
los einen Zustand oder einen aus der Zeitreihe herausgegriffenen Moment
gebe. Gestützt auf eine Richtung der modernen Lyrik, die sich zum
Ziel setzt, Worte für die Schilderung eines seelischen Zustandes zu
finden, dem jede Beziehung auf Geschehen, Handeln und Entwicklung
abzugehen scheint, hat H. Herrmann') aus der echten Lyrik alle zeit-
liche Entwicklung verbannt. Das lyrische Gedicht, so heißt es, ist ein
Gebilde, in dem ein Zustand seelischen Seins als gegenständlicher
Organismus in Sprache und Rhythmus erscheint; es hat die Tendenz,
alles als eine Bewegtheit zu geben, die in sich kreist, als Aktivität, die
nicht über sich hinausstrebt, es strebt nicht vorwärts, gibt keine Ent-
wicklung, keine Zeitfolge. Die lyrische Sprache benützt Worte rein
als Gefühlsgebärde, nicht als Sachbezeichnung oder Aktionssignal.
Die lyrische Komposition ist kreisförmig, der lyrische Rhythmus hat
den Charakter der Eintönigkeit, Refrain und strophische Gliederung be-
tonen das Gefühlsbindende, das stilreine lyrische Gedicht ist demnach
unfähig, eine Zeitfolge als solche darzustellen. Zeitbezeichnende Wörter
werden ihrer zeitmessenden Bedeutung entkleidet und erhalten steigernde
und verbindende Kraft. Das in der Zeit Erfahrene wird als zeitlose
Dauer gegeben, an Stelle des Vergehens tritt das Vergänglichsein, an
Stelle des Drängens das Drangvolle. Vorgänge sind meist nur Kunst-
griffe, um die Wirkung ruhender Bewegtheit zu steigern. Was der
Schluß bringt, ist eigentlich von Anfang an da. Die Lyrik erfaßt den
ganzen Lebensstoff und verwandelt ihn in ihr Element, das zeitlose
innere Sein, wobei selbst zeitbezeichnende Wörter nur Symbole für
Gefühle werden, in der »unreinen Lyrik wird der Geschehnischarakter
gegenüber der reinen Handlungsballade wenigstens verflüchtigt, ge-
lähmt und abgedämpft.
Soviel genügt wohl zur Beurteilung einer Ansicht, an der gemessen
der größere Teil dessen, was bisher als Lyrik galt und als solche
ästhetisch empfunden wurde, einer unreinen Gattung zuzuweisen und
schon halb zur Ballade zu rechnen wäre. Dieses Bedenken hat Müller-
Freienfels in der Dikussion über den Vortrag sofort geäußert, während
Bab noch weiter gehen und die Zeitlosigkeit als Wesensmerkmal der
Poesie angesehen wissen wollte. Da es bei der Lyrik besonders stark
ausgeprägt auftrete, soll sie die »reinste Form< der Poesie sein. Sollte
wirklich das Drama in seiner Art weniger rein oder nicht vielmehr
ein Maßstab falsch sein, durch den solche Wertunterschiede in gleich-
') Helene Herrmann, Die Erscheinung der Zeit im lyrischen Gedicht. Bericht
des Kongresses für Asthetilv u. allgemeine Kunstwissenschaft, 1914.
260 HANS KLAIBER.
berechtigte, unter verschiedenen Bedingungen arbeitende Gattungen
hineingetragen werden? Es ist kein Zweifel, daß viele der besten lyrischen
Gedichte von Goethe, Hölderhn, G. Keiler, Moerike — um nur große
Namen zu nennen — zeitlichen Verlauf, Vorgänge, Handlungen, Be-
wegungen materieller und geistiger Art enthalten, ohne daß ihrem
lyrischen Wert und Charakter dadurch der geringste Eintrag geschähe,
während manche moderne Gedichte, die jenen Forderungen genügen,
mehr als metaphysische Reflexion denn als stimmungsgeborene Lyrik
anmuten. Gewiß kann ein Zustand Gegenstand eines lyrischen Ge-
dichtes sein, sei es ein innerer Seelenzustand, sei es ein Zustand der
umgebenden äußeren Natur. In seiner Schilderung zerlegt der Dichter
ihn selbst und damit die aus ihm entspringende Stimmung in ihre
Faktoren und setzt aus ihnen das Bild zusammen. Auch gibt es sicher-
lich ein Übergangsgebiet, wo Lyrik und Ballade sich begegnen, aber
die Grenze ist anders zu ziehen, wenn man nicht die vermeintliche
Stilreinheit einem verhältnismäßig kleinen Teil der Gesamtproduktion
vorbehalten will. Nicht das Vorhandensein von zeitlicher Folge und
Vorgängen entscheidet, sondern die Frage, was den Anstoß zum dichte-
rischen Erlebnis gegeben hat, die seelische Stimmung, die Zustände
und Vorgänge in uns auslösen, oder das Interesse an der Schilderung
eines Handlungsverlaufes, der sich in Abschnitte gliedert und Personen
zu Trägern hat. Dem Lyriker ist der Vorgang als solcher gleichgültig,
er existiert für ihn nur als Symbol inneren Seins, aber darum braucht
er ihn nicht zu meiden. Das Stoffgebiet der lyrischen Poesie wäre
bedauerlich eingeschränkt, wenn sie wirklich Worte nur als Gefühls-
gebärde benützen dürfte. In der Tat verwendet sie dieselben in ent-
sprechenden Zusammenhängen ebenso als Sachbezeichnungen wie als
Aktionssignale zum Ausdruck von Wünschen, Befehlen oder zur Schilde-
rung von äußeren und inneren zeitlichen Folgen. Nichts ist häufiger
als Rückblicke in eine schönere Vergangenheit wie das unschuldsvolle
Kindesalter, die sorgenlose Jugend oder die Zeit entschwundenen
Liebesglücks, ebenso wie Ausblicke aus einer drangvollen oder trüben
Gegenwart in eine bessere Zukunft, aus der Unrast des irdischen
Lebens auf die ewige Ruhe. In all diesen Fällen könnte sich der
Dichter sprachlich gar nicht verständlich machen, wenn er sich nicht
»zeitmessender« Bezeichnungen bediente. Wie man aber z. B. die
Bindewörter der Zeit, wie als, bis, wann, nachdem, bevor u. dgl.
ihrer zeitlichen Bedeutung soll entkleiden und zu Gefühlsträgern machen
können, ist unfaßlich. Sie spielen ihre grammatisch-logische Rolle im
sprachlichen Bau eines Vorstellungskomplexes in der Poesie nicht
anders als in der Prosa. Auch zur Beschreibung äußerer Vorgänge
im Leben des Menschen und der Natur wie Auf- und Untergang der
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 261
Sonne, Hereinbrechen der Nacht, allmähliches Tagen, Gang durch den
Wald, die nächtliche Stadt und vieles andere, was in der Naturlyrik
so oft als Symbol inneren Geschehens vorkommt, sind sie nicht zu
entbehren. Kurz es ist ganz unmöglich, Zeitfolge und Bewegung aus
der Lyrik als stilwidrig verschwinden zu lassen, ohne ihr die stärkste Ge-
walt anzutun. Entwicklung zu geben ist sogar das eigenste Gebiet
der Lyrik, freilich nicht die von Ereignissen, äußeren ursächlichen Zu-
sammenhängen, Charakteren, sondern diejenige von seelischen Vor-
gängen, die in der Stille des Gefühlslebens ablaufen, aufeinanderfolgen,
ineinander übergehen, um dann schließlich in ihrer Zusammenfassung
eine zuständliche Gesamtgefühlslage zu repräsentieren. In gewissem
Sinn kann man allerdings von ihr sagen, daß sie nicht nach vorwärts
drängt. Sie gleicht nicht dem Lauf eines Flusses, dessen Wellen immer
weiter von der Quelle weggetragen werden und endlich den Zusammen-
hang mit ihrem Ursprung ganz verlieren. Die seelische Bewegung
der lyrischen Stimmungsfolge ist vielmehr der Wellenbewegung zu
vergleichen, die in einem Teich durch einen ins Wasser geworfenen
Stein erzeugt wird. Auch da ist Bewegung in zeitlicher Folge. Jedes
neue Stadium des Stimmungsablaufes ähnelt dem konzentrischen Wellen-
ring, der die vorhergehenden in sich schließt und wenn die Bewegung
beim äußersten Ring angekommen ist, so schwingen die Wasserteil-
chen der inneren Kreise noch mit. So umfaßt jedes neue im Lauf der
Oefühlsentwicklung sich bildende Totalgefühl die vorhergehenden in
sich, wenigstens in der Form, daß sie im Bewußtsein deutlich nach-
wirken als an der Entstehung des gegenwärtigen beteiligt. Schildert
uns der Dichter Erlösung von nächtlichem Grauen durch das tröst-
liche Frührot des kommenden Tages oder wie in R. Dehmels Stiller
Stadt« durch das Aufblinken eines Lichtleins und einen frommen Lob-
gesang aus Kindermund, so zittert noch in der Endslimmung der Be-
freiung und Beruhigung das zuvor erlebte Bangen und Grauen nach
und gibt ihr ihr besonderes Gepräge. Und erkennen wir im Schlußakkord
die Teiltöne, die zu Anfang und im Verlauf einer Gefühlsentwicklung
angeklungen haben, dann ist es in der Tat, als wäre »das was der
Schluß bringt, von Anfang an da<. Aber nicht weil ein seelisches Ge-
schehen in einen dauernden Zustand verwandelt worden wäre, sondern
weil infolge der Stetigkeit der Umbildung die früheren Stadien des Ge-
fühlsprozesses in den späteren noch nachzuspüren sind. Manchmal
kommt es auch vor, daß der Dichter zu Beginn den Gesamtakkord
mit einem oder einigen Worten von starker, treffend gewählter Gefühls-
betonung anschlägt, ihn dann im Fortgang in seine Bestandteile auf-
löst und am Ende voller, reicher und klarer als es zu Anfang möglich
war, in sich und in uns ausklingen läßt. Oder daß er in der Form
262 HANS KLAIBER.
zum Schluß wieder an den Ausgangspunkt anknüpft, in dem er die
Anfangsverse oder die ganze erste Strophe am Ende noch einmal wieder-
holt. In solchen besonderen Fällen mag man dann wohl von einer
kreisförmigen Komposition sprechen. Aber es gibt auch viele andere
Möglichkeiten des Abschlusses: der stärkste Gegensatz ist die bei
Heine beliebte Weise, durch eine Pointe die Stimmung zum Schluß
umschlagen zu lassen, eine Wendung, die man von Anfang an gewiß
nicht voraussehen kann. Der Impressionismus liebt es, seine Stim-
mungen abreißen oder verwehend ausklingen zu lassen, die bei den
Neueren viel gepflegte visionäre und Traumlyrik läßt Gedanken und
Gefühle im Dunkel des Halbbewußten verdämmern. —
Die Geschlossenheit der Gefühlsentwicklung beruht zunächst auf
dem Prozeß der Verschmelzung, in dem gleichartige oder verwandte
Gefühle sich vereinigen. Im einfachsten Fall der Wiederholung kehrt
ein Gefühl im wörtlich gleichen Ausdruck einmal oder bei einem den
einzelnen Strophen angehängten Refrain mehrmals wieder, und diese
identischen Gefühlstöne schmelzen natürlich ohne weiteres zusammen.
Damit soll über den Zweck dieses Kompositionsmittels nichts gesagt
sein. Oder aber kann die Wiederholung eine Steigerung bedeuten,
an Stelle der einfachen Erneuerung ein Crescendo des Gefühls. So
weckt Dehmel in der » Stillen Stadt«, die nach dem Verblassen eines
lichtlosen Tages in undurchdringliche, mond- und sternenlose Nacht
gehüllt im Tale liegt, das Gefühl des Trüben, Bangen und Gedrückten
und steigert es durch die Ausmalung, wie die Nebel von den Bergen
herab schwer lastend auf die Stadt drücken, so daß keine menschliche
Behausung zu erkennen, kein Laut eines lebendigen Wesens zu ver-
nehmen ist, zum unheimlichen, grauenvollen Eindruck einer toten
Stadt. Sehr häufig besteht die Wiederholung darin, daß der gefühls-
betonte Vorgang zuerst in symbolischer Gestalt, dann des Bildlichen
entkleidet erscheint. Die an unsere Sinneserlebnisse gebundenen Re-
aktionsgefühle wirken frischer und unmittelbarer, sie packen kräftiger
und lassen uns das vollwertige Erleben, die Ergriffenheit der gesamten,
körperlichen und geistigen Persönlichkeit noch besser nachempfinden.
In der »Abendstimmung< von A. Bartels sehen wir den Dichter beim
Vergehen des letzten Abendscheines müde und träumerisch in die Gassen
hinabschauen.
2. Dort strahlt bereits des Oaslichts gelber Schein
Und unaufhaltsam seh ich Menschen wogen.
Mir ist, als sei nur ich zu Haus allein,
Die ganze Welt der Freude nachgezogen.
3. Mir ist, als fliehe mich die ganze Welt,
Und nahe sei die Nacht, die letzte, grause,
n
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 263
Wo alles wankt und stürzt und jäh zerfällt —
Und mich alleine träfe sie zu Hause.
Hier malt die zweite Strophe die Stimmung banger, freudloser Verlassen-
heit sinnlich durch das Zurückbleiben in dunkler Einsamkeit, indessen
auf den erleuchteten Straßen eine wogende Menge nach Licht, Luft
und Leben drängt. Die Schlußstrophe spricht es aus und führt die
Stimmung zu Ende, wobei das in der Grundstimmung der Verlassen-
heit einbeschlossene Gefühl der Bangigkeit noch besonders hervor-
gehoben und durch seine Steigerung zur Dominante des ganzen see-
lischen Akkordes gemacht wird. Eine besondere Art der Wiederholung
ist es, wenn ein Gefühl zuerst durch umschreibende, vorbereitende Aus-
drücke erweckt und dann zum Schluß durch die eigentliche, in Erwartungs-
gefühlen geahnte Bezeichnung bestätigt wird. Den Übergang von der
Spannung zu Lösungsgefühlen, der sich an eine solche Ausdrucks-
weise knüpft, hat Goethe in »Wanderers Nachtlied« aufs glücklichste
in den Dienst der Stimmung, der Sehnsucht nach erlösendem himm-
lischem Frieden, gestellt.
Der Wiederholung verwandt ist die Variation: ein Gefühlsthema
wird aufgestellt und dann unter verschiedenen Beleuchtungen gezeigt,
d. h. beispielsweise auf verschiedenen Sinnesgebieten durchgeführt.
So finden wir etwa das Gefühl der Abgeschiedenheit von Welt und
Menschen mit Hilfe der verschiedenen Sinne in Variationen behandelt.
Ein unendliches Meer trennt uns von der Menschheit, ein dunkles,
felsenumschlossenes Tal ohne Ausgang hält uns gefangen, wir sind
lebendig in den Sarg gelegt, Grabesstille umgibt uns. Gesichts-, Tast-
und Gehörssinn sind es, über die in diesem Beispiel das Gefühl ab-
gewandelt wird. Eine andere Art der Variation zeigt uns H. Hesses
in der Nacht.
An dem Gedanken bin ich oft erwacht,
Daß jetzt ein Schiff geht durch die kühle Nacht
Und Meere sucht und nach Gestaden fährt,
Nach denen heiße Sehnsucht mich verzehrt.
Daß jetzt an Orten, die kein Seemann kennt,
Ein rotes Nordlicht ungesehen brennt.
Daß jetzt ein schöner fremder Frauenarm
Sich liebesuchend preßt in Kissen weiß und warm.
Daß einer, der zum Freund mir war bestimmt,
Jetzt fern im Meer ein dunkles Ende nimmt.
Daß meine Mutter, die mich nimmer kennt,
Vielleicht im Schlaf jetzt meinen Namen nennt.
Die schmerzliche, ungestillte Sehnsucht nach einem uns scheinbar von
der Natur oder vom Schicksal bestimmten, aber in rätselhafter unerreich-
barer Ferne liegenden Glück spiegelt sich in fünf verschiedenen Bildern
264 HANS KLAIBER.
von dem Schiff, das fern durch die Nacht den ersehnten Gestaden zusegelt,
vom NordHcht, dessen Pracht von niemand geschaut verglüht, von Frauen-
sehnen, Freundschaft und Mutterliebe, die nicht zum Ziele kommen.
Dabei fällt der Ton bald mehr auf die Unerreichbarkeit, bald auf die
Sinnlosigkeit und schmerzende Grausamkeit, mit der Zusammengehöriges
auseinandergerissen. Zusammenstrebendes getrennt wird oder nicht zu-
sammenkommen kann, doch so, daß in allen Bildern auch das weniger
betonte Gefühl wenigstens durchschillert.
Handelte es sich bisher um die Wiederholung und Abwandlung
von im wesentlichen identischen Gefühlen, um ein Aufgehen eines Ge-
fühlstons in einem schon angeschlagenen, so kommen wir nun an die
Verschmelzung verwandter Töne zu einem Akkord. Sie ist um einen
Grad weniger innig, sofern auch noch im Zusammenklang die Einzel-
töne für sich gehört werden können. Ob sie als zusammengehend
empfunden werden, darüber entscheidet ein Zustimmungs- oder Un-
stimmigkeitsgefühl in uns und dient als Gradmesser, ob und wie ein
neuer Gefühlston in eine vorhandene Disposition sich einfügt. So
führt Hölderlin in seiner »Abendphantasie« bei der Schilderung der
Abendruhe in Dorf und Stadt den genügsamen Pflüger uns vor Augen,
der nach des Tages Mühe in Erwartung der bescheidenen Abendmahl-
zeit vor seiner Hütte sitzt, den Wanderer, den die Abendglocke freund-
lich im Dorf empfängt, den Schiffer, der in den sicheren Hafen, ein-
läuft, die Freunde, die nach verrauschtem Lärm des Marktes in stiller
Laube sich zum geselligen Mahl vereinen, und weckt durch diese
Bilder die harmonisch zusammenklingenden Eindrücke ausruhender Zu-
friedenheit, freundlicher Geborgenheit, behaglicher Sicherheit, traulicher
geselliger Erholung, denen dann als starker Kontrast die eigene innere
Unrast und Ruhelosigkeit mit der schmerzlichen Frage: Wohin dann
ich? gegenübergestellt wird. Ein Gedicht von Bierbaum sei noch als
Probe angeführt, nicht als ob es an geistigem Gehalt sich mit denen
eines Hölderlin messen könnte, sondern weil es unter dem Gesichts-
punkt des Zusammenstimmens charakteristisch ist.
Traum durch die Dämmerung.
Weite Wiesen im Dämmergrau;
Die Sonne verglomm, die Sterne zielien:
Nun geh ich zu der schönsten Frau,
Weit über Wiesen im Dämmergrau,
Tief in den Busch von Jasmin.
Durch Dämmergrau in der Liebe Land;
Ich gehe nicht schnell, ich eile nicht;
Mich zieht ein weiches, samlnes Band,
Durch Dämmergrau in der Liebe Land,
In ein blaues, mildes Licht.
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 265
Es ist bemerkenswert, wie gut sich die einzelnen Züge dieser Traum-
stimmung ineinanderfügen. Im Raumbild gleich zu Beginn ein Verwischen
der Umrisse, ein verschwommenes Verdämmern; auf das Bewußtsein
übertragen ein traumhaft dämmernder, willenloser Zustand des Gezogen-
und Geleitetwerdens; wo aber alles Bestimmte, Klare und Gewollte
verschwimmt, zerfließt das Gefühl in einer weichen, süßen und milden
Stimmung. Geruchssinn (Jasminduft), Tastsinn (das weiche, samtene
Band) und Gesichtssinn (das blaue, milde Licht) vereinigen ihre Gefühls-
noten, Rhythmus und Lautmalerei mit weich klingenden Worten, Wortan-
fänge und Laufe geben ihren Beitrag, um den Hauptakzent auf das
Weiche einer süßen Liebesstimmung fallen zu lassen. Ähnliche Betrach-
tungen ließen sich noch an anderes von Bierbaum, z. B. seinen »Bangen
Abend« anknüpfen. Es ist schon oben als psychologische Eigentümlich-
keit der Stimmung angedeutet worden, daß oft ein Ton aus dem Akkord
so anschwillt, daß er die ganze Gefühlslage beherrscht; im Lauf der
Entwicklung kann er wieder zurücktreten, im Ganzen verschwimmen
und vielleicht einem anderen Platz machen. In dem zuletzt genannten
Gedicht tritt aus der bangen, gedrückten Stimmung zuerst das Gefühl
der Verlassenheit hervor: der Dichter fühlt sich verlassen, nirgendwo
zu Hause, in den traulich erhellten Häusern winkt ihm keine Schwelle.
Im weiteren Verlauf verschwindet dieser einzelne Gefühlston in der
Gesamlstimmung eines schalen, kraft-, färb- und klanglosen Lebensge-
fühles, symbolisch dargestellt in dem stillen, matten und flachen Da-
hinschleichen eines Flüßchens durch die graue, lastende Stummheit
fahler Wiesengründe. Ursprung, Sinn und Wesen seiner zunächst
als bange Vereinsamung gefühlten Stimmung sind ihm im Erleben
des Natur Vorganges erst recht aufgegangen. Von einem »Dominanten-
wechsel« ließe sich häufig bei religiös ausklingender Lyrik sprechen
wie etwa bei Rückerts Abendlied (»Ich stand auf Berges Halde«). Hier
ist wohl zu Anfang mit dem Frieden, der vom Himmel auf die Erde
niedertaut, mit den Abendglockenlaufen, unter denen die Natur zur Ruhe
geht, ein religiöser Ton vorbereitend angeschlagen. In der folgenden
Schilderung der zur Rüste gehenden Natur hält er sich aber ganz in
der Unterstimmung des Gefühls, wirkt nur dunkel aus ihr heraus nach,
um dann zum Schluß aufzutauchen und als Sehnsucht nach dem Frieden
der himmlischen Heimat der ganzen Stimmung seine Färbung zu ver-
leihen.
Wir haben bisher nur von der Verschmelzung gleichartiger und
verwandter Gefühle gesprochen, es gibt aber auch eine solche von
kontrastierenden. Da sich unser ganzes Gefühlsleben stark in Kon-
trasten bewegt, so muß dieses Prinzip auch in der Lyrik seine Stelle
einnehmen. Zwar können wir den Kontrast nicht unter ihre Wesens-
266 HANS KLAIBER.
merkmale aufnehmen, wie man schon getan hat; dem ohne jeden
Kontrast durchgeführten, oben zitierten Idyll von Morgenstern wird
man so wenig echt lyrische Stimmung absprechen dürfen wie manchen
ähnlichen kleinen Stimmungsbildern von Holz oder Schlaf. Immerhin
wird sich bei verwickeiteren Seelenvorgängen die Kontrastbeziehung
sehr häufig einstellen. Oft beruht die ganze Stimmung ihrem innersten
Wesen nach auf einem Oszillieren zwischen zwei Gegensätzen, so be-
sonders in dem Lieblingsthema der lyrischen Dichtung, dem Ruhebe-
dürfnis eines unruhigen Herzens. Der Dichter versenkt sich einfühlend
in die Ruhe- und Friedensstimmung der Natur oder menschlichen Um-
gebung und findet doch darin keine Beruhigung, ja er kommt dadurch
erst recht zum Bewußtsein seiner quälenden Unrast. Dieser Gegen-
satz kann breit ausgeführt sein, oder wie in Goethes Worten: »Warte
nur, balde ruhest du auch« nur angedeutet werden. Ein gutes Bei-
spiel eines durch drei Strophen durchgeführten Schaukeins zwischen
zwei Polen bietet K. Hauptmanns ; Erdgeborene Erdgeboren fühlt sich
der Dichter und sendet doch seine Träume hinauf ins Blaue, gleich
den Bäumen, die im Boden wurzelnd ihre Wipfel im Heidewind schaukeln,
gleich den Lerchen, die in den Schollen hausend sich im Sommerwind
emporschwingen; hier das erdenschwere Sicheinsfühlen mit dem Mutter-
boden, der uns erzeugt, dort der Aufschwung, die Erhebung über die
Erde in luftigen Dichterträumen, und die zwei miteinander um den
Besitz der Seele streitenden Gefühle vereinigt zu einem Totalgefühl,
das nun eben den Charakter der Zwiespältigkeit trägt. Wo der Gegen-
satz so grundlegend für die Stimmung ist, erzeugt er ein starkes Ein-
heitsbewußtsein; ebenso wenn er den rhythmischen Verlauf der Stim-
mung bestimmt wie häufig bei Hölderlin. Wie sich bei ihm der Strophen-
bau im Gegensatz von Thema und Gegenthema und ihrer Synthese
vollzieht, das hat Victor ') behandelt und auf die Parallele zur Hegel-
schen Begriffsdialektik treffend hingewiesen. Doch hat er gewiß recht
damit, daß es sich dabei nicht um eine bewußte logische Konstruktion
handelt, sondern um den Ausdruck eines spontanen Gefühlserlebnisses,
wobei poetisches Erleben und sinnliche Form sich in wunderbarer
Weise decken.
Die schon aus anderem Anlaß angeführte »Abendphantasie« ist
geradezu typisch für die im Gegensatz von Erhebung und Depression
verlaufende Stimmungsentwicklung und reizt uns, den mehrmaligen
Wechsel der Gefühlslage durch das Steigen und Fallen einer Kurve
zu veranschaulichen. Zuerst Erhebung in dem freundlichen und tröst-
') K. Victor, Der Bau der Gedichte Hölderlins. In dieser Zeitschrift Bd. XIV,
S. 340 ff.
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 267
liehen Akkord der Abendruhe in Dorf und Stadt, dann die gedrückte
Frage »Wohin dann ich?« Im Gegensatz zur äußeren Ruhe lastet die
innere Friedlosigkeit um so schwerer. Neuer Aufschwung: Der lieb-
lich in purpurnen Duft zerfließende Abendhimmel gibt einen Lichtblick
und Hoffnung auf Erlösung, aber bald sinkt die Schale wieder, und
in einsamem Dunkel steht der Dichter verlassen. Doch er rafft sich
zum Schluß wieder auf und ringt sich durch zum stillen Verzicht auf
die Träume der ruhelosen Jugend und erreicht so eine der Eingangs-
stimmung bescheidener, ruhiger Zufriedenheit verwandte Gefühlslage.
Doch braucht von dieser rhythmischen Führung der Stimmungskurve,
von der Auflösung des Kontrastes und derlei in ästhetischen Analysen
viel behandelten Dingen nicht weiter die Rede zu sein. Nur soviel
sei gesagt: Je mehr sich der Kontrast auf den Grundcharakter und die
spezifischen Verlaufsformen der Gefühle bezieht, desto durchsichtiger
bleibt die Linienführung, desto eher ist es möglich, das letzte, oberste
Totalgefühl noch als eine Einheit zu erfassen und als Stimmung zu
erleben. Je mehr sich dagegen der Kontrast auf die Vorstellungsseite
bezieht, um so reicher und mannigfaltiger kann der geistige Inhalt
des Gedichtes werden, um so lockerer werden aber auch die Bezie-
hungen; es bleibt zwar ein Gefühl von der Stetigkeit der Entwick-
lung, aber das Endergebnis wird bisweilen mehr einem das Ganze
umschwebenden Duft, als einem in den Einzeltönen noch erkennbaren
Akkord gleichen.
Aber die Begabung des echten Lyrikers tut sich nicht nur in der
bisher geschilderten Fälligkeit kund, eine Stimmung zu zerlegen und
aus ihren Bestandteilen in einer reaktive Gefühle weckenden Form auf-
zubauen, er versteht auch, uns in der sprachlichen Form Anhaltspunkte
für die Arten des Verlaufes zu geben. Zunächst wird die sprachliche
Gliederung auf diejenige des Gefühlsprozesses Bezug nehmen. Wie
eine epische Dichtung die verschiedenen Stadien einer Handlung und
geschilderten Charakterentwicklung, wie das Drama die Stufen eines
dargestellten Konfliktes, so bildet die Lyrik die Stufen, Einheiten und
Abschnitte der Stimmungsentwicklung durch äußere Gliederung, sprach-
liche, rhythmisch- melodische Einschnitte, Ruhepausen, Abschlüsse nach.
Dabei kann das vom Dichter gewählte Versmaß gute Dienste leisten,
ohne daß er sich etwa an seine Strophengliederung pedantisch anzu-
schließen hätte. Es .handelt sich für uns dabei überhaupt weniger
um das äußere Versmaß — die rhythmisch bewegte Prosa steht dar-
in der metrischen Poesie nicht nach - als um das, was Heine die
innere Metrik nennt, deren Norm der Schlag des Herzens ist, die Ruhe-
pausen und Einschnitte, die das »geheime Atemholen der Muse^ an-
zeigen. Die Wahl eines Metrums ist häufig gar nicht bedingt durch
268 HANS KLAIBER.
den Wunsch, einen besonderen Rhythmus des Oefühlsverlaufes zum
Ausdruck zu bringen, sondern von äußeren Einflüssen, Vorbildern und
Tradition abhängig. Die innerlichsten Beziehungen zu den Gefühls-
abläufen offenbaren sich, von den freien Rhythmen abgesehen, nicht in
der Wahl, sondern in der Behandlung des Versmaßes. Der Stimmungs-
charakter eines Metrums ist bekanntlich überaus unbestimmt und viel-
deutig, der Versuch, Versmaße für Dichtungen dieser oder jener Stim-
mung festzulegen, scheitert an der tatsächlichen Mannigfaltigkeit ihrer
Verwendung. An diesen allgemeinen Charakter der Metren denkt
Lehmann'), wenn er behauptet, in der melischen Lyrik der Alten nehme
die Kunst der metrischen Form keine Rücksicht auf den Inhalt, da
die gleichen Formen für alle möglichen Empfindungen und Gegen-
stände, Klage und Freude, Liebeslied, Trinklied, politisches Lied ver-
wendet würden. Als ob nicht erst in der Behandlung dieser Strophen,
der Verteilung der Wörter auf den Vers und der Gliederung durch
Zäsuren die Kunst, sie in den Dienst der Stimmung zu stellen, sich
zeigte! Es würde nicht leicht fallen, dem Hexameter, der auch in der
antiken Lyrik Verwendung gefunden hat, einen bestimmten Stimmungs-
charakter beizulegen. Welch ungeahnten Reichtum an rhythmisch-
melodischen Wirkungen durch Wahl und Stellung der Wörter dieser
Vers in sich schließt, wenn ein feinhöriger Rhythmiker ihn belauscht,
beweist für die lateinische Sprache Ed. Nordens Analyse des vergilschen
Hexameters. Für die Lyrik ist also die Meinung, als ob die Beziehung
zwischen Inhalt und Rhythmus erst auf den höchsten Stufen dichte-
rischer Entwicklung, und auch da nur verhältnismäßig spät und selten
auftrete, keinesfalls zutreffend, sobald man sich nicht in äußerlicher
Weise an das Versmaß hält. Sie ist vielmehr in der s inneren Metrik <
des wahren Lyrikers stets vorhanden. Künstliche Formspielereien, bei
denen es nicht auf den sprachlichen Ausdruck einer Stimmung, sondern
einer metrischen Form ankommt, fallen nicht darunter, sie gehen in
der >äußeren Metrik« auf. Welche Bewegungsfreiheit vollends die
deutschen, nicht an strenge Silbenzahl gebundenen Versmaße mit ihrem
Wechsel von Hebung und Senkung dem Dichter lassen, wird heut-
zutage bei jeder ästhetischen Würdigung eines lyrischen Gedichtes
aufgezeigt. Auch die Intensitätsverhältnisse der einzelnen Gefühlswerte
kommen in der Form weitgehend zum Ausdruck in der Stellung und
Betonung derjenigen Sprachvorstellungen, die ihre Träger sind. Die
beiden Mittel verwendet z. B. Tibull in seinem Lob des Friedens, um
den Eindruck des Schaurigen von Krieg und Streit als Leitrnotiv der
ersten Verse aufzustellen. Quis fuit horrendos primiis qui protulit
') R. Lehmann, Deutsche Poetik 1908.
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 269
enses? Die Vorausstellung und Wahl der aus drei im Vers betonten
Längen bestehenden Bezeichnung für das Schaurige drückt die Stärke
des Oefühlstones aus. Hinsichtlich der Wortstellung haben allerdings
die antiken Sprachen eine für uns unnachahmbare Freiheit. In der
deutschen Dichtung, wo Sinn- und Versbetonung zusammengehen,
läßt sich durch die Führung der Sprachmelodie — es handelt sich da-
bei nicht um die stimmungsschildernde Klangmalerei — speziell den
Tonfall ein gefühlsbetontes Vorstellungselement in den Vordergrund
rücken oder ein Gefühlseindruck äußerlich abrunden. Nehmen wir
etwa das Musterbeispiel, das Holz*) in seinem Kampf gegen die
Musik in der Lyrik als eine Probe des »natürlichen Rhythmus« auf-
stellt: »Hinter blühenden Apfelbaumzweigen geht der Mond auf« im
Gegensatz zur prosaischen Stellung: »Der Mond geht hinter blühen-
den Apfelbaumzweigen auf.« Im ersten Fall ergibt sich eine Schluß-
kadenz mit natürlicher Tonsenkung auf Mond, die einen bestimmten
Vorstellungs- und Gefühlsverlauf zum Abschluß bringt; auch erleichtert
uns die Stellung, die hauptsächlichen Gefühlswerte der Szenerie und
des Vorgangs, dem sie als Vordergrund dient, zu erleben. Ein näheres
Eingehen auf diese Probleme der Tonführung würde uns in Sievers' ')
Lehre von den klanglichen Konstanten in der dichterischen Sprache
hineinführen. Im Kunstwerk, und träte es selbst in elementarster Form
entgegen wie hier, liegt ein suggestiver Zwang, so und nicht anders
erlebt zu werden, und indem wir reproduzierend diese Forderungen
erfüllen, kommt es im Genuß erst zur vollen Auswirkung seiner inneren
Gesetzmäßigkeit. Daneben spielt übrigens, wie man schon oft festge-
stellt hat, gerade in den besten Holzschen Gedichten auch der Rhythmus
im herkömmlichen Sinn, der Wechsel zwischen Hebungen und Sen-
kungen, seine Rolle, mag man nun die überlieferten Zeichen oder Zahlen
für den Wechsel der Hauptton-, Nebenton- und unbetonten Silben
verwenden. Daß Versmaß, Strophe und Reim für Dichter zweiten
Ranges, die das Gut der Großen verwerten und einem volkstümlicheren
Geschmack näherbringen. Gefahren mit sich bringt, ist Holz gegen-
über nicht zu bestreiten, aber ebensowenig, daß die von ihm und
seinen Genossen gepflegte rhythmische Prosa sich nicht für jeden
lyrischen Stoff eignet. Dasselbe gilt für die sogenannten freien Rhyth-
men. Es war darum nicht Mangel an Einsicht, wenn einige unserer
großen Lyriker zwar freie Rhythmen für manche Stoffe benützt, aber
daneben auch in der herkömmlichen Form geschaffen haben, als ob
') A. Holz, Revolution der Lyrik 1899.
■) Eine kurze Darstellung dieser Lehre im Bericht des Kongresses für Ästhetik
u. allg. Kunstwissenschaft S. 456 ff. Dazu auch Dessoir in der Eröffnungsrede dieses
Kongresses S. 53.
270 HANS KLAIBER.
sie etwa das betretene Neuland gar nicht erkannt und gewürdigt hätten.
Nur wo die innere Anteilnahme des Dichters in erster Linie von der
Eigenart der Veriaufsformen seiner Gefühlsvorgänge in Anspruch ge-
nommen ist, von dem Wechsel des crescendo und diminuendo, der steigen-
den und fallenden Kurve, dem Gegensatz zwischen langgezogenen und
kurzen, kleinteiligen Verläufen, zwischen Fließendem und Stockendem,
Leichtem und Getragenem usw., da werden die Möglichkeiten, die ein
gegebenes Metrum der individuellen Rhythmisierung bietet, ihm nicht
mehr genügen, und der Wogengang der Gefühle schafft sich in den
freien Rhythmen seine eigenen Ausdrucksformen. Dies ist also nach
unserer Auffassung nicht ein Novum, sondern nur der Höhepunkt
eines Prozesses, der in seinen Vorstufen in jedem echten lyrischen
Kunstwerk zu erkennen ist. Daß wir Höhepunkt hier nicht im Sinn
einer Wertung verstehen, ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen;
im Gegensatz zu Sieburg i), der im Sinn einer metaphysischen Ästhetik
den Hymnus als die Formung des »absoluten Wortes«, als Kongruenz
von Ich und Erlebnis den Formungen des >Gedichtes<' und des »Liedes«
gegenüberstellen will. Abgesehen davon, daß die Kategorisierung nach
seinen eigenen Worten sich nicht durchführen läßt und die von ihm
auf drei Stufen verteilten Elemente in Wirklichkeit im Schaffen der-
selben Dichter durcheinandergehen, ist seine Gleichsetzung von Melodie
und Stimmung durchaus willkürlich. Sollte an der Stimmung in dem
allgemein angenommenen Sinn des Wortes nicht eben der Rhythmus
wesentlich beteiligt sein? Auch scheint er sich seinen Begriff vom
Hymnus zu einseitig an den Schöpfungen der letzten Periode Hölderlins
gebildet zu haben, in deren Wertung wir Diltheys Urteil den Vorzug
geben. Wer die Sprache als das Darstellungsmittel der Poesie be-
trachtet, wird Auflösung der Form und höchste Formung auseinander-
halten und auch Kiopstocks Versuch, das horazische >aequam memento
rebus in arduis^ unter Nachbildung der lateinischen, freien Wortstel-
lung zu übersetzen, doch nur als »Schrulle« bezeichnen, unvereinbar
mit den Gesetzen der modernen Sprachen. Um so mehr, als hier alles
andere denn ein Hymnus vorliegt. Für gewöhnlich ist die Beziehung
zur Form des Gefühlsverlaufes nicht fortlaufend durch eine eigene
metrische Form verwirklicht, sondern innerhalb eines übernommenen
Maßes durch Andeutungen besonders an markanten Stellen, Höhe-
punkten, Umschlägen, wobei der künstlerische Charakter des Schöpfers
ebenso wie des Themas weite Grenzen lassen. Diesen Fragen der
Rhythmik im einzelnen nachzugehen, liegt aber außer dem Rahmen
') Fr. Sieburg, Die Grade der lyrischen Formung. In dieser Zeitschrift Bd. XIV,
S. 356 ff.
DIE LYRISCHE STIMMUNG. 271
unserer Arbeit. Ebenso die Würdigung der übrigen musikalischen
Mittel, deren Bedeutung für die lyrische Poesie durch gewisse Über-
treibungen oder durch Gefahren für schwächere Talente natürlich nicht
herabgesetzt werden kann. Wie wunderbar sie bei einem Verlaine
oder George an der Erzeugung einer in sich vollkommen geschlossenen
Stimmung mitwirken, ist allbekannt. Trotzdem möchten wir mit dem
früher aufgestellten Satze schließen, daß sie zwar der lyrischen Stimmung
aufs innigste wesensverwandt, aber zu ihrem Zustandekommen nicht
unbedingte Voraussetzung sind.
vni.
Über Wesensdeutung von Landschaftsbildern
gezeigt an der holländischen Landschaftsmalerei des
17. Jahrhunderts.
Von
Willy Drost.
Vorbereitend auf die Art der folgenden Betrachtung, die an dem
besonderen Gegenstände der holländischen Landschaftsmalerei im
17. Jahrhundert versucht werden soll, mögen am Eingange zwei Gesichts-
punkte hervorgehoben werden, die ständig wechseln, wenn wir uns
den Kunsterzeugnissen der Vergangenheit zuwenden und uns ihrer
begrifflich zu bemächtigen suchen. Unter dem einen sehen wir die
Objekte auf die Abweichungen hin an, unter dem anderen auf ihre
Gleichartigkeit. Hier kommen wir zu dem stetig fortschreitenden
Gange einer kontinuierlichen Entwicklung, indem wir die Objekte, wie
sie sich in steten Differenzierungen zeitlich folgen, koordinieren, dort
erhalten wir obere Gattungsbegriffe, zentralistische Punkte, von denen
eine Reihe von Erscheinungen nach vorwärts und rückwärts ausstrahlen.
Grundlage für beide Betrachtungsarten ist der lückenlose Zusammen-
hang in der Welt der Kunstprodukte. Es ist eine Ueberzeugung a priori
des Forschers, daß, wie die Natur keinen Sprung macht, auch in dieser
Kette kein Glied fehlen kann. Ragt ein Kunstwerk unvermittelt auf,
wie zum Beispiel der Genter Altar der Brüder van Eyck, so wird in
dem Bewußtsein nach den vermittelnden Gliedern gesucht, sie sind
vorhanden, man kennt sie nur nicht. Während aber der Gesichtspunkt
der Entwicklung die Versuchung mit sich bringt, ein Glied von dem
anderen herzuleiten und die Abweichung kausal zu erklären, muß es
sich der andere angelegen sein lassen, jene zentralistischen Punkte durch
einen inneren Sinnzusammenhang zu stützen. Begriffe wie das Roma-
nische, Gotische, die ja auch die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung
annimmt, sind nur möglich durch die Konstituierung eines geistigen
Sinnzusammenhanges, dessen jeweilige Auffassung den Streit um die
historische Begrenzung erklärt. Wir erhalten Ideen, die sich aus dem
geschichtlichen Zusammenhange herauslösen und sab specie aeternitatis
n
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 273
betrachten lassen. Hier liegt die Gefahr eines dogmatischen Ver-
fahrens vor, das den empirischen Bestand vergewaltigt.
Für den Nachweis des Zusammenhangs der Kunstgebiide scheint
der modernen Kunstwissenschaft das Raumschema ein gültiges Kriterium
abzugeben. Die Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des Raumge-
fühls ist offenbar und gibt eine sichere Handhabe. Einerseits macht
man nun in dem Gefühle der vollständigen Lösung des Raumproblems
durch die Gegenwart die geschichtlichen Gebilde zu Etappen auf dieses
Ziel hin, andrerseits erkennt man das jeweilige Schema als eine mit
der Idee notwendig verknüpfte Form und darum als Endpunkt und
restlose Lösung.
Indem wir uns hier der holländischen Landschaftsmalerei im
17. Jahrhundert zuwenden, folgen wir der ideellen Betrachtungsart, ohne
daß wir uns anmaßen, in der Klassifizierung verschiedener geistiger
Einstellungen den Eigengehalt der darunter fallenden Werke und Künstler-
persönlichkeiten vollständig auszuschöpfen. In Vollständigkeit soll sie
uns nur die Mittel an die Hand geben, die wir nun selbst als heuristi-
sche Prinzipien auf die Erscheinungen anwenden können, um das
Menschliche in ihnen zu erleben. Geschichtlich genommen ist die
großartige Leistung dieser Malerei die vollkommene Darstellung des
unendlichen Freiraums, an der viele Jahrhunderte gearbeitet haben.
Von der Idee aus gesehen verknüpft sich diese Art der räumlichen
Gestaltung mit einer besonderen Stellung des Menschen zur Welt,
sie wird aber durch den Ausdruckswillen eines Gsistes, der be-
deutsam über seine Zeit hinauswächst, durchkreuzt. So verschieden
der Geist Rembrandts von dem der holländischen Volksmaler ist, so
verschieden sind auch die Merkmale der räumlichen Synthese ihrer Bilder.
In überraschendem Reichtum und mannigfaltigen Spielarten kommt
im Anfange des 17. Jahrhunderts in Holland eine Landschaftsmalerei
auf, die sich von allem, was vorher und nachher auf diesem Gebiete
hervorgebracht wurde, im inneren Wesen unterscheidet. Hier erst er-
hält die Landschaftsmalerei ihre volle Legitimität und tritt gleichbe-
rechtigt neben die anderen Gattungen der Malerei. Und zwar er-
scheint das nicht als die Tat einzelner hervorragender Künstler. In
dem eigentümlichen Gepräge der Erzeugnisse sehen wir nicht den Aus-
druck individueller Persönlichkeiten. Denn unzählig sind die Namen
derer, die sie hervorbrachten, menschlich unbedeutend und uns mehr
oder minder gleichgültig, und doch beweisen diese Werke einen ein-
heitlichen Geist und ein nahezu einheitliches künstlerisches Niveau
auch in technischer Beziehung. Es ist, als wenn die Zeit selbst in
Zritsclir. f. Äsllietik u. all^. Kunstwincnschaft. XV. 18
274 WILLY DROST.
dem eng umgrenzten Lande von besonderer Nationalität und besonderen
Lebensbedingungen eine Frucht zur Reife gebracht hätte, die nun aller-
orten in ungeheurem Reichtum eingeerntet würde.
Auch diese Landschaftsmalerei steht natürlich in einem durch-
gehenden Flusse. Wir können sogar in enger geographischer Lokali-
sation von den burgundischen Miniaturen, insbesondere den Kalender-
bildchen über die Hintergründe von Bildern altniederländischer Schulen
und der seit den Breughel stark landschaftlich empfindenden flämischen
Malerei die Linie verfolgen. Aber die überindividuelle Note, die Zahl
der Bilder, legt ganz besonders eine Betrachtung nahe, die die holländi-
sche Landschaft des 17. Jahrhunderts nicht aus der fiämisch-italisierenden
ableitet, ihrer genetischen Entwicklung und dem Einmünden in die
französische Landschaft nachgeht, sondern nach dem inneren Wesen
fragt, das ihre Gebilde als einheitliches Band umschlingt. Was eben
vielleicht ein konsequentes Übergangsglied war, wird jetzt zur besonderen
Erscheinungsform einer Idee, die sich nach vielen Seiten in der Wirk-
lichkeit auswirkt. Den geistigen Urgrund der holländischen Landschafts-
malerei wollen wir hier festzuhalten versuchen.
Zunächst wenden wir uns den Bildern zu, die uns am reinsten
die Idee der holländischen Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert dar-
zustellen scheinen, und wählen aus dem Heer der Maler Jan van Goyen
als den bezeichnendsten und bekanntesten Vertreter heraus. Wir heben
also nicht seine künstlerische Individualität hervor, sondern nehmen ihn
lediglich als typischen Vertreter einer Landschaft, deren eigentümlichster
Gehalt im Gegenteil durch ein persönliches Hervorragen des Meisters
zerstört würde. Dieser Teil bleibt das Fundament auch für die
anderen. Dann betrachten wir die Abwandlung des realistischen Vor-
wurfs zum sentimentalen Gefühlsausdruck, wie sie der eigenartige Jakob
van Ruisdael verwirklicht, verfolgen die weitere romantische Zuspitzung
in den italisierenden Landschaften Jan Boths, Berghems, um in dem
Werke der großen Persönlichkeit Rembrandts einen Gipfel und zu-
gleich die Überwindung des Zeitgeistes festzustellen. Wir gehen dabei
nicht von irgendwelchem kulturellen Unterbau und Zeitverhältnissen,
sondern von den Objekten selbst, der Welt der Bilder, aus. Die bildende
Kunst hat ihre eigene Gesetzlichkeit, und ihrer Erkenntnis kann ein
Vordringen von anderen Gebieten her nur schädlich sein. Aus der
Betrachtung allein der Objekte in bezug auf die formale Gestaltung
muß sich die letzte geistige Deutung ableiten lassen, wozu dann der
Blick auf das Menschliche der Künstlerpersönlichkeit und das übrige
geistige und kulturelle Leben der Zeit Hilfsmittel hergeben mag.
Die kosmische, naiv realistische Landschaft. Ganz be-
sonders verdienen den Namen einer holländischen Landschaft im engeren
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 275
Sinne jene Bilder, die auch gegenständlich genommen das Bezeichnende
des holländischen Landes darstellen, die weite, von Kanälen und Fluß-
läufen durchzogene Fläche, auf der man bis zum dunstigen Horizonte
in Mühlen, Segeln, Häusern die Anzeichen der regsamen Menschen-
hand wahrnimmt, und ein riesiger wolkiger Himmel. Als getreuester
Maler dieser heimischen Landschaft ist stets Jan van Goyen bezeichnet
worden '), der sich aus einer Menge von Volksmalern heraushebt, die
ähnliche Absichten verfolgen. Mit wenigen Worten ist das auf seinen
späteren Bildern fast durchgängig angewandte Schema gezeichnet:
Ein Fluß zieht sich breit von den Seiten des Rahmens aus diagonal
ins Bild hinein. Seine Ufer sind mannigfach belebt. Auf dem zunächst-
iiegenden erkennen wir Hütten oder Gehöfte unter alten Bäumen,
Menschen, Fuhrwerke davor, das entferntere, gegenüberliegende zeigt
ebenfalls Siedlungen, die mit Kirchturm und Baumkronen schließlich
in der Ferne des Horizontes verschwinden. Der Fluß selbst ist mit
Kähnen und Segelschiffen bedeckt, die stufenweise in die Tiefe führen.
Auf den Vordergrund zu sammelt sich eine Dunkelheit, die Boot und
Menschen beim Fischfang zu dunkler Silhouette vereinigt und dadurch
alles andere kräftig zurückdrängt. Darüber aber webt der große nie-
mals klare Himmel, ohne daß sich die Wolken zu bestimmten Formen
zusammenballen. In solchen und ähnlich angelegten Bildern tritt das
Wesentliche der holländischen Landschaftsmalerei am deutlichsten zu-
tage; von ihnen gehen wir vornehmlich aus, wenn wir nun zusammen-
fassend die formalen Merkmale bestimmen, deren innerer Zusammen-
hang uns die Idee der spezifisch holländischen Landschaftsmalerei
geben soll. Doch erstreckt sich die Analyse auf eine größere Anzahl
von Meistern und Abwandlungen der eben gekennzeichneten Art, von
der die folgenden Bestimmungen als zusammenfassende Sätze gelten
wollen.
Das zunächst in die Augen Fallende ist die Einheitlichkeit desp
Tones, der sich vom Lufträume aus auch über alles Körperliche ver-
breitet. Keines von den gegenständlichen Dingen wird als einzelnes
gesehen. Seine Einzelexistenz wird herabgedrückt, wo sie sich auf-
zeigen könnte: in der Eigen(Lokal-)farbe, im abgrenzenden Umriß,
in der plastischen Körperlichkeit. Die Eigenfarbe ist zu einem schwer
beschreibbaren Ton gedämpft, der sich zwischen einem warmen Braun
und Grün hält. Die Abgrenzung des Gegenstandes erfolgt nicht in
Form einer bestimmten, sprechenden Linie, durch die ein jeder tast-
') So von Bode, Rembrandt und seine Zeitgenossen 2. Aufl., 1907, S. 123 u.
129; Wurzbach, Oesciiichte der Holland. Malerei 1885, S. 153; Friedländer, Von der
niederländ. Landschaftsmalerei, Das Museum Bd. 6, S. 46; Neumann, Rembrandt
1902, S. 150 und anderen.
276 WILLY DROST.
bare Körper isoliert wird, sondern ist ein schummernder Übergang
in den Luftraum. Die greifbare Körperiichl<eit ist zu Tonwerten opti-
scher Art gewandelt. Schwerlich wird man je eine einheitliche Fläche
an Gegenständen wahrnehmen können. Ein wahres Netz von Farb-
tüpfeln oder -strichen überzieht die neutrale Grundfarbe. Dieser Wille
stimmt mit der Wahl des Motivs überein, der strohgedeckten Hütte,
der krausen Mannigfaltigkeit des Hausrates, den alten Bäumen und
ähnlichem. Das Nebeneinander von unendlich vielen Tüpfeln, die
etwa eine Baumkrone ausmachen, stellt nicht die einzelnen Blätter dar,
sondern gibt nur das mannigfaltige tonige Relief, das die Summe der
Blätter als optischer Eindruck bietet. Das Relief, das eine solche Auf-
lösung des isolierten Körpers hervorbringt, ist nicht tastbar hart, sondern
wollig weich, sich verflüchtigend in unendlich reichen Abstufungen.
Der Einzelgegenstand geht in das übergeordnete Ganze des Luft-
raumes ein, der sich im Unbegrenzten verliert. Dieser wird nicht
erst über dem Horizont sichtbar, er schwebt schon über dem Gegen-
stände, der dem unteren Bildrande zunächst liegt, und drückt seine
Eigenheit in Form und Farbe zu Trägern für ein alles durchwebendes
Raumleben herab. Das Körperliche nimmt auch rein der Ausdehnung
nach überhaupt keinen großen Maßstab im Bilde ein, wird vielmehr
ins Winzige gedrängt; das heißt: die Distanz vom Beschauer zum
mindest entfernten Punkte des dargestellten Ausschnitts wird so weit
genommen, daß keine Gefahr besteht, es könnte ein Gegenstand' in
plastischem Vollwert aufdringlich werden. Eine Vordergrundsebene, die
besondere Bedeutung beanspruchen könnte, gibt es damit nicht. Ohne
den Widerstand einer Komposition in der Ebene gleitet das Auge auf
der weiten, wenn auch noch so vielfach belebten und gefüllten Hori-
zontalfläche entlang bis in die weiteste Ferne. Das Bild verliert das
Gepräge des gegenüberstehenden Objekts. Der Beschauer wird beim
Anschauen gleichsam mithineingezogen und sein Blick fährt in ihm
herum wie in einer eigenen Welt. So unendlich weit die Erdfläche
sich aber auch in den Bildraum hineinerstreckt, sie nimmt nur einen
geringen Teil der Bildfläche ein. Der Augenpunkt ist so tief gewählt,
daß sie flach daliegt. Außerdem ist sie durch die Vielfältigkeit der
Erscheinungen auch farbig-tonig so aufgelöst, daß keinesfalls ihr plasti-
scher Zusammenhang wirksam wird. Der tiefliegende Horizont, bis
zu dem wir in ununterbrochenem Verlaufe geführt werden, ist eines
der wichtigsten Merkmale dieser Bilder. Was die Bildtafel zum größten
Teil füllt, ist der Luftraum. Hier braucht nicht Gegenständliches seiner
plastischen Form entkleidet zu werden. Die leichten wandelbaren Ge-
bilde der Atmosphäre kommen der Absicht des Malers entgegen, aber
auch die substantiellen Farben, wie Blau und Weiß, die Himmelsgrund
OBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 277
und Wolken isolieren würden, werden vermieden, und frei entwickelt
sich in grauen und braunen, lichtdurchstrahlten Wolken ein immaterielles
Leben von Tonwerten und Lichtabstufungen.
Wählen wir für diese formalen Bestimmungen einen zusammen-
fassenden Ausdruck, so scheint uns der allgemeine Begriff kosmisch
als Bezeichnung dafür, daß hier stets die Vielheit des Einzelnen vom
Ganzen aus gesehen ist, zutreffend zu sein. Das Kosmische ist das
Nichtsubjektive. Vom Universum aus gesehen ist der Mensch und
seine Welt nur ein Teil unter unendlich vielen und sein Denken nur
eine an seinen Organismus geknüpfte Lebensäußerung. Auch rein
gegenständlich genommen ist ja der Reichtum des Lebens in den
holländischen Landschaftsbildern oft so groß, daß sie die Note der
Unübersehbarkeit an sich tragen. Etwa zahllose Schlittschuhläufer
und Schlitten auf dem Eise, Bäume, Gerät, Häuser, Dörfer, die sich
über weite Ebenen erstrecken, und überall darinnen noch Menschen,
die wir in punktartigen Andeutungen bisweilen mehr ahnen als er-
blicken, oder unzählige Schiffe mit winzigen Figürchen auf weiter
Meeresfläche. Aber noch in anderer Weise spricht dieser weite, welt-
hafte Aspekt auch aus dem Einzelnen. Die braungrüne Farbe, die
aufgelöste Form, sie stellen die Abgeschlossenheit eines begrenzten
Seins in Frage und lassen in den Gegenständen ihr Werden und Ver-
gehen erkennen. Es ist der Prozeß der Zeit in den räumlich-simul-
tanen Bestand hineinverwoben. So werden die Dinge, wenn die Zeit
über sie hinweggeht. Staub, Fäulnis, Rost verdrängen die blanke Farbe
und zersetzen die glatte Fläche. Sie führen zu dem erwähnten Relief,
zu dessen Gunsten die begrenzende Linie weichen muß. Das Stroh,
das die Bedachung der Wohnstätte ausmacht, vermodert, das Holz
der tragenden Pfosten und Zäune krümmt sich und verrottet. Die
Ziegel werden mürbe und bröckeln ab, die Bäume bekommen Runzeln,
Knorpeln und werden morsch. In jedes Gebilde der Menschenhand
dringt die Natur und macht es verfallen, während sie sich selbst erneut.
Zwischen den Rissen und Sprüngen wuchern Pilze, Moos und Gras
und ziehen jedes künstliche Menschengebilde in das große ewige Leben
des Kosmos. Und selbst die Menschen in ihren wulstigen Kleidern,
ihrer verhutzelten Haltung und den plumpen Gesichtern scheinen in
diesen rein naturhaften Zusammenhang mit aufgenommen zu sein.
Die Auflösung des objektiv festen Bestandes eines Gegenstandes zu
malerisch-toniger Wirkung dürfen wir keinesfalls als einen willkürlichen
Akt des schaffenden Subjekts nehmen. Fassep wir die Darstellung des
Gegenständlichen selbst näher ins Auge, so erweist sich, daß der
Gegenstand trotz seines immateriellen Wesens seine ihm eigene Gestalt
beibehält und nach statischen Gesetzen im Räume ruht. Ein Baum
278 WILLY DROST.
verrät nicht den subjektiven Schwung der Künstlerhand, die ihn nach
ihrem Ermessen etwa dem Bildrande angleicht oder mit ihm in dekora-
tiver Weise eine Mittelgruppe einschließt. Er hat seine eigene natür-
liche Gesetzlichkeit, der der Künstler folgen muß, und unbarmherzig
muß ihn der Bildrand mitten hindurchschneiden, wenn die Komposi-
tion des Meisters ihn nicht ganz in den Bildraum hineinrückt. Denn
zwar besitzt der holländische Maler im höchsten Grade Komposition
dergestalt, daß er die Dinge solange zurechtrückt und -schiebt, bis
sie das Ansehen der Zufälligkeit verlieren und dem Bildganzen einen
formalen Zusammenschluß geben; in bezug auf den Raum aber ist die
Bildtafel nur ein Ausschnitt aus dem Freiraum. Er komponiert nicht
aus seinem subjektiven Schöpfergeist ein Bild auf die Fläche, sondern
überläßt die vereinheitlichende Kraft dem unendlichen Räume, und der
Rahmen bezeichnet nur die Grenzen des Ausschnitts. Das Überge-
ordnete ist der Raum, und die mit Recht gerühmte Komposition der
Holländer ist nicht eine Organisation der Bildtafel selbst, sondern eine
oft allerdings meisterhafte, bis zur zwingenden Notwendigkeit gehand-
habte Anordnung der Dinge, die sich innerhalb des Bildraumes be-
finden. So schiebt man auf einer Bühne, die sich nach hinten ja auch
manchmal ins Unbegrenzte verlieren soll, jedes Requisit solange um-
her, bis es seinen rechten Platz hat, aber der Bühnenraum ist als über-
geordnet gegeben, und mit ihm läßt sich nichts anfangen.
Der Raum, der innerhalb des Bildes Menschen und Dinge umfängt,
ist der im Unendlichen sich verflüchtigende Raum. Er tritt in Er-
scheinung in der Luft, die alles Körperliche umspielt und eine Perspek-
tive herstellt. Es ist also jenes neutrale Substrat dargestellt, das in
gleicher Weise die Menschen und leblosen Dinge des Vordergrundes
wie der fernsten Ferne umgibt. Ob wir uns im Bilde am Strande des
Meeres befinden oder in der weiten Heidelandschaft, in der Dorfstraße
oder im Innenraum, es ist immer der eine allumfassende Unendlichkeits-
raum, der im Bilde gestaltet ist. Er ruht vollkommen und nur die
Dinge bewegen sich in ihm. Mag der Himmel noch so von Wolken
überquellen, die Erde von Gestalten wimmeln, alles ist in ihm, der
gleichmäßig ruht. Der Mensch ist nicht Schöpfer dieses Raumes,
sondern er ist nur geschaffenes Wesen im Räume. Hier drückt sich
das Stillebenhafte aus, das in allen Gattungen der holländischen Malerei
vorhanden ist; es ist das vollständige Aufgeben der subjektiven Durch-
dringung des Raumes, die absolute Herrschaft des Kosmos.
Wir nennen den Ausschnitt aus dem unendlichen Raum, den der
Holländer darstellt, den objektiven Raum und können sagen, daß dieser
Raum in gleicher uninteressierter Weise alles umgibt, was in ihm ist.
Nehmen wir auf der Bildtafel einen Baum, der innerhalb dieses Raumes
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 270
dargestellt ist, so heißt das: der den wirklichen Baum in allen seinen
Teilen umgebende Luftraum steht in keinerlei Wechselbeziehung zu
ihm. Er kümmert sich nicht um ihn, hat kein Interesse für ihn, und
so fällt auch auf der Bildtafel Gegenstand und Lufthintergrund als
»Loch« auseinander. In dieser Beziehungslosigkeit zum Gegenstände
in ihm können wir das Wesen des objektiven Raumes als undynamisch
oder als uninteressiert kennzeichnen. Der Ausdruck uninteressiert wird
uns nicht irre machen, die wir in der holländischen Landschaft nach-
drücklich die Verwandtschaft, ja Homogenität des Luftraumes mit allem
Körperlichen in ihm festgestellt haben. Aber gerade, weil der Zu-
sammenhang von All und Einzelwesen noch nicht gelöst ist, weil das
Einzelne als eine selbstverständliche Inkarnation des Alls erscheint,
kann ein Interesse gar nicht statthaben. Das kann erst sein, wenn der
Mensch und sein bewußtes Leben in den Vordergrund gerückt ist,
wenn jene Bewußtheit erwacht ist, die den Menschen sich selbst
wie alles Körperliche als Einzelnes dem All gegenüberstehend sieht.
Dann ist er seiner Gefühle und seiner Umgebung bewußt geworden
und kann die Natur gewissermaßen von sich abhängig machen, indem
er sie zum Ausdruck seiner subjektiven Gefühle benutzt. Diesen Weg
wollen wir später verfolgen.
In der spezifisch holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahr-
hunderts malt der Holländer das Treiben der Menschen und die ein-
fachen Dinge der alltäglichen Umgebung im Unendlichkeitsraume.
Er hat dabei kein sentimentales Gefühl, das das Bewußtsein der
menschlichen Kleinheit gegenüber der unabsehbaren Weite hervor-
bringen könnte. Nichts weist in den Bildern darauf hin. Nur wie
ein Kind von sich in der dritten Person redet, so stellt der Künstler
sich selbst manchmal im Bilde mit dem Skizzenbuch dar. Er unter-
scheidet sich keineswegs von seinen Mitmenschen beim Fischen,
Eislauf oder anderen ameisenhaft erscheinenden Beschäftigungen.
Weitab liegt jeder Gedanke an den Menschen als schöpferischen
Intellekt bei diesen winzigen Figürchen, die noch durch schwere wul-
stige Kleidung, durch einfache Silhouette, die alle selbständige Funk-
tion von Gliedmaßen möglichst unterdrückt, zum Ding herabgedrückt
werden. Und auch die Dinge selbst verraten nichts von einer persön-
lich künstlerischen Durchdringung. In aller Knorpligkeit und Eckig-
keit wird alles, wie es im Räume nach statischen Gesetzen ruht, be-
lassen. Die vielästigen Bäume, die Flügel der Windmühlen, die be-
schornsteinten Dächer, die spitzen Kirchtürme, die Segel mit ihren
Wimpeln, sie ragen je nach ihrer Eigengestalt in den Unendlichkeits-
raum hinein, jenen Raum, der alles gleichmäßig uninteressiert umgibt,
und den der Künstler als gegeben hinnimmt. Wir ziehen die Summe
280 WILLY DROST.
dieser Feststellungen — Dinge in ruhender Eigengestalt im großen
ruhenden Räume — in dem Begriffe eines naiven Realismus. Das
Sein der Dinge ist unabhängig vom Bewußtsein des Menschen, es
hat eine eigene absolute Wesenheit. Uns bleibt gegenwärtig, wenn
wir von Realismus reden, daß die Einzelexistenz des Dinges, das
gläubig hingenommen wird, dennoch in einem großen Zusammen-
hang untergeht, es also zwar nicht als Erzeugnis eines geistigen Sub-
jekts erscheint, wohl aber des gewaltigen Raumes, der es des Eigen-
wertes beraubt und als Ausdruck eines übergeordneten Lebens des
Universums erscheinen läßt. Das ruhende körperliche Sein des Gegen-
standes ist ja durch die Luft aufgelöst, zeigt das wollig krause, sub-
stanzlose Relief und eine eben so neutrale, immaterielle Farbe. Da-
durch hat es eine geheimnisvolle Beziehung zum Unendlichen erhalten.
Der Bildner von Werken, die wir hier betrachten, ist deshalb wohl
Realist, indem er sich dem Sein unterordnet, sich dem Zwang der
Dinge fügt; aber seine Werke beweisen, daß er die einzelnen Objekte
doch nicht allein so aufnimmt, wie seine Sinne sie ihm darbieten, daß
er also mehr ist als ein bloßer Realist, indem unbewußt dem Bildner
ein kosmischer Geist durch ihn wirkt, der seine innere Verbunden-
heit mit dem Dasein, sein tiefes Wurzeln in der ewig schöpferischen Natur
offenbar macht. Der Meister der Naturnachahmung, der geduldige,
treue und selbstlose Abbildner der Wirklichkeit dokumentiert unbe-
wußt in dem Erzeugnis seinen Zusammenhang mit der Unendlichkeit.
So wird nach dem Vorangegangenen die Formel nicht widerspruchs-
voll erscheinen, in der wir die Idee der holländischen Landschafts-
malerei nun kurz zusammenfassen: ein naiver aber kosmisch gerichteter
Realismus'). —
Diese geistige Haltung erklärt auch die ungeheure Masse von
wertvollen Produkten. Sie ist nur möglich durch den tüchtigen Charakter
eines ganzen erdhaften Volkes. Die von sich aus die Welt durch-
dringende große Persönlichkeit ist dabei ausgeschlossen. Sie würde
') Von Nutzen kann hier ein vergleichender Hinweis auf das Rembrandt-
buch Neumanns sein. Dieser stellt (S. 148) dem Idealisieren des Italieners den
Galerieton der Holländer als idealisierendes Moment entgegen. Sich auf die Land-
schaftsmalerei beziehend betont er, daß hier nicht Gestalten und Einzeldinge ge-
malt werden, sondern »atmosphärische Mächte und Relationen, in denen die Ge-
stalt in geheimnisvollem Schein des Werdens und Vergehens auftaucht und unter-
taucht« (S. 187). Bäume und Sträuche, Häuser und Kanäle, ob häßlich oder
schön, »sie wollen nichts für sich sein; sie sind das Antlitz, auf dem kosmische
und seelische Mächte ihre Stimmungen ausdrücken und spiegeln«. Und ebenfalls
schließt er das subjektive Ausdrucksmoment bei unserem Vertreter des naiven kos-
mischen Realismus aus: iGoyen gibt keine Tonstimmung als Vehikel von seelischen
Empfindungen« (S. 149).
1
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 281
I
den uninteressierten Freiraum nicht als gegeben und allumfassend hin-
nehmen. In dieser Sprache der Unendlichkeit durch das naturhafte
Wesen ist auch die Zeitlosigkeit der Holländer begründet. Es liegt
die eigentümliche Erscheinung vor, daß die ungeistigsten Menschen
in großartiger Weise eine geistige, immaterielle Wesenheit der Welt
zum Ausdruck bringen.
Es gibt nur wenige auf philosophische Begriffe zu bringende
Orundeinstellungen des Menschen zur Welt. Immer handelt es sich
um das Verhältnis des denkenden Individuums zum Sein des Alls, in
das es doch mit eingeschlossen ist. Ist das Sein der Welt wirklich
objektiv und wird es uns nur durch die Sinne vermittelt, oder wird
es vom Geist erst schöpferisch hervorgebracht. Geist und Materie
sind die polaren Gegensätze, die als Ausgangspunkte für das Erkennen
genommen mit den Begriffen Idealismus und Realismus bezeichnet
werden. Wir verstehen hier unter diesen Bezeichnungen mehr als bloße
Formen der Erkenntnis. Wir fassen sie metaphysisch gegründet aus
dem Gefühl eines tiefen von allem Erkennen unabhängigen Wesens-
unterschiedes, das die Richtung des Erkennens erst bestimmt und die
Folgerungen bis ins ethisch-religiöse Leben zieht.
Der Mensch, der im Verhältnis zu den Dingen seiner Umwelt in
der Bewußtseinlage lebt, daß dieser Baum, diese Hütte unter dem
weiten Himmel ihre unerschütterliche Existenz haben und in nichts
mit seinem menschlichen Bewußtsein zusammenhängen, er lebt im
engen Bereiche, als wenn es so sein müßte und es nichts Selbstver-
ständlicheres gäbe. Die Natur seines Körpers und die Notwendigkeit
des Lebens gibt ihm die Richtschnur seines Handelns. Die leiblichen
Genüsse sind das Ziel seines Vergnügens. Anders, wenn der Mensch
in dem Gefühl lebt, er baut sein Haus, er ordnet sein Leben nach
eigenem Willen, er unterfängt sich, selbst die großen Gesetze des
Universums als von seinem Erkennen abhängig zu sehen, und in Frei-
heit unterzieht er sich einem selbst aufgestellten Sittengesetze, das die
Herrschaft über die naturhaften Triebe dokumentiert. In den hol-
ländischen Werken lebt ein unbedingter Glaube an die mannigfaltigen
unser alltägliches Dasein umgebenden Dinge bis zu einer uns er-
schütternden Hingabe. Ihr Sein, ihr Dasein an und für sich ist dem
holländischen Maler genügender Vorwurf zur künstlerischen Gestaltung,
und so wird ergriffen, was sich den Augen bietet, das menschliche
Porträt, die Landschaft, Architektur, Blumen, Tiere und anderes. Auch
das Zufällige wird mit der ganzen Hingabe an seine Existenz ge-
malt bis auf die Feder, die sich von dem Gefieder eines auf dem
Tische liegenden Rebhuhns losgelöst hat, wie sie sanft zur Erde gleitet.
Es gibt nichts Wichtiges und Unwichtiges, nichts Notwendiges und
282 WILLY DROST.
Zufälliges, sondern alles erhält seinen tiefsten Wert dadurch, daß es
ist. Das Einzelne ist ja nichts Selbständiges, das sich als Eigenes
gegen die andere Welt behauptet, sondern es bringt sich selbst als
ein Teilstück des Ganzen dar, es hat den Exponenten der Unendlich-
keit an sich. Die baufällige Hütte, die hier auf der weiten Ebene hin-
gelagert liegt, geduckt unter mächtigen alten Bäumen und einem riesigen
Wolkenhimmel, von dem ein heller Schein über dem Horizont ihren
plumpen Umriß deutlicher hervortreten läßt, mit ungepflegtem Gärt-
chen, altem Plankenzaun und schiefem Türeingang, das ist nicht allein
Wirklichkeitstreue, die hier zum Ausdruck kommt. Da ist aber auch
keine subjektive Zutat des Künstlers zu merken. Ein »Außen< gibt den
letzten Sinn und die Gestaltungsform. Das Leben des Alls webt in
den individuellen Gestaltungen. Das macht, wie wir sahen, die un-
endliche Weite um sie, das Graugrün und Braun ihrer Farbe, in dem
das Einzelne verschwindet, die Unartikuliertheit und wollige Krausheit
ihrer Formen. Hier liegt auch der letzte Grund für den Willen des
Holländers zum Krausen und Plumpen. Keine selbstherrliche Ein-
beziehung des Gegenstandes in die menschliche Sphäre, die ihm gern
einen einfachen, übersichtlichen Umriß und geschlossene Gestalt geben
würde, soll stattfinden. Wie die Einzeldinge sich nicht eigenwillig ab-
lösen, sind wir fernab von der Loslösung eines bewußten Einzelichs,
das die Welt zu durchdringen trachtete. Im dumpfen Traum bleibt die
Welt befangen. Im Dämmer des Hüttenwirrsals geht auch der Mensch
mit unter. Alles verharrt in der Verschwiegenheit und Ungelöstheit
eines tief in sich gekehrten Seins, in der Zeitlosigkeit, die dem unbe-
wußten Zustande anhaftet, und redet doch eine ergreifende Sprache
dem, der sie zu deuten versteht.
So lebt der holländische Mensch: er ißt und trinkt gut, er folgt
den Trieben des Leibes und verfolgt mit klarem Verstände naheliegende,
irdische Ziele. Seine Kirchen sind so nüchtern wie seine Religion (die
Frauen gehen mit dem Gebetbuch in der einen und der Wärmflasche
in der anderen Hand hinein). Wenn er auch mit zäher Energie unter
ungeheuren Opfern sein Land dem Meere abgezwungen, es fruchtbar
gemacht und bebaut hat, daß wir bis in die weite Ferne in dem Ge-
wirre von Kanälen, Schiffsmasten, Windmühlen, Ansiedlungen den tätigen
Menschengeist erkennen, so hat das nicht das Gefühl der Würde und
Persönlichkeit des Einzelnen in der Weise erhöht, daß er die realen Be-
dingungen seiner Natur verleugnet hätte. Schmausereien und Zechgelage
bleiben sein liebstes Vergnügen. Er duckt sich unter das All und
bleibt im menschlichen Bereiche. Keine hohe Philosophie, keine welt-
umspannende Dichtung zeugt von einem idealen Streben. Aber sein
Leben ist noch tief verankert in der Natur, im Wesen der Dinge. Ob
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 283
er ein bewußtes Gefühl seines Zusammenhanges mit dem All gehabt
hat, das seinem eigenen triebhaften Leben einen großen Unterton gab?
Sicher nicht, denn dann wäre sein Schaffen wohl doch sentimentaler,
romantischer geworden. Kein mystisches Gefühl der Abhängigkeit vom
Unendlichen bezeugt seine Religion. Was er bewußt durchsetzte, war
eine rein diesseitige Aufgabe, Gewinn, Sicherheit und Behaglichkeit
des bürgerlichen Daseins. Indessen sehen wir bei einem guten Teil
der Künstler das naturhafte Wesen in einer mehr elementaren Weise
durchbrechen. Sie verbringen ihr Leben in den Schenken, spielen,
trinken und raufen wohl auch. Viele Dokumente beweisen, wie oft
der Gastwirt zur Begleichung ihrer Schulden Bilder um einen Spott-
preis in Zahlung nahm. Dafür wurden sie von den ehrbaren Bürgern
weniger geachtet und die Darstellungen des Lebens in den ärmlichen
Spelunken weniger bezahlt. Aber die Bilder werden nun ein eigen-
tümliches Zeugnis für die Echtheit und Tiefe auch in diesem Sein. Es
sind nicht Oberflächenerscheinungen eines zerrütteten Lebens, es ist
ganz wurzelhaft. Die Bilder beweisen das Religiöse auch in diesem
Leben. Oder sollten wir weniger berechtigt dazu sein, es Religion
zu nennen, wenn der Mensch zwar nicht zu einem Gefühl schlecht-
hinniger Abhängigkeit vom Unendlichen kommt, wohl aber aus tier-
haften Verhältnissen heraus unbewußt mitteilt, daß sein Leben sab
specie aeternitatis steht? Denn mit zum Ausdruck gebracht hat der
holländische Maler die Unendlichkeit als mitschwingende Resonanz
immer wieder. Immer hat er sein Haus oder die Hüttej klein im un-
ermeßlichen Raum gemalt, und bei dem ausgelassensten Kirmesfest
macht das Gebälk des großen Raumes, in dem das Fest stattfindet,
die Freude keineswegs mit, sondern verdämmert schwer und uninter-
essiert im Halbdunkel.
Für den heutigen Betrachter des holländischen Landschaftsbildes
bestimmt diese Antinomie den Eindruck, die dumpfe Befangenheit des
Menschlichen, die besonders unmittelbar aus dem Figürlichen spricht,
und dabei doch die konsequente Objektivation der wimmelnden Klein-
heit des Lebens, in dem das Ich verschwindet, unter dem Aspekt des
Kosmischen. Wir sehen zwar den einheitlichen, nicht reflektierenden
Geist, der den weiten Luftraum und was in ihm ist, als dessen Aus-
geburten gewissermaßen als einer Substanz angehörig auffaßte, aber
in bewußter Betrachtung müssen wir nun doch die Kleinheit des
Menschen mit den Gebilden seiner menschlichen Umwelt im Verhält-
nis zum übergeordneten Raum dualistisch fassen. Was der Holländer
aus seinem naiven Gefühl heraus monistisch erschuf, wird in der Be-
trachtung des Denkenden Dualismus. Wir sehen als schaffenden
Künstler eine unbewußte, dumpfe Menschlichkeit, die instinktiv ihren
284 WILLY DROST.
eigenen Zustand objektiv werden läßt, indem sie einen übergeordneten
Zusammenhang, den Unendlichi<eitsraum mitmait, wir steilen uns einen
mit beiden Beinen auf der Erde stehenden, im triebhaften Leben aufgehen-
den Maler vor, noch außerdem vielleicht Gastwirt oder Krämer, der zu-
gleich das Fragmentarische und Rätselhafte seiner dumpfen Existenz mit
darstellt. Gerade die Einfühlung in die auf diesen Bildern dargestellten
Menschen, die wohl kaum auf einem Bilde der hier ins Auge gefaßten
Gattung fehlen, gibt einen Schlüssel für das geistige Erfassen dieser Malerei.
Es kann vor den einfachen Bildern zu einem erschütternden Gefühl
werden, zu sehen, wie die Menschen, die doch in ihrem trefflich organi-
sierten, Sicherheit des Lebens gewährenden Lande sind, fischen, zechen,
auf der Fähre sitzen als formlose ungegliederte Klumpen, dargestellt
wie verloren in der ungeheuren Weite um sie und über ihnen. Die
Tätigkeit des Menschen ist eben eine durchaus relative, ameisenhafte.
Sie ist niemals eine Handlung, die novellistischen oder historischen
Charakter tragen könnte, denn sie würde den Menschen und die Be-
wältigung der Welt von ihm aus in den Vordergrund rücken und den
kosmischen Charakter zerstören'). Und wer erinnerte sich nicht der
zahlreichen Darstellungen, in denen das Tierische, Animalische des
menschlichen Lebens noch unterstrichen wird! Aber der Raum, der
sich im Unendlichen verliert, sei es in dem fernen Horizont der Land-
schaft oder dem Halbdunkel eines Interieurs, er nimmt dem nüchtern
und phantasielos wiedergegebenen menschlichen Getriebe das End-
gültige: der Mensch ist ein kleines Wesen neben Baum und Tier im
großen unbegrenzten Unerforschlichen. Das greift dem Betrachter,
der bewußt ist, ans Herz und läßt ihn unsägliche Stimmung in diesen
') Alois Riegl bezeichnet in seinem Aufsatz über das holländisctie Gruppen-
porträt (Wiener Jahrbucii 1902, S. 73) wegen der Handlungsiosigi<eit bei innerem,
psychischem Leben das Oruppenporträt als das charakteristischste und kunsthistorisch
wichtigste Erzeugnis Hollands! Er kommt dazu, weil für ihn der Vereinheitlichung
der Körper im Räume durch die verbindende Luft die seelische Verbindung der
Personen durch die aktionslose Aufmerksamkeit« entspricht, dieser Ausdruck aber
nur an der menschlichen Figur Anwendung finden konnte (S. 277). Vielleicht be-
rührt sich die Riegische »Aufmerksamkeit« der Figuren mit dem, was wir den Aus-
druck des Kosmischen in der Landschaft genannt haben, die wir darum geneigt
sind, für das echteste Erzeugnis Hollands zu halten. Wir werden an unsere Anti-
nomie erinnert, wenn Riegl z. B. anläßlich eines Bildes von Th. de Kayser den Wider-
streit zwischen der konsequenten Entkörperlichung des plastisch Einzelnen und dem
regungslosen Insichverharren der Persönlichkeiten im Bilde empfindet: »Die Ent-
körperlichung durch Abstreifen der das Haptische stets begleitenden Lokalfarben in
unmerklich ineinander überfließende Lichter und Schatten verbindet sich hier mit
der erwähnten äußeren Regungslosigkeit und Handlungsscheu zu jenem unsagbaren
Stimmungseindruck, der von diesem und ähnlichen Bildern der holländischen Haupt-
meister ausgeht« (S. 200).
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 285
Darstellungen erleben. Er steigt herab von der hohen Warte des
organisierenden Intellekts, der die Welt von sich aus erschaffen will.
Er verwandelt sich einfühlend zum Kinde und dumpfen Menschen, er
läuft mit gleichen über die weite Eisbahn der Flußfläche, er versetzt
sich in das einfach trauliche Leben in den Hütten und kleinen Häusern.
Aber dabei will er sich als Kind auf jenem im Abend schummernden
Stege, als Bauer, als Reiter, als Fischer bei aller Dumpfheit dieses
Lebens ehrfürchtig als ein Teil des Ganzen fühlen, und dieser mit-
vibrierende Stimmungston macht einen feinen, unendlichen wehmütigen
Reiz in der Wirkung dieser Bilder aus. Unbewußtes tiefes Naturge-
fühl wirkt nun sentimenlalisch und versetzt das Innere in einen selt-
samen Schwebezustand. Der Holländer ist wie ein kleines Zweiglein,
das in seiner Treue unbewußt mit sich selbst seine Stückhaftigkeit
mit darstellt, denn wie könnte das Zweiglein sich unterfangen, über
den ganzen Baum etwas auszusagen und ihn zu durchdringen, an
dem es doch erwachsen ist. Der bewußte Betrachter, der in rast-
losem, geistigem Streben jenen Zusammenhang verloren hat, der in
sich den letzten Schöpfungsakt verlegt hat, er ist müde seiner Oott-
herrlichkeit und möchte wohl wieder als Kind in den Schoß der Natur
zurück. Das Bewußtsein aber, tierhaft mitzuschwimmen im Strom des
Alls, kleiner Teil vom Ganzen zu sein, das gibt den dunklen Unterton,
der den ganzen Reiz ausmacht, und das kann ihn ja nicht verlassen,
denn wenn er naiv wie der Holländer sie schuf, die Bilder besieht,
dann ist die Stimmung in dem ausgeführten Sinne unmöglich. Naiver
Realismus, der eine kosmische Sprache redet, ist etwas anderes als
bewußtes Erleben dieses naiven, kosmischen Realismus. Der Realismus,
gegenständlich gemacht, wird aufgehoben. Deshalb muß der holländi-
sche Monismus, die Einheit von All und Einzelwesen dem bewußten
Betrachter zum Dualismus werden und zu sentimentalischen Wirkungen
führen.
Die sentimentale Landschaft mit realistischen Mitteln.
Nachdem wir uns auf Grund der geistigen Ausdeutung einer zusammen-
fassenden formalen Analyse die Idee der rein holländischen Land-
schaftsmalerei mit den Begriffen des Kosmischen und Naiv-Realistischen
zu vergegenwärtigen versucht haben , und uns diese gegensätzliche
Formel auch das wesentliche Merkmal zur Beschreibung der Wirkung
der Bilder auf den heutigen Betrachter gegeben hat, wenden wir uns
den Abweichungen von der Grundform zu, die für uns den Ausgangs-
punkt gebildet hat. Dadurch wird jene Idee schärfer hervortreten;
dann aber werden wir sehen, wie die konsequente Abweichung uns
zu einer anderen geistigen Einstellung hinführt und andere obere
Gattungsbegriffe notwendig macht, wenn auch der gemeinsame Zeit-
286 WILLY DROST.
grund bleibt. Selbst bei dem getreuesten Vertreter der Art, bei Jan
van Goyen, werden wir manchmal stutzig. Steigert sich doch die er-
wähnte Auflösung des Gegenstandes als eines isolierten bis zu einer
skizzenhaften, geistreich hinwerfenden Art, die die treue Hingabe an
das eckige Naturvorbild vermissen läßt. Geistreichtum ist aber bei der
im dumpfen Traum befangenen holländischen Landschaft unmöglich
denn er weist auf das Subjekt hin. Schon Fromentin, der Maler und
Kunstschriftsteller sprach sich über die subjektiv flüchtige Art Goyens
aus. Die Worte, die er dabei anwandte, zu ungewiß, »verflüchtigt«,
dunstig und wollig« '), widersprechen aber, wie wir gesehen haben,
an sich nicht dem gänzlich unsubjektiven Wesen der holländischen
Malerei. Sodann tritt die ferne Horizontlinie, die in unserer Analyse
eine wichtige Rolle spielte, erst in einer späten Phase seines Schaffens
auf, und doch tragen auch die früheren Werke, die in einem größeren
körperlichen, diagonal ansteigenden Aufbau ein von Esaias van de
Velde übernommenes Erbteil der flämischen Malerei verraten, einen echt
holländischen Charakter, und diesem Typus gehört eine Unzahl hol-
ländischer Bilder an. Vergegenwärtigen wir uns etwa die Dresdner
Landschaft mit dem Ziehbrunnen, wo Bauernhütten zwischen Bäumen,
deren Umriß eine krause, dauernd unterbrochene Diagonale von ein-
heitlicher Richtung ausmacht, sich aus mäßiger Entfernung schräg nach
vorne schieben, so kann man in dem abgestimmten Wechsel von Hell
und Dunkel, der sich bis über die Erdwellen des äußersten Vorder-
grundes erstreckt, sogar von einer rhythmischen Bewegtheit reden.
Aber ferne liegt es uns hier, an einen Gestaltungsrhythmus zu denken, -
der die Dinge unter ein vom Subjekt aufgestelltes Gesetz zwingt.
Dem widerspricht auch schon das Loch des Himmels, der sich schroff
dem subjektiven Gestaltungswillen entzieht. Jene Bewegtheit erklärt
sich nur aus dem Drange nach Auflösung des plastisch-kompakten
Bestandes zu einem immateriellen Hin- und Herweben. Die Hinüber-
führung aller Dinge ins Krause, das erwähnte wollige Relief, kann in
diesen Diagonallandschaften, wo wir in größerer Abgeschlossenheit
und Nähe das trauliche Beieinander einer engen Welt des Menschen
vorgeführt erhalten, zu besonderer Entfaltung gelangen, wenn auch
die Auflösung des Körperlichen folgerichtig zu einer quantitativen Ver-
ringerung hinführt und schließlich der absoluten Herrschaft des Luft-
raumes im Bilde mit der horizontalen Ferne Platz macht. Zu ähnlichen
Erwägungen kommen wir vor manchen Bildern von Salomon van
Ruisdael, der stets eine Vorliebe für hohe, fast über die ganze Bild-
') Fromentin, Les inaitres (Tautrefois, Patis 1877, p. 249 f. ^trop inceiiain, volatil,
evapore, cotonneux<'. Deutsch bei Cassirer 1Q17, S. 195.
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 287
höhe gehende Bäume behält, die sich in seiner frühen Zeit in merk-
würdig Skelett- und strukturloser Weise winden und krümmen und
sehr weiches, wolliges Laub aufweisen. Auch bei abweichenden Einzel-
heiten im empirischen Bestände werden wir erkennen, wo die Idee der
holländischen Landschaftsmalerei in dem von uns ausgeführten Sinne
lebendig ist.
Gegen wesentliche Merkmale jedoch wird verstoßen, wenn die
Landschaft einen stärker plastischen Aufbau und damit einen linearen
Zusammenhang und deutlichere Lokalfarben erhält. Das ist der Fall
bei dem Meister, der oft als der Bedeutendste unter den holländischen
Landschaftsmalern bezeichnet wird, bei Jakob van Ruisdael. Er reprä-
sentiert in der Mehrzahl seiner Bilder eine Landschaftsform, die wir
als selbständig und eigenartig der eigentlich holländischen Landschaft
gegenüberstellen müssen. Die Regel ist bei ihm ein ziemlich massiger
Aufbau, sei es in bewegten Dünen, in mächtig aufsteigenden Wald-
hängen und Flußufern oder einem Waldinnern von allen Baumriesen.
Schwere, kühle Farben, in denen Dunkelgrün, das sich oft bis ins
Schwärzliche vertieft, vorherrscht, geben dem körperlichen Oesamt-
aufbau plastische Wucht und substantielle Schwere, obschon im einzel-
nen auch die Zweige und Blätter, der Dünensand mit den Gräsern in
ein körniges Relief aufgelöst sind. Es spricht nicht mehr der einheit-
lich warme, durch alle Einzelgegenstände hindurchleuchtende Ton. Die
Lokalfarben, allerdings in ganz gewisser Auswahl und Zusammen-
stellung, treten stärker hervor. Mit der Körperlichkeit gewinnt die
Komposition, der architektonische Aufbau an Bedeutung. Einheitliche
Bewegungszüge ziehen die Massen zusammen und lassen die ansteigen-
den Hügellinien in pathetischem Schwünge etwa in eine imposante
Mühle mit ragenden Flügeln oder in ein Schloß auslaufen. Und der
Himmel, der nunmehr wesentlich geringeren Bildraum einnimmt, wird
vermittels einer grandiosen Wolkengestaltung in die Sphäre des großen
plastischen Aufbaus mit hineingezogen. Himmelsraum und Erde ruhen
nicht mehr ohne dynamische Beziehung zueinander. Darauf hat
Fromentin nachdrücklich hingewiesen, daß im Gegensatz zu anderen
holländischen Malern — er nennt Cuyp, van de Velde, Salomon
Ruysdael, Isaak Ostade, Goyen, Wynants — wo der Himmel- ein Loch
ins Bild macht« •), Ruisdael den Himmel mit der Landschaft zusammen-
komponiert und somit eine feste Beziehung zum Rahmen herstellt,
und Bode fand jene Bemerkung Fromentins, nach der Ruisdael jeden
Gegenstand in der Landschaft zusammen mit dem korrespondierenden
Punkt in der Atmosphäre sieht«, so^ wichtig, daß er sie in seinem
') Fromentin p. 250.
288
WILLY DROST.
Ruisdael- Aufsatz wiederholte'). Der objektive uninteressierte Raum be-
ginnt sachte in Bewegung zu geraten. Er bleibt nicht mehr das absolut
Übergeordnete, in dessen Schoß die Dinge ruhen, der Künstler
sucht sich vielmehr seiner zu bemächtigen, er formt den Luftraum,
wölbt ihn, durchströmt ihn mit seiner Kraft. Dadurch nimmt er ihm
den Charakter des gleichmäßig und unbeteiligt sich bis ins Unendliche
Verlierens, und behandelt ihn mehr wie eine wirkliche Decke, wie
Fromentin sich ausdrückt 2). Der Raum entzieht sich nicht mehr der
ordnenden Künstlerhand, er wird dynamisch, interessiert. Das räum-
liche Um-sie-herum tritt in eine Gemeinschaft mit den Dingen ein.
Eine wohlerwogene Komposition rückt und schiebt die Dinge nicht
mehr im Räume hin und her, sondern umfaßt das Bildganze. Wie
selbst bei den in verhältnismäßig geringer Zahl vorhandenen Flach-
landschaften mit hohem Himmel der Drang nach subjektiver BewäUigung
der ruhenden Erde und des ruhenden Luftraums sich auswirkt, dafür
ist die Dresdner Dünenlandschaft, wo sich die ganze Erddecke mit
dem Horizont wie unter einem inneren Druck windet und bäumt, und
die Bewegung auf die sich türmenden Wolken übergeht, ein bezeichnen-
des Merkmal. Auch die naturgemäß flachen Seestücke sind stets stür-
misch bewegt.
Das bekundet aber eine im inneren Wesen andere Stellung zur
Welt wie die oben gekennzeichnete des naiven Gemüts, das gläubig
die Dinge hinnimmt, wie sie im verschwiegenen Sein verharren. Es
ist nicht mehr die Einstellung des Realisten, der die Einheh der Welt
auf seiner Bildtafel einem Außen, dem Unendlichkeitsraum überläßt
und nichts an den Dingen von sich aus zugibt. Zwar bleibt das
Einzelne hart und eckig, wir brauchen nur an die unnachahmlichen
knorpeligen und eigenwilligen Eichen zu denken, und in dieser Hinsicht
muß Ruisdael um so mehr als Realist bezeichnet werden, als ja das
Weben von Luft und Licht die Gegenstände nicht auflöst, sondern sie
härteren körperlichen Bestand behalten. Aber wie er nun den relativ
plastischen Bestand bezwingt, ihn sinnvoll abwägt, zusammenfaßt und
mit dem Luftraum über ihm zu einer Einheit gestaltet, das beweist,
daß dem schöpferischen Geiste des Menschen wieder eine bedeutsamere
Rolle zukommt. Trotz des Realismus im einzelnen versucht der Künstler,
das Einzelding und den allumfassenden Raum von sich aus als ein
Ganzes zu sehen und zu gestalten. Der Mensch ist nicht ein Teil-
stück des Unendlichen, wie er es in der behandelten Malerei instinktiv
bekundet hatte, er tritt dem All bewußt gegenüber. Damit erst wird
') Bode, Rembrandt und seine Zeitgenossen S. 136. Fromentin p. 252.
^) p. 251 y>comme le plafond reeU.
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 289
die Schwermut möglich, die Ruisdael allezeit in seinen Bildern aus-
gedrückt hat. Die einsamen Wälder, die traurigen Dünen wüsten, die
weitabgelegenen Gehöfte, sie beweisen, daß Ruisdael die Natur nicht
naiv hinnahm sondern sie als Träumer und Dichter betrachtete, in
ihr einen Ausdruck für die Melancholie fand, die sein Inneres beherrscht
haben muß. In diesen Landschaften ist kein Platz für das regsame
Leben und Treiben der Menschen, sie gehören nicht mehr unmittelbar
zu der Landschaft, sie werden jetzt erst zur Staffage'). Nur etwa der
Angler, Hirte, Jäger darf hier weilen, ohne für das sentimentale Gemüt
die poetische Illusion zu zerstören. Der Mensch sieht sich nicht als
kleines Naturwesen stets miteingeschlossen in die Welt, die Welt ist vom
Ich getrennt und objektiv geworden. Der Mensch und Maler ist ihr
bewußt gegenübergetreten, und somit kann jetzt die Staffage auch ganz
fehlen. Auch die Auswahl der Farben, die Asphalttöne, das graue
Gelb, kalte Grün und verhaltene Blau, die in ihrer Eintönigkeit an den
einheitlichen Farbton der früher behandelten Landschaften erinnern
könnten, gewinnen den Ausdruck einer bestimmten subjektiven Melan-
cholie. Am stärksten tritt die sentimentale Grundeinstellung in den
bekannten Ruinenlandschaften zutage. Hier wird eine Kraft des
menschlichen Geistes wirksam, die bei der spezifisch holländischen
Landschaftsmalerei undenkbar war: die Phantasie. Gewannen in jener
die Dinge unmittelbar in ihrem sinnlichen Eindruck, dem immateriellen
Ton, der krausen Form für uns eine beredte Sprache vom Vergehen
in der Zeit, einen Ausdruck, den aber nur der bewußte Beschauer
aus ihnen erwecken konnte, werden sie jetzt vom Maler bewußt als
Symbole für die Idee der Vergänglichkeit hingestellt; ihre Gestalt, wie
sie unmittelbar sinnlich auf uns wirkt, hat indessen vom kosmischen
Geiste verloren, sie trägt nicht den Stempel des auflösenden Werde.
Prozesses an sich, sie ist härter, fester geworden und hat mehr greife
bare Realität. Erst die poetische Idee des Ganzen nimmt den Dingen
ihr Materielles und macht sie künstlerisch ausdrucksvoll. Der Ein-
druck des reflektierenden sentimentalischen Geistes hat wohl zu allen
Zeiten die Wirkung der Bilder Ruisdaels auf den Betrachter bestimmt.
Goethe faßt ihn ganz als Dichter, Fromentin bringt die Bemerkung,
daß »sein Werk den Charakter eines elegischen Gedichtes in einer
Unzahl von Gesängen«*) habe, und hebt seine stets gegenwärtige
Reflexion hervor''), Neumann spricht von seinen ergreifenden Poesien^),
') Bezeichnend ist, daß er im Oegensatz zu Ooyen sich die vereinzelten Figuren
von anderen Künstlern in seine Bilder hineinmalen ließ.
=) p. 256.
') p. 248.
') S. 147.
Zeiuchr. f. AsUietik u. alle. Kunstwiswnschalt. XV. 19
290 WILLY DROST.
Bode beginnt seinen Aufsatz mit der Charakterisierung des einsamen
Sciiwärmers und Melancholikers*). Es ist unzweifelhaft, daß hier der
Mensch die Natur als Ausdruck seiner Stimmung ansieht und danach
gestaltet. Und im Momente dieser Bewußtheit, also der Trennung
von Ich und Natur, wird auch das Bildganze in einheitlicher Komposi-
tion fester zusammengeschlossen. Himmel und Erde fallen nicht mehr
so auseinander wie beim naiven Gemüt, wo sich das Einzelne wohl
als Teilstück des Ganzen, also des umgebenden Freiraums darstellte,
aber ohne jede dynamische Beziehung zu ihm, der ein ins Unbegrenzte
gehendes Loch war. Indessen, komponiert jetzt auch der Künstler
Land- und Luftregion einheitlicher zusammen und zieht somit den ob-
jektiven Raum in seine subjektive Oestaltungssphäre, so wird diese
idealistische Einstellung durch den Realismus im einzelnen bedeutsam
eingeschränkt. Obschon der Himmel mit mächtigen bewegten Wolken
angefüllt ist, die Dinge bleiben allzu physisch, fest und schwer, als
daß eine lebendige Wechselwirkung mit dem Freiräumlichen zwischen
und über ihnen zustande käme, die erst vollständig die realistische
Hinnahme der Dinge im Räume aufheben würde. Es bleibt ein Realis-
mus, aber zu sentimentalen Ideen nutzbar gemacht. Damit wird ersicht-
lich, daß bei dieser geistigen Haltung, wo der Anteil so stark auf das
schaffende Subjekt übergegangen ist, die eben ausgeführte Art der
Landschaftsdarstellung nicht in dem Maße als wertvolles Allgemeingut
einer großen Masse angesehen werden kann. Sie steigt und fällt mit
der Persönlichkeit des Künstlers. So hat ja auch Ruisdael unter den
holländischen Malern stets neben Rembrandt das Interesse der Nach-
welt in Anspruch genommen.
Unter dieser Gattung lassen sich sonst etwa Cornelis Vroom,
Guilliam Dubois und vor allem Everdingen begreifen, der dauernd
in Norwegen malt, wo die Szenerie an sich schön pathetischen
Schwung und romantischen Charakter trägt, ohne daß diese Künstler
in so ausgesprochener Weise »jene Mischung von Naturwahrheit
und Phantasie«, von objektiver Treue des Gegenstandes und subjek-
tiver Komposition zu gefühlsmäßigen und ideellen Zwecken auf-
weisen, die nach dem Urteil Hofstede de Groots*) Ruisdael zum
größten Landschaftsmaler Hollands gemacht hat.
Die romantische Landschaft. Gegen Ende des Jahrhunderts
wird eine Gattung herrschend, die sich ganz vom bodenwüchsigen
Geiste entfernt und ihr Naturvorbild im fernen Italien hat. Die hol-
') S. 132.
^) Beschreib, und krit. Verzeichnis der Werke hoiiänd. Maler Bd. IV. Vorwort
zu Ruisdael. t
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAPTSBILDERN. 2Q1
ländische Malerei mündet jetzt ganz in jene Unterströmung ein, welche
schon während ihrer Blütezeit bestanden hat, die italisierende Richtung,
mit der wir die Namen Poelenburg, Berchem, Dujardin, vor allem Jan
Both verbinden. Der grundlegende Unterschied zwischen aller bisher
behandelten und dieser Landschaft liegt in der Farbe. Das Braun der
kosmischen Landschaft, die bleiernen Töne Ruisdaels sind strahlend
schönen, klaren Farben gewichen. Heben sie sich damit schärfer von-
einander ab und isolieren die Einzeldinge schärfer, so sind sie in ihrer
Reinheit niemals naturalistische Lokaltöne, sondern zu idealen Farb-
klängen verbunden. Die Orundtöne sind Goldgelb und ein lichtdurch-
strahltes Blau, zu denen rötliche Töne die Ergänzung bilden. Ein
warmes Grün und Braun füllt unauffälliger. Wir können es verfolgen,
wie in der immer schärfer sich ausprägenden Zusammenstellung rosiger
Töne gegen Blau von der bodenständig holländischen Malerei eine
durchgehende Linie zur italisierenden Landschaft führt. In Erscheinung
tritt das Gelb und Blau in den fernen Hügeln und Bergketten, wo die
Erde vom Licht überstrahlt zu werden beginnt und dem Himmel, der
vom abendlichen Gelb in zartes Blau übergeht. Die tiefsten Farben
sammeln sich gewöhnlich in der Staffage, die in der Mitte des Vorder-
grundes zu hoher Wirksamkeit gelangt. Hier geben die Gewänder
Gelegenheit, ein sattes Blau und Rot gleichmäßig hinzusetzen, das oft
die bestimmende Note für das ganze Bild abgibt. Diese Liebe zu
schöner ungebrochener Farbe durchkreuzt sich ständig mit dem Willen,
alles im Glänze des Lichts erstrahlen zu lassen. So kommt es zu
zarten Lichtreflexen, kleinen Spritzern, die besonders an den Rändern
einheitlicherer Farbflächen auftreten. Indem sich die anspruchslosen
Farben in leuchtende wandeln, ruhen die Gegenstände auch nicht mehr
so vollkommen innerhalb des Raumes in sich selbst. In leichter Be-
wegung neigen sich die Bäume ins Bild hinein, die Waldhänge und
fernen Berge, zu mehr oder weniger einheitlichen Flächen zusammen-
gefaßt, zeichnen fließende, wellig bewegte Umrißlinien. Es spricht dar-
aus nicht mehr die urholländische Ehrfurcht vor dem Sein der Dinge.
Ein flüchtiger Schwung in der Darstellung stellt ihre Eigenexistenz in
Frage. Gewiß war auch in den holländischen Bildern der Gegenstand
aufgelöst; er ergab das weiche Relief von mannigfaltigen Abstufungen.
Von allen Seiten umgab ihn die Luft des uninteressierten Raumes.
Jetzt erhält der Gegenstand durch die stärkere Farbe eine stärkere Ab-
grenzung, aber er wird flächenhaft dunkel, wenn er dem entgegen-
strahlenden Licht Widerstand leistet, oder die Einzelheiten gehen in
einem einheitlichen Lichttone, gewöhnlich einem Goldbraun unter.
So erhalten die großen Bäume, die das Bild begrenzen oder in ihm
hochragen, die Waldhänge, die in sanfter Bewegung hinabgleitenden
292 WILLY DROST.
Höhenzüge etwas Kulissenhaftes. Eine dekorative Flächenhaftigkeit
verdrängt das Weben der Dinge im unendlichen Freiraume. Die
Ferne, die hier womöglich noch unentbehrlicher ist, gilt nicht als Wahr-
zeichen des Kosmos, sondern stellt die subjektive Sehnsucht in der
Seele des Malers dar. Die Dinge haben das Insichgekehrte und die
alltägliche Farbe verloren und nehmen dafür Tönungen an, mit denen
der Mensch ein bestimmtes Gefühl verbindet. Er gibt sich nicht mehr
selbstlos an den Gegenstand hin, weil er mit ihm etwas ausdrücken
will. Anstatt naiv realistisch verhält er sich sentimentalisch zur Natur.
Jetzt will er die Stimmung im Bilde und macht sie zur Hauptsache.
Der Mensch zieht das All in seine Sphäre, er anthropomorphisiert es;
er findet, daß bestimmte Konstellationen der Natur, Farbe und Licht,
gewissen Stimmungen in ihm entsprechen und benutzt die Natur nun,
um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Die eigentlich holländische
Landschaft ist Monismus in der Sprache des Alls durch das naive
Individuum. Der Maler dieser Landschaft hat sich von der Natur los-
gelöst und sieht sie bewußt. Ohne sie aber von sich aus nun voll-
ständig zu durchdringen, spricht hier eine Klage über den verlorenen
Zusammenhang und ein Suchen nach Sympathiegefühlen in der toten
Natur. Während in der holländischen Landschaft das Sein als Ganzes
Seele mit einfaßte, sucht jetzt das Bewußtsein, das dem Sein gegen-
übergetreten ist. Seelisches in ihm. Sprach in der kosmischen Malerei
die Idee der ewig wandelnden Zeit ohne Absicht des Künstlers un-
mittelbar sinnlich aus dem Gegenstande, machte Ruisdael den Gegen-
stand, obgleich objektiver in der Form, zum Symbol für die poetische
Idee der Vergänglichkeit, so hat jetzt die bei dem Bildner herrschende
sentimentale Grundeinstellung auch die Farbe und Form der Gegen-
stände danach gewandelt, und in der Melodie der fernen Bergkette,
den strahlenden Farben des Abends, fühlen wir einen musikalisch
romantischen Geist als die Grundnote des ganzen Bildes. In der italie-
nischen Landschaft des Holländers wird er sofort fühlbar. Es ist nicht
dargestellt, was der Gestaltende ist, was unmittelbar aus ihm hervor-
gehen kann, sondern was er sein möchte, wonach er Verlangen hat.
So schön die Gegenwart erscheint, die er erschafft, die Ferne ist alles.
Sehnsucht ist das Lied dieser Landschaft, Sehnsucht nach Schönheit,
Freude, Licht. Trunken ist das Auge vom golden herabsinkenden
Abend, in dem die fernen Berge verblauen. Die immergrünen Bäume
stehen in der unendlich klaren fremden Luft wie gemeißelt da; hohe
Felswände streben himmelan, ihre Gipfel ruhen im warmen Licht; Wald-
gründe verdämmern, Büsche und Blätter schwimmen in einem warmen
goldbraunen Ton, nur einzelne Zweige und Blätter glühen tief auf in
den letzten Strahlen der Abendsonne. Friedlich ziehen mit der Herde
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 2Q3
Hirt und Hirtin im bunten, lebensfrohen Oewande dahin, beschattet
von den Ruinen alter mächtiger Bauwerl<e, die in das Herz ahnungs-
voll einen Traum von Größe und Heldentum senken.
Die Hütte mit ihrem grauen Wirrsal versinkt. Aus der Welt des
Alltags, der engen krausen, dem Dämmer der verräucherten lärm-
erfüllten Schenke ist mächtig und feurig die Sehnsucht nach Klarheit
und Heiterkeit aufgestiegen. Italien, das Land altvergangener Herr-
lichkeit mit einer wärmeren Sonne und wohlgeformten Menschen, wird
das Ziel, an das die Sehnsucht sich klammert. Aber die Maler haben
nicht Italien, sie haben nur eine Provinz ihrer nordischen Seele gemalt.
Sie können nicht mehr in dem existenzhaften naiven Zustande ihrer
engen Welt verharren. Sie wollen nicht mehr die verhutzelten Menschen
mit den grotesken Gesichtern und dem naturhaften Gebaren. Die
Kraft, die sie zu Propheten eines wahrhaft kosmischen Naturgefühls
machte, ist erloschen. Die Dinge, die im selbstverständlichen Grau,
umwoben von der Weite des grauen Himmels zu großartigen Sym-
bolen geworden waren, jetzt noch so darzustellen, erscheint nüchtern
und ohne Sinn. Es müssen verwandte Gefühle in ihrer Seele anklingen,
deshalb wählen sie mit Vorliebe den frühen Morgen oder den Abend
mit ihren eigenartigen Farbstimmungen, die nur für Augenblicke einen
überirdischen Glanz über dieses Dasein ausgießen. Und so scheint
bei aller Schönheit auch diese Landschaftsmalerei den Todeskeim in
sich zu tragen. Diese Sehnsucht, diese Sentimentalität führt immer
weiter ab von dem lebendigen Erfassen der Natur. Es ist ja kein
Abend, kein Morgen,den sie darstellt, sondern die Freude an dem Abend,
an dem Morgen. Und die Reflexion schnürt schließlich alle Quellen der
Natur ab. Wir beobachteten schon Flächenhaftigkeit und Dekoration.
Und es muß notwendigerweise so sein. Denn eine allzugroße Treue
und Hingebung an den Gegenstand in kosmischer Gleichgültigkeit im
objektiven Räume würde sich nicht mit dem romantisch sehnsüchtigen
Charakter vereinigen lassen. Eine allzunahe Wirklichkeit zerstörte den
Traum. Nicht Natur, sondern Spiegelungen in der Seele des Menschen
sollen wir erhalten.
Bei alledem wollen wir nicht außer acht lassen, daß auch die ita-
lisierende romantische Richtung sich auf dem Unterbau der naiv rea-
listischen holländischen Malerei erhebt. Diesen Malern allen fehlt doch
der hohe Schwung und der römische Geist eines Claude Lorrain, der
sich formal in einem gewaltigeren architektonischen Aufbau im ganzen
Bilde, einer größeren Verwendung der Architektur selbst mit ihren feier-
lichen Geraden, einer größeren Zusammenfassung zu einheitlichen, sich
genau die Wage haltenden Massen zeigt. Eine Reihe von Bildern
können wir geradezu als Zwischenstufen zwischen der naiven und roman-
294 WILLY DROST.
tischen Einstellung bezeichnen, indem nur von beiden Seiten her ihr
Geist vollständig zu erfassen ist.
So beginnt sich bei Cuyp — um hier an einzelnen Beispielen die
Meinung zu erläutern — trotz der Landschaften mit riesigem unbe-
teiligten Luftraum und tonig-welliger Auflösung einer ganz flachen
Dünenformation (Berlin), der blonde Luftton so zu steigern, daß er
ein besonderes Gefühl auszudrücken scheint. Fromentin kam der
»ewige Goldtonc verräterisch vor, »an den man nicht so recht glaubt
an der Maas oder Zuidersee« '). Ein subjektiver Schwung, etwa in
dem Bergabhang des »Morgensc (Rotterdam), der kunstvoll aufgefangen
wird, überhaupt ein freieres Schalten mit der Natur gibt auch der
Komposition ein verändertes Gepräge. Der lineare Zusammenhang
wird stärker, die Auswägung der Flächen ausgeglichener, dafür büßen
die Gegenstände an Räumlichkeit ein, und der langsamen Hineinführung
in den Bildraum wird nicht mehr das Hauptinteresse zugewandt. So
prallt der Blick in manchen Stadtansichten (Ansicht von Dordrecht in
Amsterdam und Leipzig) auf eine Häuserreihe in annähernd einer Bild-
ebene und der Blick in die Ferne wird versagt. Wundervolle Lichtver-
anstaltungen nehmen den Dingen ihre kosmische Selbstverständlichkeit;
Städte werden von Licht überflutet, sodaß nur einzelne Bergkuppen
und Gebäude aufblitzen (Breslau); die Abendlandschaft im Buckingham
Palace, in der ein welliges, sonnig überstrahltes Gelände sich in einen
Waldgrund mit zarten Reflexen verliert, ist auch in der Staffage ganz
italisierend romantisch. Einen ähnlichen Übergang zeigt für die syste-
matische Einordnung Adriaen van de Velde. Selbst eine kompositioneil
so echt holländische Landschaft wie das Casseler Strandbild tut sich
in zierlicher Staffage mit einem stark sentimentalen Fischer im Vorder-
grunde und heiteren leuchtenden Farben vor uns auf. So steht es mit
der Farbe auf fast allen seinen Bildern. Bode findet mit treffendem
Ausdruck etwas Sonntägliches in ihnen, während die spezifisch hol-
ländischen Landschaften durchaus den Alltag (dafür in unsagbarer Ver-
tiefung) malen. Die klare Weidelandschaft in Leipzig, die Farm in Berlin
und viele andere haben diesen Ausdruck. Daneben drängt sich das
Figürliche, das van de Velde mit Meisterschaft beherrscht, in den
Vordergrund und entwickelt sich bis zur Genreszene (Schäferszene
in Leipzig). So malt er sich selbst als Gutsherrn mit seiner Familie
in die Landschaft, oder setzt sich sehr ostentativ als Zeichner hinein,
wodurch dann das zeitlos Kosmische der Landschaft unmöglich wird.
Wir sind nicht erstaunt, bei ihm neben der holländischen Flachland-
schaft den pompösen Aufbau römischer Ruinen zu finden (Dresden).
') Übersetzung S. 195.
OBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 295
Noch ein dritter Maler läßt sich hier anführen, der bezeichnenderweise
ebenfalls die Staffagelandschaft gepflegt hat, Philips Wouverman.
Er nimmt bewegtes menschliches Treiben, Jagdepisoden, Überfälle,
Reitergefechte zum Thema seiner Bilder und spitzt es novellistisch
zu. Besonders fesselt ihn die vornehme Gesellschaft, die er im Vor-
beireisen an dem wüsten Hause des Scharfrichters (Dresden), in feind-
lichem Zusammentreffen mit Räubern, freundlichem mit Feldarbeitern,
vor der Schmiede und Schenke oft zu ärmlichen mehr naturhaften
Verhältnissen bewußt in Gegensatz stelH. Dieses Interesse für den
Menschen wirkt sofort auf die Behandlung der Landschaft zurück.
Der Horizont geht, soweit er überhaupt zu sehen ist, mit flüchtig be-
wegten Höhen, in einen von Wolken reich belebten Himmel über, ge-
wöhnlich aber steigt eine riesige Wolke über dem Horizonte auf und
verwischt in ihrem Zuge den Gegensatz Himmel und ruhende Erde
vollständig. Diese Tatsache ist auch bei den einfachen ländlichen Dar-
stellungen das Merkmal eines nicht mehr naiv realistischen Sinnes,
ohne daß sich indessen mit der Art, wie Pferde und Menschen hier
gegen den düsteren Himmel gestellt, schwanke Stege mit einsamen
Gestalten über dunkle Gewässer geführt sind, eine weniger tiefe und
geheimnisvolle Wirkung verbände. Seine Farben sind emailleartig (sehr
zart z. B. in der Frühlingslandschaft in Kassel). Zu sprühenden Druckern
und Spritzern gibt die reiche oder kriegerische Kleidung reichlich Ge-
legenheit. Besonders auch stellt ihn die Vereinigung rosiger und blauer
Töne in die Mitte zwischen der bodenständig holländischen und ita-
lisierenden Malerei.
Abschweifung. Stellen wir überhaupt einmal der von uns be-
handelten Landschaft die Landschaft des 18. und 19. Jahrhunderts
gegenüber, so findet sich gerade von Wouverman mit seiner novelli-
stischen Vorführung menschlich geselliger Verhältnisse Gelegenheit nach
Frankreich überzuspringen, wo die Landschaft des 18. Jahrhunderts ihre
eigenste Ausgestaltung erhält. Licht und Luft bleiben, aber die sub-
jektive Note setzt in einem willkürlichen Schalten mit dem Gegenständ-
lichen mit allem Nachdruck ein. Die Bäume erhalten elegante Kurven,
schmiegen sich dem Bildrande an, und fassen schmiegsam mensch-
liche Szenen ein. Gewiß werden sie auch hier vom Bildrande durch-
schnitten, aber man nimmt sie gar nicht mehr ernsthaft als objektive
Körper, sondern als dunkle Kulissen, die die Menschen des Mittelgrundes
gefälliger und abschließender umrahmen als das harte Viereck des
Rahmens. Bei Watteau sind solche Kulissen zu bloßen Funktionen inner-
halb des Helldunkelwechsels geworden. — Der Mensch und seine
Welt tritt ganz und gar in den Vordergrund, und von der Landschaft
wird die dämmernde Abendröte oder blaue Ferne nur als Ausdrucks-
296 WILLY DROST.
mittel seines Gefühls benutzt. Wir sind ganz in den Gefühlen, die
von der Reflexion aus in den konventionellen Verhältnissen des Menschen
unter Menschen entstehen, Ironie, Satire, Sentiment, Koketterie, wir be-
finden uns in vornehmer Gesellschaft im Park oder auf dem Lande,
wo die Ähnlichkeit der höfisch freien Sitte mit der naiven Freiheit des
Schäfers zu den reizendsten sentimentalen Szenen Anlaß gibt. Die
naive" Ehrfurcht vor der Natur ist jedoch damit verloren gegangen.
Die zunehmende Subjektivität hat wichtige Folgen für die Füllung der
Bildtafel. Man fühlt, an jeder Stelle soll die leichte Hand des Künsters
spürbar bleiben. Der uninteressierte Luftraum mit dem Dualismus
Körper und Raum, Himmel und Erde wird möglichst ausgetilgt, die
Horizontale der Ferne ist fast vollständig geschwunden. Dunkle oder
in einheitlichem Halbton gehaltene Laubmassen füllen, wie schon an-
gedeutet, die Ränder der Bilder, und das Dunkel erhält die Aufgabe,
die auf die Mitte konzentrierte Hauptsache der Darstellung sich aus
ihm wirksam herauslösen zu lassen. So kommt ein geschlossenes
Ganzes zustande. Dasselbe Bestreben hat auch zum vollständigen
Fortlassen der unbeteiligten Ecken, zum Oval geführt.
Um die Wende zum IQ. Jahrhundert entwickelt sich in Deutsch-
land eine Landschaft, die manches mit der von uns als roman-
tisch bezeichneten Landschaft gemeinsam hat: die Sehnsucht nach
Italien, das Begehren nach tiefen, goldenen Farben und der wehmuts-
vollen, ahnungsreichen blauen Ferne. Hier erst ist zum Nachteil der
Malerei die Reflexion, die Bewußtheit, die wir dort schon hervorhoben,
zur Herrschaft gelangt. Die unmittelbar vorliegende Natur genügt
nicht mehr, weil man nach einem inneren Idealreich sucht. Die
Mutter dieser Landschaft ist die romantische Literatur (Tieck, Novalis),
sogar Ästhetik (Friedrich Schlegel), Philosophie (Schelling) und Natur-
wissenschaft scheinen nicht unbeteiligt an ihr. Vergleichen wir aber
einmal zwei Landschaften ähnlichen Gegenstandes wie das Kloster
von Verboom aus dem 17. Jahrhundert mit dem bekannten Kloster-
garten Oliviers, beide in Leipzig, so wird uns bei aller Ähnlich-
keit der Farbe und damit wohl des ersten Eindrucks doch bald der
Abstand klar werden. Dort besteht eine Verwandtschaft, ein Zusammen-
hang aller Teile, der die Welt auf der Bildtafel zu einem abgeschlossenen
geordneten Ganzen macht, hier aber trägt bei aller religiösen Innigkeit
das Bild doch nur den Charakter des Ausschnitts, und die Teile ent-
behren formal des organischen Zusammenhangs. Nicht die Befähigung
beider Meister, sondern die anderthalb Jahrhunderte, die zwischen ihnen
liegen, bedingen diesen wesentlichen Unterschied. Einer flüchtigen
Beobachtung könnte es scheinen, als stellte überhaupt das 19. Jahr-
hundert, soweit es nicht Nachahmung ist, in mancher Beziehung
I
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 297
einen Rückgang auf das 17. dar. Das Bild schneidet wieder aus
der Wirklichkeit aus und die Dinge ruhen im Räume; auch die Hori-
zontale erscheint wieder, wir haben einen Realismus. Nun aber ist
all das verflogen, was wir mit dem Ausdruck kosmisch bezeichneten:
die gehaltene Farbe, die jedes Ding in tiefe Beziehung zu dem Ganzen
des unendlichen, umgebenden Raumes brachte, das Abgewogene der
Komposition, die eine kleine Welt auf der Tafel ausbreitete. Die Dinge
werden sowohl farblich wie auch körperlich isoliert, der Himmel wird
blau, die Wolken weiß, die Bäume grün, die Dächer rot; der Ausschnitt
zeigt eine Zufälligkeit, die eine Harmonie der Teile vermissen läßt, und
beweist, daß es dem Menschen nicht mehr gegeben ist, seine Welt
und sich darin als ein geschlossenes Ganzes zu empfinden.
Die Auflösung des Gegenständlichen im Bilde während des letzten
Drittels des Jahrhunderts, dieser Impressionismus ist von dem soge-
nannten Impressionismus der Holländer weit entfernt. Licht und Luft
gibt es hier genug, aber es ist gleichgültig, ob diese an einem die
Bildfläche bedeckenden plastischen Gegenstand oder einer weiten Hori-
zontallandschaft gezeigt werden. Nicht der Unendlichkeitsraum, sondern
das subjektive Bewußtsein des Malers löst die Körperlichkeit der Dinge
zu ungebrochenen Farbflecken auf. Das Wesen des großen Raumes,
als dessen Ausgeburt in Holland alles einzelne erschien, ist nicht mehr
gestaltet; statt des kosmischen, haben wir einen materialistischen Realis-
mus. Der Künstler schafft nicht mehr in dem tiefen Glauben an das
Sein der Welt, sondern bildet seine subjektiven Sinneseindrücke ab.
Die expressive Landschaft. Haben wir die behandelten
Landschaftsgattungen als Ausdruck überpersönlicher Ideen genommen,
von denen mit Ausnahme Ruisdaels der Künstler nur als Träger er-
schien, der uns erst in zweiter Linie interessierte, so bedeutet die Form,
die wir jetzt den übrigen gegenüberstellen, die Kundgebung einer Persön-
lichkeit, die das, was aus dem Zeitgeiste heraus entstanden ist, weit
hinter sich läßt. Allein einem Rembrandt war es möglich, in dem
Holland des 17. Jahrhunderts unter den leidenschaftsfremden Land-
schaften eine Form zu finden, in der sich persönlich-seelisches Leben
ausdrücken konnte. Es gibt keine Schule der expressiven Landschaft.
Nur soweit einige Maler wie Aeart de Gelder ganz in die Fußtapfen
des großen Meisters getreten sind, haben sie Ähnliches hervorgebracht.
Niemals war die Idee der Rembrandtschen Landschaft in mehreren
der Zeit wirksam.
Wenn indessen auch diese Landschaft, die wir unter dem Namen
der expressiven Landschaft zusammenfassen, nur durch den Namen
Rembrandt belegt ist, so wollen wir sie keinesfalls mit seiner Land-
schaftsmalerei gleichsetzen. Rembrandt war echter Holländer und so
298
WILLY DROST.
ist auch ein gut Stück urholländischen Geistes in seinem Land-
schaftswerk vorhanden. Dies zeigt sich vor allem in seinen Radie-
rungen, dann in den Handzeichnungen und zum Teil auch in einigen
vorzugsweise späten Landschaftsgemäiden. Aber das Wesentliche
seiner gemalten Landschaft, das wir hier in systematischer Zuspitzung
herausarbeiten wollen, ist doch ein anderes. Wir haben dabei die
Landschaft mit dem barmherzigen Samariter, Krakau, die Landschaft
mit dem Obelisken, Boston, die Berglandschaft mit den Ruinen, Braun-
schweig, die Londoner Landschaft, Wallace-Collection, die Landschaft
mit der Zugbrücke, Madrid, die Landschaft mit der Brücke, Oldenburg,
die Landschaft mit der Eiche, Bedin Sammlung Kappel, die Mühle,
Philadelphia, vor Augen. Eine begriffliche Beschreibung ist schwer,
und es ist bezeichnend, daß fast alle Versuche dazu in eine dichterisch
intuitive Einfühlung übergegangen sind. Die Starrheit, die den exakten
Begriffen einer rein sachlichen Beschreibung anhaftet, verhindert ein
Verständlichmachen dieser Landschaft, deren Wesen in einer im-
materiellen Bewegtheit besteht. Das Gegenständliche hat seine Ob-
jektivität zugunsten einer Helldunkelfunktion aufgeben müssen. Große
Schatten- und Lichtmassen wechseln miteinander, formen sich hier zu
sturmbewegten Bäumen, hügeligen Aufbauten, phantastischen Brücken
und Gebäuden und mächtigen schweren Wolkenmassen, blitzen dort
zu Menschen, Baumkronen, Architekturen auf, ebenso flüchtig geformt
oder als Durchblicke durch die Wolken. Der Horizont wird höher ge-
legt, aber wir können gar nicht mehr von einem Horizont im Sinne
der holländischen Malerei als Wahrzeichen der ruhenden Erde unter
dem unendlichen Luftraum reden, der Horizont entsteht nur als Grenze
zwischen einer wirksamen Licht- und Schattenmasse. Damit ist die
Gestaltung des objektiven Raumes, des freien unendlichen Außenraumes
als wesentliches Ziel aufgegeben. Denn der Freiraum ruht, und die
Dinge ruhen in ihm. Hier aber bekommen wir den Raum nicht mehr
als einen festen,! gewissermaßen in Außenansicht, durch Luft- und
Linearperspektive vermittelt, sondern sind in einer räumlichen Dynamik
mitten drin und erieben ihr Hin- und Herweben. Die Hauptaufgabe
Rembrandts war nicht die Steigerung der Tiefenwirkung des Freiraums
zwischen dem Körperiicheni), sondern die Verräumlichung auch des
Körpedichen zu dynamischer Wirkung. Doch soll auf das Wort Raum
gar kein besonderer Wert gelegt werden. Worauf es ankommt, ist die
Auflösung der ruhenden Außenexistenz in Wechselbeziehung und
Kräftespiel. Die Luft, die wie ein Medium die Dinge umspielte, wird
nun auf eine mit ihnen gleichwertige Stufe erhoben. Wie anders also.
') So sagt Riegl, Das Holland. Oruppenporträt Jahrb. 1902, S. 205.
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 29Q
als bei der im eigentlichen Sinne holländischen Malerei, wo uns die Ein-
heitlichkeit der Substanz des Luftraums und des Körperlichen in ihm
aufstieß, aber im Verhältnis des kleinen Erzeugnisses zum großen ge-
bärenden All, wo der Mensch im Bilde wie der Maler als in naiver
Abhängigkeit erschien! Jetzt ist der Unendlichkeitsraum nicht mehr das
allem unbedingt Übergeordnete. Er ist gleichermaßen abhängig vom
Schöpfergeist des Künstlers wie das in ihm dargestellte körperliche
Wesen und wird ein gleichwertiges Beziehungselement zu ihm.
Vom naiven Realismus kann jetzt keine Rede mehr sein, es ist ein
vollkommenes, schöpferisches Durchdringen der Welt vom Subjekt her:
Idealismus.
In der kosmischen und zugleich naiv realistischen Landschafts-
malerei zeigte sich der Mensch als hineingestelh in einen allumfassen-
den Zusammenhang der Wirklichkeit, in dessen Notwendigkeit er ganz
aufging, gegen den er keine selbständige Eigenart behaupten konnte,
sodaß er ganz der eigenen individuellen Wesenheit verlustig ging.
Einzelseele war ein kleines Teilstück der Allnatur. Ich und Welt war
eine Einheit, die der Maler in eigentümlicher Weise darstellte, ohne
isich ihrer bewußt zu sein; noch hatte das bewußte Einzelich sich nicht
vom substantiellen Urgrund aller Dinge losgelöst. Hier bei Rembrandt
scheint der Gegensatz zwischen Ich und Welt ebenfalls, aber in ganz
anderer Weise ausgelöscht zu sein. Hier ist die Welt ganz in das
ich hineinversetzt und erscheint nur als Ausstrahlung der schöpferischen
Persönlichkeit. In der Art und Weise, wie die Dinge in bezug auf
Farbe und Form souverän behandelt sind, beweisen die Bilder einen
Idealismus, der genau so konsequent ist wie der philosophische, den
ein bewußter Geist in literarischer Tätigkeit zum System formt. Es
ist nicht anzunehmen, daß Rembrandt eine solche Bewußtheit besaß,
die die begriffliche Form der Worte vom Intellekt verlangt. Er war
Holländer mit der fast animalischen tiefen Naturverbundenheit, aber
die Sprache seines Pinsels verkündet eine alles bezwingende Schöpfer-
herrlichkeit. Es gibt kein in sich ruhendes Sein mehr im Bilde, das
treu hingenommen wird, wie der Baum, die Hütte unter dem ewigen
Firmament. In flutender Dynamik wird auch das Körperliche als
gegenüberstehendes Sein aufgelöst zu Ausstrahlungen der erregten
Künstlerseelc. Das ist jetzt das Ungeheure, das Neue, das die gemalte
Landschaft Rembrandts in bezug auf die Stellung des Menschen zur
Welt als absoluten Gegenpol zu aller anderen holländischen Land-
schaftsmalerei des 17. Jahrhunderts erscheinen läßt: die unabsehbare
Ferne, mit Gebirgen, Flüssen, Bäumen und Gebäuden steht nicht
mehr für sich da, sondern wird Ausdrucksform für die Stimmung
des Künstlers. Er wählt, um einer Erregung in seinem Innern Sprache
300 WILLY DROST.
ZU verleihen, eine Landschaft, vielleicht im Anschluß an die Natur,
ruft Phantasie und Erinnerung zu Hilfe, komponiert um, baut auf
und entkleidet sie ganz ihrer realen Substantialität, bis allein die see-
lische Bew^egung in ihr schwingt. Wohl war auch die Landschaft
des naiven Holländers ausdrucksvoll, aber sie hatte nur einen unsag-
baren und ganz unpersönlichen Ausdruck: den des Kosmischen, der
dumpfen Befangenheit des Einzelnen im Schöße des Unermeßlichen.
Jetzt glauben wir eine ganze Skala von tragischen Gefühlen und
seelischen Erlebnissen Rembrandts aus seinen Landschaften herauszu-
lesen •).
Das formale Mittel aber, das diese polare Umschaltung erkennen
läßt, ist die Umwandlung des objektiven uninteressierten Tiefenraumes
in die subjektive dynamische Raumfunktion. Es hat den Anschein,
als wenn die Schöpferkraft des Künstlers es nicht ertrüge, den Tiefen-
raum in seiner gleichmäßig ruhenden Form darzustellen, weil er dann
in dem weit über den Horizont ins Grenzenlose sich erstreckenden Frei-
raum eine Wirklichkeit anerkennen müßte, die sich seiner alles mit
Ausdruck durchdringenden Hand entzöge. Er hebt deshalb die Wir-
kung des objektiven Raumes auf, indem er durch Hell und Dunkel
jene Wechselwirkung von Kräften herstellt. Jetzt wird in den sich er-
gebenden Beziehungen jedes Ding des objektiven Seinscharakters ent-
kleidet; es spricht nicht mehr durch sich, es hat nicht mehr Bestand
außerhalb des Bewußtseins des Menschen, es wird zum Mittel, mit
dem sich hier der Künstler ausdrückt. Die Erlebnisse seines Ich sind
das erste, und jedes Ding muß es sich gefallen lassen, in diesem see-
lischen Strom mit fortgerissen zu werden, ebenso wie der objektive Raum
nicht mehr als reale Wesenheit anerkannt werden kann.
In dem Bestreben, diese Bilder wissenschaftlich zu analysieren,
kommen wir zu der Einsicht, daß räumliche Begriffe nicht genügen,
obgleich das Bild in räumlich simultanem Bestände vor uns steht.
Das Gegeneinanderwirken von Kräften, das Funktionelle (im Tätigkeits-,
nicht im mathematischen Sinne) zwingt dazu, den Zeitbegriff einzu-
führen. Wenn wir den für Rembrandt gebräuchlichen Ausdruck des
Helldunkels daraufhin ansehen, so wird ersichtlich, daß mit ihm nicht
') Eisler schließt sein Buch über »Rembrandt als Landschafter« (München 1918)
mit den zusammenfassenden Sätzen: »Ihm, dem Umfassenden, ist die Natur nicht
alles, und er kommt vom Menschen zu ihr: beides unterscheidet ihn von allen
übrigen Landschaftern seiner Heimat. Er läßt das Menschliche, die Stimmung der
Figuren und das Eigene offen ins Naturbild ein, bis die Mischung vollkommen ist.
Eine reiche, inwendige und unabhängige, durchaus persönliche Welt ist da und
wählt nach ihrem leidenschaftlichen Ermessen die verschiedensten Mittel und Gegen-
stände, — darunter auch die Landschaft — um sich in ihnen ausdrucksvoll darzu-
stellen.«
Ober wesensdeutung von landschaftsbildern. aoi'
allein das Dunkel gemeint ist, das neben einem Hell steht, sondern
die Dynamik, die durch das hervorquellende Licht zu den zurück-
strömenden Schattenmassen erzeugt wird. Der Sinn des Begriffs liegt
nicht in der Bezeichnung zweier objektiver Tatbestände, sondern der
Funktion zwischen beiden. Sowie wir aber den objektiven Bestand
in zeitlichen Verlauf, dynamisches Wirken auflösen, können die Be-
griffe nicht unmittelbar auf das Objekt gehen sondern auf die Ver-
haltungsweise des schaffenden Künstlers oder das Nacherleben des
Beschauers; stets bleiben sie im Zusammenhang mit einem leben-
digen Sichauswirken der Menschenseele und verlieren dafür von der
Schärfe, die Objekte in allgemeingültiger Weise zu fassen. Diesen Vor-
teil und Nachteil hat es, wenn wir solche Gestaltung mit rhythmisch
bezeichnen. Wohl ist damit klargestellt, daß eine subjektive Bewältigung
der Welt vorliegt, daß die Dinge nicht ihr Eigenleben im Räume führen,
sondern in einer gesetzmäßigen Abhängigkeit vom Künstlergeiste stehen.
Denn das Rhythmische, also durchaus eine innere Beziehung aller Teile,
könnte nichts Uninteressiertes im Bilde dulden. Aber schwerlich können
in dem Verhältnis dieses dunklen Baumes zu hellen Wolken dieses
lichten Erdstreifens zur dunklen Bergwand dynamisch ausgeglichene,
rhythmische Beziehungen objektiv festgestellt werden. Sie müssen vom
Beschauer erlebt, nachvollzogen werden. Und niemand kann sich vor
einer der bezeichneten Landschaften Rembrandts dem Zwange ent-
ziehen, die lichten Stellen als flutend, brausend, die dunklen Schatten-
massen im Kampf damit zu empfinden, in den Halbschatten ein dauernd
bewegtes, lösendes und verbindendes Leben und Weben zu spüren,
und die Dinge, an denen es sich auswirkt, die sturmbewegten Bäume
mit den kugelig zusammengeballten Kronen, die Brücken und Türme,
das wellige Erdreich und die schwärzlichen Wolkenbildungen erst in
zweiter Linie als Träger jener Bewegtheit von rein geistigem, persön-
lichen Ausdruck anzuerkennen.
Der Raum- und Zeitbegriff, mit dem wir die Grundformen
unseres sinnlichen Aufnahmevermögens bezeichnen, er ist auf die
Bilder Rembrandts im Gegensatz zu den übrigen holländischen
Landschaften so grundverschieden anzuwenden, daß wir wohl im
Gegensatz zu jenem naiven Realismus auf einen transzendentalen
Idealismus hinweisen können. Wurden in der spezifisch holländischen
Malerei die Dinge in ihrem Eindruck für uns zu Symbolen des zeit-
lichen Prozesses, der Vergänglichkeit, machte sie bei Ruisdael die poe-
tische Idee der Komposition dazu, so ist jetzt die Zeit als künstlerischer
Faktor unmittelbar mit der Erschaffung und Aufnahme des Bildes ver-
woben. War sie erst Gegenstand der Formung, ist sie jetzt selbst
Mittel der Formung. Ebenso geschieht es mit dem Raum. War er
302 WILLY DROST.
erst als objektiver Raum Gegenstand der Darstellung, so drückt sich
jetzt der Künstler mit räumlichen Funktionen aus, in deren Dynamik
wir uns mitten hinein versetzen müssen. So nimmt der transzendentale
Idealist Raum und Zeit nicht ais metaphysische Realität, als feste Formen,
in denen alles Leben und Sein sich abspielt, sondern faßt sie als Funk-
tionen, mittels deren der Gegenstand erst entsteht. Was er als Gegen-
stand wahrnimmt, ist ein Erzeugnis seiner Tätigkeit, die ihn durch die
inneren Anschauungsformen Raum und Zeit aus dem Chaos von
Sinneseindrücken herausgeformt hat. Damit erhält die schöne Welt,
die dem naiven Gemüt so sicher und fest gegründet dasteht, ihren
letzten schöpferischen Abhängigkeitspunkt in dem Subjekt, und das
Insichruhen des Gegenstandes wird zur formalen Einheit des Bewußt-
seins. Bei Rembrandt ist nun wohl diese schöpferische Durchdringung
der Welt vorhanden, indem er alles in Bewegung, Funktion aufgelöst,
nicht aber hat damit eine selbstherrliche Loslösung von der Natur
stattgefunden. Aus jedem dargestellten Wesen, obgleich es ganz zum
Gefühlszeichen des einen Rembrandt geworden ist, spricht doch eine
Unergründlichkeit und tief verankerte Objektivität, die Rembrandts echt
holländische Allverbundenheit beweist. Manchmal weisen auch die
Licht- und Schattenfahnen in starker Bewegung weit aus dem Rahmen
des Bildes hinaus. Das Holländische in Rembrandt wandelt den persön-
lichen Idealismus zu einer Metaphysik, die keineswegs vom Bewußt-
sein des Individuums auszugehen scheint.
Wir haben von den holländischen Voiksmalern der Landschaft
bis zu Rembrandt den Weg vom Objekt zum Subjekt durchmessen,
obwohl wir bei ihnen eine gemeinsame Grundnote anerkennen mußten
und können danach als allgemeine Sätze aufstellen: Je größer die
Hingabe an die Natur ist, desto mehr muß das Ich des Menschen
und sein subjektives Gefühlsleben, das die Natur nur als Ausdruck
benutzt, zurücktreten. Je mehr der dargestellte Baum nur die Eigen-
heit des Baumes wiedergibt, wie er fest auf dem Boden steht und in
organischem Wachstum seine Äste in die Luft streckt, desto weniger
kann er etwas aus der Seele des Künstlers ausdrücken. Er befindet
sich da in dem Lufträume, der die Körper gleichmäßig umspieh, und
der Künstler ist zur Anerkennung des Tiefenraumes, in dem er die
Objekte von sich aus neben- und hintereinander sieht, gezwungen. Hier-
für gebrauchten wir den Ausdruck des objektiven uninteressierten
Raumes.
Würden in solchem Räume von Gefühlen bewegte Menschen dar-
gestellt, die unser Interesse ernstlich in Anspruch nehmen sollen, so
ÜBER WESENSDEUTUNG VON LANDSCHAFTSBILDERN. 303
gäbe es den Eindruck der Akteurs auf einer Bühne. Ein eigentüm-
licher Dualismus entstünde, denn wir wüßten nicht, sollen wir mit
den Menschen mitfühlen oder in der ruhigen Betrachtung der für sich
seienden Natur verbleiben. Indem der Künstler die Landschaft zur
Folie macht, ihre Mannigfaltigkeit flächig zusammenfaßt, den Umriß
der Dinge zu leicht bewegten Linien zusammenzieht und die einfache
kühle Farbe zu gefühlsmäßig wirkenden Farbklängen steigert, wird die
Harmonie des Kunstwerkes wieder hergestellt.
Soll aber die Landschaft lediglich als Abbild seelischer Erregungen
empfunden werden, so darf kein Gegenstand mehr für sich wirken.
Alles muß in einer gleichmäßigen Abhängigkeit vom schaffenden Künst-
ler stehen. Er hebt dazu notwendig den objektiven, ruhenden Raum,
in dem die Dinge ihr stilles Dasein führen, auf. Nicht mehr die Eigen-
gestalt des Baumes, wie er im Luftraum dasteht, ist maßgebend, sondern
Baum- und Lufthintergrund werden zu einem lebendigen Wechsel-
verhältnis gleichwertiger Teile umgestaltet, in denen der Oefühlsstrom
des Schöpfers weiterschwingt. Wir haben dafür die Bezeichnung der
dynamischen Raumfunktion gewählt. Die Ferne des Freiraums kann
wohl noch dargestellt werden, aber nur noch in wirksamer Beziehung
zu anderen Teilen des Bildes. Es ergibt sich der Satz: Das Expressive
schließt den uninteressierten Tiefenraum aus. Auf diesem Wege kommt
die Bildtafel, die ja durch die Darstellung des Freiraums hinwegge-
täuscht wird, als eine positive Fläche zu immer größerer Geltung.
Denn die Verbundenheit aller Teile in einem Kräftezusammenhang
bringt ein einziges Gewebe hervor, mag es sich auch noch so sehr
in verschiedenen Kraftlinien dehnen. Gleichmäßig bekundet es die Ab-
hängigkeit vom Schöpfergeist des Künstlers, der nirgends die Fäden
seiner Hand entgleiten läßt.
Mit der Gegenüberstellung von objektivem Raum und dynamischer
Raumfunktion innerhalb einer Kunstperiode, auf dem Wege vom Objekt
zum Subjekt, befinden wir uns zugleich zwischen den Gegenpolen der
Weltanschauung, die wir philosophisch mit den Begriffen des Realis-
mus und Idealismus (Materialismus und Spiritualismus) ausdrücken.
Nur einem Realismus wird die Landschaftsdarstellung, die dank-
bare Aufgeschlossenheit des Menschen der Welt gegenüber, vollständig
Genüge leisten. Wenn Zeit oder Künstlerpersönlichkeit von dem leb-
haften Willen durchdrungen ist, starken inneren Erlebnissen, gesteigerten
Affekten künstlerischen Ausdruck zu geben, so wird die Landschaft
ein ungeeignetes Mittel sein. Denn am wenigsten dürfte der Mensch
unter der unendlichen Weite des Himmels geneigt sein, seinen Ge-
fühlen und seiner Tätigkeit erhöhten Wert beizumessen. Er wird vor-
zugsweise nach dem Menschen greifen und mit ihm, den er in be-
304 WILLY DROST.
wegten Seelenzuständen darstellt, seine Tafel füllen, so daß die un-
interessierte Tiefe — dieses Wahrzeichen des Realismus — kaum in
Betracht kommt oder in festen Zusammenhang mit der wirksamen
Gruppe gerät. Zieht er aber doch die Landschaft in sein Bereich und
zwingt dem unendlichen Freiraum mit der unermeßlichen Fülle des
Lebens in ihm allein seinen Willen auf, wie man es oft in der heutigen
Landschaftsmalerei sieht, so werden wir uns kaum eines Gefühls der
Selbst-Überhebung enthalten können. Bei dem Rembrandt unserer ex-
pressiven Landschaft war der tiefe holländische Realismus mit dem per-
sönlichen Ausdruckswillen des Künstlers eine Verbindung eingegangen,
die uns doch noch in den Gegenständen eine tiefgegründete Objektivität
fühlen ließ. Und auch er kam ja von der Figur zur Landschaft, und
die Landschaftsmalerei spielte nur eine untergeordnete Rolle in seinem
Schaffen.
IX.
Kontinuität und Diskontinuität.
Grenzprobleme der Architektur und Plastik.
Von
Paul Zucker.
I.
Der allgemeine Sprachgebrauch kennt zwar die Bezeichnungen
»seni<recht« und »wagerecht«, nicht aber eine dementsprechende für
die Richtung längs der Tiefenachse von »vorn« nach »hinten«. Schon
dies ist ein symptomatischer sprachkritischer Beleg für das Zurück-
treten der dritten Dimension im Bewußtsein und in der Bewußtheit
des normal Apperzipierenden. Wenn die Bewegung längs der Tiefen-
achse als primär festgelegt wird '), so ist dies ein denkökonomisches
Prinzip, das vielleicht für die Erkenntnis des Raumempfindens frucht-
bar ist, keineswegs aber mit dem normalen Bewußtsein überein-
stimmt.
Die im Alltag bemerkbare Unklarheit und geringe Intensität der
Tiefenwahrnehmung folgt aus dem bereits hinreichend oft erörterten
psychologisch und sinnesphysiologisch vielfältig verwickelten Vor-
gang der binokularen und der haptischen Raumwahrnehmung sowie
des Zusammenwirkens beider. Infolge dieser Unklarheit und aus
allgemeinen stilbildenden Voraussetzungen ist auch die Funktion
1
') So noch neuestens bei Spengler: >Untergang des Abendlandes«, München
1918. Dem gegenüber Schniarsows Präponderanz der Vertikale, vgl. A. Schmarsow,
»Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«. Schärfer noch in: .Raumgestaltung als
Wesen architektonischer Schöpfung«, in dieser Zeitschrift Bd. IX; ferner «Wert der
Dimension im menschlichen Raumgebilde« und seine Ausführungen in dieser
Zeitschrift Bd. XIV, Heft 2 und Bd. XV, Heft 1. Im folgenden wird mehrfach auf
Schmarsow auch ohne nochmalige besondere Zitierung Bezug genommen — aller-
dings nur insoweit, als seine Ergebnisse aus der psychologischen in das Gebiet
der eigentlichen ästhetischen Erkenntnis übernommen werden können. Das gilt
ganz besonders — außer für die Frage der Dimensionalität — für den Begriff der
Zeit, den Schmarsow auf dem Umweg über das «Schreiten« des Betrachters,
mit der bildenden Kunst in Zusammenhang bringt, während wir diese Zeit als
ästhetisch unerheblich betrachten und als ästhetischen Faktor nur die Zeit des
eigentlichen künstlerischen Erlebnisses anerkennen.
Zcitochr. f. Ästhetik u. alle. Kunstwissensciuft. XV. 20
306 PAUL ZUCKER.
der dritten Dimension bei der Wiedergabe der räumlichen und körper-
lichen Realität in der Geschichte der bildenden Kunst keine stetige,
sondern starken Veränderungen und Entwicklungen, die keineswegs
etwa geradlinig im Sinne eines illusionistischen »Fortschrittes« ver-
laufen, unterworfen. Dieser Wechsel ist für das Gebiet der Malerei
bereits oft genug Gegenstand ausführlicher Darlegungen gewesen ^).
Ob es berechtigt ist, aus der Tatsache der rein flächigen zweidimen-
sionalen Wiedergabe beispielsweise in der byzantinischen und mittel-
alterlichen Malerei eine grundsätzlich illusionsfeindliche Absicht des
Künstlers oder des allgemeinen anonymen »Kunstwollens« zu folgern,
kann füglich bezweifelt werden, da in den gleichen unperspektivischen
Gebilden doch wieder unerhört naturalistische Einzelheiten wieder-
gegeben werden ').
Wir wollen hier nun aber den ganzen Kreis dieser für die Ge-
schichte der Malerei so wesentlichen Probleme beiseite lassen und
vielmehr auf eine Erscheinung hinweisen, die unseres Wissens bisher
stets nur beiläufig und auch dann nur aus einer psychologistischen
Einstellung heraus Gegenstand ästhetischer Erwägungen war, nämlich :
Übereinstimmung und Verschiedenartigkeit der Tiefenentwick-
lung im plastischen und architektonischen Kunstwerk.
Die nächstliegende Unterscheidung zwischen plastischen und
architektonischen Gebilden ist natürlich gegeben durch den Hinweis
auf die Nachbildung der Wirklichkeit in der Plastik einerseits,
auf den Zweck in der Architektur anderseits'). Die Unzulänglich-
keit dieser anscheinend so einfachen und naheliegenden Gegenüber-
stellung ergibt sich, wenn man an Bildungen wie Sphinx, Karyatide,
mittelalterliche Gewändefiguren und andere nachahmende Bildungen
') Vgl. hierzu besonders die Hinweise bei A. Riegi: Spätrömische Kunstindustrie,
Wien 1901 und die ganze daran anschließende Literatur. Dann auch O. WulK:
Grundlinien und kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der bildenden Kunst,
Stuttgart 1917. Ferner in gründlicher Mißkennung des Riegischen Standpunktes:
W. Vti'orringer: Altdeutsche Buchillustration 1912, — auch in seiner »Abstraktion und
Einfühlung« recht willküriiche Thesen hierzu. Exakte Forschungen zu dieser Frage
besonders O. L Kern: Anfänge der zentralperspektivischen Konstruktion in der italie-
nischen Malerei. Mitteilungen des kunsthistorischen Instituts zu Florenz, Berlin 1912
und entsprechend O. I. Kern: Orundzüge der linearperspektivischen Darstellung in
der Kunst der Gebrüder van Eyck, Leipzig 1904.
-) Vgl. hierzu besonders M. Dvofäk: Idealismus und Naturalismus in der
gotischen Skulptur und Malerei, München 1918 und die ausgezeichnete Besprechung
Erich Everths hierzu in dieser Zeitschrift Bd. XIV, Heft 4.
*) Gegen die Überbewertung des Zweckbegriffs für das architektonische Kunst-
werk und seine Fixierung als einzigen entscheidenden Faktor, die im Anschluß an
Semper immer noch von den meisten Architektur-Ästhetiken vorgenommen wird,
wendet sich besonders H. Sörgel: Architektur-Ästhetik, München 1918.
I
KONTINUITÄT UND DISKONTINUITÄT. 307
von doch unzweifelhaft architektonischem Charakter erinnert. Die Be-
zeichnung »Architekturplastik«, mit der diese Schöpfungen gewöhn-
lich belegt werden, ist schließlich nichts anderes als ein Verlegen-'
heitsprodukt. Von der Plastik unterschieden durch die mangelnde
Autonomie des Figürlichen, von der Architektur unterschieden
durch eine zum mindesten teilweise Nachbildung der Wirklichkeit,
anderseits aber doch wieder in eine statisch konstruktive Bedingtheit
eingestellt, bedeuten diese Gebilde eben doch anderes und mehr als
kunstgewerbliche Bereicherung oder dekorative Ausschmückung einer
zweckhaften Architektur. Es bringen uns also weder der Begriff der
Zweckhaftigkeif, noch der der illusionistischen Nachahmung
hier in der Erkenntnis weiter. Vielmehr ergeben sich bei der Ver-
folgung dieses Problems ganz andere Ausgangspunkte der Begriffs-
bildung, von denen aus man zu allgemeinen grundlegenden Feststel-
lungen über Unterschiede der dreidimensionalen Gestaltung
in der Architektur und Plastik überhaupt gelangt.
Zunächst muß jedoch noch kurz einer anderen allgemein ver-
breiteten Definition vom architektonischen Kunstwerk widersprochen
werden, nämlich dem Schlagwort von der Architektur als einer »Raum-
kunst«. Der Unterschied in der Dreidimensionalität ist nämlich nicht
etwa dadurch gegeben, daß die Architektur nur räumliche, die Plastik
hingegen nur körperliche Gebilde schüfe! Es genügt als Beispiele
architektonisch-körperlicher Gebilde auf Pyramide, Brücke,
Triumphtor, Turm usw. hinzuweisen'). Also kann auch die Architektur
ebenso wie die Plastik rein körperliche Gebilde schaffen; — natür-
lich nicht umgekehrt die Plastik auch räumliche Werke. Es genügt
daher die Antithese: »körperlich-räumlich« nicht zur Disjunktion der
unterschiedlichen Dreidimensionalität beider Kunstarten, — ebenso
wenig wie die auf den Zweck oder die Realitätsnachbildung hin orien-
tierten Begriffsbestimmungen genügen.
Vielmehr liegt das unterscheidende Moment zwischen Architek-
tur und Plastik in einer Verschiedenheit der Verbindung und Zu-
sammengehörigkeit der einzelnen Tiefenelemente der geformten körper-
lichen Masse, aligemeiner gefaßt: Unterschied im Verhältnis zwischen
Raum und Zeit.
Hierbei bezeichnen wir als Raum selbstverständlich nicht nur
das Objekt künstlerischer Gestaltung, sondern ganz allgemein die
Dreidimensionalität, innerhalb deren Form und Körper existent und
') Vgl. hierüber P. Frankls Besprechung von Sörgels Architektur-Ästhetik im'
Repertorium für Kunstwissenschaft 1919, Heft 1/3 u. P. Zucker: «Architektur-Ästhetikt '
in Archiv für Geschichte und Ästhetik der Architektur 1920.
308 PAUL ZUCKER.
erfaßbar sind, und als Zeit jene Spanne, innerhalb deren das künst-
lerische Erlebnis verläuft. Das künstlerische Erlebnis selbst,
nicht etwa die Apperzeption des Kunstwerkes i)!
Es sei also, um Mißverständnissen vorzubeugen, noch einmal
ausdrücklich bemerkt, daß es sich nicht um eine unmittelbar oder
mittelbar psychologistische Anschauung handelt, und etwa Unter-
schiede im Wahrnehmungsprozeß zur Unterscheidung des Kunst-
werks selbst herangezogen werden sollen. Ganz im Gegenteil: Wir
setzen voraus, daß sowohl ein architektonisch gestalteter
Raum oder Körper wie auch eine Plastik erst in einem Nachein-
ander wahrgenommen werden können, daß erst eine Folge von
Sinneswahrnehmungen uns den Eindruck des gesamten Kunstwerkes
vermittelt. Das ist jedoch für das Erlebnis als Gegenstand ästhetischer
Spekulation unwesentlich. Jenseits des zeitlichen Ablaufes der Apper-
zeption liegt der Unterschied in der Wirkung des an und für sich
sinnesphysiologisch bereits erfaßten Objektes. Daß aber, auch wenn
wir von einer psychologischen Betrachtungsweise durchaus absehen,
immer der Zeit ein mehr subjektiver, dem Raum ein mehr objektiver
Charakter anhaftet, ist selbstverständlich. Für die Verknüpfung beider
als Kategorien eines ästhetischen Tatbestandes ist dies jedoch un-
wesentlich.
Wir behaupten nun, daß eine Architektur künstlerisch wirken
kann nur unter der Voraussetzung des fortlaufenden räumlichen
(nicht körperlichen!) Zusammenhanges der einzelnen Teile, die
sich lückenlos aneinander schließen und in ihrer Gesamtheit jene
bestimmten Maßverhältnisse und Formbildungen ergeben, die die
künstlerische Eigentümlichkeit gerade dieses einzelnen Architektur-
werkes ausmachen. Hierbei werden wir nie auf ein außerhalb
liegendes geführt, alle künstlerisch wesentlichen Momente liegen
schon im gestalteten Gebilde selbst. Es sind für das architekto-
nische Kunstwerk nämlich folgende drei Fälle möglich: Entweder,
wir befinden uns in einem architektonisch gestalteten Innenraum,
dann ist die Kontinuität selbstverständlich und jede Einwirkung
eines gestaltlosen Außen eo ipso ausgeschlossen. Oder der zweite
Fall: Wir befinden uns auf einem Platze, in einer Straßenanlage,
einem architektonisch organisierten Parke usw. In diesem Falle
wirken mit dem architektonisch gestalteten Hauptbauwerk zusammen
andere Körper und Flächen, die aber entweder auch architektonisch
') Im Gegensatz zu unserer Anschauung, außer Schmarsow, Lipps und anderen
besonders auch P. Klopfer: »Das räumliche Sehen«, in dieser Zeitschrift 1918, der
immer wieder für ästhetische Erkenntnisse physiologisch -psychologische Begrün-
dungen bringt.
KONTINUITÄT UND DISKONTINUITÄT. 309
durchgebildet, oder jedenfalls bei der Gestaltung mit berücksichtigt
sind. Selbst dann, wenn nicht alle umgrenzenden Wände tatsächlich
körperlich gegeben sind, sondern ebenso wie der obere Abschluß
durch das Himmelsgewölbe auch einzelne seitliche Abgrenzungen
(Platzwände) nur imaginär sind, so wirkt doch bei dem Zustande-
kommen des künstlerischen Eindruckes kein außerhalb der eigentlichen
architektonischen Gestaltung liegendes Moment mit. Denn auch diese
imaginären Grenzflächen sind vom Willen des Künstlers durch ihre
eigene lineare Abgrenzung fixiert und in den körperlichen Zusammen-
hang der Raumhülle mit einbezogen. Das Ganze, das sich aus einer
Summe geformter Körper und modellierter Flächen (Platzwände) zu-
sammensetzt, ist das vollkommen durchgestaltete architektonische Ge-
bilde, wirkt als ein architektonisch disziplinierter Raum. Wir können
also auch hier nicht von der Einwirkung eines gestaltlosen »Außen«
sprechen. Es herrscht auch hier die Kontinuität. Oder endlich der
dritte mögliche Fall: Ein einzelner architektonisch geformter Körper
(Pyramide, Turm) steht in einer nicht architektonisch gestalteten,
amorphen Umgebung. Dann ist auch das künstlerische Erlebnis auf
ihn allein beschränkt und wird durch das ästhetisch gleichgültige
Außen überhaupt nicht beeinflußt ').
Aus diesem, in allen drei Fällen festgestellten fortlaufenden räum-
lichen Zusammenhang folgt aber auch, daß die künstlerische Wir-
kung, das eigentliche Erlebnis, des schon voll apperzipierten
Kunstwerkes in einer kontinuierlich fortlaufenden Zeitspanne
erfolgt, einer »ästhetisch virulenten« Zeit, in welcher der Betrachter
stets und durchaus nur von ästhetischen im Sinne und durch den
Willen des Künstlers geformten Objekten in Anspruch genommen
wird. Es ergibt also die räumliche Kontinuität, die den Betrachlenden
umschließt, oder die körperliche Kontinuität, vor der er im Falle der
Pyramide, Brücke usw. steht, zugleich auch eine zeitliche Kontinuität
der künstlerischen Wirkung — es kommt gleichsam nichts Architek-
tonisch-Ungeformtes an den Betrachter heran.
Diese raumzeitliche Kontinuität des ästhetisch wirksamen Tat-
bestandes bleibt bestehen unabhängig von der Verschiedenheit der
') Bei der eingebauten Kathedrale des Mittelalters, dem freiliegenden Zentral-
bau der Renaissance und anderen Bauten, die von außen, also körperlich wahrge-
nommen werden, spricht selbstverständlich die »Umgebung« auch mit. Doch unter-
steht eben diese Umgebung dem Willen des Künstlers, ist von ihm geformt, oder
wenn schon vorhanden gewesen, mindestens berücksichtigt, gehört also mit zum
architektonischen Kunstwerk selbst, ist ein Teil dieses und kein ungestaltetes frem-
des Außen. Vgl. hierzu A. E. Brinkmann: Platz und Monument, Berlin 1908 und
A. E. Brinkmann: Deutsche Stadtbaukunst der Vergangenheit, Frankfurt 1911.
,310 : PAUL ZUCKER.
realen Funktion des Bauwerkes und auch unabhängig vom Stil. Sie
gilt in gleicher Weise für den Zentralbau, für die Jochfolge der mittel-
alterlichen Kirche, wie für einen barocken Schloßbau oder die moderne
Eisenkonstruktion einer Bahnhofshalle, ja selbst für den architektonisch
gestalteten Park und Garten des 18. Jahrhunderts, sie ist unab-
hängig von jeder Einzelform.
'I-
Wenn das architektonische Kunstwerk kontinuierlich in sich be-
schlossen in seiner Wirkung durch nichts im architektonischen Sinn
Ungeformtes, durch kein Außen bestimmt wird, so bedarf im Gegen-
satz dazu jede Plastik zur künstlerischen Wirkung der Einbeziehung
irgend eines »Außen«, der steten Abirrung vom Gestalteten ins
Amorphe und der Zurückführung vom Amorphen wieder zum Ge-
stalteten hin. Wir müssen hier im Gegensatz zur Architektur von einer
notwendigen Diskontinuität sprechen. Beim Diskuswerfer oder
der Laokoongruppe ist der umgebende amorphe Raum ebenso not-
wendig zur ästhetischen Wirkung wie die geformte Masse selbst.
Mit anderen Worten: Die Plastik ist deswegen ihrem Wesen nach
diskontinuierlich, weil sie vom gestalteten Material aus stets
irrgendwie nach Außen weist, und sich stets auf ein gleichsam zu-
fälliges amorphes umgebendes Element bezieht. Wir befinden ■ uns
der Plastik gegenüber also stets in einer — bildhaft ausgedrückt —
^zeitlich diffusen« Situation. — Haben wir erst einmal die Plastik als
Ganzes apperzipiert, und sehen wir selbstverständlich von diesem
Apperzeptionsakt — als einem Objekte lediglich psychologischen Inter-
esses außerhalb der Sphäre ästhetischer Bedeutung liegend — ab, so
werden wir auch innerhalb des eigentlichen künstlerischen Erlebnisses
von der Plastik immer wieder nach Außen gewiesen: Das Auge des
Dargestellten blickt in die Ferne, die Hand holt zum Wurf nach einem
in der Ferne liegenden Ziel aus, die Figur schreitet selbst einem Außen-
stehenden entgegen usw., kurz das dargestellte Objekt bedarf der Er-
gänzung von außerhalb her. Diese Ergänzung selbst ist künstlerisch
nicht geformt, d.h. im ästhetischen Sinne amorph. Das eigentliche
Erlebnis der vom Willen des Künstlers gestalteten Form wird also
zwangsmäßig auch zeitlich immer wieder unterbrochen durch den
Hinweis, das Suchen und die notwendige Vorstellung des zu er-
gänzenden, das uns dann wieder auf die vorhandene und gestaltete
körperliche Form, die Plastik selbst, zurückführt. So wird die »ästhe-
iisch virulente« Zeit, innerhalb deren ein wirklich Gestaltetes unserem
künstlerischen Erlebnis zugrunde liegt, immer wieder unterbrochen,
ist diskontinuierlich.
KONTINUITÄT UND DISKONTINUITÄT. :311
Man könnte hier einen naheliegenden Einwand erheben: Auch in
der Malerei, etwa bei einem Rembrandt ^) fänden wir nicht den ge-
samten Inhalt der künstlerischen Vorstellung klar dargestellt und fixiert,
auch dort müßten wir viel ergänzen usw. Also wäre unsere Defi-
nition nicht auf die Plastik allein beschränkt und darum kein ästhe-
tisch bestimmender Begriff. Dieser Einwand übersähe aber das
wichtigste: Daß nämlich das im Gemälde nicht dargestellte, nicht
erkennbare doch lokal festgelegt, und so unserer Vorstellungskraft
eindeutig und formal begrenzt der Weg gewiesen wird. Im Ge-
mälde ist der Gegensatz nicht wie in der Plastik: Künstlerisch ge-
formter — amorpher ästhetisch indifferenter Raum, sondern: Darge-
stellt—Nicht-mehr-dargestellt, aber doch im Sinne des schon
Gegebenen weiter zu ergänzen. So bleibt dem Betrachter des Ge-
mäldes auch jener zeitliche Dualismus erspart: Er schaut, vertieft
sich in das Bild, erkennt und arbeitet in der Vorstellung weiter,
wo er nichts Erkennbares mehr wahrnimmt. Er braucht aber nicht
mehr in die Realität »zurück«, die Zelt des künstlerischen Erleb-
nisses ist eben ganz kontinuierlich im Gegensatz zum Erlebnis einer
Plastik 2).
Selbstverständlich sind die verschiedenen stilistischen Entwick-
lungsepochen gegeneinander unterschieden in der Intensität der
Beziehung des Plastischen zum umgebenden oder besser gesagt zum
»ergänzenden« Räume und gerade diese Unterschiedlichkeit ist sympto-
matisch bezeichnend für den Stilcharakter. Die geschlossene Masse
einer ägyptischen Königsstatue dürfte das geringste Maß dieser Be-
ziehung aufweisen (der nicht fixierende Blick der Augen, die ge^
schlossene ballende Bewegung der Hände, rechtwinklige wandartige
Umschließung eines Raumkubus), ein Höchstmaß dagegen zeigt etwa
eine reich bewegte barocke Gruppenkomposition. In dieser sprechen
gleichsam die »Löcher» stärker mit, als der dichte und schwere Stein
selbst, das ästhetisch wirksame Moment besteht in einer Reihe von
räumlichen Wechselbeziehungen, für welche die geformten Extremi-
täten und gebogenen Körper nur die notwendigsten Stützpunkte und
Fixierungen geben, — Fixierungen, die uns gleichsam in einer gewissen
') Dieser Einwand bliebe übrigens wohl im wesentlichen auf die Malerei des
Barock und den Impressionismus beschränkt. Besondere Hinweise in dieser Richtung
bei R. Hamann: Rembrandts Radierungen, Berlin 1906, der ähnlich formuliert. Von
anderer Betrachtungsweise her kommt auch O. Simmel: Rembrandt, Leipzig 1916,
7u ähnlichen Feststellungen.
') Das dürfte auch letzten Endes der Grund dafür sein, daß die Kunstwerke
<ler Plastik nur zu einer verhältnismäßig so geringen Zahl von Menschen sprechen,
jiedenfalls einer viel geringeren, als die der Malerei und auch der Architektur.
312 PAUL ZUCKER.
energetischen Spannung durch den ungestalteten Raum ins Unend-
h'che, nach »Außen« führen.
III.
Mit der Formulierung dieser Diskontinuität der Plastik ist gleich-
zeitig auch eine Art kategorialen Maßstabes für eine große Anzahl
plastischer Probleme gegeben. So klärt sich beispielsweise das Pro-
blem der Gruppenbildung aus freistehenden Einzelfiguren. Der
amorphe Raum zwischen diesen einzelnen Figuren wird künstlerisch
wirksam nur in dem Falle, daß die Diskontinuität nicht zur end-
gültigen Unterbrechung der ästhetischen Wirkung der einzelnen Ele-
mente führt. Mit anderen Worten: So lange der amorphe Raum ein-
geschaltet bleibt in ein System formaler Beziehungen, die wieder zur
körperlich gestaheten Bildung zurückführen. Deswegen sind die
»Bürger von Calais« (Rodin) eine künstlerisch mögliche Lösung des
Problems der freien Gruppe, dagegen die meisten Rekonstruktions-
versuche der Niobiden eine in ihrer Totalität ästhetisch unwirksame
Zusammenstellung von an und für sich ästhetisch wirksamen Einzel-
figuren.
Diesem Problem der plastischen Oruppenbildung verwandt ist
eine Frage der Nachbildung eines anorganischen Gegenstandes
in der Plastik, z. B. einer Waffe, einer Brille bei der Porträtbüste, eines
Netzes oder Musikinstrumentes. Die Lösung dieser Frage ist iden-
tisch mit der Begründung, warum das Stoffgebiet der Plastik auf die
menschliche oder tierische Figur allein beschränkt ist und erklärt
gleichzeitig die Unmöglichkeit, Landschaft und Stilleben zum Objekte
plastischer Gestaltung zu machen. Jeder wird sich aus seiner künstle-
rischen Erfahrung des unangenehmen Eindruckes erinnern, den diese
in das plastische Kunstwerk verflochtenen »Beigaben« oft, aber nicht
immer machen. Wo ist hier die Grenze des künstlerisch Zulässigen?
Wirkt doch selbst ein steif abstehendes Gewand, das mit der orga-
nischen Körperbildung nichts zu tun hat, nie in diesem unangenehmen
Sinne anorganisch. Die panoptikumhafte Wirkung, die allzu auf-
dringliche, scheinbar »unübersefzte« Realität einer Nachbildung ver-
spüren wir nun überall dort, wo die körperliche Erfüllung des Raumes
durch eine Form derart geschieht, daß diese selbständig als Nach-
ahmung des darzustellenden Gegenstandes gegeben wirkt, nicht aber
im Zusammenhang mit der Plastik, den gleichen gesetzlichen Be-
ziehungen und Bindungen untergeordnet, die den dargestellten Körper
eben von einer Panoptikumsfigur unterscheiden. Oder, um von den
oben präzisierten Begriffen auszugehen: Das Drahtgestell einer solchen
Brille durchbricht die jeder Plastik immanente Diskontinuität raumzeit-
KONTINUITÄT UND DISKONTINUITÄT. 313
iicher Erscheinungsform. Das künstlerische Erlebnis der Plastik, dessen
Eigenart eben jenes oben definierte »Oszillieren i zwischen der Be-
trachtung des sinnlich erfaßbaren Körperlichen und der subjektiven
Ergänzung, oder besser Einspannung und Fixierung dessen im
amorphen Räumlichen ist, — wird insofern gehemmt, als in diese
Wechselbeziehung plötzlich die rohe unmittelbare Realität eingeschaltet
wird. Diese schon gegebene Form, die eben nicht plastisch über-
setzt und gebildet, sondern nur aus der Realität ohne weiteres
übernommen ist, gibt aber nicht wie der plastisch durchgeformte
Körper selbst die Möglichkeit, subjektive Ergänzungen — im plasti-
schen Sinne — vorzunehmen, weil diese Form gar nicht in dem künstle-
risch durch diese Plastik disziplinierbaren Raum steht, sondern gleich-
sam in einer anderen (ästhetisch indifferenten) Dimensionalität. So
wird durch diesen »Fremdkörper« die Einheit des plastischen Raumes
zerstört, und — so paradox diese Formulierung auch klingen mag —
die »Diskontinuität« in ihrem besonderen räumlichen und zeitlichen
Rhythmus »unterbrochen«. Die Unmöglichkeit über diesen »Fremd-
körpercharakter« hinwegzukommen erklärt nun auch den Widersinn
des plastischen Stillebens oder der plastischen Landschaft. Auch hier
werden wir, wie bei den »Beigaben« zum Figürlichen immer aus den
oben angeführten Gründen den Eindruck einer nur verkleinerten
Realität haben, die in einer durchaus realen, zur Umwelt konti-
nuierlichen Dimensionalität steht.
Selbstverständlich spricht auch die Wahl des Materials bei dieser
Frage mit. Hierfür ist die Erklärung natürlich nicht in dem rationa-
listischen Semperschen Begriff von der »Materialgerechtheit« zu suchen,
sondern ergibt sich ohne weiteres ebenfalls aus der vorhandenen oder
fehlenden Kontinuität des gebildeten Körperlichen. Eine Kontinuität
des dargestellten Körperlichen ist vorhanden, falls im gleichen Material,
nämlich dem der nachgebildeten menschlichen Figur weitergedacht
wird, sie wird unterbrochen — wenigstens in den meisten Fällen —
falls ein anderes Material verwandt wird. Es wird dann nämlich die
reale Form nicht nur nicht in das Material der figürlichen Plastik
selbst übersetzt, sondern fast automatisch von einer Übersetzung
ganz abgesehen, und einfach die maßstäblich verkleinerte Realität an
deren Stelle gesetzt. Am erträglichsten ist noch die Verbindung einer
bronzenen Figur mit einem derartigen Ergänzungskörper, da immerhin
eine Übersetzung einer Brille, einer Waffe, eines Netzes, einer Frucht
in Bronze denkbar ist. Besonders für das Netz kennen wir Beispiele
echter plastischer Durchformung und darum erreichter plastischer Ein-
heitlichkeit (Fischer von Brütt). In diesem Falle sind aber die ein-
zelnen Maschen des Netzes nicht als Löcher behandelt, sondern
,314 PAUL ZUCKER.
das ganze Netz im Sinn eines zusammenhängenden leichten Tuches,
aus dem dann die einzelnen Netzfäden reliefartig hervorstehen. Das
ganze Netz wird als einheitliche Masse gerafft, gezogen, und steht in
unmittelbarem Zusammenhang mit der menschlichen Figur. In jenen
Fällen aber, in denen das Netz aus starrem Draht nachgebildet ist,
der seine eigenen Spannungen hat, ist die plastische Einheit selbst-
verständlich wieder zerstört. Bei Marmor- und Steinplastiken über-
haupt geschieht eine Übersetzung des Realgegenstandes in das Material
sehr selten. Wo dies der Fall ist, wie z. B. bei den Instrumenten
musizierender Engel der Renaissance i), der Keule des Herkules im
römischen Barock usw., wird dem Charakter des Steins entsprechend
jede Einzelheit unterdrückt und das ganze Instrument nur sehr unge-
fähr konturiert. Im Gegensatz zu dieser wirklich plastischen
Lösung wird sehr oft mit der Steinfigur ein metallenes Instrument ver-
bunden — und damit wieder die erforderliche Kontinuität des Körper-
lichen zerstört. (Zahlreiche Beispiele übelster Entartung in moderner
italienischer Orabmalplastik.)
Auch die eigenartige Beziehung des Reliefs zur Rundplastik,
eine Beziehung, zu der sich in keiner Kunstgattung außerhalb der Plastik
eine Analogie findet, — erfährt durch die Aufstellung unserer Grund-
begriffe der Plastik eine gewisse Klärung. Die Anschauungen Hilde-
brands legen diese Beziehungen doch wohl etwas willkürlich fest.
Denkt man nämlich seine Theoreme in den von uns aufgestellten Be-
griffen nach, so stellen sie sich ganz einfach dar als der Versuch, das
Problem der Plastik dadurch zu vereinfachen, daß dem rund-
plastischen Kunstwerk ganz allgemein durch die Festlegung und Ein-
grenzung in seine beiden Idealebenen eine Kontinuität unterschoben
wird, die es zum körperlich-architektonischen stereotomen Gebilde
machte, — wenn sich die Aufstellung dieser Ebenen bei einer wirk-
lichen Rundplastik eben überhaupt irgendwie durchführen ließe-). Auch
für das Relief selbst gewinnen wir aus der Aufstellung dieser ideellen
vorderen und hinteren Schichtbegrenzung keine künstlerisch fruchtbaren
') Ähnliche Gedankengänge bei W. Vöge: Raphael und Donatelio, Straßburg
18Q6 und auch gelegentlich in der sonstigen Donatello-Literatur.
-) Vgl. hierüber auch Leopold Ziegler: Florentinische Introduktion, Leipzig
1912. In beschränktem Maße zutreffend bleiben die Ansichten Hildebrands (vgl.
H. Cornelius: Elementargesetze der bildenden Kunst, Leipzig 1908) lediglich für einen
engen Ausschnitt des plastischen Schaffens, der durch die Antike des 4. und 5. Jahr-
hunderts und durch die klassizistische Epoche begrenzt wird, jene Zeit, in der die
Freiplastik zusammenfiel mit einem im wesentlichen auf Silhouettenwirkung hin ge-
arbeiteten, vom Hintergrund gelösten Relief. Aber auch hier bleiben trotz mancher
»richtiger« Einzelergebnisse die Einwendungen gegen eine zu stark psychologistisch
gefärbte Betrachtungsweise bestehen.
KONTINUITÄT UND DISKONTINUITÄT. 315
Erkenntnisse. Denn die Definitionen Hildebrands und Cornelius' gehen
lediglich vom Vorgang des Sehens als solchem aus, und diese Über-
schätzung der rein physio-psychologischen Apperzeption läßt das eigent-
liche künstlerische Erlebnis durchaus zurücktreten. Alle seine
Unterscheidungen zwischen »Fernbild« und »Nahbild«, zwischen »Da-
seinsform« und »Wirkungsform« usw. resultieren aus einer rein natur-
wissenschaftlichen Begriffsbildung*) und sind für die ästhetische Er-
kenntnis letzten Endes unfruchtbar.
Vergleichen wir nämlich ganz allgemein und unbefangen das Relief
mit einer Vollplastik, so müssen wir zunächst selbstverständlich fest-
stellen, daß die Beziehung zwischen Freiraum und Körper eine andere,
prinzipiell verschiedene ist-). Die »Diskontinuität« ist keine vollkommene
und stetige, vielmehr sind die einzelnen plastisch geformten Massen mit-
einander, statt durch Freiraum getrennt, teilweise ebenfalls durch Masse
verbunden. Diese Masse, die Hintergrundstafel, ist aber an und für
sich selbst nicht plastisch durchgeformt, sondern amorph. Sie erfüllt
z. T. die Funktionen, die bei der Rundplastik der ebenfalls amorphe
Freiraum zu erfüllen hatte, sie übernimmt die Verbindung und Er-
gänzung der einzelnen formal artikulierten Glieder. Die Beziehung
des Plastischen zu einem »Außen« wird also durch den Hintergrund
wenigstens in einer Richtung beschränkt, betrifft nicht mehr den ganzen
Raum, sondern nur die Erstreckung nach vorn, zum Beschauer hin.
Anderseits ist die Rückfläche aber wieder nicht, wie in der Archi-
tektur, Raumabgrenzung, sondern der Raum wird gerade über sie
hinaus und durch sie nach hinten verlängert gedacht, so daß wir,
immer wieder im Gegensatz zur Architektur, keine durch die Materie
gegebene Raumscheidung erhalten. So nimmt das Relief keineswegs,
wie vielfach behauptet wird, eine Zwischenstellung zwischen Architektur
und Plastik ein. Es ist von der Architektur grundsätzlich unterschieden
durch eine absolut verschiedene Funktion der Masse zum
Raum. Es bleibt vielmehr mit der Rundplastik verbunden nicht nur
durch die imitative Absicht, sondern vor allem durch die Diskonti-
nuität zwischen Figürlichem und vorderem Freiraum. Dagegen
steht die Unendlichkeit des hinteren Raumes, der nicht frei, sondern
I
') Vgl. H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung,
Tübingen 1913.
*) Vgl. auch A. Schmarsow : Plastik, Malerei und Relief kunst, Beiträge zur
Ästhetik der bildenden Künste, Leipzig 1899. Übereinstimmung und Abweichungen
unserer Anschauungen (letzteres namentlich über die Beziehung des echten nicht
ghibertesken Reliefs zur Malerei — keine >Sehgemeinschaft auf tastbarer Grund-
lage«, die wir vollkommen negieren — ) ergeben sich auch ohne nähere Ausfüh-
rungen von selbst aus dem folgenden.
3J6 PAUL ZUCKER.
von amorpher Masse erfüllt ist. Aus ihr müssen wir ja erst gleichsam
die darin steckenden Figuren oder Figurenteile herauslösen ').
Diese Anschauungsweise erweist sich zur Erklärung einiger histo-
rischer Stilphänomene als äußerst fruchtbar. Zunächst ist danach das
ägyptische Relief überhaupt aus dem Gebiet der Plastik auszu-
scheiden und lediglich als eine durch leichte Schatten modellierte
Zeichnung oder als ornamentale Dekoration der Fläche, als Element
architektonischer Gestaltung aufzufassen. — Eine Anschauung, die dem
Wesen der ägyptischen Kunst im allgemeinen vollkommen entspricht —
und vor allem das Fehlen jeglicher Übergangserscheinung zwischen der
so überaus räumlich empfundenen Sakralplastik und dem ganz flachen
geritzten oder gar versenkten Relief erklärt. — Ferner können wir nun
ein anderes immer wiederkehrendes Stilphänomen verstehen: Die Er-
scheinung, daß der Übergang aus klassischer in barocke Periode sich
im Relief nicht nur, was selbstverständlich ist, in einer allgemeinen
Auflockerung der Form und Auflösung der Geschlossenheit der vorderen
»Grenzfläche« äußert, sondern daß dieser Entwicklung eine immer
stärkere Herauslösung der Figur aus der Hintergrundsplatte bis zum
'/s Relief parallel läuft. Die Veränderung des Raumgefühls im Barock*)
äußert sich also einmal in der Auflockerung der geschlossenen Körper-
form, die in der Freiplastik mit allen denkbaren Mitteln vom Körper
weg ins Unendliche, Grenzenlose nach allen Richtungen des Raumes
hinweist (Entwicklung vom »Kauernden« Michelangelos bis zur Pla-
stik Berninis) und in gleicher Art auch auf das Figürliche des Reliefs
übertragen wird. Darüber hinaus aber wird auch das Verhältnis zwischen
freiem und gebundenem Körper in bezug auf die Hintergrundstafel
verschoben: Der »hintere immanente Raum« soll möglichst »greifbar«
in Erscheinung treten, aus der potentiellen Dreidimensionalität wird
eine illusionistisch wiedergegebene, der Charakter der Hintergrunds-
masse als solcher wird möglichst negiert, die Tafel wird zum wirk-
lichen »Hintergrund«, der Zusammenhang mit der eigentlichen imitativen
Körperlichkeit möglichst aufgelöst. Typisch dafür die starke Verwer-
tung der Überschneidung^) in barocken Reliefs. Diese Erscheinung
bleibt nicht auf den renaissancistischen Barock beschränkt, sondern
') Es wäre Spitzfindigkeit, diesen »hinteren ausgefüllten« Raum nun noch
unterteilen zu wollen, in einen potentiell figurerfüllten und einen potentiell
amorphen.
=) Vgl. A. E. Brinkmann: Barockskulptur, Berlin 1917.
ä) Vorahnungen dieser Entwicklung wie viele andere barocke Elemente bereits
in Donatellos Vorliebe für Überschneidungen im Relief bemerkbar. Vgl. hierzu
auch P. Zucker: Raumdarstellung und Bildarchitektur bei Donatello, Monatshefte
für Kunstwissenschaft 1913.
KONTINUITÄT UND DISKONTINUITÄT. 317
zeigt sich natürlich auch entsprechend in der Antike. (Vergleich des
Pergamonaltars und des Parthenongiebels.)
Wie bei den Problemen des Reliefs, der plastischen Gruppe, der
Feststellung der Grenzen realistischer Wirkungsmöglichkeit usw. die
Begriffe der raumzeitlichen Kontinuität und Diskontinuität zu bestimmten
und klar überschaubaren Ergebnissen führen, so auch angewandt auf
historische Entwicklungsprobleme. Aus der Geschichte der Plastik
wurden oben einige Beispiele solcher historischer Klarlegungen als
Stichproben herangezogen — Parallelen für die Geschichte der Architektur
aufzustellen ist ein leichtes'). Doch ist hier nicht der Ort zu ausführ-
lichen historischen Darlegungen. Uns kam es vor allem darauf an,
diese disjunktiven Begriffe klar herauszuarbeiten und inbesondere zu
betonen, daß die Einbeziehung des Zeitlichen kein Apperzeptions-
Psychologismus ist, sondern sich lediglich auf das ästhetische Er-
lebnis als solches bezieht, — und daß gerade die Berücksichtigung des
Zeitmomentes in der bildenden Kunst, also die Verknüpfung eines
subjektivierenden Faktors mit der objektiven Raum-Körper-Kategorie
neue und wesentliche Aufschlüsse sowohl in ästhetischer wie auch
besonders in stilkritischer Hinsicht geben kann.
•) Z. B. ist stilkritisch für das 18. Jahrhundert, den Ausgang des Barock, ty-
pisch die Auflösung der Kontinuität in der Architektur in der »künstlichen
Ruine«, der einzigen uns bekannten Form eines diskontinuierlichen stereotomen
Gebildes, das vielleicht auch schon nicht mehr ganz der Architektur zuzurechnen Ist.
Von ganz anderen Gesichtspunkten ausgehend kommt auch G. Simmel: »Die Ruine<
in »Philosophische Kultur«, Leipzig 1913, auf die interessante Zwischenstellung der
Ruine in zeitlicher Hinsicht, die sich für ihn als zwischen Kunstwerk und Natur
stehend darstellt.
Bemerkungen.
Ziele und Wege der Literaturwissenschaft.
Von
Heinrich Meyer-Benfey.
Literaturwissenschaft — schon der Name birgt ein Programm. Denn
die gewöhnliche Bezeichnung des Faches im Kreise der akademischen Wissenschaften
heißt: Literaturgeschichte. Aber von der Wissenschaft, die hier umrissen wer-
den soll, ist die Literaturgeschichte nur ein Teil, und nicht einmal der erste, der
Zeit wie dem Range nach.
Man pflegt das Gesamtgebiet der Geisteswissenschaften, von den philosophischen
Disziplinen abgesehen, in Philologie und Geschichte zu zerlegen. Aber auch
die Philologie hat sich mehr und mehr zu^|geschichtlicher Betrachtungsweise ent-
wickelt: Geschichte der Sprache, Geschichte der Literatur, Geschichte der Kunst,
Geschichte der nationalen Kultur überhaupt. Auf der anderen Seite hat die Ge-
schichte über ihr ursprüngliches und eigenstes Gebiet, die Darstellung des staat-
lichen Lebens und der friedlichen und kriegerischen Beziehungen zwischen den
Völkern, hinausgegriffen und in der kulturgeschichtlichen Richtung die Gesamtheit
des geistigen Lebens, Literatur und Kunst eingeschlossen, in ihren Kreis gezogen.
So ist die Grenze zwischen beiden fließend geworden, weder im Gegenstande noch
in der Behandlungsart ist ein durchgreifender Unterschied, und man könnte fragen,
ob jene alte Einteilung überhaupt noch Sinn und Recht hat. Ist nicht alle Geistes-'
Wissenschaft im Grunde Geschichtswissenschaft? — Ohne Zweifel enthält diese
Auffassung einen richtigen und wichtigen Kern. Aber sie ist doch nur eine halbe
Wahrheit. Denn sie übersieht den durchaus grundsätzlichen Unterschied, der in
der Tat zwischen der Erforschung des politischen Lebens und der Betrachtung der
Literatur und Kunst besteht. Auf politischem, wie überhaupt auf praktischem Ge-
biete ist die einzelne Tat nur innerhalb der geschichtlichen Zusammenhänge ver-
ständlich. Eine Staatsgründung, ein Sieg, ein Gesetzgebungsakt, die Gründung einer
Gesellschaft oder eines Unternehmens, eine Erfindung, alles das ist nichts an sich
und erhält seinen Sinn erst, wenn wir es in Beziehung zu Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft setzen. Die Betrachtung dessen, was vorausliegt, ergibt die zu
lösende Aufgabe, die der gleichzeitigen Situation die Bedingungen, Möglichkeiten
und Schwierigkeiten der Durchführung, die der Nachwirkung und der Folgezeit über-
haupt gibt der Leistung ihre Bedeutung. Hier ist die geschichtliche Betrachtungs-
weise durchaus die wesentliche und primäre. Ganz anders bei den Werken der
Literatur und der Kunst. Gewiß fallen auch sie unter den geschichtlichen
Gesichtspunkt, aber dieser kommt erst in zweiter Linie. Denn die Gebilde der
Kunst haben das besondere Vorrecht, daß sie unmittelbar zu uns sprechen und uns
ihren Sinn erschließen; eine Sprache von Seele zu Seele, die keiner Vermittlung
durch ein Wissen oder Denken bedarf. In der reinen Anschauung wird uns ein
seelischer Gehalt mitgeteilt — das ist die grundlegende Tatsache in allem ästheti-
BEMERKUNGEN: 319
sehen Erleben. Wir treten vor ein Bild hin und schauen es an; wir brauchen nichts
zu wissen, wir vergessen alles, was wir sonst wissen, und sammeln unsere ganze
Seele im Auge, bis das Bild in uns lebendig und aus unserer Seele wiedergeboren
wird. Und ebenso brauchen wir uns nur willig mit reinem und bereitem Sinn dem
Eindruck einer Dichtung hinzugeben, damit wir alles, was der Dichter aus seiner
Seele hineingelegt hat und was ihren Wert als Dichtung ausmacht, nacherlebend
uns zu eigen machen und mit dem Gefühl verstehen. Diese Selbstgenügsamkeit,
dies Insichruhen und Insichbeschlossensein ist das auszeichnende Merkmal der
ästhetischen Welt. »Das Schöne aber, selig ist es in sich selbst.« Damit ist auch
die Aufgabe der Wissenschaft bestimmt. Will sie das Wesen eines Kunstwerkes,
einer Dichtung erfassen, so muB sie sich zunächst ihm ganz hingeben, ganz im An-
schauen und fühlenden Erleben aufgehen, sie muß es für sich nehmen, als die
einzelne, in sich vollendete Erscheinung, die es ist, außerhalb aller Zusammenhänge
und geschichtlichen Bedingtheiten, die bei ihm stets das Unwesentliche und Sekun-
däre sind. Kunstwissenschaft ist zuerst und vor allem Wissenschaft vom
einzelnen Kunstwerk, und diese muß das Wesentliche aus dem einzelnen Kunstwerk
selbst entnehmen. Und diese grundlegende und wichtigste Aufgabe, das wissen-
schaftliche Verständnis der einzelnen Kunstwerke, der einzelnen Dichtungen aus
ihnen selbst muß im Prinzip gelöst sein, ehe sich übergreifende und zusammen-
fassende Betrachtungsweisen, ehe sich Kunst- oder Literaturgeschichte darauf auf-
bauen können.
Was hier aus dem Begriff des Kunstwerkes abgeleitet ist, wird durch die all-
gemeine Erfahrung bestätigt. Uns sind Dichtungen aus ferner Vorzeit überliefert,
bei denen uns alle geschichtlichen Umstände unbekannt sind. Ich erinnere z. B. an
jene altindischen Dichtungen, die uns als Bestandteile des Riesenepos Mahabharata
erhalten sind: das Lied von Nala und Damajanti, von Savitri und andere. Keine
Überlieferung sagt uns, in welchem Jahrhundert, in welcher Landschaft sie ent-
standen sind und wer ihr Dichter war, und schwerlich wird die Forschung jemals
Genaueres darüber ermitteln, aber unser Genießen und Verstehen leidet darunter
nicht im mindesten. Ähnlich voraussetzungslos wie jenen alten Dichtungen stehen
wir wiederum den ganz neuen, eben erst ans Licht tretenden gegenüber; auch da
haben wir in der Regel nur den bloßen Text, und der genügt uns zum Verständnis
der Dichtung. Daraus ist klar, daß jenes reiche Gewebe von historisch-philologischen
Untersuchungen, Entstehungsgeschichte, Quellenuntersuchungen, biographische Be-
ziehungen usw., das sich in anderen Regionen der Literaturgeschichte um die einzel-
nen Dichtungen legt, so interessant und aufschlußreich es sein mag, doch nur um-
rahmendes Beiwerk ist. Die wesentliche Aufgabe des Kunstverständnisses ist davon
unabhängig und ist bei einem altindischen Epos und einem modernen Roman, bei
einem Drama von Sophokles, von Goethe oder Gerhart Hauptmann genau die gleiche.
Angesichts einer so verstandenen Literaturwissenschaft erhebt sich nun eine
doppelte Frage. Wir fragen einmal: ist eine solche Wissenschaft überhaupt nötig?
Wenn uns ein Kunstwerk in der reinen Anschauung und unbefangenen Aufnahme
seinen Sinn erschließt, wenn wir unmittelbar mit dem Gefühl sein Wesen erfassen,
ohne die Vermittlung des Wissens oder Denkens, wozu brauchen wir dann noch
Wissenschaft? Was kann die Wissenschaft uns geben, das wir nicht schon im un-
mittelbaren Nacherleben hätten? Die Antwort darauf gibt eine Antinomie, die allem
ästhetischen Erleben immanent und wesentlich ist. Richter im Reiche des Schönen
ist der Geschmack. Nun aber hat nach dem bekannten Sprichwort jeder seinen
Geschmack, und niemand läßt sich davon abbringen. Andererseits jedoch macht
das ästhetische Urteil den Anspruch, mehr als eine rein private Aussage zu sein.
320 BEMERKUNGEN.
Schon die objektive Form des Urteils drückt dies aus. Wenn ich etwas für schön
erkläre, so meine ich damit, daß es nicht nur für mich, sondern für alle schön ist;
ich erhebe den Anspruch, daß es allen gefallen soll, und keine Erfahrung des
Gegenteils kann diesen Anspruch widerlegen, wenn ich meines Gefühls sicher bin.
Und doch bin ich außerstande, ihn mit Gründen durchzufechten, denn das ästhetische
Urteil ruht nicht auf Gründen, und über Geschmacksfragen läßt sich bekanntlich
nicht streiten. Wie ist dieser Widerstreit aufzulösen? Das hat uns Kant gelehrt.
Das ästhetische Urteil überhaupt ist nur möglich unter der Voraussetzung eines
Gemeinsinnes. Es ist seinem Wesen nach subjektiv, denn es fließt aus dem Gefühl,
nicht aus Erkenntnis. Aber in ihm spricht nicht die Stimme des zufälligen, einzelnen
Subjekts, sondern sozusagen die Subjektivität der Menschheit, ein Gefühl, das zum
Wesen des Menschen gehört und wenigstens als Anlage und Möglichkeit in jedem
Menschen vorausgesetzt werden muß. Freilich ertönt diese Stimme im Einzelnen
nur gebrochen, beschränkt und getrübt durch die Schranken und Schlacken seiner
Individualität. Darum sind die ästhetischen Urteile der Menschen über denselben
Gegenstand so unendlich verschieden, darum ist jedes einzelne nur bedingt gültig
und kann nur aus dem Zusammenklang aller Stimmen die Wahrheit als Grund-
akkord sich ergeben, nicht durch Mehrheitsentscheide, sondern indem die richtige
Empfindung durch ihre innere Sieghaftigkeit und Überzeugungskraft immer mehr
Seelen überwindet. Auch hier dient uns die Erfahrung zur Bestätigung dessen,
was wir aus prinzipiellen Gründen fordern. Denn immer und überall sehen wir aus
anfänglicher Meinungsverschiedenheit sich allmählich eine gewisse Übereinstimmung,
einen consensus gentium bilden. Wenn ein Kunstwerk neu vor die Welt tritt, er-
fährt es gewöhnlich die denkbar verschiedenste Beurteilung; ist es erst hundert
Jahre alt, so hat sich in den meisten Fällen der Streit beruhigt und ein allgemein
anerkanntes Urteil festgestellt. Freilich ist diese Übereinstimmung immer nur relativ
und nie endgültig; sie kann stets von neuem in Frage gestellt und umgestoßen
werden. Anderthalb Jahrtausende haben in Vergil den größten epischen Dichter
gesehen und Homer hinter ihn zurücktreten lassen, bis sich das Verhältnis umge-
kehrt hat. Oder denken wir an den Umschwung in der Schätzung Shakespeares im
18. Jahrhundert! Das unbedingt gültige ästhetische Urteil ist eben eine Aufgabe, die
nie ganz zu vollenden ist, die nur annäherungsweise gelöst werden kann. Aber
solche Annäherung liegt deutlich vor Augen, und in vielen Fällen ist ein hoher
Grad von Übereinstimmung tatsächlich erreicht. Daß Homer und Sophokles zu den
großen Erscheinungen der Menschheitskunst gehören, ist wohl nie von einem
Menschen von Geschmack bestritten worden und hat auch von der Zukunft kaum
Anzweiflung zu fürchten. Was wir ästhetische Bildung nennen, ist ja nichts anderes
als die Gesamtheit der ästhetischen Urteile, über die, mindestens innerhalb einer
Kultursphäre, Übereinstimmung besteht. Nun handelt es sich jedoch bei einem
Kunstwerk nicht nur um ästhetische Bewertung, sondern noch mehr um
Wesens erfassung. Was ist ein Kunstwerk ? Was stellt es dar, was drückt es aus?
Was ist sein Sinn, sein Gehalt? Und da erleben wir ganz das gleiche Schauspiel.
Die größte Mannigfaltigkeit der Auffassungen, die sich allmählich klärt und verein-
heitlicht. Freilich pflegt hier die Übereinstimmung noch eingeschränkter und vor-
läufiger zu sein. Denn immer wieder treten neue Auffassungen auf den Plan, und
im Grunde wird jedes echte Kunstwerk von jedem ursprünglich ästhetisch empfin-
denden Menschen auf neue und eigene Weise erlebt und gesehen. Diese Überein-
stimmung herauszuarbeiten, aus der Fülle der verschiedenen Auffassungen und
Wertungen die eine richtige zu destillieren, — denn die ganze Wahrheit kann doch
nur eine sein, wenn auch in jeder Auffassung ein Teil der Wahrheit enthalten ist.
BEMERKUNGEN. 32|
— und so die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils im weitesten Sinne zu
verwirl<lichen, das ist offenbar die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft. Allerdings
müssen wir zugeben, daß das meiste, was bisher in dieser Richtung erreicht ist,
nicht das Weric bewußter, planvoller wissenschaftlicher Arbeit war, sondern sich
durch den Widerstreit der JMeinungen und die fortschreitende Entwicklung des Ge-
schmackes von selbst ergeben hat. Aber doch durch JVleinungsstreit, durch Ver-
suche, iVleinungen mit Gründen zu verteidigen und zu bekämpfen, durch Versuche
das Gefühl zu rationalisieren. Versuche, die also die Tendenz auf Wissenschaft
haben. Jedenfalls, wenn es eine Wissenschaft von der Kunst und Literatur geben
soll, — und wie könnte die Wissenschaft auf diesen Gegenstand verzichten? — so
kann nur dies und nichts anderes ihre Aufgabe sein.
Aber, so fragen wir weiter, ist denn eine solche Wissenschaft überhaupt mög-
lich? Wir erfassen eine Dichtung mit dem Gefühl, also dem schlechthin Subjek-
tiven in uns. Das ästhetische Urteil ruht auf dem Qefühlseindruck, nicht auf Argu-
menten ; es wird von dem subjektiven Geschmack, nicht vom Verstände gebildet.
Überall bleiben wir in der Sphäre des Subjektiven. Wie ist da zu der Objektivität
zu kommen, die doch das Wesen aller Wissenschaft ausmacht? — Nun, darüber
müssen wir uns allerdings klar sein: eine Objektivität im Sinne der Naturwissen-
schaft oder JUathematik ist hier nicht zu erreichen. Die gibt es innerhalb der
Geisteswissenschaft überhaupt nicht, und hier noch weniger als anderswo. Auf der
anderen Seite jedoch ist dies zu beachten. Bestände die Kunst nur in Gefühls-
eindrücken, so wäre allerdings alle Möglichkeit der Objektivierung ausgeschlossen.
Aber das ästhetische Gefühl ist ja auf geheimnisvolle Weise an einen Gegenstand
gebunden, ein Gebilde in Zeit und Raum, ein Objekt der Anschauung oder des
Gehörs, ein Etwas, das als Ding unter Dingen vor uns dasteht. Dingartig, natur-
ähnlich, und doch grundverschieden von allen Naturgegenständen. Denn obgleich
es ganz aus sinnlichem Stoff, aus äußerer iV\aterie oder aus Gehörseindrücken be-
steht, ist es doch nicht direkt aus der JVlaterie hervorgegangen, sondern aus der
Seele des Künstlers heraus geboren: aller Stoff ist in das Gefühl des Künstlers
eingeschmolzen und aus ihm wieder herauskristallisiert und hat dabei das empfangen,
was den ästhetischen Gegenstand konstituiert: Form. Form ist auch hier »der
Grund der Einheit im iVlannigfaltigen«; sie ist das Gesetz der Kristallisation, oder
besser, des organischen Werdens; das Gesetz, nach dem das Werk aus der Seele
seines Schöpfers herausgewachsen und zugleich zu ihrem Abdruck geworden ist,
kraft dessen es nun wiederum zu unserer Seele spricht und sie mit der Seele des
Künstlers in mystischen Kontakt setzt. Diese Form, dies Gesetz der Bildung nun,
wenn es auch in der geheimen Brunnenstube alles Organischen, die tief unter der
Schwelle des Bewußtseins liegt, entspringt und wirkt, es ist als Gesetz, als not-
wendiger Zusammenhang, dem Erkennen zugänglich, es kann aufgewiesen, sichtbar
gemacht werden; in ihm liegt das rationalisierbare Element, durch das die JVlög-
lichkeit wissenschaftlicher Erforschung bedingt ist. Freilich, das wahre Kunstwerk ist
nicht das äußere Ding im Räume, der äußere Vorgang in der Zeit, sondern das
dadurch hervorgerufene Oefühlserlebnis, und so besteht die eigentliche Form auch
nicht in den äußeren Verhältnissen am Dinge, sondern in der Ordnung der seelischen
Eindrücke. Diese selbst werden dabei stets als die ursprünglichen Gegebenheiten
vorausgesetzt. Ohne sie ist überhaupt keine Betrachtung eines Kunstwerkes mög-
lich, ist das Kunstwerk in Wahrheit gar nicht vorhanden. Daher kann es nie ge-
lingen, ein Kunstwerk vollständig zu rationalisieren, es restlos aufzulösen wie eine
algebraische Gleichung. Daher kann eine Wissenschaft vom Kunstwerk nur durch
das Zusammenwirken von Gefühl und Verstand geschaffen werden: Qe-
Zeitfchr. f. AsIheUk u. allg. Kunstwissenschaft. XV. 21
322 BEMERKUNÖEN.
fühl, das die einzelnen Eiiidrücke, die ästhetischen Urbestandteile rein und scharf
auffaßt, und Verstand, der zwischen ihnen die gesetzmäßigen Formzusammenhängc
aufdecl<t. Nur wo eine reine, gesunde, feinfühlige ästhetische Empfängiichiceit mit
der Fähigl<eit wissenschaftlichen Denicens sich vereinigt, icann sie entstehen. Wo
das Gefühl versagt, findet überhaupt kein ästhetisches Erleben, kein Erfassen eines
Kunstwerkes statt und fehlt der wissenschaftlichen Betrachtung alles Material. Und
nur das Denken kann Wissenschaft gestalten. Aber wenn das Denken so vom
Gefühl abhängig ist, es wirkt wiederum darauf zurück. Es kann zwar das ästhetische
Gefühl weder hervorrufen noch widerlegen; aber es kann es kontrollieren und be-
richtigen, entwickeln und läutern. Daß das ästhetische Gefühl nicht unwandelbar
starr, sondern entwicklungsfähig ist, darauf beruht alle Geschmacksbildung, alle
ästhetische Kultur. Und an dieser Entwicklung hat der Verstand einen bedeutenden
Anteil. Die ästhetischen Einzelheiten, die das Gefühl ergreift, haben darin ihre
Kontrolle, daß sie Teile eines Ganzen, Glieder eines Zusammenhangs sind; wie sie
sich in diesen fügen, darin liegt ein Prüfstein ihrer richtigen Erfassung. Und in
dieser Wechselbeziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen
ist im Grunde alle Möglichkeit einer Wissenschaft von der Kunst beschlossen. Das
Ganze und das Einzelne — beides kontrolliert sich gegenseitig. Ob das Einzelne
richtig aufgefaßt ist, wird daran geprüft, wie es sich in das Ganze einfügt; ob die
Einheit des Ganzen richtig bestimmt ist, entscheidet sich dadurch, ob aus ihm die
Einzelheiten ungezwungen und überzeugend abzuleiten sind. Ungezwungen und
überzeugend — damit wird die Frage doch wieder vor den Richterstuhl des Gefühls
verwiesen, das die Untersuchung in jedem Stadium und auf jedem Punkte begleiten
und überwachen muß. Sonst ist sie in Gefahr, in ein bloßes Verstandesspiel aus-
zuarten und anstatt der lebendigen Wirklichkeit des Kunstwerkes selbstgeschaffene
Hirngespinste ans Licht zu bringen. Überhaupt unterliegt dieses im Prinzip 'so ein-
fache Verfahren in der praktischen Anwendung mannigfachen Schwierigkeiten und
Komplikationen, auf die einzugehen hier der Raum fehlt.
Wenn es sich also um das wissenschaftliche Verständnis einer Dichtung, bei-
spielsweise eines Dramas handelt, so wird es vor allem darauf ankommen, die
innere Einheit zu finden, den Punkt, von dem aus das Ganze sich als Einheit
überschauen läßt, den Kern, aus dem das entwickelte Gebilde erwachsen ist, die ur-
sprüngliche Konzeption, ästhetische Idee oder wie wir es nennen wollen. Wenn wir
dann diesen Kern in seiner stufenweisen Entfaltung bis in alle Einzelheiten hinein ver-
folgen, so ist die wesentliche Arbeit getan. Für die synthetische Darstellung steht also
diese Einheit am Anfange; aus ihr werden die Teile entwickelt. Für die Untersuchung
hingegen steht sie als Ziel und Ende. Diese wird zunächst die Einzelheiten genau zu
erfassen suchen, dann ihren Zusammenhängen nachgehen, sie in einheitliche Gruppen
zusammenfassen, um zuletzt zur Einheit des Ganzen aufzusteigen. Hier ist zu be-
merken, daß im Kunstwerk zweierlei Einheit stattfindet, neben der gleichsam
materiellen, substantiellen und architektonischen eine qualitative, die sich nicht in
der Zusammengehörigkeit, sondern in der Gleichartigkeit der Teile ausprägt. Wir
können jene als Komposition im weitesten Sinne, diese als Stil bezeichnen.
Beide zusammen machen die Form einer Dichtung aus. Diese Form ist also nichts,
was vom Inhalt unabhängig wäre, sie besteht nicht in den schematischen Verhält-
nissen, die sich für sich behandeln und klassifizieren lassen, sie ist vielmehr die
Verwirklichung des besonderen Organisationsprinzips, des Bildungsgesetzes, das
einem jeden Kunstwerk eigentümlich ist und sein eigentliches Wesen ausmacht.
Wenn wir in einem Drama das ganze Flechtwerk der »Handlung« in seinem not-
wendigen Zusammenhange uns klar machen, wie es sich aus einem einfachen Kerne
^
BEMERKUNGEN. 323
organisch entwickelt, so haben wir damit zugleich die Form und den Gehalt
der Dichtung. Es hat allerdings seinen Reiz und seinen Wert, wenn die Analyse
der »Handlung« eines Dramas vollendet ist, denn von dem Inhalt, dem Materialen
der Dichtung abzusehen und uns die formalen Bestimmungen abgelöst zu vergegen-
wärtigen, wie wenn wir etwa die Umrisse der Pflanze nur als mathematische Figur
betrachten. Und durch eine andere Art Abstraktion können wir aus dem Inhalt
einer Dichtung den »Gehalt« ausscheiden. Jedes Kunstwerk bietet uns ja in Ge-
stalt eines Einzeldinges, einer individuellen Anschauung einen allgemein menschlichen
Gehalt, etwas, das jeder Mensch nacherleben kann; dieser aber ist wiederum der
Niederschlag des persönlichen Erlebens des Schöpfers, der Abdruck seiner seelischen
Arlung, seiner Welt- und Lebensanschauung, seiner besonderen Gefühl weise und
inneren Haltung dem Leben gegenüber. Diese Betrachtungsweisen erschließen uns
weitere Perspektiven. Wie uns die isolierte Untersuchung der Form in die allge-
meine und systematische Übersicht der Kunstwerke führt, die die Aufgabe der Poetik
und Ästhetik ist, so diese Herausstellung des Gehaltes oder der »Idee- einerseits
in die biographische, andererseits in die zeit- und kuUurgeschichtliche Einreihung
einer Dichtung.
Wie nennen wir nun solche Analyse von Literaturwerken, wenn wir ihr einen
besonderen Namen geben wollen? Wir mögen sie ästhetisch nennen, aber nur in
dem Sinne, wie alle Betrachtung von Kunst ästhetisch ist, nicht als eine Betrachtungs-
weise neben anderen. Jedenfalls aber darf uns die Bezeichnung in Verbindung mit
der Gewohnheit, die Ästhetik unter die philosophischen Disziplinen einzureihen,
nicht zu der Meinung verführen, als handle es sich hier um etwas Philosophisches.
Die hier angedeutete Literaturwissenschaft hat mit Philosophie schlechterdings nichts
zu tun. Sie ist eine rein empirische Einzelwissenschaft und ist nicht philosophischer
als die wissenschaftliche Erforschung der Pflanzen oder Tiere, ja sie ist noch
weniger philosophisch, denn sie hat es zunächst und in der Hauptsache nicht mit
Gattungen und Arten, sondern mit Individuen zu tun. Allerdings ist anzuerkennen,
daß von Philosophen in dieser Richtung vieles und sehr Wertvolles geleistet ist; es
genügt, aus älterer Zeit an die beiden Namensgenossen, Friedr. Vischer und Kuno
Fischer, zu erinnern, aber auch in der Gegenwart sind wir Philosophen für wichtige
Unterstützung zu Dank verpflichtet. Das ändert nichts daran, daß solche Arbeit an
sich nicht philosophischer, sondern literaturwissenschaftlicher Art ist. Am besten
behalten wir den Namen Ästhetik der systematischen Disziplin vor, von der sogleich
die Rede sein wird, und bleiben hierbei dem alten ehrwürdigen Namen Philologie.
Es soll uns nicht stören, daß dieser jetzt nicht ohne Grund in Verruf gekommen
ist und im landläufigen Sprachgebrauch auf eine Anzahl äußerer, vorbereitender
Tätigkeiten eingeschränkt wird, die sich zur Literaturwissenschaft in unserem Sinne
verhalten wie die historischen Hilfswissenschaften, Paläographie, Diplomatik usw.,
zur wirklichen Geschichte. Denn die Feststellung des Wortlauts einer Dichtung,
die Untersuchung der äußeren Entstehungsgeschichte, der Verfasserfragen, der
Quellen und Einflüsse usw., das alles sind für die wahre Literaturwissenschaft, für
das wissenschaftliche Verständnis der Dichtung, doch nur Vor- und Hiifsarbeiten,
aber nicht sie selbst, Präliminarien, die in gewissem Grade erledigt sein müssen,
wenn die eigentliche Forschungsarbeit beginnen soll. Wenn aber der Begriff der
Philologie irgend dem deutlichen Wortsinn gerecht werden will, so kann er nur
der hier entwickelte sein ; denn Philologie heifit die Wissenschaft, die den Kof o^
sucht, und der XofOi einer Dichtung ist eben ihr Formgesetz, dessen Erkenntnis die
Aufgabe unserer Wissenschaft ist. Wenn gerade seit dem Aufkommen und der
Herrschaft der sogenannten philologischen Richtung hierfür so wenig geleistet ist.
324 BEMERKUNGEN,
wenn sie fast ganz in jenen Hilfsarbeiten stecken geblieben ist, ja teilweise die
höheren Aufgaben der Forschung mit unverständigem Hochmut als ästhetisch ab-
gelehnt oder als unwissenschaftlich herabgesetzt hat, so ist das ein Maßstab für die
Verirrung und den Tiefstand der Wissenschaft, — ein Tiefstand, der doch auch von
den »Philologen« selbst empfunden und beklagt ist. Diese Alleinherrschaft des
Philologismus ist heute überwunden, und die Einsicht, daß die Wissenschaft sich
darin nicht erschöpft, daß sie noch andere und höhere Aufgaben hat, wächst zu-
sehends. Im ganzen steht doch die Begründung dieser besseren Philologie noch als
Zukunftsaufgabe vor uns. Ich darf erwähnen, daß alle meine größeren Arbeiten
bescheidene Beiträge zu ihrer Lösung sind. Sie werden zu diesen dürftigen An-
deutungen die beste Erläuterung abgeben.
Auf dieser Erforschung der einzelnen Literaturwerke als ihrer Grundlage erheben
sich dann umfassende und überschauende Arten der wissenschaftlichen Arbeit. Sie
können allerdings nicht warten, bis jene ihr Werk getan hat; sonst würden sie nie
beginnen können. Ist doch schon das Verständnis einer einzelnen Dichtung eine
nie ganz zu vollendende Aufgabe. Aber im Prinzip wird die weiterführende Forschung
dies Verständnis als gegeben voraussetzen müssen, und ihr wissenschaftliches Niveau
wird wesentlich dadurch bestimmt sein, wieweit diese Voraussetzung erfüllt ist und
in welchem Maße der einzelne Forscher selbst daran beteiligt ist.
Solche Weiterführung gibt es in zwiefacher Richtung. Es handelt sich auf der
einen Seite um Zusammenstellung der einzelnen Kunstwerke nach Ähnlichkeifen
und generellen Verwandtschaften, Zusammenfassung zu Arten und Gattungen und
Untersuchung der gemeinsamen Eigentümlichkeiten dieser, bis die Betrachtung
schließlich zum Charakter der einzelnen Künste und der Kunst überhaupt aufsteigt.
Also um die allgemeine und systematische Kunstwissenschaft, für die sich seit dem
18. Jahrhundert die Bezeichnung Ästhetik eingebürgert hat. Diese Ästhetik wird
nun in der Regel als ein Teil der Philosophie angesehen und von Philosophen be-
arbeitet. Indessen, sowenig die Erforschung des einzelnen Kunstwerkes eine philo-
sophische Aufgabe sein kann, so wenig ist es diese Wissenschaft von der Kunst
überhaupt; sie ist eine Einzelwissenschaft und Erfahrungswissenschaft, wie es etwa
die systematische Botanik ist. Denn ihre Erkenntnisse stammen nicht aus Prinzipien
a priori, sondern aus der Erfahrung und werden beständig durch fortschreitende
Erfahrung berichtigt und erweitert. Alles, was ich vom einzelnen Drama erkennen
kann, fließt aus meiner Anschauung dieses Dramas und dem dadurch ausgelösten
Gefühlserlebnis. Alles, was ich vom Drama überhaupt weiß, ist abgeleitet aus
meiner Erkenntnis der einzelnen Dramen, die ich als mustergültig empfinde, und
gilt nur solange, bis durch neue Dramen meine Vorstellung vom Drama bereichert
und geändert wird. Unter die philosophische Betrachtung fällt nur die ganz allge-
meine Tatsache des ästhetischen Verhaltens, allenfalls die des ästhetischen Schaffens,
also der Kunst überhaupt; aber schon die einzelnen Künste sind empirische Tat-
sachen. Daß es so etwas wie ein Drama oder eine Symphonie, ja wie Malerei und
Dichtkunst gibt, läßt sich nicht a priori konstruieren, das wissen wir allein aus der
Erfahrung.
Auf der anderen Seite ordnen sich die Kunstwerke in geschichtliche Zu-
sammenhänge, und so ergibt sich die Aufgabe der Kunst-, der Literatur-
geschichte. Aus diesen Zusammenhängen ist vor allen einer herauszugreifen, der
allein unmittelbar in der Sache selbst gegründet und wesentlich ist: der bio-
graphische. Allerdings ist das Kunstwerk seinem Wesen nach ein losgelöstes,
für sich bestehendes Gebilde. Aber, daß es aus der Seele des Künstlers geboren,
ein Abdruck seiner seelischen Art ist, das ist doch eine Bestimmung, die mit zu
BEMERKUNGEN. 325
seinem Wesen gehört, und wir haben es erst ganz verstanden, wenn wir es zugleich
als ein Zeugnis von seinem Schöpfer aufnehmen. Damit rückt es in den Zusammenhang
seiner seelischen Entwicldung, seiner Lebensgeschichte. Die Biographie des schaffenden
Künstlers ist die erste, wichtigste und wesentlichste Aufgabe der Kunstgeschichte.
Diese Biographie ist aber keineswegs identisch mit der Feststellung der äußeren Lebens-
daten und Lebensumstände. Diese sind ihr höchstens Vor- und Hilfsarbeit. Ihr Werk
hebt erst an, wenn dies in gewissem Grade erledigt ist, kann aber in weitem Um-
fange darauf verzichten. Denn die schöpferische Persönlichkeit, mit der sie es zu
tun hat, ist nach Simmeis Wort »nicht der reale historische Mensch, sondern ein
ideelles Gebilde, das nur in der Leistung selbst lebt, als Ausdruck oder Symbol für
den inneren Zusammenhang ihrer Teile«. In seinem Werk offenbart sich das Wesen
eines Künstlers am tiefsten und wahrsten; die Geschichte seines Schaffens ist seine
eigentliche Lebensgeschichte. Freilich steht diese mit seinem äußeren Lebenslaufe
in mannigfacher, mehr oder weniger enger Verbindung; und auch er ist durch die
Persönlichkeit des Menschen bestimmt. Aber diese ist hier nur die eine Kompo-
nente, die anderen bilden die zufälligen äußeren Umstände, und daher ist sein
Zeugnis über den Menschen getrübt und weniger zuverlässig als das des Werkes.
Darüber hinaus geht dann die weitgespannte Überschau der eigentlichen
Literaturgeschichte. Wenn die einzelne Dichtung auch als Kunstwerk in sich
abgeschlossen ist, sie steht doch in historischen Zusammenhängen mit Vorgängern
und Zeitgenossen ; sie ist zugleich ein Dokument des geistigen Lebens, ein Zeugnis
nicht nur für ihren Verfasser, sondern auch für die Zeit, das Volk, innerhalb deren
sie entstanden ist. Und selbst wenn die einzelne Dichtung solcher Einreihung
entbehren kann, wenn es möglich ist, sie ganz zu verstehen, ohne über sie hinaus-
zublicken — was doch nur möglich ist, wenn es sich um eine ganz vollendete
Dichtung handelt — , die Oeistesgeschichte kann für ihre Zwecke nicht auf die F!c-
trachtung der Dichtung verzichten. Diese Zusammenhänge sind nun höchst mannig-
facher Art. Sie sind solche des Nach- und Nebeneinander: denn jedes Literatur-
werk ist Glied von Entwicklungsreihen wie Moment einer geschichtlichen Situation.
Dabei kann der Rahmen weiter und enger gespannt werden. Die Literaturgeschichte
kann die Betrachtung auf die Literatur eines Volkes, einer Landschaft, einer Stadt
beschränken, aber auch darüber hinausgreifend auf eine internationale Kulturgemein-
schaft ausdehnen. Sie kann die größere Breite im Nebeneinander durch Beschränkung
der zeitlichen Spanne ausgleichen und sich so dem Literaturbilde einer bestimmten
Epoche nähern. Sie kann auch in anderer Hinsicht den Kreis der Betrachtung
enger und weiter ziehen: sie kann Literatur in dem engen Sinne der Dichtung, der
Kunst im Material der Sprache nehmen, wie es hier vorausgesetzt ist, oder in dem
weiteren der sprachlichen Urkunden des geistigen Lebens überhaupt, sie kann ihn
auch auf einzelne Teile und Gattungen der Dichtung einschränken, denn auch
Drama und Roman, Idylle und Satire, Schäferdichtung, geistliches Lied usw. haben
ihre besondere Tradition, ihre eigene Geschichte. Von all diesen Möglichkeiten ge-
schichtlicher Gliederung und Begrenzung ist hauptsächlich eine gepflegt: die der
Nationalliteratur. Literaturgeschichte wird ganz überwiegend betrieben als
deutsche, englische, griechische Literaturgeschichte usw. Gewiß hat diese Einteilung
ihren guten Grund und ihr sachliches Recht. Die Sprachgemeinschaft ist auch für
die Dichtung eine Gemeinde der Aufnahme und des Verständnisses. Ihr erstes
Publikum, ihr ursprüngliches Wirkungsgebiet reicht, soweit ihre Sprache verstanden
wird. Damit verbindet sich dann in den meisten Fällen die politische Lebens-
gemeinschaft, die auch ihre wichtige Bedeutung hat. Trotzdem haben diese Mo-
mente nur relative Geltung. Dichtungen von überragendem Range, die doch auch
326 BEMERKUNGEN.
für die Nationalliteratur an erster Stelle stehen, haben immer die Sprachgrenzen
überschritten und internationale Gemeinden gebildet. Die Einteilung nach Sprachen
und Nationalitäten ist für die Literaturgeschichte doch nur eine Möglichkeit unter
anderen, nicht die eine selbstverständliche und notwendige. Die Literatur einer
Zeit bildet ebenso sehr eine Einheit wie die eines Volkes. Eine absolute Einheit
ist nur die Oesamtliteratur der Menschheit; alle Einteilungen innerhalb dieses Uni-
versums haben nur relative und mehr oder weniger willkürliche Bedeutung. Zudem
ist die Einheit der Nationalliteratur in manchen Fällen eine Fiktion von sehr zweifel-
hafter Berechtigung. Gerade die deutsche Literatur ist so wenig einheitlich wie
vielleicht nur noch die englische. Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch sind in Wahr-
heit verschiedene Sprachen. Bei den Denkmälern jener älteren Stufen findet ein
unmittelbares Verständnis ebensowenig statt wie bei Niederländisch oder Dänisch;
sie bedürfen durchaus gelehrter Vermittlung. Und noch weniger ist die Literatur
dieser Epochen ein geschichtliches Kontinuum. Vielmehr ist der Zusammenhang
mehrmals vollständig abgebrochen: durch das Eindringen des Christentums, durch
die große Pause, die den mittelhochdeutschen Zeitraum vom althochdeutschen trennt,
durch den Humanismus, durch Opitz. Ein lebendiger Zusammenhang reicht für das
heutige Bewußtsein höchstens bis zu Klopstock zurück; darüber hinaus sind allen-
falls noch einige isolierte Erscheinungen lebendig und wirkend. Was vor Luther
liegt, ist fremdsprachliches Out, das vom Volke nur in Übersetzungen aufgenommen
wird. Wollen wir Goethe nach seinen geschichtlichen Beziehungen und Bedingt-
heiten studieren, — und an welchem anderen Beispiele könnten wir uns die
historische Lagerung der deutschen Literatur besser klar machen? — so brauchen
wir von der ganzen deutschen Literatur vor Luther nichts zu kennen; wohl aber
bedürfen wir einer umfassenden Kenntnis der französischen, der englischen, der
italienischen, vor allem natürlich der griechischen und lateinischen, weiterhin der
hebräischen, der arabischen, der persischen Literatur; ja selbst die indische, die
serbische, die chinesische Literatur sind immer noch wichtiger als die altdeutsche.
Schon dies eine Beispiel zeigt, daß die übliche Gliederung der Literaturgeschichte
in Nationalliteraturen unzulänglich ist und der Ergänzung durch anders gerichtete
Forschung bedarf. Fast alle größeren Erscheinungen der Literatur, seitdem im
Mittelalter ein einheitliches Europa entstand : Minnesang, Ritterdichtung, didaktische
Allegorie, Humanismus, Reformationsliteratur, Schäferdichtung, Renaissancedrama,
Romantik, Naturalismus usw. sind international und können im Rahmen der einzel-
nen Nationalliteratur nur unvollkommen zu ihrem Rechte kommen.
Was für praktische Forderungen ergeben sich daraus? Sollen wir die ganze
Gliederung der Philologie nach Sprachen aufgeben und durch eine andere ersetzen?
Das hätte wenig Aussicht auf Verwirklichung; Gründe äußerer Zweckmäßigkeit
sprechen zu laut dagegen. Wir werden sowohl diese Einteilung beibehalten müssen,
wie auch die damit zusammenhängende Verbindung von Sprach- und Literatur-
wissenschaft, obwohl beide ganz verschiedene Begabungen verlangen, die sich nur
ausnahmsweise in demselben Menschen zusammenfinden. Nur das ist zu fordern,
daß auf unseren Universitäten neben den Vertretern der deutschen, englischen,
romanischen Philologie usw., wie ein Lehrstuhl für vergleichende Sprachwissen-
schaft, so auch einer für allgemeine Literaturwissenschaft eingerichtet
werde. (Den Ausdruck »vergleichende Literaturwissenschaft« möchte ich vermeiden,
denn um Vergleichung handelt es sich hier in keiner Weise. Vergleichende Literatur-
wissenschaft in dem Sinne, wie wir von vergleichender Sprachwissenschaft reden,
nämlich so, daß die Vergleichung heute vorhandener oder geschichtlich aufbewahrter
Erscheinungen das Mittel ist, um daraus verlorene Urformen zu erschließen, wäre
BEMERKUNGEN. 327
elwas ganz anderes. Sie ist auf einem beschränkten Gebiete in der Tat möglich,
nämlich bei der Voil<siiteratur, namentlich bei der Märchen- und Sagenforschung.)
— Diese weltbürgerliche Auffassung und Behandlung der Literaturgeschichte ist
gerade für uns Deutsche eine Ehrenpflicht, die uns durch unsere große klassische
Tradition und durch den Ursprung unserer Wissenschaft auferlegt ist. »Weltliteratur
in deutscher Sprache«, das war die große Idee, für die Herder und Goethe un-
ermüdlich geworben und durch ihr eigenes Wirken die Bahn gebrochen haben.
Und durchaus kosmopolitisch ist die Erfassung der Aufgabe bei den Brüdern
Schlegel, den eigentlichen Vätern der Literaturgeschichte. Im Laufe des 19. Jahr-
hunderts sind dann einige Werke von großem Wurf, wenn auch zunächst unvollen-
det, hervorgetreten, Werke wie Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts,
Kleins Geschichte des Dramas, Eberts zu früh abgebrochener Ansatz zu einer All-
gemeinen Geschichte der Literatur des Mittelalters im Abendlande. Aber gerade
im letzten Halbjahrhundert, gerade seit der Konstituierung der Literaturgeschichte
als Sonderfach des akademischen Betriebes, sind diese größten und schönsten Auf-
gaben unserer Wissenschaft in auffälliger Weise vernachlässigt, in Deutschland noch
gründlicher als außerhalb der Reichsgrenzen. Offenbar aus dem Grunde, weil nie-
mand da ist, dem diese Forschungsrichtung von Berufs wegen obliegt. Hier kann
nur die Einrichtung besonderer Lehrstühle helfen, und sie ist ein dringendstes Be-
dürfnis der Wissenschaft.
Sie werden aus meinen Ausführungen den Eindruck haben, als ob die Literatur-
wissenschaft für mich im wesentlichen ein Zukunffsprogramm ist; ein Komplex von
Aufgaben, deren Lösung noch in den Anfängen steht. Aber ist das zu verwundern?
Die Literaturwissenschaft ist noch eine junge Wissenschaft. Es ist nicht viel über
100 Jahre her, daß ihre ersten Keime in Deutschland gepflanzt wurden. Lange war
sie auf die freiwilligen Leistungen Einzelner angewiesen Erst seit wenigen Jahr-
zehnten ist sie dem regelrechten akademischen Wissenschaftsbetrieb eingereiht, und
zwar in der Hauptsache durch eine Schule, die die größte Genauigkeit und Voll-
kommenheit in den Außenwerken und Präliminarien damit bezahlte, daß sie für die
höheren Aufgaben der Wissenschaft blind war und hier versagte. Noch immer
suchen wir tastend die Wege zu den wahren Zielen. Aber es vermindert gewiß
nicht den Reiz, den eine Wissenschaft ausübt, wenn sie noch jung ist und wenn
ihr Reich in der Zukunft liegt. Möge sie denn kräftig weiter waclisen und besonders
die Jugend begeistern, damit sie immer mehr in ihre Aufgaben hineinwachse und
den großen Verpflichtungen, die ihr der Geist ihrer Ursprungszeit auferlegt, immer
besser gerecht werde!
326 BEMERKUNGEN.
Psychoanalyse und Kunstphilosophie 0.
Von
Otto Ernst Hesse.
Da durch den Aktivismus das Verhältnis des Künstlers zur Kultur und allge-
meiner das Verhältnis von Kunst und Kultur in eine neue Erörterung gerückt ist,
darf man dieser Frage einmal gründlicher, als es in der Tagesliteratur möglich ist,
nachgehen. Zeiten des 18. Jahrhunderts scheinen zurückzukehren, und manche
dieser Verhandlungen über den Kulturwert der Kunst erinnern an die Jahrzehnte,
in denen die Ästhetik A. O. Baumgartens aus den Leibniz-Wol ff sehen psycholo-
gischen Anschauungen heraus jene Frage brennend machte. Die Aufklärung be-
trachtete die Kunst als einen Weg zur Erkenntnis, faßte sie also als Mittel zum
Zwecke auf. Noch Schiller entgleiste sein großes Lehrgedicht »Der Künstlerc, das
ursprünglich ein Ruhmeslied der Kunst werden sollte, in diese Auffassung: »Nur
durch das Morgentor des Schönen dringst du in der Erkenntnis Land«, und auch
seine Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« vermochten den Zwie-
spalt zwischen der Selbstzwecklichkeit der Kunst und ihrer Mittelzwecklichkeit nicht
aus dem Wege zu räumen. In Hegels Rationalismus wurde dann die Kunst wieder
ganz Magd der Philosophie, bis der Künstler Hebbel ihr ihren Selbstzweck zurück-
gab, nicht nur in seinen polemischen Aufsätzen, sondern viel mehr noch in den knappen
Aufzeichnungen seiner Tagebücher. Hier wird das Problem auch zum ersten Male,
man möchte sagen biogenetisch erkannt, und manche dieser Bemerkungen sind un-
mittelbare Vorerkenntnisse der Psychoanalyse, die diese Frage neu angeschnitten und,
wenn auch bei weitem nicht gelöst, so doch zum mindesten geklärt hat.
Ohne eine Würdigung der Vorstöße, die diese jüngste Wissenschaft, die noch
einen Kampf um ihre Existenz führen muß, auf das Gebiet der Kunstpsychologie
gemacht hat, läßt sich die Frage nach den Kulturfunktionen des Künstlers und
insonderheit des Wortkünstlers nicht mehr beantworten. Keimhaft findet sich diese
geisteswissenschaftliche Anwendung der psychoanalytischen Erkenntnisse in zwei
kleinen Büchern, in Otto Ranks »Der Künstler« (Wien-Leipzig, 1918) und Wilhelm
Stekels »Dichtung und Neurose« (Wiesbaden, 1909). Rank, erhaben über jede Stoff-
benutzung, leitet seine Ansicht so von oben her ab, daß man oft einen Ärger unter-
drücken muß, um diesen z. T. gewiß in die richtigen Tiefen führenden Seiten
gegenüber vorurteilslos bleiben zu können. Stekel, der, etwas selbständiger, von
Freud abrückt und sehr geschickt ein bedeutsames Material aus Grillparzer ver-
wendet, schließt seine wohlbegründete Arbeit mit guter Skepsis. Beide von der-
selben Seite kommenden Forscher widersprechen sich gegensätzlich in den letzten
Schlußfolgerungen, die schließlich mit veränderter Ausdrucksweise wieder den alten
Zwiespalt aussagen, den Schiller schon nicht hinwegdiskutieren konnte.
Infolge der biologischen Entwicklung des Menschen — so etwa stellt sich die
Grundlage der Psychoanalyse dar — entstand aus der Urenergie der Organismen,
der Libido, im Menschen das, was wir Bewußts in nennen, zunächst als Schutz-
waffe gegen eine Fülle von Trieben, die im Laufe dieser Entwicklung aus Rücksicht
auf die Umwelt nicht mehr zur Auswirkung gelangen konnten, Unlust erregten und
auf einem Umweg zu Lust umgeformt werden mußten. Denn der psychische
') Dieser Aufsatz ist entnommen einer umfangreichen druckfertigen Handschrift,
die den Titel führt: »Der Dichter. Beiträge zu einer Technik des Erlebens.«
BEMERKUNGEN. 3J0
Apparat verdankt, wie Rank ausführt, »seJne Ausgestaltung, die sich mit unbewußter
Notwendigkeit vollzog, lediglich dem Streben nach Gewinn von Lust und Verhütung
von Unlust, nach Abwendung von Not, die an den Menschen mit der höheren
Kultur, die selbst wieder einer Abwehr unserer Not entspringt, immer drängender
herantrat«. Die unterdrückten Triebe bilden das »Unbewußte« im Menschen, sie
sind der Quell, aus dem sich seine Vitalität überhaupt speist und aus dem letzten
Endes alle geistige Höherentwicklung fließt. Während in vorgeschichtlicher Zeit die
»perversen« Triebe — ursprünglich, solange der Mensch noch tierhaft war, ganz
normale Naturtriebe — der Verdrängung anheimfielen, vollzieht sich in der geschicht-
lichen Zeit infolge der sozialen Entwicklungen die allmähliche Verdrängung oder
zum mindesten Einschränkung des Sexualtriebes. Jene bilden hauptsächlich den
Verdrängungskomplex, der phylogenetisch in jedem Menschen wirksam ist; dieser
hauptsächlich den Komplex, der — ontogenetisch — von jedem Individuum in ver-
schiedenem Ausmaße, je nach dem Stärkegrade seiner Vitalität, zu bewältigen Ist.
Die >Enge der Wirklichkeit«, wie sie die historische Qesellschaftsentwicklung
mit sich gebracht hat — die Frage, ob als Ursache oder als Wirkung der Ver-
drängung, die letzte Frage, die gestellt werden könnte, ist hier nicht zu beant-
worten — , steht gegen die »Maßlosigkeiten der Wunschphantasien« des Menschen,
wie Stekel sagt. Diese psychoanalytische Theorie ist letzten Endes nur eine bio-
genetische Fassung etwa der Fichteschen Ethik, wie sie in der »Sittenlehre« nieder-
gelegt ist. Drei Wege nun sucht sich die Psyche, um einen Ausgleich herbei-
zuführen, wenn man von dem der direkten Perversion absieht. »Durch die Sperr-
schiffe der Hemmungen werden die brausenden Affekte zurückgehalten. Sie bahnen
sich falsche Wege, das heißt, sie zeitigen neurotische Symptome. Oder sie trachten
auf dem Wege der künstlerischen Sublimierung die Hemmungen zu überwinden«,
sagt Stekel , indem er die zwei anormaleren Umsetzungsmöglichkeiten namhaft
macht, die dritte, die normale, den Traum, nicht nennt. Sowohl Stekel wie Rank
scheiden den reinen Neurotiker scharf vom Künstler, wenn sie auch die Ausdrucks-
weise der Neurotik auf den Künstler anwenden. Jeder Mensch besitzt einen solchen
Schatz verdrängten Materials, aber der normalere Mensch wird mit diesem Material,
das sich stets als Wunsch, als »Egoismus«, um mit Fichte zu reden, äußert, durch
die Abreaktion des Traumes fertig. Zwischen dem Traum, der nur bei völligem
Ausschalten des Bewußtseins zustande kommt, und der Neurose liegt der Zustand
des künstlerischen Schaffens, in dem infolge einer besonderen, auch von der Psycho-
analyse noch nicht bestimmten aktiven Fähigkeit die kulturfeindlichen Triebe »sub-
limiert« werden. Rank stellt diese drei Möglichkeiten, durch die das »Peinliche«
ausgelöst werden kann, in einem Bilde so dar: »Der Neurotiker will gleichsam das
Peinliche verdauen, der Künstler speit es aus, der Träumer schwitzt es aus« —
wobei er unbewußt sehr gut die von ihm unerklärt gebliebene Aktivität der künst-
lerischen Subliniierungsarbeit betont. Während Rank nun die perversen Triebe im
allgemeinen unter Zuschuß des verdrängten sexuellen Qrundiriebes als Ursache der
künstlerischen Bewältigung ansetzt, macht Stekel vor allem einen besonderen perversen
Trieb, den zum Exhibitionieren, als grundlegend geltend. Nach ihm ist »Dichtung
psychischer Exhibitionismus«.
Auf diesem Fundament versuchen die beiden Psychoanalytiker nun weltanschau-
lich-kulturelle Folgen aufzubauen. Wenn eine triebmäßige, sexuell gestärkte Über-
betonung der Grund zur Sublimierung ist, so wird der Zweck der Sublimierung
mithin der, den Sublimierenden von dieser Überbetonung zu befreien. Das künst-
lerische Schaffen ist also, wie Stekel sagt, »Befreiung von überschüssigen Energien,
ist Entlastung von drückenden Hemmungen«, oder noch schärfer an anderer Stelle :
330
BEMERKUNGEN.
»Dichten ist eigentlich ein Heilungsprozeß durch Autoanalyse^. Die Befriedigung,
die dem unterdrücicten Triebleben von der Wirklichkeit versagt wurde, verschafft
sich der Dichter in der »Phantasie«: »Die Art der Erfüllung«, führt Rank aus, »hat
den gleichen Effekt wie die ursprüngliche Befriedigung der ungeschwächten Triebe
an den Objekten, denn die Triebe, deren Libidoprämie herabgesetzt worden war,
hatten sich gleichzeitig den kulturellen Widerständen angepaßt und sich an ihnen
zu ,Wünschen' abgeschwächt, so daß ihnen nun auch phantasierte Befriedigungen
genügten.« Und wie beim Schaffenden die Produktion, so bewirkt beim Empfangen-
den und Genießenden die Aufnahme des Kunstwerks diese Entladung. »Das Kunst-
werk«, sagt Rank, die alte Katharststheorie verallgemeinernd, »bietet dem .Un-
produktiven' die Möglichkeit, ohne bedeutenden Aufwand überschüssige Erregungs-
summen abzuführen; denn die zur Aufhebung der inneren Hemmungen erforderiiche
psychische Arbeit mußte der Künstler für sich und die Empfangenden leisten. Der
Genießende imaginiert sich dann, von der Form verlockt, an die Stelle des Künstlers
(Mitschaffen), was ihm leicht gelingt, denn der Empfänger liebt nur das Kunstwerk,
das die Erfüllung seiner eigenen Wünsche widerspiegelt, das er beinahe selbst
gemacht haben könnte. Der Aufwand, den er nun dazu macht, wird überflüssig
und irgendwie (Lob, Beifall, Bewunderung, Begeisterung) abgeführt. Auf diesem
mühelosen Abreagieren der ,Affekte' beruht der größte Teil der Lustwirkung des
Kunstwerkes, und auch die Verehrung für den Künstler stammt aus dieser Quelle.«
Der Kunstgenuß hat also ebenso wie das Kunstschaffen eine »psychotherapeutische
Wirkung«, und der Kunst und mit ihr dem Künstler ist so eine ganz außerordent-
liche hygienische Kulturfunktion zuerkannt.
Diese kulturfunktionelle Ausdeutung der Kunst wächst sich bei beiden Denkern
nun zu einer entwicklungsmäßigen Kulturphilosophie aus. Sie baut sich auf der
Annahme auf, daß, in biologischem Betracht, der ganze Kulturprozeß als- eine zu-
nehmende Schwächung des Individuums aufgefaßt werden muß. Das Bewußtsein
ist eine Krankheitserscheinung des rein Körperlichen, und je mehr Energie das Be-
wußtsein — die »Seele« — verbraucht, desto mehr Kräfte werden dem Organischen
entzogen. Max Dessoir hat schon lange vor der Psychoanalyse auf dieses Rezi-
prozitätsverhältnis von Bewußtsein und Körper hingewiesen und gegen die Forderung
der »Gesundheit« polemisiert. »Der Geist ist ein Schmarotzer des Leibes«, schreibt
er in seiner »Ästhetik und allgemeinen Kunstwissenschaft«. »Man darf biologisch
das Bewußtsein auffassen als eine allmählich entstandene Schädigung des belebten
Körpers, als eine zum Tode führende Krankheit, von der das reine Leben frei ist,
und man darf vermuten, daß dem Regenwurm bereits der Hund als Gehirn-
neurastheniker erscheint. Ja, es muß ausgesprochen werden, daß wir nicht nach
gleichmäßig entwickelter Körper-Oeist-Einheitlichkeit streben sollen. Lediglich auf
die höhere Entfaltung des Geistes kommt es an, und diese ist mit körperiichen
Mehrleistungen unvereinbar.« Wir wissen heute sicherer als damals, daß alles
geistige Schaffen gleichsam einen Raub an Lebenskraft, beziehungsweise einen
notwendigen Abfluß vitaler Energie darstellt; daß Kultur ohne diesen »Krankheits-
prozeß« undenkbar ist, ja daß Kultur überhaupt in diesem Krankheitsprozeß besteht.
»Alle Dichter sind Neurotiker«, schreibt Stekel, »und die Neurose, an der sie kranken,
ist immer wieder die Hysterie, dieses uralte, rätselhafte Leiden, ohne das die
Menschheit nicht die Höhe jener Kultur erreicht hätte, die uns heute selbstverständ-
lich erscheint, und die doch das größte aller Wunder darstellt.«; Und an anderer
Stelle: »Es ist höchste Zeit, daß das kindische Gerede von der ,Entartung' und
,Belastung' einmal ein Ende nimmt! Die Dichter sind nicht entartet. Sie sind
neurotisch, und die Neurose ist nur die Folge eines höheren Kulturiebens. Die
BEMERKUNGEN. 331
I
Neurose ist die Grundlage alles Fortschritts. Sie drängt den Philosophen zum
Grübeln, den Erfinder zur Lösung wichtiger Probleme, den Dichter zur höchsten
Leistung. Die Neurose in diesem Sinne ist eigentlich die Blüte am Baume der
Menschheit. Ohne die Neurotiker stünden wir heute im A-B-C der Entwicklung.«
Der »Hysteriker« also ist der produktive geistige Mensch. Die ausgeprägteste
Form dieses produkliven Menschen stellt der Dichter dar. Es ist praktisch, seinen
Zusammenhang mit den übrigen Typen des produktiven Menschen in einem Sammel-
namen zu betonen. Max Dessoir hat einen Terminus geprägt, der zugleich weit
und eng genug ist, das Gemeinsame, das alle produktiven Menschen verbindet,
festzuhalten. Er spricht vom »Leistungsmenschen« im Gegensatz zu einem »Zeugungs-
menschen«. »Dieser Gegensatz«, führt er aus, »besteht noch heute zu Recht. Er
ist nicht notwendigerweise quantitativ, so daß auf der einen Seite die Masse, auf
der anderen Seite eine kleine Anzahl sich befindet, sondern vornehmlich qualitativ.
Menschen kommen auf die Welt, um sich und ihre Gattung zu erhalten; andere
werden geboren, um eine Leistung zu vollbringen. Jene urteilen von diesen, sie
seien närrisch; diese meinen von jenen, sie seien minderwertig. Man mag beide
Stellungen des Lebens für gleichberechtigt halten, wenn man nur ihre gründliche
Verschiedenheit zugibt. Es ist eine Verschiedenheit im Sinne des konträren Gegen-
satzes, d. h. es finden sich unzählige Übergänge und Vermischungen. Aber bleibt
nicht Weiß und Schwarz entgegengesetzt, obgleich sie in Grau sich verschmelzen?
So wie Schwarz und Weiß stehen sich Zeugungsmensch und Leistungsmensch
gegenüber; die durchhaltende Richtung ihres Lebens, Ziel und Aufgabe ihres Da-
seins weichen unverkennbar auseinander.«
Beide Typen, dies hat die Psychoanalyse erwiesen, leben von derselben Energie,
der Libido, der Vitalität. Nur nimmt sie beim Leistungsmenschen Umwege, ehe sie
zur Leistung kommt — solche Umwege, daß es Jahrhunderte gedauert hat, bis die
Kongruenz geistiger und sexueller Leistung erkannt wurde. Ein geradezu schlagen-
des Beispiel bieten die Tagebücher und Briefe von Flaubert, der einmal seine ganze
liierarische Tätigkeit in unschamhaftester Selbsterkenntnis Onanie nennt. Rank
führt Aufsätze von Wilhelm von Humboldt an, in denen dieser immer neue
Philosoph das geistige Schaffen mit der sexuellen Kraft in Verbmdung bringt. »Hier
ist der Ansatz einer Kulturpsychologie großen Stiles gegeben«, schreibt Giese, der
Herausgeber dieser psychologischen Aufsätze Humboldts, »und daß diese Kultur-
psychologie gerade am Erotischen zu beginnen scheint, daß sich anderseits psycho-
logische Teilbeobachlungen, wie die des Geschlechtsunterschiedes, zu solch allge-
meinen Gesellschaftsfaktoren im Geiste Humboldts ausarbeiteten, ist auch heute
noch eine Anregung, ja eine unerfüllte Aufgabe.«
Derartige teleologische Überbauten auf dem biogenetischen Qrundbau versuchen
nun sowohl Stekel wie Rank aufzuführen. Ihre Versuche widersprechen sich polar;
teleologisch läßt sich eben nicht philosophieren, ohne ein endgühiges Wertsystem
anzuwenden, und bei einer Umformung von naturgesetzlichen Erkenntnissen in
geistige Postulate werden die schwachen Stellen der naturwissenschaftlichen Theorie
nur zu gut sichtbar. In der Annahme, daß die fortschreitende Sexualverdrängung
im Entwicklungsprozesse des Menschengeschlechts immer dringender die Beherr-
schung, d. h. das Bewußtwerden des Unbewußten im Menschen erfordere, fordert
Rank eine Überwindung des Künstlers, vor allem des Dichters; denn die Kunst
dient nicht diesem kuhurellen Endziel des absoluten Bewußtseins, »da sie selbst
nur unbewußt entsteht und auch nur unbewußt wirken, d. h. dem Volke den Fort-
schritt des Bewußtseins nur indirekt vermitteln kann . . . Das Kunstwerk wird zwar
immer mit vollerem Bewußtsein produziert, aber gerade aus dem Grunde muß es
333 BEMERKUNGEN.
schHeßUch auf diesem Wege in Wissenschaft umschlagen, die hinter die Triebkräfte
der Kunst selbst kommen, die alles bewußt machen will: denn das richtige Be-
wußtsein ist Wissen von unserem Unbewußtsein.« Das ähnelt bedenklich der
Leibniz-Wolffschen Erkenntnislehre. Nur tritt bei Rank an Stelle des Philosophen
der Arzt, der nun die Überwindung des Künstlers darstellt. An die Stelle des Ver-
hältnisses von Schaffendem und Empfangendem wird nach Rank das Verhältnis
von Arzt und Neurotiker treten müssen ; denn der Künstler kann auf die Dauer für
die Gesamtheit die Bewußtmachungsarbeit nicht leisten. »Es muß jeder selbst ein-
mal seine psychische Arbeit leisten, wenn er wirklich wissend werden will.« Mit
Hilfe des ärztlichen Wissens wird die Menschheit von ihrer Oesamthysterie geheilt.
>Ist aber die vollkommene Umwertung des Psychischen geglückt, das unzweckmäßig
verdrängte Unbewußte bewußt geworden, dann wird der unkünstlerische Über-
mensch leicht und stark wie ein ,Gott', mitten im Spiel des Lebens stehen und
seine .Triebe' mit sicherer Hand lenken und beherrschen.«
Es wäre leicht, diese Utopie mit Ironie zu zerblättern. Nichts liegt uns ferner.
Wir führten sie an, um zu zeigen, welche kulturelle Übergangsfunktion hier dem
Künstler untergeschoben wird. Ganz anderer Meinung ist Stekel in diesen letzten
Wertfragen. Er nimmt an, daß der Abgrund, der sich zwischen den ethischen, also
gesellschaftlichen Forderungen und den körperlichen Grundlagen des Menschen im
Laufe der Menschheitsentwicklung aufgetan hat, immer tiefer wird. Damit aber
wird der Antrieb zur künstlerischen Sublimierung der verdrängten Energien immer
stärker werden. >Wenn die Brücke auch geschlagen werden sollte, wenn die Wünsche
nicht das Filter des Gewissens passieren müssen, ehe sie zur Erfüllung werden,
dann wird der letzte Dichter gewesen sein. Ob diese Zeit je kommen wird? Ich
glaube es nicht. Eher wird sich die Kluft noch dehnen, die den ethischen Kultur-
menschen von dem wilden Urtier trennt.« Hier erhält die Kunst eine Dauerfunktion;
sie wird gleichsam zur Schleuse, die diese sich immer mehr voneinander entfernenden
Niveaus der Herkunft des Menschen und der Zukunft des Menschen zu steter
Einheit reguliert.
Der Psychoanalyse ist es ebenso wenig wie allen früheren Psychologien ge-
lungen, zu erklären, warum dieser bestimmte Mensch, hängend zwischen dem
»Normalen«, d. h. also zwischen dem, der die nicht in Handlung und Muskeltätig-
keit umgesetzte Triebenergie nur im Traum abreagiert, und dem wirklich patho-
logischen Neurotiker, der nicht zur kulturellen Sublimierung kommt, gerade »Künstler«
wird. Ranks Vorstöße, das Rätsel der Produktivität zu lösen, sind nicht gelungen;
sie lösen das Problem der »produktiven Phantasie« nicht, sondern schieben es nur
unter Anwendung einer neuen Ausdrucksweise weiter hinaus. Stekel gibt ganz ein-
fach zu, daß auch die Psychoanalyse da noch vor einem Geheimnis steht. Der
Arzt, sagt er, merke bei seiner analytischen Arbeit, »daß eigentlich jeder Neurotiker
ein Dichter ist, daß er aber nicht imstande ist, den Weg aus der Dichtung ins
Leben zurückzufinden. Und Dichter gibt es darunter, die nie eine Zeile geschrieben
und der Welt übergeben haben und doch die wunderbarsten Dinge erzählen könnten.
Aber es fehlt ihnen offenbar die Gabe, all das, was sie bedrängt, in Worte zu
fassen und sich wie ein Vulkan durch Eruption von einer glühenden Lavamasse zu
befreien. Hier liegt das Rätsel des Dichters verborgen. Woher stammt jene dunkle
Kraft, die dem einen die Zun^je löst und ihm ermöglicht, aus seinem Schmerze
Kunstwerke zu schaffen? Welche Mischung von Verdrängung und Selbsterkenntnis,
von Erotik und Keuschheit, von Religion und Atheismus, von Gehorsam und Em-
pörung muß vorhanden sein; daß aus dem bildenden ein schaffender Mensch
wird? Noch ist uns die tiefste Erkenntnis über diesen Zusammenhang verschlossen.
BEMERKUNGEN. 333
Uns dämmern bloß einige Wahrheiten . . .« Wie Stekel, so gesteht auch Rank dem
Künstler eine »gewisse Aktivität« zu; womit natürlich nichts erklärt ist. Dasselbe
gilt, wenn Rank zusammenfassend sagt: »Der Künstler kann sich also von den
peinlifhen Empfindungen befreien, wenn sie ihn bedrängen, zum Unterschiede
vom Neurotiker, der es nicht kann, aber will, und vom Träumer, der es geschehen
läßt. Den Künstler unterscheidet also nur ein eigenartig abgestimmtes Verhältnis
der psychischen Kräfte gegeneinander, eine Art Willenskraft, vom Träumer und vom
Neurotiker.« Daß solche Begriffe wie »gewisse Aktivität« und »eine Art Willens-
kraft« Ausflüchte sind, ist augenscheinlich. Sie zeigen deutlich, wo die Grenze liegt,
bis zu der uns die psychoanalytische Kunsttheorie etwas zu sagen hat, und hinter
der ein anderer Bezirk beginnt, der von der Psychoanalyse zwar übersehen wird,
der aber ebenso wie der biogenetische seine eigenen Gesetze hat: der Bezirk des
Teleologischen.
Das Dasein eines Künstlers spielt sich in einer Sphäre ab, die — mag sie noch
so sehr als prima causa den Trieb haben — doch im Laufe der kulturellen Ent-
wicklung eine Eigengesetzlichkeit erhalten hat. Schon das Gesetz von der Heterogonie
der Zwecke erklärt, daß sich ohne ursprüngliche teleologische Einstellung ein
Resultat ergeben kann, auf das nicht gezielt war. Rank scheint gerade dem Fehler
verfallen zu sein, gegen den er selbst kämpft: er berücksichtigt nicht, daß in der
Erklärung der psychischen Vorgänge, die wir künstlerisches Schaffen nennen, wie
in aller psychologischen Erklärung eine Entwicklung zu größerer Bewußtwerdung
vorliegt, die in Betracht gezogen werden muß. Der Künstler hat gelernt, sich selbst
zu beobachten, er kennt die Beobachtungen anderer, und seine Selbstanalyse läßt
ihn seine Aufgabe und seine Arbeit von einer erhöhten Warte aus sehen. Ein
moderner Dichter schafft eben nicht mehr nur, um seine überschüssigen Energien
zu sublimieren, wenn er auch, wie das Beispiel Flaubert beweist, eine Ökonomie
und Technik seiner Kräfte sich ausbildet ; er schafft auch aus einer ethisch-sozialen
Einstellung heraus. Irgendwie äußert sich diese Einstellung seit Lessing bei jedem
Künstler. Er fühlt sich als Mitglied einer Gemeinschaft, je nach Ausmaß seines
Lebensbewußtseins als Mitglied seiner Gemeinde, seiner Klasse, seiner Rasse, seiner
Nation oder der Humanitas, fühlt die Atmosphäre der objektiver Geist gewordenen
Energie des Lebens und pflegt seine Verantwortung diesem Objektiven gegenüber,
dieser Welt der Werte gegenüber, die, früher gewiß einmal auch nur Sublimierung
subjektiver Vitalität (andere Vitalität als die von Individuen gibt es nicht), als
Historie und Menschheitsidee ein nun eigenes Gesetz lebt. Er betrachtet sich als
Mittel zu diesem überpersönlichen Zweck, getreu jenem Worte Flauberts: *Vhomme
n'est rien, l'oeuvre est toiiU, und fühlt die subjektive Befreiung, die ihm das
Werk gewährt, als etwas Untergeordnetes. Er weiß, daß das Wort für seine Leser
Ersatz des Lebens ist; er weiß aber auch, daß er mit seinem Werke eine Wirkungs-
ursache setzt, die nicht wieder auszulöschen ist, eine prima causa, die in die Jahr-
hunderte, ja Jahrtausende hinein fortwirkt und fortzeugt, menschlich-ewige Tat, aus
der sich Segen, Fluch, Kampf, Mord, Freude, Friede — aus der sich Chaos oder
Kosmos der Welt gebären kann. Diese Besinnung hat den Aktivismus auf die
Beine gebracht. Er ist nichts anderes als die Mahnung : durch Wortwerke zu nichts
Unmenschlichem in der Welt den Anstoß zu geben. Diese Aktivisten spüren in
sich, was Christian Morgenstern einmal so formuliert hat: »Wenn ein Schriftsteller
sich jederzeit der Macht bewußt wäre, die in seine Hand gegeben ist, würde ein
ungeheures Verantwortlichkeitsgefühl ihn eher lähmen als beflügeln. Auch das
Bescheidenste, was er veröffentlicht, ist Same, den er streut, und der in anderen
Seelen aufgeht, je nach seiner Art.«
334 BEMERKUNGEN.
Es ist nicht nur eine sozusagen organische Feinheit, die den Künstler vom
Neurotiiter scheidet, sondern es ist diese Geistigkeit, diese Weite seines Kultur-
bewußtseins, die ihm ermöglicht, seine überschüssigen Energien in Werke umzu«
setzen — was selbstverständlich ebensowenig eine »Erklärung« der künstlerischen
Veranlagung ist wie die Theorie der Psychoanalytiker. Der Dichter fügt sich dem
gewaltigen Verbewußtheitungsprozeß, den wir Kultur nennen, freiwillig ein. Er
wächst über den subjektiven Genuß an der Entspannung seiner Energien hinaus
zur Erkenntnis seiner objektiven Funktion, im letzten und erhabensten Falle des
Genies zur Erkenntnis seiner menschlichen und menschheitlichen Mission. Er
schwebt zwischen seiner biogenetischen Bedingtheit und dieser teleologischen Frei-
heit, die kein Spiel erlaubt. Ein besonders glückhaffes, begnadetes Verhältnis von
Vitalitätsüberladung und dieser teleologischen Einordnung, geheimnisvoll, rätselhaft
in der Fruchtbarkeit seiner Polarität: das macht den Dichter. Nur ganz selten wird
diese glückhafte Balance des Genies erreicht, und auch dem Genie ist nur in ganz
seltenen Stunden diese Sicherheit, aus der die ganz großen Werke der Kunst hervor-
gehen, die gleicherweise beiden Sphären angehören, beschieden. Das macht ja
letzten Endes auch alle »Tendenzwerke« unkünstlerisch, d. h. nimmt ihnen die
Suggestivkraft zur Abreaktion beim Aufnehmenden, daß diese Balance fehlt, daß in
ihnen Ethiker, also Antikünstler, aus dem Verstände heraus die Technik des Sub-
limierungsvorganges benutzen, ohne daß sie biologisch, d. h. von dem Überschusse
ihrer Vitalität zu ihrem Werke gezwungen waren. Die vitale Zwangslage ist ebenso
wichtig wie das kulturelle Zweckwollen; aber auch: das kulturelle Zweckwollen ist
ebenso wichtig wie der vitale Zwang zum Schaffen.
Es liegt an der relativ niedrigen Stufe des Bewußtseins, die wir erst von den
Vorgängen beim künstlerischen Schaffen haben, daß die Künstler selbst noch wenig
von der subjektiven Entladungsfunktion der Kunst zu sagen wissen. Immerhin fällt
es leicht, von Künstlern, die die Selbstanalyse liebten, schlagende Worte anzuführen.
Goethe kommt in Betracht, ebenso Hebbel, an dessen Satz über Shakespeare er-
innert sei. Hier seien einige weniger bekannte Zitate angeführt. In aller Kraßheit
schreibt Flaubert: »Bewahre deinen Peniskrampf für den Stil.« Ebenso scharf
formuliert Nietzsche: »Keuschheit ist bloß die Ökonomie eines Künstlers. Es ist ein
und dieselbe Kraft, die man in der Kunstkonzeption uud die man im geschlecht-
lichen Aktus ausgibt« (Fragment zur Physiologie der Kunst). Beide haben für ihr
Leben die Konsequenz aus diesen Erkenntnissen erzogen; wie sich solche Erkennt-
nisse überhaupt bereits zu einer Art Technik des Erlebens umzuformen beginnen.
In viel größerem Maße und mit bedeutend größerer Sicherheit haben die
Dichter die objektive Funktion des Künstlers festgestellt. Allerdings ist da kaum
eine Einheit der Meinungen vorhanden, und man muß wieder zum Schema der
Polarität greifen, um das Einheitliche der beiden auseinandergehenden Ansichten
zu umfassen. Wir glauben nicht fehl zu gehen, wenn wir zwei Hauptmeinungen
ansetzen und zwei Haupttypen der kulturellen Einstellung des Dichters annehmen.
Wir nennen sie die Typen des statifizierenden und des dynamisierenden
Dichters.
Zweierlei Kulturarbeit leistet der Dichter mit seinem Werke : eine Bewahrungs-
arbeit und eine Kulturpionierarbeit. Der dauernde gereizte Kampf, der zwischen
den Anhängern der beiden Leistungsformen geführt wird , nimmt meistens die
Wendung, daß bald die eine, bald die andere als die »einzig wahre« Form der
Kunst ausgeschrien wird. In Wirklichkeit haben beide Formen ihren Wert und
sind unlöslich miteinander verbunden, ja die einzelnen Persönlichkeilen, von denen
gewiß einige mehr zu der einen, andere mehr zu der andern Form neigen, machen
BEMERKUNGEN. 335
fast sämtlich in der Entwicklung ihrer Individualität eine Entwicklung von der einen
Form zur anderen durch. »Wie in der Menschheit«, sagt Wilhelm Bode gelegentlich
Goethe, »so liegt auch in jedem einzelnen Menschen beides: die Anerkennung des
Wirklichen und die Sehnsucht nach der vorgestellten höheren Welt . . . Wir alle
denken uns aus, wie Menschen und Dinge eigentlich sein sollten ; der Künstler aber
steht beständig vor der Frage, ob er das Wirkliche nachbilden soll oder dessen
Erhöhung.« Setzt man für »Erhöhung« etwa den Begriff Problematisierung, so wird
noch klarer, worauf wir hinauswollen.
>Es ist die Aufgabe der Kunst,« definiert Leo Tolstoi, »die höchsten und
wertvollsten Gefühle der Menschenseele zu überliefern.« Der Dichter ist also der
Historiker der Menschheit; der wirkliche Historiker, der nicht die Historie von un-
sinnigen Mordtaten und Wirtschaftsverschiebungen , sondern die Geschichte der
Menschenseele niederschreibt. Für die Lyrik hat Hebbel einmal die gleiche historische
Aufgabe gestellt: »Die lyrische Poesie soll das Menschenherz seiner schönsten,
edelsten und erhabensten Gefühle teilhaftig machen.« Die Lyrik ist also zugleich
auch, paradox gesagt, Epik. Alle Kunst ist Epos: das Epos der Menschheitsent-
wicklung, das sich gleichsam automalisch schreibt. Doch geht diese Entwicklung
in einem Schema vor sich, die den Einzelnen immer gegen das beharrende Ganze
stellt. Und so tritt auch die große lyrische Persönlichkeit mit ihrem feineren und
differenzierteren Fühlen immer zunächst gegen das Allgemeingefühl auf, bis sich
schließlich ihr neues Erlebnis zum Allgemeinerlebnis erweitert. Sie ist so Entdecker,
Pfadfinder im weiten Land der Seele; sie stellt immer wieder an den Leser oder
Hörer die Frage: hast du das auch schon erlebt? und steigert, vertieft, erweitert
und verfeinert die Erlebnisfähigkeit. Geibel hat beide Funktionen sehr gut in einem
Doppeldistichon zusammengefaßt:
»Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen, was allen gemein ist,
wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf;
oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge
leihn, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt.«
Der Problematiker Hebbel hat der »Poesie« im allgemeinen eine dynamisierende
Funktion zuerkannt. »Das Problematische ist der Lebensodem der Poesie und ihre
einzige Quelle; alles Abgemachte, Fertige, still in sich Ruhende ist für sie nicht
vorhanden . . . Nur wo das Leben sich bricht, wo die inneren Verhältnisse sich
verwirren, hat die Poesie eine Aufgabe,« und an anderer Stelle: »Steigerung ist die
Lebensform der Kunst.« Egon Friedell hat sich mit beiden Funktionen in seinem
hochbedeuisamen Buche 'Ecce poetw^ auseinandergesetzt. »Der Dichter ist dazu
da,« schreibt er, »das Problem des Daseins in allen seinen Teilen komplizierter,
widerspruchsvoller und unlöslicher zu gestalten.« Doch an anderer Stelle: »Bisher
war der Dichter ein Mensch, der die Wirklichkeit so lange zurechtbiegt, zurechtlügt,
bis sie ästhetisch wirkt. Er hielt es für seine Aufgabe, die , Defekte' der Realität
zu korrigieren. Aber der Defekt war im Betrachter. Die ganze bisherige Ästhetik
ist ein Irrtum,« und, für den objektiven Epiker im Sinne Flauberts kämpfend: »Der
Dichter ist seiner Zeit wertvoll als Photogramm, für ihr gegenwärtiges und zu-
künftiges Leben . . . Der richtige Epiker ist identisch mit der Natur, die ebenfalls
ohne Pathos vernichtet. Er ist eine geheimnisvolle Kraft, die fremd über dem Leben
thront, es kalt schildert: ein klarer, glatter, glänzender Spiegel, der die Dinge auf-
fängt; während andere Dichter an ihren Geschöpfen aufs tiefste leiden. Sein Herz
bleibt unbewegt, ergreift niemals Partei: das eben macht sein Genie aus.« Dieser
objektive Epiker ist ein Ideal, zu dem sich Flaubert zu züchten suchte. Vor ihm
hat wohl nur Shakespeare, scheinbar, diese Objektivität erreicht — diese Objektivität,
336 BEMERKUNGEN.
die den Haß derer beschwört, die dem Dichter durchaus nur die dynamisierende
Funktion zueri<ennen wollen. Etwa den Haß des Aktivisten Hiller, der über Shake-
speares Objektivität schrieb: »Unser großer Unmöglicher, Ungeist (mit Oeistein-
sprengsein), theaterzaubernder Quietist, Prototyp des Tendenzlosen: Shakespeare.
Er beschrieb mit michelangelesker Wucht, das ist wahr, aber ... er beschrieb. Ein
Ungeheuer an Kraft, ein gewaltiger Schöpfersmann, hieb er die Welt hin, schuf sie
noch einmal — aber schuf sie nicht neu. Tolstoi hatte recht, ihn unsittlich zu
nennen. Denn Wiederholen ist unnütz, kindisch, im titanischen Fall ruchlos; es
kommt auf Ändern an.« Abgesehen davon, daß Hiller Shakespeare wohl zu wenig
kennt, da er nicht zu wissen scheint, daß dieser »Quietist« in »theaterzaubernden
Stücken« wie »Maß für Maß« und anderen recht sehr auf eine Änderung der Welt
hinaus ist (wenn auch nicht mit suggestionsloser Tendenz), so ist es interessant,
diese Meinung von 1918 — Meinung einer ganzen Generation! — noch einer anderen
Stelle aus Fridells »Ecce poeto" gegenüberzustellen, um die polaren Einstellungen
zweier, nur durch wenige Jahre getrennten Generationen herauszuarbeiten. Es heißt
da: »Der äußerste Gegensatz der Genialität ist die Subjektivität. Je subjektiver ein
Mensch in die Welt blickt, desto weniger kann er Genie, das heißt Weltauge sein.
Je unpersönlicher er ist, je mehr er sich in allem und jedem zu objektivieren vermag,
je mehr er allen Dingen und Ereignissen gegenüber nichts zu sein strebt als photo-
graphische Platte, desto genialer ist er, desto mehr ist er Künstler.« In aller Kraß-
heit stehen sich in den beiden Zitaten die Extreme gegenüber, die Extreme von
Idealismus und Realismus, von Expressionismus und Impressionismus, von Aktivis-
mus und Objektivismus oder, wie wir allgemeiner, um alle diese Polaritäten in eine
formal weit genug gefaßte Antithese zu bringen, sagten: Die Extreme der dynami-
sierenden und der statifizierenden Funktion der Kunst.
Probleme zu Ende denken, heißt immer wieder, Antinomien feststellen und von
ihnen, vor denen die Begriffe von »richtig« und »falsch« sinnlos werden, halt zu
machen. Nur Flachköpfigkeit glaubt, Probleme »lösen« zu können. Dieses Problem
der Kulturfunktion der Kunst, das sich bis zum Entweder-oder zuspitzen kann:
Kunst oder Kultur? ist viel zu kompliziert, als daß man mehr erreichen könnte, als
es zu umschreiben. Das Genie wird immer wissen, wo seine Kraft liegt. Es wird
diese Frage: Kunst oder Kultur? zu beantworten wissen; denn in ihm fallen beide
zusammen, fällt der vitale Zwang mit dem teleologischen Wirkungswillen zusammen.
Subjektive und objektive Kulturfunktion sind in seinem Schaffen eine Einheit; und
deshalb vermag es auch die anderen zu erlösen.
Besprechungen.
Natur und Oeisteswelt. Verlag von B. O. Teubner in Leipzig.
Leser dieser Zeitsciirift, die nicht Facliphiiosophen sind, fragen mich öfter nach
kurzen Darstellungen wichtiger philosophischer Gebiete, da sie gerade im Zusanimen-
hang mit ästhetischen Arbeiten das Bedürfnis empfinden, sich über Philosophie be-
lehren zu lassen. Ich empfehle dann gern, außer Meiners »Philosophischer Biblio-
thek«, die Bändchen, die bei Göschen, Quelle und Meyer und Teubner erschienen
sind. Vielleicht ist es auch anderen Lesern erwünscht, zunächst einmal über die
von Teubner veröffentlichten kleinen Bücher etwas zu erfahren.
Eine allgemeine Auseinandersetzung über Wesen und Grundfragen der Philo-
sophie enthält Bd. 186, verfaßt von Hans Richert, ehemals Oberrealschuldirektor
in Posen. Hierin findet sich auch ein Abschnitt über Ästhetik. Er zeigt dieselben
Merkmale wie das Ganze: er bringt nichts geradezu Falsches, aber auch nirgends
wirkliche Aufklärung, er ruht weder auf einer zureichenden Kenntnis des gegen-
wärtigen Standes unserer Wissenschaft noch auf einer selbständigen Anschauung
von den Problemen. Ich finde das Buch unbedeutend. — Eine beträchtliche Höhe
dagegen erreicht Edvard Lehmanns Beitrag zur Sammlung Teubner: Mystik
im Heidentum und Christentum« (Bd. 217). Da Lehmann höchst lebendig, manch-
mal fast burschikos schreibt, so wird man von seiner Darstellung ebenso wie vom
Stoff gefesselt, und dabei steht er zu seinem Gegenstand nicht eben freundschaft-
lich. Er rühmt als der Mystik Tat nur dies, daß sie das Kommen eines Tages an-
kündigt, und warnt vor ihr, weil sie gar leicht ein Abenddunkel werden kann, das
sich als undurchdringliches Zwielicht um die Seelen legt«. Gestalten der primitiven,
der indischen, der persischen Mystik ziehen an unseren Augen vorüber. Dann be-
schäftigen wir uns mit Plato (der die Mystik der Persönlichkeit an Stelle der Natur-
niystik gesetzt habe) und mit Christus (der nicht Askese, Ekstase, Intuition gefor-
dert, nicht Vereinigung, sondern Gemeinschaft mit Gott gelehrt habe). Gut wird
nun gezeigt, wie Plato bei Philo und Clemens und namentlich beim Areopagiten
nachwirkt. Scharfe Worte fallen gegen Meister Eckhart und gegen den mittelalter-
lichen Realismus. Von Luther ab wird die Schilderung kürzer und hört im Grunde
schon mit den Quietisten auf. — Gehen wir zu allgemeineren philosophiegeschicht-
lichen Versuchen über, so stoßen wir auf eine schon in vierzigtausend Stücken ver-
breitete Schrift von Ludwig Busse: »Die Weltanschauungen der großen Philo-
sophen der Neuzeit« (Bd. 56). Weshalb sie so beliebt ist? Weil sie auf dem Grunde
herkömmlicher Voraussetzungen die klassisch gewordenen Systeme faßlich und
nüchtern darstellt. Ein Schulbuch, allen Prüflingen wohl zu empfehlen. — Selb-
ständiger und lebensvoller ist die geschichtliche Einleitung in die Philosophie von
Jonas Cohn, betitelt »Führende Denker« (Bd. 176). Vor allen Dingen besitzt
der Verfasser die Gabe, sich in die Stimmung des noch nicht unterrichteten, aber
geistig reifen Lesers hineinzufühlen, und er hat den Mut zur Unvollständigkeit
(der sich gelegentlich auch in einen Mut zur Unrichtigkeit verwandeh); außerdem
steht er — - naturgemäß — dem philosophischen Fühlen der Gegenwart näher als
Zeitschr. f. Ästhetik u. Mg Kunstwissenschaft. XV. 22
338 BESPRECHUNGEN.
der bereits 1907 verstorbene Busse. Somit wäre es erwünscht, wenn das Büchlein
Ton der jetzt erreichten dritten Auflage bald zu der sechsten gelangte, die der Busse-
schen Schrift vergönnt gewesen ist. — Weiterhin nenne ich zwei tüchtige Arbeiten
jüngerer Gelehrter. JohannesM. Verwe'yen hat eine »Naturphilosophie« (Bd. 491)
geschrieben, in der Probleme und Bestrebungen neuerer (allerdings nicht neuester)
Forschung übersichtlich behandelt werden. Von Kurt Joachim Grau stammt
ein »Grundriß der Logik« (Bd. 637), der bei dem Mangel an kurzen Lehrbüchern der
Logik des Erfolges sicher, aber auch an sich betrachtet des Erfolges würdig ist.
Leider fehlen die Ergebnisse der Untersuchungen von Brentano und Lask sowie die
der symbolischen Logik; wenn es zu schwer war, sie hineinzuarbeiten — obwohl
es möglich gewesen wäre — , so hätten sie wenigstens in einem besonderen Ab-
schnitt über die Reform der schulmäßigen Logik mitgeteilt werden sollen. — Oft und
meist gut ist die Psychologie in der Schriftenreihe vertreten. Ernst von Aster
gibt eine philosophisch unterlegte, unparteiische, sachkundige »Einführung in die
Psychologie« (Bd. 492), während Braunshausen (Bd. 484) sich auf die experi-
mentelle Psychologie beschränkt, hierbei jedoch viel zu sehr auf willkürlich heraus-
gegriffene Einzelheiten eingeht. Kreibigs nicht üble Abhandlung über die Sinne
des Menschens (Bd. 27) bedarf mehrfach einer Überprüfung, Verworns »Mechanik
des Geisteslebens« (Bd. 200) ist im Grunde eine Physiologie des Zentralnerven-
systems, dargeboten unter voller Beherrschung des Tatsachenstoffs (weshalb aber
fehlen die Vogtschen Forschungen?) und in klarer Anordnung. Ein Doppelband
(213/714) ist der Psychologie des Kindes gewidmet. Der Verfasser, Robert Gaupp,
hat sich den auf diesem Gebiet führenden Männern — auch in bezug auf Phantasie,
Spiel und Kunst des Kindes — angeschlossen und aus Eigenem allerhand Nützliches
beigesteuert. Zum Schluß erwähne ich das brauchbare Heft Trömners über
Hypnotismus und Suggestion (Bd. 199) und die rühmenswerte Bemühung Baer-
walds (Bd. 560), Licht zu tragen in das dunkle Gebiet des Okkultismus, des Spiri-
tismus und der unterbewußten Seelenzustände. — Im ganzen also kann ich unseren
Lesern raten, für philosophische und psychologische Belehrung sich der Teubner-
schen Sammlung anzuvertrauen.
Berlin. Max Dessoir.
Walter Gurt Behrendt, Der Kampf um den Stil im Kunstgewerbe
und in der Architektur. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin
1920. Mit 29 Abbildungen. 276 S.
Die von Lamprecht und Helmolt begründete Sammlung »Das Weltbild der
Gegenwart« hat uns bereits »die bildende Kunst der Gegenwart« von Wilhelm
Hausenstein beschert und die »Weltliteratur im 20. Jahrhundert« von R. M. Meyer.
Nun folgt nach längerer Pause das Buch von Behrendt. Zu dem etwas plakat-
mäßig aufgedonnerten Titel steht in wohltuendem Gegensatz der vortreffliche In-
halt. Nüchterne Klarheit und phrasenlose Sachlichkeit zeichnen alle Ausführungen
Behrendts aus; in den Werturteilen bewähren sich ruhige Besonnenheit und kennt-
nisreiche Umsicht. Man merkt die strenge und straffe Schulung Karl Schefflers, zu
dessen Hauptmitarbeitern an »Kunst und Künstler« Behrendt zählt. Nur erreicht
er nicht die unerschrockene Gedankenkühnheit und damit Originalität Schefflers,
sowie den lebensvollen Adel seiner Sprache. Dafür ist er auch vor Entgleisungen
geschützt, bewahrt stets anständiges Niveau: niemals letzte Tiefen aufspürend, bis-
weilen geschickt eklektisch, an keiner Stelle platt und trivial.
Behrendt geht von der Überzeugung aus, daß die Voraussetzungen für die Ent-
stehung eines Kunststils erst erfüllt sind, wenn sich im Schöße einer gefestigten
I
BESPRECHUNGEN. 339
Gesellschaft ein herrschender Lebensstil herausgebildet hat. Mehr noch als Malerei
und Plastik, die der persönlichen Freiheit des Künstlers weitere Grenzen gewähren,
ist die Baukunst, deren Schicksal zur Hälfte immer eine Bauherrnfrage ist, und das
ihr dienstbare Kunstgewerbe, dessen Meisterschaft zum guten Teile auf handwerk-
lichen Traditionen beruht, von der Wirksamkeit solcher sozialen Bedingungen ab-
hängig. Die moderne kunstgewerbliche Bewegung ist durchaus nicht rein künstle-
rischen Ursprungs. Der Wille zum Stil ist auch hier nicht einem starken, ursprüng-
lich schöpferischen Formentrieb entsprungen, der nach Betätigung und Entfaltung
drängte. Tiefgründige pädagogische und moralische Überlegungen wirkten mit.
Die Bewegung entstand auf intellektuellem Wege, gefördert durch eine energische
Tat menschlichen Willens. Aufs engste verknüpft mit den geistigen Tendenzen
ihrer Zeit, stellt sie eine neue Phase jener angestrengten Versuche dar, die das
IQ. Jahrhundert um die Gewinnung einer künstlerischen Oesamtkultur unternommen
hat. In den auf die Überwindung des Impressionismus gerichteten Kunstströmungen
hat man die Quelle der modernen kunstgewerblichen Bewegung zu suchen. Zu
derselben Zeit etwa, als sich in der Malerei die natürliche Reaktion auf den Im-
pressionismus bemerkbar machte, als man in der Differenzierung und Auflösung
der Form die letzte Stufe erreicht hatte und sich aufs neue nach rhythmisch-orna-
mentaler Gebundenheit zurücksehnte, begann auf dem Kontinent das moderne eng-
lische Kunstgewerbe bekannt zu werden.
In zwei Teilen baut Behrendt sein Buch auf. Der erste behandelt das Kunst-
gewerbe, der zweite ist der Architektur gewidmet. Die Einleitung bespricht die
allgemeine geistige und wirtschaftliche Konstellation. Der kunstgewerbliche Ab-
schnitt skizziert zuerst den Entwicklungsgang der Kunst im 19. Jahrhundert; be-
ginnend mit dem Schönheitsbegriff des Klassizismus und ausklingend in den Be-
mühungen um einen neuen Stil. Das zweite Kapitel dieses Teiles sucht die »neue
Gesinnung« aufzuweisen und verweilt besonders eingehend beim »Beispiel« Eng-
lands und Belgiens. Der neuen Form gilt das dritte Kapitel. Das vierte schildert
die Reaktion durch Rückkehr zum Klassizismus und Biedermeier, durch Zurück-
drängung des bildenden von dem dekorativen Formprinzip. ^Das Kunstgewerbe
als Ware« nennt sich das nächste Kapitel, das sehr interessant den Werkbund-
gedanken erörtert, das Qualitätsideal, den Massenabsatz usw. Abschließend werden
die einzelnen Leistungen gewürdigt: Buchkunst, Plakat, Gewebe, Keramik, Porzellan,
Glas, Schmuck, Möbel. Der Architekturteil nimmt seinen Ausgangspunkt von der
Alleinherrschaft des Renaissanceideals in der modernen Baukunst und erblickt in der
Abkehr von ihm die Grundbedingung für einen neuen Baustil. Der Reihe nach werden
uns dann die Probleme der bürgerlichen und öffentlichen Baukunst vorgeführt, die
Bauten des Welthandels und des Weltverkehrs, sowie die städtischen Bauaufgaben.
VermilU habe ich tiefer dringende Einzelanalysen besonders ausgezeichneter
Werke; der Verfasser bleibt zu sehr im allgemeinen; aber in der Kunst entscheidet
letztlich das Individuelle. Und diese Höhepunkte fehlen seiner Arbeit. Es wäre
sehr dankenswert, wenn eine zweite .\uflage diese Lücke beheben würde.
Rostock.
Emil Utitz.
Otto Qrautoff, Fornizertrünimerung und Formaufbau in der bilden-
den Kunst. Berlin, E. Wasmuth, 1919. 86 S. u. 32 Abb.
Der Verfasser nennt seine Arbeit selber einen Versuch. Dort, wo es sich darum
handelt, die bunte Vielheit des in einem besonderen Grad an die Persönlichkeit
gebundenen künstlerischen Lebens, wie der Lauf der Jahrhunderte sie vor dem
340 BESPRECHUNGEN.
Beschauer ausbreitet, auf Gesetzmäßigkeiten und deren Typen zurücl<zuführen, da
wird es kaum zu vermeiden sein, daß das Resultat hinter der Idee zurückbleibt.
Wenn man von den etwaigen Mängeln einer ersten Zusammenfassung zunächst
ganz absieht, wird man gegen jede versuchte Reduktion leicht Bedenken geltend
machen können. Entweder wird beanstandet, daß sie nicht weit genug geführt ist,
oder man findet, daß sie zu weit getrieben wurüe. Im ersteren Falle durchdringt
sie dann nicht das ganze Material, so daß ihr vielleicht gerade der letzte mögliche
Grad der Einfachheit fehlt. Im anderen Falle vergewaltigt und verengt sie die
Fülle des Stoffes, so daß das Ergebnis leer und leblos wird. Reichströmendes
Leben mit seinem Reiz der Unmittelbarkeit und Gesetzmäßigkeit mit ihrer Kraft
Entwicklungszusammenhänge erkennen zu lassen sind ein Doppelideal, das in die
Kunstwissenschaft den Gegensatz von historischer und naturwissenschaftlicher Be-
griffsbildung und ihrer Methodik hineinträgt. Er kommt hier umso energischer zur
Geltung, als es sich um ein und dasselbe Wissenschaftsganze handelt.
Grautoff sucht Formaufbau und Formzertrümmerung als tieferliegende Gesetz-
mäßigkeiten in der Entwicklung der bildenden Kunst zu erkennen: angefangen bei
der ägyptischen und der frühgriechischen Kunst — erstere freilich nur genannt
(S. 13) — bis zur Kunstbewegung, die gegen Ende des abgelaufenen Jahrhunderts
einsetzte. Es ist das zweifellos ein fruchtbarer Gedanke und wäre es auch nur im
Sinne einer heuristischen Idee, die das ungeheure Material gliedert und überschau-
bar macht. Dazu kommt noch , daß Grautoff den formalen Gesichtspunkt mit dem
kulturgeschichtlichen in einem Nachklang der Hegeischen Denkweise zu vereinen
sucht.
Noch eines möchte besonders hervorzuheben sein: Grautoff sucht »die inneren
Bedingungen für den Stil in den bildenden Künsten« (S. 6) zu erkennen. Er be-
tont: »Es gibt kaum ein Thema der äußeren Bedingungen, das im vorigen Jahr-
hundert nicht ausführlich behandelt worden ist, so daß jeder jüngere Forscher in
dieser Beziehung nur weiter zu bauen braucht. Die inneren Bedingungen . . . sind
bisher weder in der gleichen Vielfältigkeit noch in derselben Weite behandelt
worden« (S. 6). Also auch hier eine der sich mehrenden Stimmen, die der Kunst-
forschung eine Fühlungnahme mit der Psychologie anraten. Die »Grundlage für
die inneren Bedingungen des Künstlers sieht Grautoff im Willen und Gefühl
(S. 7). Er betont selbst den Zusammenhang mit Alois Riegl. Nur merkt er an,
daß er die Begriffe weiter fasse als Riegl und sie anders in den Prozeß der Stil-
entwicklung einsetze und dementsprechend sie anders gliedere (S. 7).
Den Willen faßt Grautoff im kantischen Sinn (S. 7) und gewinnt dadurch einen
tragfähigen Unterbau für den Begriff der künstlerischen Abstraktion in seinem Sinn.
»Der Willensregungen gehorchende Künstler hebt einen Erkenntnisinhalt heraus
und überträgt ihn in die Kunstform . . . das Wesentliche ist ihm, seinen Begriff von
der Welt, von Menschen und Bäumen, seine Erkenntnis von Regeln und Gesetzen
im Kunstwerk zur Anschauung zu bringen ... Er sucht das Typische, das von ihm
als allgemeingültig Erkannte . . .« (S. 10). Dieser Mentalität des Künstlers entspricht
seine Sehweise: sie ist plastisch (S. 10, 15), und aus beidem leitet sich — wenn
auch nicht gerade ausschließlich — der Charakter der von ihm geschaffenen Kunst
her: »Ein abstraktes Kunstwerk wird ... in einer klaren und übersichtlichen Formen-
sprache vorgetragen sein. Es wird Rhythmus und Symmetrie zeigen« (S. 10).
Gerade »die Skandierung der Farben und Formen im Bilde entspringt ebenfalls dem
Drange, Ordnung in das Scheinhafte und Zufällige der Welt zu bringen, eine Idee
der Gesetzmäßigkeil dem Beschauer zu vermitteln, — also einem Willen zur Ab-
straktion« (S. 40). Mit begrifflicher Schärfe definiert Grautoff: »Eine solche Kunst
BESPRECHUNGEN.
341
ist abstrakt, weil sie die Sinneseindrüci<e der Außenwelt nur insofern gelten läßt,
als sie sich mit dem begrifflich Erkaimten und Vorgestellten decken« (S. 8).
Seinen liegriff vom Gefühl legt Orautoff in keiner bestimmten Fassung vor.
Er setzt sofort ein: -Der vom Gefühl ausgehende Künstler erlebt durch die Inten-
sität seiner Sinne das Ineinanderverwachsensein aller Dinge. Er stellt nicht a priori
Erkanntes dar, . . . sondern will das Erlebnis seiner Sinne oder seiner Seele, das
Kosmische im Ich und d.is Ich im Kosmos und damit das Relative, konkretisieren
... da er erfahren hat, daß in der Welt kein Ding für sich bestellt, sondern alles
untereinander in Beziehung steht, so hebt er nicht einzelne Teile heraus, sondern
will die Inlialtsfülle der Erscheinungs- oder Gefühlswelt als Ganzes widerspiegeln.
Er sieht nicht die Gegensätze, sondern die Verbundenheit von Massen in Hell und
Dunkelt (S. 10 f.). Die Formensprache leitet Grautoff von der Eigenart des mensch-
lichen Gefühls ab, die sich ausspricht in der Tendenz zur »Selbstaufgabe in der
Geliebten, in der Natur* usw.: »Linien, Formen, Flächen und Farben bleiben niemals
isoliert, sondern gehen ineinander über« (S. 11). Es stehen sich also die beiden
Stilarten gegenüber wie die Gestaltung von begrifflich Erkanntem (S. 12, 13, 17)
und Willeiismäliigem (S. 16, 26 f., 40) und die Gestaltung von gefühlsmäßig Er-
lebtem (S. 12, 26, 28) und von Formaufbau und Formzertrümmerung. Grautoff ruft
für letzteres auch die Kunstgeschichte auf: der Verlauf jeder Kunstepoche lehrt ihn,
»daß formauflösende Tendenzen nur innerhalb einer reinen Qefühlskunst zum Durch-
bruch kommen können« (S. 40).
Die Frage, ob die Zuordnung von Willenskunst und Formaufbau einerseits und
von Qefühlskunst und Formzertrümmerung anderseits wenigstens als möglich oder
•«l5 Äalieliegend, wenn auch nicht als einzig möglich und notwendig angesprochen
werden kann, üst vielleicht gar nicht eindeutig zu beantworten. Wenigstens nicht
von der Psychologie aus. Vor allem wird man geltend machen können, daß die
Psychologie als Typus des Denkens nicht nur den »auf das Typische und Absolute^
(S. 10) gerichteten kennt, sondern ebenso ein Denken, das das »Relative», das
Funktionelle, die übergreifenden Zusanimeishänge sucht. Historisch gesprochen:
neben der cleatischen Denkweise mit dem starren Sinn steht die heraklitische mit
der durchgehenden Umbildung oder neben dem platonischen Denken, das im wahr-
haft Seienden sein eigentliches Objekt sieht, steht das Hegelsclie Denken, für das
selbst das Gesetz der Idenlität aufgehoben ist. »Daß in der Welt kein Ding für
sich besieht, sondern alles untereinander in Beziehung steht»; (S. 10), kann nicht
allein die »Intensität der Sinne« (S. 10) lehren, sondern auch das Denken. Und
das Gefühl: es mag wie im Wehschrei oder im Jauchzen der Lust nach außen sich
ergießen und, ins Bildnerische gewendet, gleichsam die l?ahnen des Lineainents im
Umriß durchbrechen und zerbrechen. Oder es mag sich nach innen einwühlen und
wie ein verzehrendes Feuer im Innern die gesamte lineare Struktur zerstören, .^bcr:
ebenso kann das mit zuckendem Gefühl geladene Erlebais gleich dem Blitz in
Linien niedcrfahren. Ebenso gut wie das Gefühl mit sublimer Zartheit die Grenzen
der Form und ihre Fläche schonen, ja geradezu über ihre Unversehrtheit wachen
kann. Das ist freilich nicht mehr reine Psychologie des Bewußtseins. Hier spricht
schon die Anschauung mit, wie sie durch das kunsthistorische Material vermittelt
wird. Man mag für diese beiden Fälle der Fornierhaltung etwa denken ( — in um-
gekehrter Reihenfolge — ) an die Heimsuchung« vom Meister des Marienlebens
oder an weibliche Akte von Ingres. Und dann an die »Verkündigung« des Sienesen
Lippo Memini (Florenz Uffizien) oder an die von Botticelli (Florenz Uffizien).
Überall ist das Gefühl der Saft, der durch die Linie zieht. Daß endlich der Wille
unter Umständen auch nicht die von Linien umschlossene Form schont, das sagt
342 BESPRECHUNGEN.
z. B. der reif donatelleske »Johannes der Täufer«. Hier muß freilich darauf ge-
achtet werden, daß Orautoff den Willen stark intellektualisiert (S. 7 f., 56 »aus dem
Verstand und damit aus dem Willen . . . abgeleitet«, vgl. S. 9, 17). Dieser Wille
geht über Kant noch weiter zu Spinoza zurück. Er hat mit (mathematischer) Form-
gesetzlichkeit mehr inneren Zusammenhang als der vom Lebensdrang erfüllte Wille
Schopenhauers-Nietzsches. Auch das will berücksichtigt sein, daß Grautoff Gefühl
und Wille nicht schlechthin antinomisch entgegensetzt: »Ich unterscheide«, schreibt
er, »einen Stil, dessen Ausdrucksformen der Wille prägt, und einen Stil, der durch
das Gefühl seine Form erhält, dazwischen einen Stil, in dem Ausdrucksformen des
Willens und des Gefühls nebeneinander auftreten, und über den beiden Grundstilen
einen vierten, in dem Wille und Gefühl zu einer Synthese ineinanderwachsen«
(S. 7). Solche Synthesen sieht Grautoff in der Antike, in der Renaissance und auch
in der Gotik (S. 22). Von letzterer meint er sogar, daraus, daß Wille und Gefühl
»auf ihrem Höhepunkte gleich stark beteiligt waren« (doch S. 13), indem »die ab-
strakten Forderungen von konkretem Leben ganz erfüllt^ waren, daraus lasse sich
erkennen, daß die Gotik in keinem prinzipiellen Gegensatz zu einer der andern
Perioden stehe.
Ob nicht gerade von diesem Punkte aus sich Bedenken erheben gegen die Ab-
leitung der Stilentwicklung aus den inneren Faktoren »Wille und Gefühl«? Man
möchte fragen, wo ist dann das »Individuationsprinzip« für die einzelnen Formen
der Synthese zu suchen? Grautoff unterscheidet das eine Element wohl in das
seelisch-transzendente Gefühl der Gotik und in das sinnliche Gefühl der Renais-
sance (S. 24 f., z.V. 16). Gewiß keine dialektische Begriffsspaltung, wenn auch die
allgemeine Psychologie diese Differenzierung nicht kennt. Aber die Synthese läßt
ihn doch auch sie wieder vereinen (S. 24).
Dieser, vielleicht darf man sagen, nivellierenden Angleichung der Grundelemente
in der Synthese steht aber doch die Hauptthese gegenüber, daß formauflösende
Tendenzen nur innerhalb einer reinen Gefühlskunst zum Durchbruch kommen
können (S. 40). Das lehrt der Verlauf jeder Kunstepoche. In diesem großen Zug
und in dieser Weite wird man der These mehr Bedeutung zusprechen können als
der Beschreibung der Gefühlskunst (auf S. 10 f.), die sie begrifflich unterbauen soll.
Der Dualismus von Wille und Gefühl im Sinne der inneren Bedingungen für
die Stilformen des Formbaues und der Formzertrümmerung ist trotz der Aufstellung
der synthetischen Stilform das. was den Verfasser — wenigstens in dieser Schrift —
hauptsächlich interessiert. Und dabei wendet sich seine Aufmerksamkeit der Form-
zertrümmerung noch ganz besonders zu. Unter diesem Gesichtswinkel sieht Grau-
toff die spätrömische Kunst: »Die Geschichte der spätrömischen Kunst zeigt die
Entwicklung der Formenzertrümmerung innerhalb der antiken Tradition« (S. 37).
Und fortschreitende Formauflösung ist für Grautoff auch die Signatur der modernen
Kunst vom 16. und 17. Jahrhundert an (ebenda). Wenn auch Schichten wie das
Ideal der Akademien des 17. Jahrhunderts, der Klassizismus vom Ende des 18. Jahr-
hunderts und der Akademismus des 19. Jahrhunderts sich quer zwischen die Phasen
der Entwicklung schieben, schließlich siegt doch der Impressionismus mit der Auf-
lösung der Einzelform (S. 37—48), dessen Werk der Expressionismus zu Ende führt
mit der Zertrümmerung der Bildform (S. 49—56). Es steckt gewiß ein guter Kern
in der Behauptung: »Unter dem Gesichtspunkt der Zersetzung jeglicher Stabilität
ist der Expressionismus keine Gegenbewegung des Impressionismus, sondern .seine
logische Fortführung, in deren Verlauf die Formauflösung bis zu ihren letzten
Konsequenzen getrieben wird (S. 49; z. v. S. 47). Nur geht Grautoff nach unserem
Urteil doch zu weit, wenn er schließlich meint: »Sowohl der dingbefreite als auch
BESPRECHUNGEN.
343
der am Gegenständlichen haftende Expressionismus hat den Sinn der bildenden
Kunst überspannt, indem die Künstler versuchten, durch das Sprengen und Zer-
schlagen der letzten Reste optisch faßbarer Formen, die die Impressionisten von
sinnlicher Erscheinung noch übriggelassen hatten, das Wesen der Dinge bloßzu-
legen« (S. 52 f.). Man wird statt von einem Zerschlagen der letzten Reste optisch
faßbarer Formen schlechthin besser von einem Zerschlagen naturalistischer Formen
sprechen. Und man kann eine Korrektur in diesem Sinne bei Orautoff selbst finden,
wenn er von den stärkeren Potenzen der Cezanne-Nachfolge schreibt: »Ihr Suchen
nach dem Sein der Dinge, ihr Drang nach Vereinfachung und Klärung führt sie
dazu, von der konkreten Erscheinung so weit zu abstrahieren, wie es ihre Ver-
anlagung bedingt. Ihre Werke gewinnen dadurch an kompositioneller Organisation,
an Tiefe der absoluten Deutung der Erscheinungen und an Kraft des Ausdrucks
Die Richtung ihrer Kunst geht auf eine neue Klassik zu« (S. 79). Die Stelle legt
in anspruchsloser Form bedeutsame Tendenzen in der modernen Kunst klar. Nur
scheint es, daß Orautoff diese »Richtung«, in der er die Zukunft sieht, von Futuris-
mus, Kubismus und Expressionismus scheiden will (S. 76). Das dürfte nur im
Sinn der Heraushebung zulässig sein. Was Orautoff sonst noch über die jüngste
Kunstbewegung sagt, sowohl in formaler Hinsicht als auch in kulturpsychologischem
Betracht, ist als Charakteristik wie als Kritik mehr als einmal so, daß es die Sache
klärt. So z. B.: »Der Expressionismus der Deutschen bedeutet das Freiwerden der
seelischen Energien aus den Forderungen der griechisch-römisch-französischen Welt
nach Klarheit, Maß und Harmonie« (S. 75). Oder: ». . . Diese Umprägung künstle-
rischer Werte hat eine Bedeutung, die dem Werden . . . eines neuen Stiles nur von
Nutzen sein kann, indem sie ... ein neues Verhältnis zu Linien, Formen und Farben
ermöglicht > (S. 72 f,). Wenig glücklich will uns wenigstens die Bezugnahme auf
die staatlichpolilischen Ereignisse dünken. Nicht als ob ihre Gestalt überhaupt
für die Kunst irrevelant wäre. Aber wir meinen, sie können nur bei historischem
Abstand in die Betrachtung eingezogen werden; denn dann werden erst die tiefer
liegenden Faktoren und die Zusammenhänge faßbar. Einstweilen ist aus dem Zeit-
charakter der Kunst noch wenig davon abzulesen, welches die »geistigen Werte«
sind, die »im Bolschewismus liegen« (S. 86). Auch das Kapitel: Der Bildersturm
der neuen Jugend scheint uns für das Hauptproblem der Schrift wenig ergiebig zu
sein, ja das Niveau der Schrift herabzudrücken. Was darin positiv ist, ist viel zu
unbestimmt. So, wenn es heißt: »Vom Barock an begann eine langsame Zersetzung
der Formen im Bilde. Die Impressionisten und Futuristen lösten die Einzelformen
in duftigen Schein auf. Die Expressionisten zerschlugen die Bildform. Die Akti-
visten räumen das Trümmerfeld ab, damit der tätige Geist der neuen Jugend Raum
gewinnt für eine neue vita adiva (S. 64).
Noch ein paar Einzelheiten, die mit dem Aufbau des Ganzen in Zusammen-
hang stehen. Orautoff ist ein Kenner der aus der französischen Kultur, zuletzt aus
dem Pariser Boden, herausgewachsenen Kunst. Er schreibt von ihr: Die Fran-
zosen dürfen ... als die Erben Griechenlands gelten. Vo:ti 17. Jahrhundert an war
ihr ehernstes Kunstgesetz: Eurhythmie (S. 41). Als Beweis nennt er Poussin und
Claude Lorrain, Watteau und Boucher, Ingres und Puvis de Chavannes. Aber
auch in Mauet, Monet, Pissaro und Sisley sieht er die klassische, griechisch-roma-
nische Tradition lebendig. Bei Scurat und Signac spricht auch Orautoff nicht mehr
von Eurhythmie (S. 44). Dagegen ist ihm beim deutschen Impressionismus der
Verzicht auf »Rhythmisierung der Formen und Farben« die Regel (S. 42). Er sieht
einen Rassengegensatz: ^Der musikalische Zusammenklang aller Formelemente . . .
bedeutet für den Franzosen die höchste Vollendung; der formalen Harmonie wird
344 BESPRECHUNGEN.
das Subjektive untergeordnet. Dem Deutschen gilt als höchste Aufgabe, sein sub-
jektives Schauen oder Erleben in denkbarster Unmittelbarkeit . . . zum Ausdruck zu
bringen. Eine Ein- oder Unterordnung seines subjektiven Wollens und Formens
unter irgendeine Gesetzmäßigkeit erscheint dem Deutschen eine . . . Trübung der
Wahrheit« (S. 44). Obwohl Rassengegensätze bestehen, sind sie doch schwer faß-
bar. In dem Fall des deutschen Impressionismus denkt man antithetisch an einen
Namen von der Bedeutung W. Trübners. Er darf auch in diesem Sinne sehr hoch
angeschlagen werden: wieviel Formgesetzlichkeit z.B. in seinen Landschaften, ob
vor Ende 1876, ob von 1896 ab, ob um 1912. Und selbst M. Liebermann spricht
von einer verborgenen Komposition in seinen eigenen Werken. Literarisch führte
er sie als »Phantasie« vor. Auch in dem Bilde von W. Rößler (Schlafendes Mäd-
chen), auf das Orautoff sich bezieht, läßt sich unschwer eine mit den Zäsuren am
Körper in Zusammenhang stehende Rhythmisierung der Linien der Baumstämme
und der Lichtflecken im Hintergrund nachweisen. Es zeigt sich, wie schwer es ist,
eine selbst durch Abstraktion, nicht durch Deduktion, gewonnene durchgreifende
Gesetzlichkeit einwandfrei aufzustellen.
In einem andern Fall (S 29 f.) will Grautoff von Einzelwerken eine typische
Gestaltungsweise ablesen, nämlich die sinnlich-funktionelle von Rubens' Kreuz-
abnahme (Antwerpen) und die seelische von Rembrandts gleichnamigem Werk
(München). Ob aber nicht auch in dem (Früh-)Werk Rembrandts noch viel von
mechanischer Funktion steckt? Vor allem dürfte in der Figur des Johannes nicht
ein wunderbar seelisches Motiv zu sehen sein. Die Mundöffnung ist so auffallend
groß, daß man eher an ein Zurufen als an Ergriffenheit denkt. Und die Blick-
richtung ist eigentümlich wenig fest fixiert, soweit die Stellung des Augapfels in
Frage kommt. Dazu die nur mechanisch aufgefaßte Figur im Rücken des Johannes
und ganz besonders die weitere auf der Leiter. Von hier aus geht doch ein kalter
Strom durch das Bild, dem für jeden Fall Johannes nicht entschieden genug ent-
zogen ist. Bei all dem hat freilich Rembrandts Bild immer noch so viel Stille als
Rnbens' Darstellung lautes Pathos.
München. Georg Schwaiger.
MaxTheuer, Der griechisch-dorische Peri pteral tem pel. Ein Beitrag
zur antiken Proportionslehre (herausgegeben mit Unterstützung des Mini-
steriums für Kultus und Unterricht in Wien). Berlin bei E. Wasmuth 1918.
4». 66 S. 43Taf.
Im altgriechischen Megaronhaus war nur eine der Schmalseiten des sich über
einem rechteckigen Grundriß erhebenden Baues zur Schauseite entwickelt. Die drei
übrigen so entstehenden leeren Mauerflächen befähigten den ganzen Baublock wohl,
Seite an Seite mit anderen gleichartigen Häusern eine Gebäudegruppe zu bilden
(Troja II) oder als vermöge seiner Fassade beherrschendes Glied einen ganzen
Komplex von Baulichkeiten um sich zu scharen (Tiryns). In dieser letzten Funktion
blieb das Megaronhaus stets der Kern der griechischen Hausanlage und hat sich
in vereinzelten Exemplaren selbst bis in die Architektur der römischen Kaiserzeit
gehalten (Swoboda, Römische und romanische Paläste S. 32 f.). In völliger An-
lehnung an dieses älteste und innerste Bauglied, das Megaron, ist das templum in
antis entstanden, aus dem Männerhaus das Gotteshaus. Auch dieses enthüllt das
Geheimnis seines Aufbaues lediglich in der (östlichen) Schmalfront. Während das
Gesamtgebäude nur die Wirkung eines regelmäßigen Körpers auszulösen brauchte,
hinter dem ein ebenso gestalteter Innenrauni vermutet werden darf, zeigt die Front-
seite in aller Deutlichkeit das bleibende Streben der griechischen Architektur, durch
I
BESPRECHUNGEN. 345
möglichste Verlebendigung ihrer funktionellen Bedeutung die den Raum begrenzen-
den körperlichen Bauglieder zu ästhetischem Eindruck zu steigern, als deren
Folge dann erst der Innenraum entsteht, notwendig in seinem absoluten Vorhanden-
sein,. scheinbar zufällig in seiner einzigartigen Gestaltung, tis sind recht eigentlich
die zwischen den beiden vorspringenden Anten stehenden Säulen mit der darüber-
liegenden Ordnung, vor allem aber der Knotenpunkt des Kapitells an dem Ort des
Zusammenstoßes beider, die dazu ausersehen sind, die beiden Grundbedingungen
des Bauens, das Tragen und das Lasten, zugleich in ihrer Entfaltung und in ihrer
Stabilisierung zu versinnlichen. Die drei übrigen Seiten blieben leere Eläche, wenn
es auch im Einzelfalle nicht an Versuchen gefehlt hat, sie durch Herumführen des
Frieses mit der Fassade in Verbindung zu setzen, durch Vorblendung flacher Pilaster
zu gliedern oder durch eine vorgelegte Balustrade teilweise dem Auge zu verdecken.
Die völlige Isolierung des Tempels und seine Allsichtigkeit im Vergleich zu
dem meist eingebauten Megaronsaal der l'rofanarchitektur hat aber schon früh-
zeitig zu einer ganz anderen Lösung dieser Schwierigkeit geführt, die freilich einen
weit größeren Aufwand an Baumittein vcriangie. Alle vier Seiten erhielten nun
eine Fassade vorgelegt, und zwar so, daß der wichtigste Teil der Stirnseite, die
beiden Säulen samt dem darübcriiegenden Gebälkjoch aus seinem baulichen Zu-
sammenhang gelöst wurde und unter fortdauernder Multiplikation als äußerer Ab-
schluß eines umlaufenden Pterons den eigentlichen Naos umzog. Jede der vier
Seiten hatte nun unabhängig von ihrem Zusammenhang mit den übrigen ihren
Eigenwert als Schauseite. Und hierdurch wurde das ästhetische Interesse von dem
ursprünglichen Tempelhaus, von dem rauniumschließenden Baublock, gleichsam von
dem Kern auf die Schale abgelenkt, die nun wie ein tcktonisches Ornament von
gewaltiger Eindruckskraft plastisch die Cella umgab. Gewissermaßen die Urzelle
dieses Qebild.s ist aber das von zwei Säulen getragene Einzeljoch. Da diese beiden
Teile nur in vertikaler Richtung gebunden sind, ist dieses Grundelement des Säulen-
umganges einer an sich unbeschränkten horizontalen Reihung fähig. Säulenhallen
und -Straßen meist schon hellenistischer Zeit geben davon Kunde. Die Giebelseite
des Peripteraltenipels unterlag jedoch bestimmten Beschränkungen, die sich aus
der Dachkonstruktion ergaben. Die Säulenzahl mußte infolge der Beziehung des
vorgelegten Pterons zu den Saiden des Pronaos und der Türöffnung der Cella
vernünftigerweise eine gerade sein und war es auch (6 oder 8) mit verschwindender
Ausnahme (sogenannte Basilika zu Paesium. Beiläufig: die Erkl.irung, die Theuer
S. 19 ff. für die die Joche der Schmalseiten an Länge übertreffenden Joche der
Langseiten an diesem Tempel gibt, ist unverständlich. Die Proporlionierung des
Tempels ist die normale für ein Pcripteron von 8 17 Säuleu. Nur die mittlere
Säulenstellung in der Achse der Cella und die drei Säulen des Pronaos machten
eine Erhöhung der Säulenzahl an den Oiebelfronten auf 9 notwendig. Es ist also
nicht eine Erweiterung der Jochweiten an den Langseiten, sondern umgekehrt ihre
Verkürzung an den Kurzseiten zu erklären: und die >Basilikas kennzeichnet sich
hierdurch deutlich als Einzelfall und Ausnahme). Anders die Langseiten. Da sie
isoliert für sich gesehen werden wollen, so kann von einer Einschränkung ihrer
seitlichen Ausdehnungsfähigkeit nur insofern die Rede sein, als die einzelnen Glieder
des Pterons, je weiter sie sich bei gleichbleibender Höhe von der Mittelachse des
Tempels entfernten, natürlich an Wirkung verlieren mußten, d. h. eine übermäßige
horizontale Entwicklung des Pterons den Standpunkt des Beschauers so sehr in die
Ferne rücken nmßte, daß die auf eine gewisse Nahsicht berechnete Durchbildung
des architektonischen Details (auf dem überhaupt der Grundgedanke dieser Fassaden-
bildung fußte) ihren Zweck verfehlt hätte. In der Tat verläuft auch die historische
346 BESPRECHUNGEN.
Entwicklung so, daß man die anfänglich sehr langgestreckten Seitenfluchten, wo es
angängig erschien, zugunsten einer konzentrierteren Wirkung zusammenzog, also
ihre Länge in bezug auf die Höhe der Ordnung um einiges kürzte. Diese letztere
war aber gegeben durch ihr notwendig rationales Verhältnis zur Breitenausdehnung
der Stirnseite. So ergab sich das Bedürfnis, Breite und Länge des Peripterons in
ein bestimmtes Verhältnis zueinander zu setzen, ohne daß dazu eine perspektivische
Ansicht des Tempels, welche die beiden Seiten verbindet, oder die Rücksicht auf
den Innenraum der Celia, der oft eine ganz andere Proportionierung zeigt, notwendig
den Anlaß gegeben haben müßte.
Obgleich der ursprünglichen Konzeption des architektonischen Bildes auf diese
Weise ziemlich enge Grenzen gesetzt waren, blieben doch noch unzählige Variations-
möglichkeiten. Die Erschaffer des Peripteraltempels müßten aber nicht Griechen
gewesen sein, wenn ihre Schöpfungen nicht überall das Bestreben kündeten, auch
diese geringen noch möglichen Verschiebungen der Dimensionen und der Ponderie-
rung (es handelt sich ja hier nur um verfeinernde Nacharbeit, nachdem die Oesamt-
form durch die Arbeit von Generationen schon kanonisch festgelegt war) nicht dem
Zufall oder der gefühlsmäßigen Eingebung zu überlassen, sondern gerade durch sie
in jedem einzelnen Bauwerk eine' übergeordnete Gesetzlichkeit zu proklamieren.
Weltordner ist die Zahl, das Zeichen ihres Wirkens das klare, auf einfache Grund-
zahlen zurückzuführende Verhältnis der Teile untereinander und zum Ganzen. Es
ist wohl von einiger Bedeutung, daß wir in der ältesten eigentlich griechischen
Schöpfung, dem geometrischen Stil, zu Anfang des I. Jahrtausends vor Christi die
gleichen rechnerisch festzustellenden Tatsachen antreffen (Mitteil. d. d. archäol. In-
stituts, Athenische Abt. XXXXIll, 1918, S. 81 ff.).
Hier setzen nun die 'Beiträge« iVlax Theuers ein, der in größtenteils einwand-
f reier Weise noch einmal die Proportionierung von 27 dorischen Peripteraltempeln
untersucht hat und nun das Resultat in leicht nachzuprüfenden Berechnungen vor-
legt. Die historischen und kritischen Grundlagen , auf denen seine Forschung
beruht, sind freilich in einzelnem recht anfechtbar, sehr zweifelhaft sogar seine ge-
legentlichen Versuche vom Besonderen zu allgemeinen historischen Zusammenhängen
vorzudringen ; das vorliegende Material dürfte zu solchen Schlüssen auch noch nicht
genügen. Diese Mängel zu behandeln ist hier nicht der Ort. Es sollen daher in
folgendem nur einzelne bedeutsame Erscheinungen, die aufzuzeigen Theuer ge-
lungen ist, angeführt werden.
Zunächst die Grundrißgestaltung. Es entspricht völlig der oben gegebenen
Skizze für die Entstehung des Peripteraltempels, daß das einfache Grundverhältnis
zwischen Länge und Breite (L x B) nicht etwa im eigentlichen Naos, sondern in
der Peristase und zwar entweder im Stj'lobat oder im Stereobat enthalten ist. Solche
Verhältnisse sind : 2 x 5, 3 x 7, 3 ;< 8, 4 < 9, 5 x Il,5>r 12, 7 x 15, 9 ;< 19, 12 25.
Stets übertrifft die Länge die doppelte Breite um ein bis zwei Einheiten. Theuer
bringt diese beiden Fälle auf die Formeln n :< (2 n + 1) und n x 2 (n -f 1) und
stellt fest, daß die Länge aus der Summe zweier aufeinanderfolgender Zahlen ent-
weder der Reihe l-f2-f3-f4-|-5 oder der Reihe l-|-3-f5-f7 + 9
gebildet ist (S. 59). Es scheint jedoch nicht überflüssig, auf eine Beziehung hinzu-
weisen, die dem griechischen Denken mindestens ebenso nahe lag wie diese
Zahlenreihen: die Beziehung der Innenwinkel gleichseitiger Vielecke untereinander.
Denn der Innenwinkel eines gleichseitigen Dreiecks verhält sich zu der Summe eines
(gleichseitigen) Dreiecks- und eines Viereckswinkels wie 2x5, der letztere zu der
Summe eines Vierecks- und (gleichseitigen) Fünfeckswinkels wie 5x11 und zu der
Summe eines Vierecks- und eines (gleichseitigen) Sechseckswinkels wie 3 x 7 und
BESPRECHUNGEN. 347
^m so fort. Die Statuierung des grundlegenden Verhältnisses in der Peristase hindert
natürlich nicht, daß öfters die lichte Weite des eigentlichen Cellaraumes ebenfalls
nach dem Qrundverhältnis proportioniert ist, z. B. bei den sogenannten Tavole
I- Paladine bei Metapont, beim sogenannten Heraklestempel von Akragas, beim
Tempel E in Syrakus, bei den Zeustempeln in Olympia und Nemea und beim
Parthenon. Auch für die Innenteilung im einzelnen bleibt oft dasselbe Verhältnis
maßgebend, das die Hauptdimensionen regelt. So verhalten sich beim Heraion von
Olympia (B x L - 3 ;< 8) Stylobatbreite zur Pieronbreite wie 3 (1 +2) : 8, während
Ifür die Breite der drei Schiffe der Cella die Zahl 8 in die Summanden 3 und 5
aufgelöst wurde, so daß sich nun von einer inneren Stylobatkante bis zur andern
Abschnitte von je 5, 3, 5, 3, 5 Teilen folgen (S. 35 f.). Im allgemeinen haben Ge-
bäudeteile, die im Aufbau eine ähnliche Funktion besitzen, auch die Neigung, ihre
Orößenverhältnisse aufeinander abzustimmen: der Toichobat der Cella tritt gerne mit
dem Stereobat, die äußere Cellaweite mit dem Stylobat in Beziehung (sogenannter
Tempel der Hera Lakinia in Akragas, Konkordiatempel in Akragas). Selbst Größen
zweiter Ordnung wie die Ausladung des Stereobates, die Breite der Stylobatplatten
und, bezeichnend für das plastisch-körperliche Empfinden der griechischen Archi-
tekten, die Dicke der Mauern waren durch bestimmte Verhältnisse geregelt (S. 31,
28, 32, 40, 46). Der untere Säulendurchmesser steht bei vollendet durchproportio-
nierten Exemplaren zur Jochweite im Grundverhältnis (Apollotempel Ai Phigalia,
^k Parthenon) oder einem sekundär bei der Innenteilung verwendetem (Aphaiatempel
^B auf Aigina).
^m Der Aufriß des Tempels ist durchaus abhängig von der Breite der Stirnseite
^B beziehungsweise deren Unterteilung. Die Gesamthöhe der Ordnung beträgt bei
^B den Tempeln C und D in Selinus, beim Konkordiatempel zu Akragas und beim
^H Apollotempel zu Phigalia die Hälfte der unteren Breite im Stereobat beziehungsweise
^B Stylobat (S. 6 f., 32, 44), beim Parthenon V» (Qrundverhältnis) der Stylobatbreite.
^V Häufiger tritt jedoch die Säule selbst in ein bestimmtes Verhältnis zur Fundament-
breite, worauf die Höhe des Gebälks gewöhnlich sich zur Säulenhöhe verhält wie
B X L. Im westlichen Großgriechenland ist es vornehmlich die Breitenerstreckung
der Euthynteria selbst, die in bestimmter Teilung die Säulenhöhe bedingt. Bei den
Tempeln C und D in Selinus und beim Poseidontempel zu Paestum beträgt diese
letztere '|» B (B x L = 3 X 8 beziehungsweise 3x7; vergleiche S. 7 f. und 23),
beim sogenannten Heraklestempel von Akragas und beim Tempel von Segesta '/s B
(Grundverhältnis; vergleiche S. 17 und 34), beim Cerestempel von Paestum '/" B,
beim Heraiempel E in Selinus und beim Tempel der Konkordia zu Akragas '/n B
(Verhältnis der Strecke von der Stylobatkante bis zur zweiten Säulenachse zur Aus-
dehnung der drei Mitteljoche; vergleiche S. 20, 28 und 32). Seltener, dagegen
im östlichen Griechenland fast durchweg, ist die Säulenhöhe von der Breite eines
Normaljoches, einmal (bei der sogenannten Basilika zu Paestum, S. 19) auch vom
Interkolunmiuni, abhängig. Sie beträgt zwei Normaljoche beim Tempel in F Selinus,
Ibeim Zeustempel von Olympia und beim Aphaiatempel aut Aigina (S. 10, 38, 41),
entsprechend dem Grundverhältnis "'j beziehungsweise "/» Joche beim Apollo-
tempel G in Selinus und dem Tempel der Nemesis zu Rhamnus (S. 12 und 55).
Singular ist das Verhalten des sehr jungen Tempels der Athena auf Sunion, der
zur Bestimmung der Säulenhöhe die Breite zwischen den Achsen der Frontecksäulen
halbiert. Auch die Kapitellhöhe steht gelegentlich in einem einfachen, aber im
übrigen nicht wiederkehrenden Verhältnis zum Schaft. Dagegen läßt sich das Ver-
hältnis der Triglyphen- zur Metopeiibreite , gewöhnlich 2 >. 3 (Konkordiatempel zu
Akragas, Tempel von Segesta, .Appollotempel zu Phigalia, Parthenon, sogenanntes
348
BESPRECHUNGEN.
Theseion ; vergleiche S. 33 f., 45, 50 und 53) , einmal 5x8 (Aphaiatempel auf
Aigina; vergleiche S. 41), stets aus dem Orundverhältnis ableiten. Die Kontraktion
der Eckjoche hängt nicht nur mit der Austeilung der Triglyphen zusammen, sondern
auch mit den Beziehungen der drei Mitteljoche der Stirnseite zu Anten und Säulen
des Pronaos (S. 17).
Die Prinzipien, unter denen die Austeilung des Qrund- und des Aulrisses im
Detail erfolgte, erfordern noch eine kurze Betrachtung. Man verfuhr offenbar so,
daß man, wo eine einfache Übertragung des Orundverhältnisses nicht möglich war,
aus diesem selbst heraus andere Verhältnisse entwickelte. Die eine der beiden
sich hier ergebenden Möglichkeiten, das Zerlegen der beiden Faktoren des Grund-
verhältnisses in die gerade passenden Summanden haben wir schon berührt. Waren
jene ferner Quadratzahlen, so stellten ihre Wurzeln ein ganz andersartiges Verhält-
nis her: die Triglyphen des Parthenon und des sogenannten Theseions stehen zu
den Metopen im Verhältnis von 2 :< 3, ihre B zur L wie 2- ,3^ H x B < L des
Parthenon wie 4- : 6- .< 9-. Lehrreich sind die Maße des nur teilweise freigelegten
Apollotempels auf Ortygia, dessen Dimensionen Theuer jedoch, wie jeder eigene
Rekonslruktionsversuch zeigen kann, einwandfrei ermittelt hat. Zugleich war es
möglich, eine Bauelle von 0,4966 m festzustellen. Nun betragen: die Stylobatbreite
und der untere Säulendurchniesser 4 (=2-) Ellen, das Mitteljoch der Schmalseiten
9 = 3^ die Säulenhöhe 16 = 4-, die Breite des Pterons bis zum Toichobat 25 =:: 5-,
die Breite des Tempels im Stereobat 49 - 7- Ellen (S. 13). Vielleicht traute man
diesen Zahlen, die die einfachste Beziehung zwischen Linie und Fläche oder in
Grund- und Aufriß zu einem vorgestellten Kubus von vollendeter Form repräsen-
tierten, wenn sie in Dimensionen verwandelt würden, eine besonders günstige Ein-
wirkung auf den umschlossenen Raum zu. Auf neutralem Felde treffen sich so
künstlerische Konzeption und wissenschaftliche Erkenntnis, um uns zwei Strebungen
der werdenden und vollendeten großen Zeit der Griechen kennen zu lehren: ihre
Schöpfungen von einem Hauch des Naturgesetzlichen berühren zu lassen und
das Erkannte sinnlich-lebendig zu erfassen und darzustellen, selbst wo es uns tote
Mathematik erscheint. Darüber hinaus aber sind die Theuerschen Tabellen, soweit
sie einfache Klärungen der zahlenmäßig festzustellenden Beziehungen sind, als
Rekonstruktion des mathematischen Kalküls, der dem dorischen Peripteros die letzte
Olättung gab, wichtige zeitgenössische Zeugnisse für die Baugedanken, deren Aus-
druck die dorischen Tempel des VI. und V. Jahrhunderts vor Christo sind. Sie zeigen
mit Gewißheit, daß der subjektive Eindruck, den der heutige Betrachter vor diesen
Bauwerken empfängt, richtigen Aufschluß über die architektonische Absicht gibt:
der Konstruktion unterliegt eigentlich nur der Aufriß der Außenfassade, der Grund-
riß hat an ihr teil, insofern er durch die Gestaltung des Aufrisses mitbestimmt ist.
Der Innenraum der Cella fügt sich jedoch nicht mit der gleichen Notwendigkeit der
Gesamtkonstruktion ein, weder in seiner Tiefenerstreckung noch in seinen Höhen-
maßen ist eine unmittelbare Affinität zum Eintretenden bezweckt, seine Dimensionen
wiederholen das Grundverhältnis des Tempels oft unrein, er ist in der ursprüng-
lichen Konzeption nur vorhanden als hinter dem Aufriß und über dem Grundriß
mitzudenkender idealer Raumkörper. Besonderheiten in der Wahl der Verhältnis-
zahlen schienen uns sogar von einer gewissen Unsicherheit zu zeugen, dem Innen-
raum von sich aus klare und in ihrer befriedigenden Wirkung notwendige Verhält-
nisse zu geben, eine endgültige Fixierung, die man dann durch eine gewissermaßen
magische Einwirkung der planimetrisch durchkonstruierten Grenzflächen auf den
dahinterliegenden Raum zu erreichen suchte. Je weniger den Griechen der beginnen-
den Klassizität eine natürliche Anlage zu einer nach Tiefe und Weite extensiven,
BESPRECHUNGEN. 340
gleichsam malerischen Raumerfassung geworden war, »desto mehr sahen sie sich
nach Gesetzen und Regeln um», um ein Qoethesches Bekenntnis zu paraphrasieren.
Theuer findet als Geschichte der Proporlionierung eine allmähliche Entwicklung
zu einem kanonischen Gebrauch, der sich dann lockert. Glaublich genug, wenn
nicht so manche Einzelfälle dieser wohl noch verfrühten Statuierung widerstrebten!
In den Vordergrund seiner Ergebnisse stellt er jedoch zwei Beobachtungen anderer
Art: bei männlichen Gottheiten liegt das Orundverhältnis im Stereobat, bei weib-
lichen im Stylobat, bestimmte Orundverhältnisse sind bestimmten Gottheiten eigen,
z. B. 2x5 dem Apollo, 5x11 dem Zeus, 3x8 der Hera. Die Zahl der Beispiele
genügt, um das erste Resultat zu sichern, wenn auch der kultische Grund für eine
solche Unterscheidung schwer zu finden sein wird. Anhalte und Übereinstimmungen,
die Theuer zu seiner zweiten Feststellung führten, können Zufall sein. Es ist
wenigstens auffallend, daß sich keine historische Entwicklung bis zu einer solchen
Zueignung bestimmter Zahlenverhältnisse an Gottheiten zeigen will. Denn auch
griechische Götter werden nicht mit Zahlen geboren. Verschwiegen darf jedoch
nicht werden, was Theuer entgangen ist, daß unter den Pythagoräern hauptsäch-
lich Philolaos ein/x'lne Gottheiten mit den Innenwinkeln bestimmter Vielecke identi-
fizierte (Diels, Vorsokratiker '■' 1 305), wobei an die oben festgestellten Beziehungen
dieser Innenwinkel zu den Grundverhältnissen dorischer Peripteraltempel zu erinnern
ist. Wie auch die Zukunft entscheiden mag, es handelt sich hier um so geringe
Differenzen, daß die Anwendung verschiedener Grundverhältnisse in Slereobat oder
Stylobat für den ästhetischen Eindruck irrelevant bleibt, höchstens eine etwas ver-
schiedene Formulierung des Vorslellungsbildes verlangt, im übrigen aber individuellen
und zeitgeschichtlichen Neigungen freien Spielraum läßt. Es handelt sich mehr
nur um eine Gepflogenheit auf einem Gebiet, das der rein künstlerischen Betätigung
schon oder noch ganz fern liegt.
Heidelberg. Bernhard Schweitzer.
Hans Lorenz Stoltenberg, Reine Farbkunst in Raum und Zeit und
ihr Verhältnis zur Tonkunst. Leipzig, Verlag Unesma, 1920. 8". 36 5.
Eine reine Farbkunst möchte man uns heule schaffen, wie es eine reine Ton-
kunst gibt. Die expressionistische Kunstbewegung, und innerhalb dieser breiten,
historisch verankerten Bewegung, hauptsächlich die futuristische und kubistische
Strömung, haben uns zu einer Eigenbewertung der Farbe in der Kunst hingeführt,
wie wir sie früher nicht kannten. Diese Fähigkeit, die Mächtigkeit der Farbe als
einen unerhört starken Anreger von ganz selbständiger Bedeutung zu empfinden,
ihn auf allen Gebieten des künstlerischen und praktischen Lebens zu entschiedener,
von irgendwelcher dinglichen Beziehung losgelösten Mitwirkung gelangen zu lassen,
war in uns vorbereitet worden schon durch die Kunst des Impressionismus. So ist
es wohl eine natürliche Folge dieser langanhaltenden Übung und Verfeinerung
unseres Farbensinns und unseres Farbensehens, daß wir der Farbe an sich dieselbe
Oeistigkeit zuerkennen möchten wie dem Ton an sich, daß wir Farbensymphonien
möchten lernen zu erleben mit der geistigen Tiefe und Beziehung, mit der wir
Tonsymphonien erleben.
Die kleine Schrift von Hans Lorenz Stoltenberg: >Reine Farbkunst in Raum
und Zeit und ihr Verhältnis zur Tonkunst« sucht das Recht einer reinen Farbkunst
zu begründen aus der Verwandtschaft des reinen (d. h. von jeder dinglichen Be-
ziehung losgelösten) Tonempfindens mit dem reinen Farbenenipfinden, sowohl ihrer
Entstehung als ihrer Beschaffenheit nach, und hier kommt es ihm vor allem darauf
350 BESPRECHUNGEN.
an zu zeigen, daß beide Empfindungen gleicherweise der Formung durch Raum
und Zeit unterstehen. Auf dieser Gleichartigkeit baut er die Mögh'chkeit auf, ebenso
reichhaltige und vielseitige Oefüge durch Farben schaffen zu können wie durch Töne,
wenn auch gewisse Unterschiede des räumlichen Seins zwischen Farben und Tönen
bestehen bleiben. — Die Ganzheit der Farbenerscheinungen läßt sich durch das körper-
hafte Gebilde des Farbkegels darstellen, die Grundlage der Töne bildet die Reihe.
Der Verfasser macht uns bekannt mit unzulänglichen Versuchen früherer Zeiten,
Farbspielzeuge zu bauen, und stellt sich, als Erfinder »einer Art, zeitliche Farbvor-
stellungen auch anderen vorzuführen«, in die Reihe derjenigen, die heute auf diesem
Gebiete praktisch arbeiten.
Die hier berührte Frage ist fesselnd, man könnte mit ihr zugleich die Frage
lösen, ob der kleine Ausschnitt ernsthaft zu nehmender Darbietungen der dadaisti-
schen Kunst, die Farbenerlebnisse von Bedeutung erregen will, mit welchen Mitteln
immer es sei, seinen Zweck erreichen kann. Auf dem Grunde des ganzen Pro-
blems liegt die Frage: Ist tatsächlich die Farbe geistig so vom Körper, oder sagen
wir besser vom Dinge, zu lösen, wie der Ton es ist; denn auf der Vollkommenheit
dieser Loslösung, auf der Abstraktionsbefähigung ruht die Möglichkeit, die Farbe
wie den Ton zum Träger selbständiger Kunstwerke zu machen. — Wir möchten
die Frage verneinen.
Wenn auch unsere Auffassungsweise der Töne, wie der Farben, im Grunde
genommen eine ganz gleiche sein sollte, bedingt durch die Raum-Zeitlichkeit aller
unserer Empfindungen, so muß es doch einen Grund haben, warum von Ursprung
an der Ton, losgelöst von den Dingen, durch die er erklang, Grundlage eines
immer reicher und großartiger sich entwickelnden Baus reiner Kunst wurde, wäh-
rend die Farbe in der reinen Augenkunst, bis in die allerjüngste Zeit hinein, immer
auf dinglichem Hintergrunde erschien. Da, wo sie die höchsten Triumphe ihres
Eigenwerts feiert, im Kunstgewerbe, und hier besonders in der orientalischen
Teppichkunst, auch da ist sie doch immer gebunden an den Gegenstand; über den
Gegenstand schritt sie bisher noch nicht hinaus.
Sollte dieser verschiedene Entwicklungsgang von Ton und Farbe daran liegen,
daß beide eben doch Ausdruck und Symbol von etwas an sich Wesensverschiede-
nem sind, und sollte diese Wesensverschiedenheit nicht eben die Grenzen zwischen
beiden Gebieten letzten Endes festlegen?
Wir glauben nicht daran, daß der musikalische Ton seinen selbständigen Wert
erlangt hat durch Abstraktion von den Geschöpfen und Dingen der Außenwelt,
durch die und an denen Klänge unser Ohr berührten, wie Stoltenberg annimmt,
sondern wir glauben, daß der musikalische Ton, ebenso wie der Tanz, hervorging
aus dem Drang, den Regungen der Seele Ausdruck zu verleihen, dieselben in rhyth-
mischer Formung zu gestalten und zu meistern. Daher war die Musik von jeher
zwar gebunden an das Werkzeug zur Hervorbringung des Tons, aber Ausdruck
von etwas ganz und gar Undinglichem.
Die Farbe hat uns niemals zu Gebote gestanden zum willkürlichen, unmittel-
baren Ausdruck dessen, was unser letztes Eigenes ist, unseres seelischen Lebens.
Sie hat eine ganz andere große Bedeutung. Sie erhebt die Dingwelt für uns zum
Leben; das Geistige der Farbe besteht darin, nicht daß sie Ausdruck unseres
eigenen seelischen Lebens ist, sondern daß sie uns die Seele der Körperwelt ent-
hüllt. Weil sie nichts an sich ist, sondern weil sie entsteht aus dem Aufeinander-
treffen von Lichtstrahlen und körperlichem Stoff, und weil sie beständig sich wan-
delt, entsteht oder vergeht mit der Beweglichkeit, dem Aufgehen oder Verlöschen
des Lichts, darum zeigt sie uns die Dinge niemals wie sie sind, sondern immer
MSPRECHUNGm ^^ 351
k
durchglüht von der Bedeutung, die sie greifbar besitzen in dem Zeitaugenblick,
den wir mit ihnen erleben. Das ist der metaphysische Wert der Farbe, der nicht
vermindert wird durch die Tatsache, daß wir im allgemeinen, unwissenschaftlichen
Denken den Dingen eine ständige f^j'genfarbe zuschreiben.
Der Sinn der Farbe liegt darin, daß sie, wo sie an Dingen erscheint, unseren
Geist vom Sinnlichen zum Unsinnlichen und zum Übersinnlichen fortleitet, und
hierauf beruht der selbständige Formwert, den die Farbe im Gebiet der Kunst be-
sitzt. Immer aber vermittelt sie uns in der Kunst durch ihre Formung die Idee,
die in der Welt außer uns liegt.
Dem Spielen reiner, ganz beziehungslos dargebotener Farben, ebenso wie
einem Gemälde, das nur eine bestimmte Farbenstimmung vermittelt, fehlt es daher
an der Idee, die dem Gefüge von Tönen, die ja selbständiger Ausdruck von Seeli-
schem sind, unvermittelt innewohnt. Die Empfindungen, die reine Farbspiele un-
mittelbar erref;en, können daher nur im Gebiete des Angenehmen liegen; das
geistige Erlebnis, das ein Kunstwerk auslöst, ruht auf anderer Grundlage.
Die Töne bedürfen also keiner Abstraktion, sie sind unvermittelt Ausdruck
von Seelischem, und daher, ohne weiteres, brauchbare Elemente von Kunstgefügen;
die Farben erhalten erst allmählich ihre Loslösung von den Dingen, und erst ver-
mittelt ihr seelisch-geistiges Gesicht '), darauf beruht es, nach unserer Meinung, daß
es eine reine Farbkunst, im höheren Sinne der Kunst, nicht geben kann.
Berlin.
Margarete Calinich.
Hans Joachim Moser, Geschichte der deutschen Musik in zwei Bänden.
1. Bd. Von den Anfängen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Stutt-
gart 1920, J. G. Cotta'sche Buchhandlung. XVI, 519 S. gr. 8°.
Mosers inhaltsreiches Werk gehört zu den wenigen, die empfohlen werden
können, wenn — wie so oft — der Fachmann nach einer wissenschaftlichen und
doch lesbaren und für weitere Kreise anregenden Musikgeschichte gefragt wird.
Ich denke dabei hauptsächlich an die frischen und reizvollen Schilderungen des
musikalischen Lebens in Kloster, Schloß uud Burg, in Dorf, Stadt, Kirche, Schule
und Haus. In den rein musikalischen Abschnitten hat sich der Verfasser mit dem
schwierigen Problem herumschlagen müssen, lebendige Vorstellungen von Kunst-
werken zu geben, die der Leser nicht kennt und nicht kennen lernt. Der Literar-
historiker tischt Versproben auf, der Kunsthistoriker wartet mit photographischen
Abbildungen auf, — der Musikhistoriker kann günstigenfalls ein paar Notenbeispiele
bringen, die dem Musiker nur selten einen Begriff geben, dem Laien aber niemals.
Wir werden deswegen mit volkstümlichen Darstellungen, die über das Biographische
hinausstreben, immer im Hintertreffen bleiben. Muß hier der Leser Mosers Aus-
führungen in allem nur auf Treu und Glauben hinnehmen, so wird er auf jeden
Fall das deutliche Bild einer Entwicklung davontragen, die sich ebenbürtig neben
die von Kunst und Dichtung stellt. Die nationale Abgrenzung des Themas tut der
Darstellung keinen Abbruch. Im Gegenteil: das Gemälde wird wesentlich klarer,
') Ich möchte, zur Verdeutlichung dessen, was hier über den seelischen Wert
der Farben gesagt ist, und über die Idee im Kunstwerk, hinweisen auf zwei früher
von mir veröffentlichte Arbeiten:
1. Versuch einer Analyse des Stimmungswerts der Farbenerlebnisse. Archiv
f. d. ges. Psychol. Bd. XIX, Heft 1/2.
2. Über das Anekdotische in der Malerei. Diese Zeitschrift Bd. XI.
352 BESPRECHUNGEN.
als wenn der Leser dauernd in Europa herumgeführt würde; die geschichtliche
Folge, das Nacheinander kommt durch die Beschränkung des Nebeneinander schärfer
heraus, zumal bei der wechselseitigen Durchdringung aller Länder — und Deutsch-
land voran — auch an den Schicksalen fremder AAusikstile den regsten Anteil haben.
Daß Moser bei dieser Abgrenzung nicht das weise Maß nationalen Stolzes über-
schritten hat, sei ihm hoch angerechnet; sein ganzes Buch wird von warmer Liebe
zu deutscher Art und Kunst getragen, ohne daß Nichtdeutsches kleinlich und eng-
herzig herabgesetzt würde. Das Grundsätzliche über die Eigenart der deutschen
Tonkunst gibt der Verfasser in seinem \. Abschnitt, und hier freilich möchte ich
ein paar Punkte beanstanden, die im Interessengebiet der Leser dieser Zeitschrift
liegen. Ich will nicht darüber klagen, daß der abgegriffene Begriff — si( venia
verbo — »Indogermaneu', der rein sprachwissenschaftlich ist, und gegen dessen
anthropologischen Mißbrauch sein Schöpfer Bopp selbst energisch Verwahrung ein-
gelegt hat, wieder das Leitmotiv abgegeben hat. Aber die ganze Musik in indo-
germanische und naiurvolkliche zu teilen, das geht denn doch nicht, und angesichts
der Ergebnisse der vergleichenden Musikwissenschaft wird Moser auch der »indo-
germanischen Natur« das Monopol auf »die seelische Fähigkeit, in einer Art von
souveränem Raumgefühl die Tondimensionen sprungweise zu durchmessen, sowie
nach der Höhe und Tiefe zu erweitern«; nebst anderen Alleinansprüchen in einer
2. Auflage wieder nehmen müssen. Wenn ich noch um eine Revision ansuchen
darf, so wäre es um die des Ausfalles gegen Busoni, der als ungermanischer Musik-
ästhet deutsches Musikwesen nicht verstehe. Ich glaube schon, die Bachausgaben
allein überheben den Verfasser der Sorge, Busoni als einen, der »nur in der Welt
der Flächenausdehnung lebt«, über die dritte Dimension, über deutsche Tiefe auf-
zuklären. Wenn nicht einmal die ausgezeichnetsten Musiker — und hier ist das
Grundsätzliche der Sache! — anderer Völker Musik zu verstehen und zu schätzen
vermöchten, dann hätte Moser kein Kapitel über »Die Herrschaft der Niederländer
in Deutschland« zu schreiben Gelegenheit gehabt, und sein 2. Band würde keines
über die Herrschaft der Italiener enthalten. Diese Anmerkungen seien gemacht,
weil Mosers Buch recht viele weitere Auflagen verdient und zweifellos auch erzielen
wird. So wächst mit dem Erfolg des Buches auch die Verantwortlichkeit seines
Verfassers.
Berlin. Gurt Sachs.
Zwei Darstellungsprobleme der bildenden Kunst.
I Psychologische Untersuchungen.
Von
Georg Marzynski.
■■
Ich muß die Auseinandersetzung mit einer Art Entschuldigung
einleiten, einer Entschuldigung dafür, daß ich den Leser in eine Wissen-
schaftssphäre hineinführe, die dem künstlerisch Interessierten meist
völlig fremd Ist. Was uns hier beschäftigen wird, sind Überlegungen
und Beobachtungen, die dem Gedankenkreise der experimentellen
Psychologie angehören, und zwar zum großen Teil der Sinnespsycho-
logie. Doch wird schließlich niemand Maler sein können, der nicht
an den Farben und dem Licht schon als bloßer sinnlicher Erschei-
nung ein lebhaftes Interesse nimmt. Und in der Tat sind Lionardo
da Vinci und Goethe die Ahnherren der heutigen psychologischen
Optik. Ähnlich aber wie bei den Malern wird es bei den Kunst-
wissenschaftlern stehen. Auch für sie wird alles, was die sinnlichen
Elemente der sichtbaren Welt betrifft, wichtig und wissenswert sein.
Und ich hoffe zu zeigen, daß Beobachtungen an ganz primitiven
Phänomenen wertvolle Ergebnisse für die Kunstwissenschaft liefern.
Dabei werden wir beständig von einer bestimmten Annahme aus-
gehen, die gleich am Eingang als Fiktion nachdrücklich gekennzeichnet
werden soll: Von der Annahme nämlich, daß es dem Künstler einfach
darauf ankomme, ein Stück der Wirklichkeit wiederzugeben, oder
wenigstens ein Phantasiegebilde so zu malen, daß es die Illusion er-
zeugt, es handle sich um eine Wiedergabe wirklicher Dinge. Ich weiß
sehr wohl, daß selbst ein naturalistischer Künstler, eben weil er
Künstler ist, mehr will als eine bloße Wiederholung der Wirklichkeit.
Trotzdem ist es nützlich, diese Fiktion festzuhalten, denn sie ver-
einfacht die Fragestellung. Sie scheidet alle diejenigen Darstellungs-
probleme aus, welche ihren Grund in den künstlerischen Absichten
haben, und läßt alle diejenigen klar erkennen, welche schon bei der
bloßen Wiedergabe eines Weltausschnittes auftreten. Und wir
werden sehen, daß in dieser niedersten Sphäre des Kunstschaffens
Zeilschr. f. Ästhetik u. allit. Kunstwissenschaft. XV. 23
354 GEORG MARZYNSKI.
Gegensätze wirksam sind, deren Ursprung man sonst in einer weit
höheren sucht.
Es ist eine Binsenwahrheit, daß zwei Künstler aus demselben
Vorwurf zwei verschiedene Bilder machen. Wir sind gewohnt, dies
ohne weiteres hinzunehmen; denn selbstverständlich muß sich der
Unterschied der beiden Individualitäten in ihren künstlerischen Äuße-
rungen zeigen. Eine Individualität ist aber etwas so Komplexes, daß
es kein aussichtsreiches Unternehmen wäre, hier noch weiter vorzu-
dringen. Versucht man aber doch, die Fragestellung über das Niveau
der vagen Allgemeinheiten hinauszuheben, dann ergibt sich, soweit
ich sehen kann, etwa folgendes Schema: Zuerst wird ein Eindruck
gewonnen. Dieser Eindruck ist bei allen Menschen ungefähr derselbe.
Er kann vom Künstler aber nicht objektiv wiedergegeben werden,
sondern die Eigenart seines Temperamentes zwingt ihn, die Motive
umzuformen und auszugestalten. Die so entstandenen Verschieden-
heiten werden noch vergrößert durch die gleichfalls individuelle
Darstellungstechnik; die Strichführung kann frei und fließend, oder
stockend und kleinlich sein usw. Mit anderen Worten: In einem
ersten, niedrigsten Stadium reagiert der Mensch wie ein photographi-
scher Apparat. Er nimmt schlicht auf. Das gewonnene Bild erleidet
erst dann die beschriebenen Umformungen. Schon die ersten »photo-
graphischen« Eindrücke sind nicht bei allen Menschen ganz gleich.
Aber die auftretenden Unterschiede sind solche, wie sie eben durch
Unterschiede des »photographischen Apparates« erklärt werden können.
Die eine Aufnahme ist besser als die andere, doch in allen erscheint
dasselbe Objekt im wesentlichen in derselben Art.
2.
Ich werde zu zeigen versuchen, daß dies ein Vorurteil sei. Und
zwar kann man es zweckmäßig das Vorurteil von der ursprüng-
lichen Eindeutigkeit der Wahrnehmungswelt nennen. Sein
Ursprungsort ist ja leicht zu bezeichnen. Der Physiker kennt nur eine
einzige Welt, in der jedes Ding sich selbst gleich ist. Und diese ein-
deutige Welt liefert auch eindeutige Wahrnehmungsbilder — so sagt
das Vorurteil. Alle dennoch auftretenden Verschiedenheiten werden
hervorgerufen durch psychische Vorgänge, welche jenseits oder ober-
halb der bloßen Wahrnehmung stattfinden. Die Wahrnehmung selbst
ist objektiv und eindeutig, wie die Welt, welche ihr zugrunde liegt.
Eine erste Vieldeutigkeit ergibt sich aus der Funktionsweise der
Aufmerksamkeit. Diese hat nämlich einen nur beschränkten Umfang.
Man spricht von der spezifischen »Enge des Bewußtseins«. Wir
sind gezwungen, die große Mehrzahl der sich darbietenden Eindrücke
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST. 355
ziemlich undifferenziert im Bewußtseinshintergrund zu lassen, um
die Möglichkeit zu haben, diejenigen Elemente, denen sich unser
Interesse zuwendet, klar zu erhalten. Der auf das praktische Leben
gerichtete Mensch, welcher an den Dingen als solchen Anteil nimmt,
hat daher im Bewußtseinsvordergrund eine Anzahl deutlich erkannter
Dinge und im Bewußtseinshintergrund eine große Menge nicht oder
schlecht erkannter. Dieses Zentralfeld des Bewußtseins deckt sich
gewöhnlich mit dem optischen Sehzentrum. Denn unser Blickfeld
hat eine ähnliche Struktur wie unser Bewußtseinsfeld: Ein enges
Zentrum der Klarheit und Deutlichkeit und ringsherum ein Hof zu-
nehmender Verschwommenheit. Dies kann man freilich nur dann
beobachten, wenn man die Augenbewegungen unterdrückt. Denn
wir helfen uns über die Enge des zentralen Blickfeldes dadurch hin-
weg, daß wir die Blicklinie wandern lassen und damit immer neue
Teile unserer Umgebung in den Bereich größter Klarheit bringen. So
baut sich unser Erkennen der Wirklichkeit aus lauter einzelnen Seh-
akten auf, die sich meist kontinuierlich aneinander reihen. Den Hof
von Verschwommenheit bemerken wir gar nicht, denn er befindet sich
in zweifacher Beziehung unter ungünstigen Bedingungen: Einmal ist
er optisch verschwommen und schon dadurch schlecht erkennbar;
und zum zweiten steht er auch noch gewöhnlich im Hintergrund der
Aufmerksamkeit. Das erste können wir willkürlich nicht ändern, es
sei denn, daß wir die Blickrichtung änderten, wodurch aber nur ein
neues Zentrum der Deutlichkeit entstünde, während das frühere jetzt
in den Hof der Verschwommenheit fiele. Aber auch bei festgehaltener
Blickrichtung ist es uns möglich, die Aufmerksamkeit von dem
Sehzentrum abzulösen und sie dem Umfeld zuzuwenden, welches
dadurch zwar an optischer Klarheit nichts gewinnt, wohl aber an Be-
wußtseinsklarheit.
Schon hier taucht eine kunstwissenschaftliche Frage auf. Wie
machen es die Maler? Lassen sie die Blick- und Aufmerksamkeits-
linie über den Ausschnitt der Wirklichkeit wandern, welche sie gerade
wiedergeben wollen? Setzt sich das Bild aus lauter Zentren der Deut-
lichkeit zusammen, so wie es bei unserem praktischen Sehen, das auf
die Erkenntnis der Gegenstände gerichtet ist, geschieht? Oder haben
sie ein anderes Verfahren? Im Verlauf der Kunstentwicklung sind
mehrere Möglichkeiten wirklich geworden. Die ältere Malerei verfuhr
im allgemeinen ebenso wie das praktische Sehen. Es gibt in ihren
Bildern kein Deutlichkeitszentrum. Deutlichkeitsunterschiede gibt es
nur von vorne nach hinten. Starke Verschwommenheit der gegen-
ständlichen Form deckt sich bei ihr mit größerer Entfernung vom Be-
schauer. Von rechts nach links aber sind die Dinge alle gleich deut-
356 GEORG MARZYNSKI.
lieh, vorausgesetzt, daß sie dargestellt sind als in der gleichen Ent-
fernung stehend. Anders in gewissen modernen Bildern, die von
einem bestimmten Blickzentrum aus gesehen sind. Aber hier ist es
nicht so, daß Aufmerksamkeits- und Sehzentrum zusammenfallen; denn
bei diesem Verhalten würden die peripheren Teile fast gar nicht zum
Bewußtsein kommen. Vielmehr ist die Aufmerksamkeit in stärkerem
Maße den seitlichen Teilen des Blickfeldes zugekehrt. Auf diese Weise
erhalten die seitlichen Teile noch eine gewisse Bewußtseinshöhe; das
Zentrum hingegen erhält nicht optimale, sondern nur relative Klarheit.
Man sieht, daß hiermit sofort eine bestimmte Kompositionsform ge-
geben ist und zwar der Typus der zentralen Komposition. Und nun
braucht man sich nicht darauf zu versteifen, daß dieses Verfahren
ganz folgerichtig durchgeführt werden müsse. In Wirklichkeit kommen
viele Übergänge vor.
Aber erst noch eine Bemerkung über die Besonderheit des künst-
lerischen Sehens. In der praktischen Einstellung ist das Interesse
ganz den Gegenständen als solchen zugewandt, in der künstlerischen
hingegen meist den formalen Motiven. Was hier also im Mittelpunkte
der Aufmerksamkeit steht, ist nicht ein erkannter Gegenstand, sondern
eine empfundene Form. Und diese formale Einstellung kann sich mit
der gegenständlichen kreuzen, ja, sie tut es sogar häufig. Nur ganz
selten wird der formale Mittelpunkt zugleich Mittelpunkt des Blickfeldes
sein (wie etwa in Liebermanns »Gartenbank« der Berliner National-
galerie). Ein Bild kann durchaus mit wandernder Blicklinie gemalt
und dennoch, nämlich formal, zentriert sein, indem ein einziges
formales Motiv den Mittelpunkt der Komposition bildet. Die übrigen
Bildteile haben dann zwar nicht gegenständliche, aber sozusagen
formale Verschwommenheit. Dabei braucht das Zentrum nicht unbe-
dingt in der Mitte des Bildes zu liegen. Und schließlich macht es
auch gar nichts aus, ob es sich um ein »naturalistisches« Bild handelt,
oder um ein »idealistisches«, oder »stilisiertes«.
Anderseits gibt es Bilder, bei denen nicht nur die Gegenstände für
den wandernden Blick, sondern auch die formalen Elemente als Motiv-
kette für die wandernde Aufmerksamkeit gemalt sind. Oder auch als
ein einziges Motiv, das aber erst im Fortgang der Wahrnehmung sich
vollendet, ähnlich wie ein musikalisches Thema, das ja auch solch
eine sukzessive Einheit ist. Und selbstverständlicher Weise gibt es
auch Übergangsformen. Dürers »Tod der Maria« (1508:10) hat ein
klares Zentrum im Bett der Maria, trotzdem aber bewegen sich von
beiden Seiten her solche Ketten auf das Zentrum zu. Dieses wird
hier sozusagen durch die Wanderung erst erreicht.
Die Kategorien »zentriert«, »sukzessiv« beruhen auf bestimmten
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST. 357
psychologischen Gesetzmäßigkeiten. Sie verlangen ein bestimmtes
psychologisches Verhalten des Beschauers. Stilgegensätze lassen sich
hier zurückführen auf den Gegensatz der wandernden und der ge-
sammelten Aufmerksamkeit. Diese Zurückführung ist aber nicht so
gemeint, daß die Stilgegensätze sich durch den psychologischen Typus
des Künstlers restlos erklären ließen. Als müsse er etwa stets zentral
komponieren, weil seine Aufmerksamkeit nun einmal eine bestimmte
Funktionsweise habe. Möglich, daß der Aufmerksamkeitstypus für
den Stil des Künstlers eine gewisse Rolle spielt. Aber es wäre
kritiklos, daraus allein alles erklären zu wollen. Denn man wird sich
mit gutem Recht dagegen wehren, die Bildgestaltung für einen zwangs-
mäßigen Ausfluß der psychologischen Struktur zu halten. Man wird
der Wahrheit näher kommen, wenn man sagt: Die künstlerische Ge-
staltung sei abhängig von der Gesamtheit der geistigen und emotio-
nalen Reaktionen auf ein Stück der Wirklichkeit; und diese Reaktionen
bestimmen ihrerseits das Verhalten der Aufmerksamkeit. Diese psy-
chischen Funktionsweisen, die ich schilderte, bestehen aber wahrschein-
lich nicht als individuell fest verankerte Strukturen, sondern als wech-
selnde Verhaltungsweisen. Der Sinn unserer These war: Gewisse
Kompositionsformen haben ein Korrelat in gewissen Formen der Auf-
merksamkeit. Dies wird auf die Bildgestaltung sicherlich einen
gewissen Einfluß haben, aber es wäre roh und wahrhaft kunstfremd
gedacht, wenn man die Kompositionsformen einfach aus den Auf-
merksamkeitsformen »erklären« wollte. Die Kunstwissenschaft ist ja
im Grunde viel mehr an der einfachen Feststellung interessiert, daß
es solche Kompositionsformen gibt, als an der Frage, wie solche
Formen entstehen können. Und auch wenn man dieser Frage nach-
geht, wird man sich hüten müssen, den Prozeß der Bildformung für
so primitiv zu halten, daß er sich aus bloßen Verschiedenheilen der
Aufmerksamkeit erklären ließe. Hingegen ist es von Interesse, darauf
hinzuweisen, daß der Beschauer von Bildern dieser beiden Komposi-
tionsformen seine Aufmerksamkeit jedesmal auf eine andere Weise
einstellen müsse, in dem einen Falle wird er das Bild »ablesen«
müssen, in dem anderen es in einem einzigen Wahrnehmungsakt um-
spannen können.
Man kann fragen, wie sich die von Wölfflin aufgestellten Kategorien
zu den hier besprochenen verhalten. In Betracht kommen die drei
Oegensatzpaare: Geschlossene-offene Form, Einheit- Vielheit und Klar-
heit-Unklarheit. Wölfflin sieht in ihnen Entwicklungsphasen; sie sind
für ihn Elemente der Begriffskomplexe: Klassik und Barock. Der
Gegensatz zentriert-sukzessiv läßt sich nicht in dieser Weise historisch
einordnen. Aber man darf vielleicht sagen, daß er die funktionale
358 GEORG MARZYNSKI.
Grundlage der genannten darstellt. Nur weil er vorhanden ist, konnten
die anderen sich ausbilden. Die klassische Kunst komponiert zentral
in ihrer Formgeschlossenheit, hingegen sukzessiv in ihrem Streben
nach Vielheit der Bildakzente und gegenständlicher Klarheit des ein-
zelnen. Umgekehrt das Barock. In beiden geschichtlichen Stilarten ist
sowohl das Bestreben nach Zentrierung wie nach Sukzession vor-
handen, nur betätigt es sich beide Male nach verschiedenen Rich-
tungen.
3.
Es zeigt sich also, daß bestimmte Stilformen gekoppelt sind mit
bestimmten psychischen Vorgängen. Immerhin handelt es sich um
Aufmerksamkeitsverteilung, also um Vorgänge verhältnismäßig kom-
plexer Natur, die sich in einer ziemlich »hohen« Schicht der Psyche
abspielen. Wir werden jetzt sehen, wie Unterschiede in viel primi-
tiveren Funktionsweisen einen wichtigen künstlerischen Einfluß haben
können.
Wir wollen uns einmal vorstellen, ein Maler wolle die Wirklich-
keit mit unbedingter Objektivität wiedergeben. Die vorhin erörterten
psychischen Verhältnisse machen das ja in der Tat unmöglich, aber
wenigstens an einem sehr kleinen Ausschnitt müßte das doch möglich
sein, vorausgesetzt, daß er nicht wieder aus sehr geringer Entfernung
gesehen wäre, wodurch sich die Menge der Einzelheiten sofort wieder
ins Unwiedergebbare vermehrte. Und selbst wenn es jetzt noch
Schwierigkeiten gäbe, so doch sicher nicht mehr bei irgend einem
einzelnen Element. Dieses Blau hier vor mir ist doch eben dieses
bestimmte Blau. Wenn man es abmalt, so kann es noch Unterschiede
des Pinselstrichs geben, aber aufgefaßt wird es doch stets und von
allen in der gleichen Art; irgend etwas, wie eine verschiedene Auf-
fassung ist eigentlich unmöglich, vorausgesetzt, daß die äußeren Ver-
hältnisse immer dieselben bleiben. Hier ließe sich doch dann sagen:
Der eine hat es richtig wiedergegeben, der andere falsch. Und ebenso
bei einer bestimmten Form: Dieser Würfel hier vor mir muß stets in
der gleichen Art gesehen werden, solange man den Standpunkt nicht
wechselt. Kurz: Das Vorurteil von der Eindeutigkeit der erlebten Welt
zieht sich auf die sinnlichen Elemente zurück. Wenn auch die Kom-
plexe vieldeutig sind, sollen wenigstens die Elemente eindeutig sein.
Für das Beispiel von dem Blau wird man einen naheliegenden
Einwand machen können. Unsere Netzhaut ist nicht in allen ihren
Teilen gleich farbenempfindlich, sondern in der Mitte viel stärker als
an den Seiten. Wenn ich das Blau peripher betrachte, so sieht es
schon gar nicht mehr blau aus, sondern grau. Doch das wird man
abweisen und zwar mit Recht, da ja die äußeren Bedingungen des
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST. 359
Sehens verändert worden sind. Vielleicht sind sinnliche Elemente
dieser Art wirklich eindeutig. Die Eindeutigkeit verschwindet aber
sofort wieder, sowie wir uns anderen Elementen zuwenden, die auch
noch als durchaus primitiv gelten: Ich spreche von den Schatten.
Nehmen wir einen ganz einfachen Fall. Irgend eine glatte weiße
Scheibe ist in die dunkle Ecke eines Zimmers gestellt. Wie sieht sie
jetzt eigentlich aus? Doch wir wollen die Verhältnisse noch mehr
vereinfachen. Die meisten »natürlichen« Schatten haben ziemlich
starke, buntfarbige Beimischungen. Von diesen soll vollkommen ab-
gesehen werden, und in der Tat besitzen wir die Möglichkeit, mit
Hilfe des sogenannten Episkotisters »künstliche« Schatten zu erzeugen,
die völlig frei von solchen buntfarbigen Beimischungen sind. Nehmen
wir also an, die Scheibe in der dunklen Ecke habe keinerlei farbige
Beimischungen. Wenn jetzt ein Beobachter beschreiben sollte, wie
diese Scheibe aussieht, so wäre er vor eine nicht ganz einfache Aufgabe
gestellt. Er würde zuerst vermutlich sagen, die Scheibe sehe grau
aus. Wenn man ihm dann ein graues Papier gäbe und fragte, ob sie
diesem gleichsehe, so würde er das zweifelsohne verneinen müssen.
Denn das Grau des grauen Papiers haftet fest an der Papieroberfläche,
das Schattengrau hingegen liegt locker auf der Scheibe. Doch damit
nicht genug. Das graue Papier ist einfach und eindeutig grau; die
Scheibe hingegen keineswegs. Man sieht ohne weiteres, daß sie in
Wirklichkeit weiß ist. Und dieses »Sehen« ist nicht bloß ein Wissen
darum, sondern man sieht wirklich das Weiß durch den Schatten hin-
durch. Dieser ist wie ein durchsichtiger Schleier, hinter dem die wirk-
liche Farbe der Scheibe herauskommt. Aber auch das ist noch un-
genau. Denn das Weiß leuchtet nicht in seiner ganzen Ausdehnung
durch den Schatten hindurch, sondern die Erscheinung hat etwas
Unsicheres, Schwimmendes. Das Weiß kommt für Augenblicke und
stückweise durch den Schatten hindurch, um dann an dieser Stelle
wieder in ihm unterzugehen und an einer anderen dafür hervorzutreten.
Es klingt zuerst vielleicht etwas phantastisch, daß an einer ein-
fachen weißen Scheibe, die irgendwo im Schatten einer dunklen Ecke
steht, all das zu beobachten sein soll. Aber in Wahrheit ist es ganz
sicher so, wie eine Anzahl von Versuchen im psychologischen Labo-
ratorium, wo man die äußeren Bedingungen gut herstellen kann, über-
zeugend bewiesen hat. Und zwar braucht man nicht einmal im Be-
obachten besonders geübt zu sein, sondern diese Phänomene sieht
jeder, der im stände ist, sich Rechenschaft über seine Erlebnisse zu
geben. Doch die besten Beobachter sind ja schließlich die Künstler.
Und man braucht nicht lange zu suchen, wenn man Belege finden
will. Rembrandt gibt dem Schatten seiner dunklen Ecken immer den
360 GEORG MARZYNSKI.
Charakter des Unfesten, Schwimmenden, und er läßt auch die Farbe
der beschatteten Gegenstände stückweise durch den Schatten hindurch-
kommen. Nun wird auch klar, weshalb viele Künstler den Schatten
schraffieren. Technisch wäre es oft durchaus möglich, die Schatten
auch als gleichmäßige dunkle Flächen zu geben, statt sie aus einzelnen
Strichen zusammenzusetzen. Aber tatsächlich hat das Verfahren der
Schraffierung seinen guten Grund. Nach einem bekannten sinnespsycho-
logischen Gesetz verschwimmen die einzelnen Striche zu einem unge-
fähr gleichmäßigen Grau, dessen Dunkelheit etwa ebenso groß ist, als
wenn man die Summe der Dunkelheit der einzelnen Striche über die
gesamte Fläche gleichmäßig ausgebreitet hätte. Hätte man die Fläche
aber gleichmäßig grau gemacht, so würde dieses Grau an der Fläche
haften, ähnlich wie bei einem grauen Papier. Die schraffierte Fläche
sieht zwar auch ungefähr gleichmäßig grau aus, aber die Auflösung
der dunklen Striche zu einem über die ganze Fläche gleichmäßig ver-
teilten Grau findet erst im Sehzenlrum selbst statt, und das so ent-
standene Grau haftet nicht mehr fest an der Fläche, sondern es
hat gleichfalls etwas Unsicheres, Lockeres, Schwimmendes, wie der
Schatten selbst. Im übrigen wird die Schraffierung meist derart ge-
führt, daß es gar nicht zu einer vollständigen Verschmelzung der
Striche kommen kann. Diese sind immer noch als einzelne sichtbar
und erfüllen durch ihre Richtung, ihre Parallelität usw. bestimmte dar-
stellerische und ästhetische Funktionen. Eine wenigstens teilweise
Verschmelzung findet aber stets statt und gibt den schraffierten
Schatten ihre besondere Erscheinungsweise.
Doch lassen wir einmal all diese feineren Einzelheiten in der
Gesamterscheinung des Schattens. Bleiben wir dabei, die Scheibe im
Schatten sehe jetzt grau aus. So fragt sich noch, welche Nuance dieses
Grau habe. Wohlverstanden: Es kommt hier nicht auf die Beimischung
farbiger Töne zum Schattengrau an. Diese kann man, wie vorhin
angedeutet wurde, vermeiden. Sondern zur Frage steht nur: Ist die
weiße Scheibe jetzt, wenn der Schatten über ihr liegt, hellgrau oder
dunkelgrau, oder gar schwarz? Unsere Bezeichnungen für die ein-
zelnen Graustufen sind sehr grob. Jede von ihnen umschließt eine
große Menge verschiedener Abstufungen. Infolgedessen wenden wir
eine andere Methode an. Es gibt Reihen von Graupapieren, die ganz
stätig in kleinen, gleichmäßigen Abstufungen vom klaren Weiß bis
zum tiefen Schwarz führen. Zwischen Schwarz und Weiß liegen etwa
sechzig einzelne Stufen. Mit Hilfe einer solchen Serie kann man die
Graunuance der beschatteten Scheibe sehr viel schärfer bestimmen als
durch bloße Benennung. Es gilt also jetzt, aus der Reihe ein Papier
herauszusuchen, das ebenso grau ist wie die beschattete Scheibe.
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST.
361
Man muß sich den Sinn dieser Aufgabe ein wenig genauer über-
legen. Was soll das heißen: Ein Papier, das ebenso grau ist wie
die beschattete weiße Scheibe? Man erkennt ohne weiteres, daß dies
bedeutet: Ein Papier zu finden, das außerhalb des Schattens das-
selbe Grau zeigt, wie es die an sich weiße Scheibe erhalten hat
dadurch, daß der Schatten sich über sie legte. Ich darf das gewählte
Papier nicht etwa gleichfalls unter dem Schatten mit der Scheibe ver-
gleichen, denn dann müßte ich selbstverständlich ein weißes Papier
wählen. Hier gilt es hingegen festzustellen, in welchem Grade der
Schatten die weiße Scheibe grau gefärbt hat. Daher muß das richtige
Papier ohne Schatten ebenso grau sein, wie das weiße mit Schatten.
Man kann den Versuch etwa in der Weise machen, daß man
außerhalb des Schattens an einem Rahmen die Papiere einer solchen
Oraureihe nacheinander anbringt und jedesmal mit der beschatteten
Scheibe vergleichen läßt, bis der Beobachter den Eindruck hat, jetzt
sei es recht. (Ich erwähne noch einmal, daß eine solche Vergleichung
nicht ganz leicht ist, da die beschattete Scheibe ja nicht nur einfach
grau aussieht, wie ein graues Papier; sondern dieses Grau hat die
eigentümliche Erscheinungsweise, welche vorher beschrieben wurde.
Trotzdem ist der Vergleich ganz gut ausführbar.) Der Beobachter
schwankt manchmal, welche von zwei benachbarten Nummern der
Reihe er für passend halten soll, gewöhnlich kann er sich aber ganz
scharf entscheiden. Und wenn man die Versuche an verschiedenen
Tagen wiederholt, so wählt er auch ungefähr dasselbe Papier wieder.
Dabei muß man bedenken, daß die Unterschiede zwischen zwei be-
nachbarten Papieren sehr gering sind, so daß also kleine Schwankungen
ohne weiteres verständlich werden.
Offenbar sind Versuche dieser Art für die Probleme der Schatten-
wiedergabe zu verwenden. Denn auch der Zeichner legt ja den
Schatten als eine graue Fläche an. Daß er die Schatten häufig
schraffiert und sie nicht als eine zusammenhängende graue Fläche
darstellt, ist nicht sehr erheblich; denn wenigstens teilweise ver-
schwimmen ja die einzelnen Striche bei der Betrachtung zu einem
feinen Grau, wie wir vorher sahen. Statt die beschattete Scheibe zu
zeichnen, wird im Versuch ein entsprechendes graues Papier gewählt,
was für die praktische Ausführung der Versuche sehr viel einfacher
ist. Psychologisch handelt es sich aber um den gleichen Vorgang.
Vergleicht man solch ein gewähltes Papier mit der beschatteten
Scheibe, so findet man, daß beide in der Tat etwa dieselbe Graunuance
besitzen. Trotzdem sind sie aber noch sehr verschieden. Und zwar
nicht nur, weil der Schatten den Charakter des Unsicheren, Verschwim-
menden hat, der früher beschrieben wurde. Von diesen Verschieden-
362 GEORG MARZYNSKI.
heiten feinerer Art kann man als unerheblich ruhig absehen. Die
Unterschiede, die sich jetzt noch darbieten, sind gröber und auf-
fälliger. Die graue Scheibe außerhalb des Schattens macht nämlich
einen sehr viel kräftigeren Eindruck als die beschattete weiße. Diese
ist ziemlich matt, während jene den Betrachter in weit höherem
Maße affiziert. In der gebräuchlichen Terminologie: es bestehen noch
Unterschiede der Eindringlichkeit. Das graue Papier hat zwar
dieselbe Graunuance wie die beschattete Scheibe, trotzdem aber eine
sehr viel größere Eindringlichkeit. Und zwar liegt dies ganz sicher
nicht daran, daß sich die eine besser vom Hintergrunde abhebt als
die andere. Denn man kann den Hintergrund für beide vollkommen
gleich machen, und trotzdem bleibt der Eindringlichkeitsunterschied.
Man kann nun dem Beobachter die Aufgabe stellen, er solle ver-
suchen, ein graues Papier zu finden, welches dieselbe Eindringlich-
keit hat, wie die beschattete Scheibe. Dies gelingt auch in der Tat,
vorausgesetzt daß der Schatten nicht allzutief ist^). Er wählt jetzt
ein viel dunkleres Papier als vorher. Dieses hat zwar dann die
gleiche Eindringlichkeit wie die beschattete Scheibe, aber nicht ent-
fernt mehr die gleiche Oraunuance ä). Es ist vielmehr ganz beträcht-
lich dunkler.
Der Leser wird sich beim ersten Hören unter der Eindringlichkeit
eines grauen Papiers nichts Rechtes vorstellen können und wird ge-
neigt sein, diese für ein sehr labiles Phänomen zu halten, welches
keinen rechten objektiven Wert hat. Die Helligkeit eines Grau — dies
ist doch ein Moment an der Farbe selbst; aber die Eindringlichkeit —
was soll denn das nun noch sein? Höchstens etwas ganz Subjektives,
auf das man weiter nichts zu geben braucht. Es ist sehr leicht, diese
Meinung ad absurdum zu führen. Man kann nämlich mit Hilfe des
Photometers die Lichtmenge messen, welche von einer Fläche aus in
das Auge gelangt. Nimmt man diese Messung vor in dem ersten Fall,
wo man ein Papier bestimmt hatte, welches die gleiche Graunuance
zeigte wie die beschattete Scheibe, so findet man, daß die Scheibe
sehr viel weniger Licht aussendet als das Papier. Und in diesem
Fall erschien sie auch matter, weniger eindringlich. Mißt man hin-
gegen bei einem Grau gleicher Eindringlichkeit mit der Scheibe, so
') Der Grund dieser Einschränkung wird gleicli angegeben werden.
2) Die Graunuance zwischen Schwarz und Weiß nennt man in der Sinnes-
psychologie Helligkeitsstufen des Graus. Dies stimmt nicht ganz mit dem gewöhn-
lichen Sprachgebrauch überein, welcher unter Helligkeitsunterschieden vorwiegend
Unterschiede in der Beleuchtung versteht. Immerhin spricht man auch hier von
einem »helleren Grau«, wenn man ein solches meint, das dem Weiß näher steht.
Wir werden Ausdruck .Helligkeit« stets in diesem Sinn verwenden.
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST. 363
zeigt es sich, daß beide die gleiche Lichtmenge aussenden, trotz-
dem das graue Papier viel dunkler ist als die Scheibe.
Aber sind denn die Unterschiede, um die es sich hier handelt,
wirklich so bedeutend? Sollte auch der beschatteten Scheibe je nach
der Auffassungsweise ein etwas mehr oder weniger dunkles Papier
zuzuordnen sein, — das kann doch kaum künstlerisch etwas ausmachen,
wenn die Unterschiede nicht sehr groß sind. Ich will daher ein Beispiel
anführen: Ich stellte eine weiße Scheibe in einen Schatten, der so
tief war, daß die Scheibe nur noch den neunzigsten Teil derjenigen
Lichtmenge in das Auge sandte, welche sie außerhalb des Schattens
ins Auge gesandt hatte. Eine solche Scheibe sieht hellgrau aus.
Sucht man ihr ein Papier zuzuordnen, welches die gleiche Eindring-
lichkeit hat, so findet man jedoch überhaupt kein passendes*). Welches
man auch wählt — jedes ist viel eindringlicher. Auch die dunkelsten
Papiere haben noch immer etwas Leuchtendes, Starkes an sich, gegen-
über der Mattheit der beschatteten Scheibe. Und das wird verständ-
lich, wenn man bedenkt, daß selbst das tiefste Schwarz noch immer
den sechzigsten Teil der Lichtmenge von Weiß reflektiert, die be-
schattete Scheibe hingegen nur den neunzigsten Teil. — Jetzt stelle
man neben der beschatteten Scheibe, aber außerhalb des Schattens,
noch eine weiße Scheibe auf. Versucht man, die beiden Scheiben zu
zeichnen, so muß man, je nach der Auffassungsweise, zu ganz ver-
schiedenen Ergebnissen kommen. Will man die Unterschiede der
beiden Helligkeitsnuancen wiedergeben, so muß man die eine Scheibe
weiß lassen und die andere hellgrau machen. Soll der Ein dring-
lich keitsunterschied dargestellt werden, so muß hingegen die be-
schattete Scheibe so dunkel gemacht werden, wie es überhaupt nur
irgend geht, und trotzdem wird man die ganze Kraft des natürlichen
Eindringlichkeitsunterschieds noch nicht erreicht haben. Man sieht,
daß es beim Zeichnen nach der Eindringlichkeit zu sehr viel schrofferen
und wirkungskräftigeren Gegensätzen kommen wird, als beim Zeichnen
nach der Helligkeit des Schattengraus.
Ein Schatten der oben beschriebenen Art ist nun schon recht tief,
aber durchaus nicht ungewöhnlich. Er wird ungefähr so tief sein, wie
der Schatten in Rembrandtschen Gewölbeecken, und es gibt in Wirk-
lichkeit noch tiefere, besonders natürlich dann, wenn in einem Teil
des Raumes, oder der Landschaft, sehr helles Licht ist. Bei schwächeren
Schatten ist die Spannung zwischen Schattenhelligkeit und -eindring-
lichkeit weniger groß, sie bleibt aber bei allen halbwegs tiefen Schatten
recht bedeutend.
') Siehe Anmerkung 1 der vorigen Seite.
364 GEORG MARZYNSKI.
Freilich mit einer Einschränkung: das alles gilt nicht für Schlag-
schatten. Diese erscheinen in der Tat ungefähr so dunkel, wie es
ihrer Eindringlichkeit entspricht. Bei ihnen trifft ja auch die früher
gegebene Beschreibung nicht zu, nach welcher die Oegenstandsfarbe
durch den Schatten hindurchkommt. Sie sehen viel eher aus wie ein
dunkler Fleck, der auf dem Gegenstand liegt und dessen Eigenfarbe
fast völlig verdeckt. Sie sind nicht in dem Sinne durchsichtig, wie
die Schatten dunkler Ecken oder die Binnenschatten der Gegenstände.
Man darf sich aber nicht vorstellen, daß es hier zwei Klassen von Er-
scheinungen gäbe, die wie durch eine Kluft voneinander geschieden sind.
Von dem schärfsten Schlagschatten, den man vielleicht von einem
dunklen Farbfleck kaum unterscheiden kann, bis zu den lockeren, durch-
sichtigen Schatten führt eine Reihe von Zwischenstufen. Je schroffer
die Übergänge von Licht und Schatten sind, desto weniger kommt die
eigentümliche Schattennatur heraus, je verfließender sie sind, desto mehr.
Das wichtigste Beweismittel wird aber natürlich die Analyse von
Bildern sein. Ich will die Anschauung, welche ich mir gebildet habe,
hier sofort formulieren: Die Wiedergabe von Schatten entsprechend ihrer
Eindringlichkeit ist ein typisches Verfahren der impressionistischen
Darstellungsweise. Dabei bedarf die Verwendung des Ausdrucks »im-
pressionistisch« einer näheren Erläuterung. Es sind nämlich nicht nur
solche Künstler gemeint, welche zur »Schule« des modernen Impres-
sionismus gehören. Man hat ja stets bemerkt, daß es lange vor Manet
Impressionisten gab. Um nur den größten vor allen zu nennen: Rem-
brandt. Aber auch Goya zeichnet oft »impressionistisch«, ebenso Guercino
und viele andere. Die impressionistische Darstellungsweise tritt über-
all dort auf, wo der Künstler am Licht selbst und nicht an den Dingen
interessiert ist. Und gerade bei den älteren »Impressionisten« ist das
gar keine Sache feststehender Überzeugung, sondern oft vom Vor-
wurf abhängig. Das Anwendungsgebiet des Begriffes »Impressionis-
mus« muß also sachlich, nicht historisch oder schulmäßig bestimmt
werden. In anderer Beziehung jedoch muß dieses Anwendungsgebiet
verengert werden. Es gibt nämlich unter den impressionistischen
Zeichnungen solche linearer und solche malerischer Darstellungsart,
die Ausdrücke »linear« und »malerisch« in der Bedeutung genommen,
welche ihnen Wölfflin aufgeprägt hat. Und auch diese Grenzen werden
nicht strenge innegehalten. In einer Zeichnung des linearen Impres-
sionismus kann man Schattenandeutungen finden. Diese Schatten
brauchen dann durchaus nicht nach ihrer Eindringlichkeit dargestellt
zu sein. Im ganzen aber ist es doch so, daß der Impressionismus
gern »malerisch« zeichnet, und nur für diesen malerischen Impres-
sionismus der Zeichnung gilt die oben aufgestellte These.
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST. 365
Wie zeichnen also nun die Künstler? Stellen sie die Schatten ent-
"sprechend ihrer Eindringlichkeit oder entsprechend ihrer Oraunuance
dar? Hier liegen wieder einmal zwei verschiedene psychologische
Einstellungen vor, denen verschiedene Ausdrucksmögiichkeiten ent-
sprechen. Und es wird nötig sein, darüber zur Klarheit zu kommen.
Wenn ich an meinen eigenen Zeichenunterricht denke, so war es
das durchaus Natürliche, die Schatten zuerst nach ihrer Helligkeit
wiederzugeben. Ich hatte aber dabei stets ein Gefühl der Unbefriedi-
gung, denn die Bilder wurden so unangenehm flau und wirkungs-
schwach. Ich spürte lebhaft, daß hier etwas nicht in Ordnung war,
und machte die Schatten immer kräftiger, als ich sie wirklich sah. Dieser
Entwicklungsgang scheint mir typisch, auch für die Entwicklung der
Schattendarstellung in der Kunst. Es ist in einem gewissen Sinne das
»natürlichere« Vorgehen, Schatten nach ihrer Helligkeit zu zeichnen,
und zwar vorwiegend wohl deshalb, weil man die Oraunuance des
Schattens »sieht«, seine Eindringlichkeit aber nur »fühlt«. Und es ist
ja einleuchtend, daß man bei dem Versuch einer Darstellung sichtbarer
Dinge im ganzen mehr auf »Sehen« eingestellt ist. Die Kunst brauchte
erst eine lange Erfahrung, um zu lernen, daß die Darstellung wirkungs-
kräftiger und auch wahrhaftiger wurde, wenn man sich vom Zwang
des bloß »Sichtbaren« frei machte. Dabei muß man nun fragen was
das heiße, die HeUigkeit werde »gesehen«, die Eindringlichkeit aber
»gefühlt«. Man wird eine halbwegs richtige Beschreibung des Vor-
ganges geben, wenn man darauf hinweist, daß im ersten Fall die Auf-
merksamkeit mehr nach außen gerichtet ist, auf das, was vor den
Augen steht, im zweiten Fall hingegen mehr nach innen, so daß die
Affektion der Seele durch die Erscheinungen bemerkt wird. Doch
diese ganzen Vorgänge gehören zu den sehr geläufigen und daher
wenig auffälligen. Denn es ist eine Orunderscheinung unseres Be-
wußtseinslebens, daß die geläufigen Vorgänge die Neigung haben,
unter die Bewußtseinsschwelle zu sinken und sich dadurch der Beob-
achtung zu entziehen. Nur bei besonders günstigen Umständen rücken
sie dann wieder in den Blickpunkt der Selbstbeobachtung. Wenn
man also einen Künstler fände, der sicher die Schatten nach ihrer Ein-
dringlichkeit darstellte und ihn dann fragte, wie er das macht, so wird
man keinerlei Aussicht haben, von ihm eine richtige Auskunft zu er-
halten, besonders da bildende Künstler meist schlechte Selbstbeobachter
sind. Daß es möglich ist, Schatten nach ihrer Eindringlichkeit darzu-
stellen, kann man jedoch durch Analyse von Zeichnungen erkennen,
oder wenigstens wahrscheinlich machen. Ich habe versucht, der An-
gelegenheit auch durch einen Laboratoriumsversuch nahezukommen.
Ich baute nämlich eine Anordnung derart auf, wie ich sie früher be-
366 GEORG MARZYNSKI.
schrieb, und ließ sie nun von mehreren Versuchspersonen abzeichnen.
Dabei zeigte es sich in der Tat, daß einige von ihnen die Schatten
ganz sicher nach ihrer Eindringlichl<eit zeichneten, manche jedoch nach
der Helligkeit. Die ersteren machten also die beschattete, weiße Scheibe
tiefschwarz, trotzdem sie deutlich als weiße Scheibe erschien, mit
einem hellgrauen, durchsichtigen Schattenschleier darüber; die zweite
Gruppe hingegen gab die Scheibe hellgrau wieder. Man kann den
Versuch noch paradoxer gestalten — und das geschah auch — indem
man neben die beschattete weiße Scheibe eine unbeschattete schwarze
stellt, welche genau ebensoviel Licht reflektiert wie jene. Denn Schwarz
sendet zwar an sich weniger Licht aus als Weiß. Wenn man aber,
wie hier, die schwarze Fläche unter günstige, die weiße unter un-
günstige Beleuchtungsverhältnisse bringt, so kann man bei einiger
Geschicklichkeit erreichen, daß sie genau gleichviel Licht reflektieren.
(Wie man das prüft, mag unerörtert bleiben.) Diese beiden Scheiben
sahen ganz verschieden aus, links stand eben ein beschattetes Weiß
und rechts ein Schwarz im hellen Licht. Trotz dieses verschiedenen
Aussehens wurden beide Scheiben in der Zeichnung gleich dunkel
dargestellt, wenigstens von einem Teil der Versuchspersonen. Damit
ist überzeugend bewiesen, daß es möglich ist, die Schatten nach ihrer
Eindringlichkeit zu zeichnen.
Es wäre nun sehr schön, wenn es gelänge, Bilder aufzufinden,
die ungefähr dieselbe Situation bei derselben Beleuchtung darstellten, und
von denen das eine impressionistisch gezeichnet wäre, das andere je-
doch nicht. Wenn dann auf dem impressionistischen die Schatten
viel dunkler und massiver gegeben wären als auf dem anderen, so
hätten wir damit eine Art expenmentum crucis. Doch so leicht werden
uns Erkenntnisse selten gemacht. Man muß sich mit etwas allgemeiner
gehaltenen Betrachtungen begnügen. Wir haben vorher geschildert,
wie Schatten aussehen, und daß die Schattendarstellung durch Schraffie-
rung ein Mittel ist, die lockere, schwebende Art des Schattengraus
wiederzugeben. Der Impressionist aber gibt die Schatten ja gar nicht
wie sie aussehen, sondern wie sie wi rken. Er hat also kein Interesse
mehr, die eigentliche Natur der Schattenphänomen getreu abzubilden.
Er ist im Gegenteil oft in der Lage, Wirkungsunterschiede darstellen
zu müssen, die er mit seinen Mitteln schwer oder gar nicht vollkommen
erreichen kann. (Ich erinnere an die oben aufgeführten Zahlen.) Seine
Schattendarstellung wird deshalb darauf ausgehen müssen, möglichst
kräftige, geschlossene Dunkelheiten auf dem Blatt darzustellen. Des-
halb schraffiert er seine Schatten nicht mehr, sondern er gibt sie —
soweit es die Technik erlaubt — als schwere, schwarze Flächen. Er hat
auch kein Interesse mehr, das fleckenweise Durchbrechen der Gegen-
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST. 367
Standsfarbe durch den Schatten darzustellen, wie es noch Rembrandt
in seinem weniger konsequenten »Impressionismus« tut. Vor allem
müssen aber die Schatten überhaupt wesentlich dunkler sein als bei
nicht impressionistischen Bildern, — eine Folgerung, die man immer
wieder bestätigt finden wird.
Zu weiteren Folgerungen gelangt man, wenn man sich vergegenwärtigt,
welches die Lage des Graphikers ist. In der Welt, die er darstellen will, gibt
es erstens Helligkeitsunterschiede der Gegenstandsfarben, — denn Gelb
z. B. ist heller als Braun — und zweitens Helligkeitsunterschiede des Lichtes.
Auf seinem Bild gibt es nur Helligkeitsunterschiede einer einzigen Art.
Ein schwarzer Fleck auf dem Blatt kann einerseits etwa einen schwarzen
Anzug bedeuten, anderseits einen tiefen Schatten. Was er bedeutet,
ergibt sich aus der Gesamtsituation. Der Künstler hat aber keine sehr
wirksamen Mittel, um die Unterschiede der Gegenstandsfarben anders
darzustellen als die Unterschiede der Beleuchtungswerte. Einiges kann
er vielleicht durch die Strichführung erreichen, doch, wie gesagt, dieses
Mittel ist nicht sehr wirksam. Man muß nun zusehen, wie die Graphiker
sich zu diesem Problem verhalten. Dürer') etwa verzichtet meist völlig
darauf, die Helligkeitsunterschiede der Gegenstandsfarben wiederzu-
geben. Schraffierte Flächen auf dem Blatt bedeuten bei ihm stets
Schatten. Die Impressionisten dagegen behandeln meist beide Arten
von Dunkelheiten völlig gleichmäßig. Wir zeigten vorher, daß die
Eindringlichkeit einer beschatteten Fläche um so geringer ist, je weniger
Licht sie in das Auge sendet. Nun sendet aber auch eine unbeschattete,
graue Fläche weniger Licht in das Auge als eine unbeschattete weiße.
Also auch hier müssen Eindringlichkeitsunterschiede auftreten. Der
Verlauf der Eindringlichkeitswerte längs der Reihe von Weiß zu Schwarz
ist im allgemeinen so, daß die Eindringlichkeit nach dem weißen Ende
zu steigt und nach dem schwarzen Ende zu sinkt. Nur die ganz
tiefen schwarzen Töne, wie sie in der Graphik kaum vorkommen, haben
eine etwas größere Eindringlichkeit als die dunkelgrauen. Wie diese
Verhältnisse im einzelnen liegen, kann hier nicht weiter erörtert werden,
weil dies tief in ein sehr kompliziertes Gebiet der speziellen Sinnes-
psychologie hineinführen würde, dessen Methoden und Gedankengänge
') Wir nehmen Dürer als Beispiel, weil er in der Tat ais der wahre Gegenpol
des Impressionismus erscheint. Seine Art des Zeichnens, die, wie immer wieder
betont werden muß, einer bestimmten Art des Sehens entspricht, ist aber keine
individuelle Eigentümlichkeit von ihm. Er teilt sie mit seiner ganzen Zeit. Im
Barock kommt dann eine mehr impressionistische Sehweise auf, die aber durchaus
noch nicht klar und konsequent durchgeführt wird. Ihre reine Erfüllung findet sie
erst im modernen Impressionismus. Die Entwicklungslinie im einzelnen zu ver-
folgen ist hier unmöglich.
368 GEORG MARZYNSKI.
der Nicht-Psychologe schwer überschauen kann. Es genügt für den
jetzigen Zweck auch völlig, zu wissen, daß die Eindringlichkeit von
Weiß nach Schwarz zu sinkt. Ebenso sinkt die Eindringlichkeit mit
der Schattentiefe. Und zwar ist die Eindringlichkeit einer beschatteten
weißen Fläche ungefähr gleich der Eindringlichkeit derjenigen unbe-
schatteten Fläche, welche dieselbe Lichtmenge aussendet wie sie. Dies
zeigt ja der eine der früher beschriebenen Versuche. Wenn also ein
Künstler konsequent nach der Eindringlichkeit zeichnet, so wird er
dunkle Farben der Gegenstände und dunkle Schatten ganz gleichmäßig
geben, sobald sie dieselbe Lichtmenge aussenden. Man sieht das gut
auf impressionistischen Bildern. Natürlich kann man nicht beweisen,
daß irgend ein bestimmter Schatten, der dort dargestellt wird, auch
in Wirklichkeit ebenso viel Licht aussandte wie eine ebenso dunkel
dargestellte Gegenstandsfarbe. Bei einiger Erfahrung kann man sich auch
darüber ein ungefähres Urteil bilden. Doch kann man nicht vor einem
Bild das objektive Recht solcher Schätzung wirklich demonstrieren.
Aber davon ganz abgesehen, spricht schon die ganz gleichmäßige Art,
wie hier Schatten und Oegenstandsfarben behandelt sind, dafür, daß
beide auf ein gemeinsames Moment hin betrachtet worden sind. Und
dieses kann eben nur die Eindringlichkeit sein. Ebenso wie die Unter-
drückung aller Gegenstandsfarben bei Dürer dafür spricht, daß er die
Eindringlichkeitsunterschiede noch nicht entdeckt hatte. Dazwischen
finden sich nun alle möglichen Übergänge. Der Künstler ist ja schließ-
lich kein photographischer Apparat, der einfach ein Stück Wirklichkeit
aufnimmt. Nebenbei bemerkt: Der photographische Apparat gibt auch
die Unterschiede der objektiven Lichtstärken. Die Unterschiede von
Hell und Dunkel auf einer Photographie bedeuten also, psychologisch
ausgedrückt, gleichfalls Eindringlichkeitsunterschiede, wie man übrigens
direkt beweisen kann. Daß die Photographien trotzdem nicht einfach
so aussehen wie impressionistische Zeichnungen, liegt an anderen Um-
ständen. Immerhin sehen sie ihnen ähnlicher wie den Dürerzeichnungen.
Aber der Künstler ist ja kein Apparat und verwendet seine Kunstmittel
nicht nur, um Unterschiede der objektiven Lichtstärken darzustellen,
sondern entsprechend seinen eigenen, künstlerischen Absichten. Dar-
aus erklären sich die großen Mengen der »Inkonsequenzen«. Man
nehme einmal so ein Blatt wie den »Triumph des Mordechai« von Rem-
brandt. Hier sind die Menschen im hellen Teil ganz linear behandelt,
ohne jegliche Berücksichtigung ihrer Kleiderfarben und ihrer Binnen-
schatten. In der Mittelgruppe sind die Kleiderfarben teilweise wieder-
gegeben, die Schatten hingegen sind locker schraffiert. Und in der
linken Ecke sitzen schwere »impressionistische« Schatten, hinter denen
aber die Säulen hervorschimmern, was ein ganz echter« Impressionist
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST. 369
wohl kaum getan hätte. Die innere Logik dieser Darstellungsweise
liegt darin, daß durch die völlige Aussparung der Menschen im be-
lichteten Teil die Dunkelheit des Oewölbeschattens stark hervortritt.
Denn dies ist ja die ständige Schwierigkeit der impressionistischen
Methode: Die Lichtstärkenunterschiede zwischen hellen und dunklen
Teilen des Blattes sind noch nicht einmal wie 1 : 60. (Denn Weiß sendet
bloß sechzigmal so viel Licht aus als das allertiefste Schwarz.) Die Licht-
stärkenunterschiede zwischen hell beleuchteten Flächen und tiefen
Schatten sind aber häufig wesentlich größer. Will der Künstler diese
also mit aller Kraft geben, so darf er seine Mittel nicht an feinere
Einzelheiten verzettein, sondern muß schroff Gegensätze schaffen. Die
so völlig andere Behandlungsweise der Hauptgruppe des Bildes gibt
dieser wiederum einen stärkeren Akzent, durch den sie die Aufmerk-
samkeit leicht auf sich zieht.
Wir kommen zu weiteren Folgerungen. Wir sprachen eben da-
von, daß die Eindringlichkeitsunterschiede zwischen Licht und tiefen
Schatten stärker sind als diejenigen zwischen hellen und dunklen Farben.
Ist unsere These also richtig, so müssen auf den Blättern der impres-
sionistischen Graphik die schroffen schwarz-weiß Unterschiede vor-
wiegend durch Lichtunterschiede bedingt sein. Auf Blättern der Dürer-
schen Art kann es zu energischen schwarz-weiß Gegensätzen über-
haupt nicht kommen. Denn die Gegenstandsfarben sind hier ausge-
schaltet, und die Schatten werden entsprechend ihrer Graunuance ge-
geben. Wir haben aber gesehen, daß selbst sehr tiefe Schatten, d. h.
Schatten sehr geringer Eindringlichkeit, noch ziemlich hellgrau aus-
sehen. Dies gilt natürlich nur, wenn sie auf einem weißen Gegen-
stand liegen. Denn sonst addiert sich die spezifische Dunkelheit der
Oegenstandsfarbe zum Schattengrau. Werden nun einerseits die Gegen-
standsfarben entsprechend ihrer spezifischen Dunkelheit dargestellt,
anderseits die Schatten nicht nach ihrer Eindringlichkeit, sondern nach
ihrer Graunuance gezeichnet, so können natürlich auch auf solchen
Blättern kräftige schwarz-weiß Unterschiede entstehen, aber nur dann,
wenn sehr helle und sehr dunkle Farben an den dargestellten Gegen-
ständen vorkommen. In der impressionistischen Graphik hingegen
werden die stärksten schwarz-weiß Gegensätze meist Gegensätze der
Beleuchtungsstärke zum Ausdruck bringen. Behauptungen, wie die
hier aufgestellten, sind natürlich nicht durch ein paar passende Bei-
spiele zu beweisen, auch nicht durch ein paar Gegenbeispiele zu wider-
legen. Sie sagen ja nur aus, wie die Verhältnisse im allgemeinen liegen
sollen, und man wird ihnen daher nur aus seinen Oesamterfahrungen zu-
stimmen oder widersprechen können.
Wir bemerkten eben, daß auch die nicht impressionistisch gesehenen
Zeitschr. f. Ästhetik u. «Mg. Kunstwissenschaft. XV. 24
370 GEORG MARZYNSKI.
Schattenflächen sehr dunkel wirken können, wenn sie auf dunklen
Gegenständen liegen. Dies ist ein Grund, weshalb all die besprochenen
Gegensätze in der Malerei, wo die Gegenstandsfarben stets wieder-
gegeben sind, weniger auffällig sein werden als in der Graphik. Ein
zweifer Grund liegt in einem eigentümlichen Verhalten der Aufmerk-
samkeit, das übrigens letzten Endes mit der früher erwähnten Enge
des Bewußtseins zusammenhängt. Das betreffende Gesetz lautet in
strenger Fassung i): Ein Bestandteil oder Teilinhalt eines sichtbaren
Gegenstandes fällt um so weniger auf, je mehr andere Bestandteile
oder Teilinhalfe, welche die Aufmerksamkeit einzeln in Anspruch
nehmen, das Objekt enthält und je stärker sie sich der Aufmerk-
samkeit aufzudrängen suchen. Was von den Bestandteilen des Ob-
jektes sich der Aufmerksamkeit am stärksten aufdrängt, hängt natür-
lich von der gerade herrschenden Interessenrichtung ab. Da der Maler
vorwiegend auf die farbige Erscheinung gerichtet ist, so müssen für
ihn die Schatten an Wirkungskraft verlieren und zwar um so mehr,
je stärker er auf die Farbigkeit an sich gerichtet ist. Man denke nur
an Bilder der Neo-Impressionisten, bei denen Schatten überhaupt nicht
mehr vorkommen. In diesem Gesetz liegt auch die Erklärung dafür,
daß sich die Schattentiefe verringert, wenn man sehr nahe an die
Gegenstände herantritt und sich in die Einzelheiten ihrer Struktur ver-
tieft. Steht man dagegen weit vor einer Landschaft, wie sie in Lieber-
manns »Polospielern« dargestellt ist, wo bei dem Wald im Hinter-
grund von den einzelnen Bäumen gar nichts mehr zu sehen ist, so
tritt gerade der Eindringlichkeitsunterschied zwischen der ganzen,
dunklen Waldmasse und dem davorliegenden, hellen Feld stark heraus.
Landschaften solcher Art sind kaum anders als impressionistisch zu
behandeln. Ebenso Situationen, bei denen stark beleuchtete und stark
beschattete Flächen direkt zusammenstoßen. Ich erinnere an die Be-
merkung über die Schlagschatten. Anderseits versteht man jetzt, weshalb
die Impressionisten Lichtgegensätze gern scharf gegeneinander setzen,
während der Nicht-Impressionist sich gerade um die Übergänge be-
müht. Der Impressionist hat nicht nur eine besondere Darstellungs-
art, sondern auch einen bestimmten Kreis von Darstellungsobjekten,
denen er sich mit Vorliebe zuwendet, und ebenso der Nicht-Impres-
sionist. Darstellungsmethode und Darstellungsobjekt zeigen eben immer
eine innere Zusammengehörigkeit.
Schließlich noch eine letzte Beobachtung, die für mich immer eine
ziemlich starke Beweiskraft gehabt hat, bei der ich aber nicht über-
zeugt bin, daß sie diese auch für alle anderen besitzt. Ich erwähnte
') Das Gesetz stammt von E. Hering, die Formulierung von G. E. Müller.
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST. 37 1
früher, daß Schlagschatlen stets etwa so dunkel wirken, wie es ihrer
Eindringlichkeit entspricht, daß es daher für sie die beiden verschiedenen
Betrachtungsweisen nicht gibt. Wenn ich versuchte, irgend eine Zeich-
nung Dürers einmal ganz unabhängig von ihren künstlerischen Werten,
einfach als Wiedergabe einer bestimmten, wirklichen Situation zu nehmen,
so fiel mir stets auf, daß die Schlagschatten nicht recht hineinpaßten,
daß sie eigentümlich starr wirkten, ein Eindruck, der bei einem impres-
sionistischen Bilde, selbst wenn es noch so starke Schlagschatten ent-
hält, nie auftrat. Denn hier ist ja alles nach seiner Eindringlichkeit
gegeben, bei Dürer hingegen nur die Schlagschatten.
5.
Man wird vielleicht versucht sein, gegen die vorher geschilderten
Überlegungen einzuwenden: Es ist richtig, daß Zeichnungen der
Dürerschen Art zarter und flauer sind als die impressionistischen.
Dieser Unterschied beruht jedoch nicht auf zwei verschiedenen Arten,
die sichtbare Welt zu erleben. In Wirklichkeit erlebte man die Welt
stets in der gleichen Art, aber man fand, daß eine Steigerung der schwarz-
weiß Gegensätze die Blätter interessanter, wirkungskräftiger, schöner
machte. Aus diesen, vorwiegend ästhetisch-praktischen. Gründen er-
kläre sich alles. Mir scheint eine solche Beweisführung unhaltbar.
Wer Stilunterschiede auf Wandlungen des äußerlichen, sozusagen
kunstgewerblichen Geschmacks zurückführt, unterschätzt die Ernst-
haftigkeit der Kunstentwicklung. Das wäre ja etwa die Denkweise
Lenbachs, der dunkle Bilder malte, weil er sie so »schön« fand. Die
zwei verschiedenen Betrachtungsweisen der Schatten erscheinen zuerst
vielleicht als eine bloße Einzelheit; sie sind aber nichts weniger als
dies. Dahinter stehen zwei gänzlich verschiedene Einstellungen zur Wirk-
lichkeit. Es ist etwas anderes, ob man auf die Erfassung der Dinge
als solcher gerichtet ist, oder bloß auf das Licht und die Farben und
ihre Wirkungsunterschiede. Die Erkenntnis, daß die Dinge gar nicht
als Einzelwesen dastünden, daß wir sie vielmehr bloß als sieht- und
empfindbare Phänomene erleben — diese Erkenntnis bedeutete den An-
fang der gesamten, modernen Philosophie und Erkenntnistheorie im
17. Jahrhundert. Gegensätze solcher Art müssen auch in der Sphäre
des künstlerischen Welterlebens zu tiefen Stilunterschieden führen.
Eine Graphik von Dürers Art ist letzten Endes doch nichts anderes
als gezeichnete Plastik. Hier hat der Schatten keine andere Funktion,
als die Wölbungen der Einzelform zu geben und die Tiefenerstreckung
des Raumes. Diese Kunst ist darstellerisch ganz einseitig an der Drei-
dimensionalität der Welt interessiert. Sie ist auf die Gegenständlich-
keit der Dinge gerichtet, und wir wollen zeigen, daß bei dieser Ein-
372 GEORG MARZYNSKI.
Stellung der Schatten naturgemäß als feiner, grauer Hauch erscheinen
muß, so wie es seiner »Helligkeit«, nicht aber seiner Eindringlichkeit
entspricht. Der Impressionist hingegen ist verliebt in die reinen Licht-
phänomene. Daß deren Wiedergabe auch gegenständliche und räum-
liche Illusionen erzeugt, ist ihm ein Nebenerfolg.
Wir haben also noch die Frage zu beantworten, wie es zu den
beiden verschiedenen Betrachtungsweisen der Schatten kommt. Und
dazu müssen wir ein wenig weiter ausholen. Die moderne Psychologie
hat sich lange mit dem Zusammenhang zwischen den Empfindungen
und den »Reizen« beschäftigt. Reize: das sind die physikalischen Vor-
gänge, durch deren Einwirkung auf den Körper die Empfindungen
veranlaßt werden. Man hat gefunden, daß im allgemeinen einem be-
stimmten Reiz auch eine bestimmte Empfindung angehört. Nun gibt es
aber, besonders bei den Augenempfindungen, Tatsachen, die dieser Regel
widersprechen. Gälte sie streng, so müßte, um ein berühmt geworde-
nes Beispiel zu wiederholen, ein Stück Kohle an einem hellen Tage
ebenso aussehen, wie ein Blatt Papier an einem trüben Tage'). Denn
unter solchen Umständen können beide genau die gleiche Lichtmenge
in das Auge senden. Daß sie trotzdem verschieden aussehen und über-
haupt jedes Ding seine Eigenfarbe unabhängig vom Wechsel der Be-
leuchtung behält, liegt daran, daß mit der Steigerung der gesamten
Lichtstärke die Anpassungsvorrichtungen des Auges in Tätigkeit treten
und seine Erregbarkeit im selben Maße herabsetzen, wie die Durch-
schnittsstärke des Gesichtsfeldes sich erhöht hat. Umgekehrt bei Ab-
schwächung der Lichtstärke. Man nennt dies die Transformation der
Empfindungen, bei Wechsel der Beleuchtung, und nur durch sie wird
es möglich, daß die Farben der Sehdinge konstant bleiben. Lasse ich
nun die allgemeine Beleuchtungsstärke in einem Räume unverändert,
rücke aber eine weiße Scheibe, die vorher in gutem Licht stand, in
den Schatten, so müßte sie, entsprechend der verringerten Lichtmenge,
welche sie jetzt in das Auge sendet, eigentlich dunkelgrau aussehen.
In Wirklichkeit aber sieht sie weiter weiß aus, nur mit einem feinen,
hellgrauen Schatten darüber. Auch hier hat der Gegenstand wenigstens
ungefähr seine Eigenfarbe behalten, d. h. es hat eine Transformation
stattgefunden, aber dieses Mal lag es nicht an den Anpassungsvor-
■) Das Beispiel stammt von E. Hering, der zuerst die hier liegenden Probleme
gesehen hatte. Die durchgreifendste Bearbeitung für das Gebiet der Schattenphäno-
mene hat bisher D. Katz geliefert in dem Buch: »Die Erscheinungsweise der Farben
und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung«. Versuche, weiche die
Grundlage der vorliegenden Abhandlung bilden, stammen zum großen Teil aus
einer Arbeit von mir selbst, die unter dem Titel »Beiträge zur Transformation der
Farben« in der Zeitschrift für Sinnespsychologie 1920 erscheint.
ZWEI DARSTELLUNGSPROBLEME DER BILDENDEN KUNST, 373
richtungen des Auges. Denn dessen Erregbarkeit konnte sich nicht
verändern, da die allgemeine Beleuchtung des Raumes die gleiche
blieb. In solchen Fällen spricht man von zentraler Transformation und
will mit dem Wort »zentral« sagen, daß dabei psychologische Vorgänge
im Spiele sind. Diese Transformation ist nämlich ganz davon ab-
hängig, daß ich den Gegenstand als solchen und die Beleuchtungs-
verhältnisse richtig erkenne. Halte ich vor die beschattete Scheibe
einen Schirm mit enger Öffnung, in dem nur ein Teil von ihr sicht-
bar wird, so erscheint dieser Teil sofort nicht mehr als weiß mit einem
Schatten davor, sondern als dunkelgrau, wie es seine objektive Licht-
stärke verlangt. Dies nennt man die »Reduktion« der vorher trans-
formierten Farbe.
Man sieht, daß beschattete Gegenstände nach der Reduktion die-
jenige Farbe annehmen, welche ihrer Eindringlichkeit entspricht. Und
die Reduktion ist daran gebunden, daß man die Gegenständlichkeit
der Dinge für die Wahrnehmung unterdrückt. Eine Sehweise also,
welche sich für die Gegenstände interessiert, wird den Schatten als
feinen Schleier geben müssen. Wenn die Impressionisten hingegen
proklamieren: Nicht die Gegenstände, sondern das Licht selbst soll
dargestellt werden, so verlangen sie sozusagen nichts anderes als die
Darstellung der Schatten nach ihrem Reduktionswert, unter Ausschal-
tung der Transformation. Aber sie wenden keine äußeren Hilfsmittel
an, um die Reduktion auszuführen, sondern sozusagen psychologische,
indem sie die Schatten auf ihre Eindringlichkeit hin ansehen. Denn die
Eindringlichkeit einer beschatteten Fläche entspricht ihrer objektiven
Lichtstärke, und d. h. ihrem Reduktionswert.
Zum Schluß noch eine allgemeine Bemerkung. Wenn man sich
die Oesamtpsychologie des »impressionistischen« Zeitalters ansieht, so
wird man zwei Kennzeichen finden. Diese Zeit war positivistisch
auf die Erkenntnis der Wirklichkeitszusammenhänge gerichtet und fand
letzte Befriedigung in der Kultivierung des Empfindungslebens. Sie
war in Wahrheit subjektivistisch und objektivistisch in einem. Und
nun die Methode des Zeichnens nach der Eindringlichkeit: Unterschiede
der Eindringlichkeit entsprechen genau den Unterschieden der physi-
kalischen Lichtstärken, aber die Beachtung der Eindringlichkeit verlangt
eine Aufmerksamkeitsrichtung, welche nach innen und nicht nach außen
gekehrt ist, welche die Wirkungen der Reize auf das eigene Bewußt-
sein beachtet. Die Parallele ist deutlich und sicher nicht zufällig.
XI.
Kunstcharaktere südabendländischer Völker.
Von
Otto Höver.
Die von Alois Riegl ') in die Kunstgeschichte eingeführten Be-
griffe taktisch (haptisch) und optisch sind wesentliches terminologi-
sches Rüstzeug zur Charakterisierung ethnischer Besonderheiten des
KunstwoUens, das eigentlich ein Kunst-Müssen ist.
Der Wiener Kunstforscher wollte mit den genannten Begriffen die
besondere schöpferische Haltung einzelner Epochen im überethnischen
(übernationalen) Sinne fassen. Taktische Werte sollten in den Kunst-
leistungen von Anfangsphasen und mittleren (klassischen) Stufen ver-
wirklicht sein. Nahsichtige Einstellung vermittelte in Anfangsphasen,
normalsichtige Einstellung in klassischen Phasen das taktische Erlebnis.
So mußte die ägyptische Kunst unbedingt taktisch-nahsichtig, die
griechische Klassik hingegen taktisch-normalsichtig sein. Das OptiscTie
und damit fernsichtiger Standpunkt blieben dann eine Angelegenheit
aller Spätphasen (Spätantike, Barocke usw.).
Wir nun sehen von jeder zeitlichen Auswertung dieser Begriffe
ab. Uns bedeuten sie vielmehr die zeitlosen psychischen Grundver-
haltungsweisen des kunstschaff enden wie kunsterlebenden Menschen
überhaupt, mögliche Orundeinstellungen der Völker (Rassen) im schöpfe-
rischen Verhalten wie Erleben 2).
Gleich hier aber sei bemerkt, daß innerhalb der abendländischen
Kunstwelt immer die Völker mit hervorragend taktisch-körperhafter
Begabung die Begründer von Zeitstilen (klassischen Epochen) sind
— Begabung für das Neuanfangen — , wogegen die optische Veran-
lagung meist in Spätepochen zu höchsten schöpferischen Leistungen
gelangt. Eine Übereinstimmung mit Riegls Auffassung läßt sich also
auf diesem Grunde wohl erzielen.
Mit den Begriffen taktisch und optisch allein ist es jedoch nicht
') Vgl. Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie.
'^) Vgl. auch Bernhard Schweizer, Die Begriffe des Plastischen und des Male-
rischen als Grundformen der Anschauung, diese Zeitschrift Bd. XIII (S. 259).
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 375
getan. Schon der Begriff des Optischen legt sich in zweierlei Mög-
lichkeiten auseinander: in das Optisch-Zweidimensionale (Fiächenhafte)
und das Optisch-Körperhafte. Eine weitere Reihe von Begriffen ist
dann besonders für die Darstellung der Kunstcharaktere abendländischer
Völker (südalpin und nordalpin) unbedingt nötig. Auf vorläufige de-
finitorische Festlegungen verzichten wir, um alles dem geschichtlichen
Anschauungsstoff zu überlassen.
Alles orientalische Kunstschaffen ist von Anfang an optisch-flächen-
haft, unkörperlich-zweidimensional und will in seinen Taten entspre-
chend gewertet sein. Alle abendländische (süd-, west- und mittel-
europäische) Kunst ist entweder taktisch-körperhaft, gesteigert drei-
dimensional oder optisch-dreidimensional, tiefenhaft und körperlich
konzipiert. Die erste Möglichkeit tritt entweder allein auf: es ist das
Südabendländische schlechthin in ganz bestimmten Epochen seiner
Entwicklung als Zeichen vollendeter Loslösung vom Orientalischen
(oder Orientalisierten): Dorik und italienische Renaissance, oder sie tritt
in ein Wechselspiel ein mit der zweiten Möglichkeit. Es ergibt sich
ein Dualismus — der Dualismus der abendländischen Kunstseele (der
faustischen Seele!) überhaupt — aus taktischen und optisch-drei-
dimensionalen Werten, etwa in französischer Gotik oder im italienischen
Barock.
Der reine Orient kennt keinen derartigen Dualismus, Er ist völlig
monistisch in seinen ästhetischen Werten.
Zum letzten aber offenbart sich das Optisch-Körperliche auch ganz
allein. Das ist bezeichnend für die sonderlich-ionische Kunstveran-
lagung. Auch in anfänglicher wie spätester Entfaltung deutschen
Kunstschaffens gibt es Zeiten, in denen man ausschließlich optisch-
körperhaft eingestellt ist und oft sogar dem Orientalischen scheinbar
sehr nahe kommt. Es sind Punkte größtmöglicher Annäherung an
das Optisch-Flächenhafte einmal im frühesten Mittelalter, zum anderen
im spätesten Barock, wo die Entkörperlichung und damit die Ver-
geistigung der Architektur und der Ornamentation am weitesten, fast
unwahrscheinlich weit gediehen sind ').
1. Dorischer und ionischer Kunstdialekt
Selbstverständlich wird alle Architektur, wie alle bildende Kunst,
durch das Auge erlebt. Der Begriff des Taktischen trifft nur einen
') Vor allem in Spätromantik, Spätgotik, Spätbarock. Verfasser hat über das
Wesen der »Spätstiie deutscher Baukunst« eine besondere größere Arbeit vorbe-
reitet, die im Laufe des Jahres als Buch erscheinen wird.
376 OTTO HÖVER.
assoziativen FaI<tor des künstlerischen Schaffens und Genießens. Die
taktische Möglichkeit besteht darin, daß das Auge sich mit den Fähig-
keiten des Tastsinnes gleichsam leihweise ausrüstet. Taktisches Kunst-
schaffen stellt irgendwie die Forderung auf, daß seine Erzeugnisse mit
den Fingerspitzen abgetastet werden, das Gefühl für die feinen
Hebungen und Senkungen der körperbegrenzenden Flächen wird an-
geregt. Die Formwerte sind in erster Linie abtastbare Werte. Die
ab ovo faktischen Kunsttätigkeiten sind Töpferei und Modellieren. Hier
liegt das Formgefühl in den Fingerspitzen.
Alles künstlerische Schaffen unter Führung taktischer Absichten
geht zunächst von unserem eigenen Körpergefühl aus. Die eigene
Leiblichkeit entscheidet. Unser Ich fühlt sich ein. Das Taktische ist
solchermaßen zunächst anthropomorph bestimmt. Es wird zur Norm
südabendländischer Kunstgestaltung, zum wesentlichen Nenner antiker
Schönheit und alles dessen, was weiterhin diesem Ideal folgt (Renais-
sance). Taktische Veranlagung strebt nach Verkörperlichung, nach
dem Festen, Begrenzten und Greifbaren. Die geistige Wesenheit des
Raumes wird verkörperlicht. Der Raum erscheint nur als Erweiterung
unseres Leibes und seiner Gliedmaßen.
Die körperliche Geformtheit, die sich an den Tastsinn wendet, ist
Immer irgendwie temperiert, ist plastisches Optimum. Nahsichtiger
oder normal sichtiger Standpunkt werden gefordert. Wir befinden uns
in Übereinstimmung mit der Auffassung Riegls. Das Taktische ent-
spricht dem künstlerischen Ideal mittlerer oder klassischer Stufen. Da
nun aber bestimmte Völker ihre ethnischen Besonderheiten gerade
in diesen klassischen Stufen besonders ausprägen und eindeutig er-
kennen lassen, so dient uns das Taktische über Riegl hinaus zur
Feststellung der Nationalkonstanten jener Völker, die in klassischen
Entwicklungsphasen ihr Bestes gegeben haben.
Die Bedeutung des Begriffes taktisch, die Möglichkeiten der Ver-
wirklichung abtastbarer Formwerte haben natürlich ihre besondere
Schwingungsweite. Nichts wäre falscher, als den Inhalt des Begriffes
starr und unverrückbar festzulegen. Es gibt eine ganze Skala von
Untertönen im formgewordenen Körpergefühl. Auch plastisches Maxi-
mum, z, B. im italienischen Barock, kann noch taktisch gemeint sein.
Es kommt auf die Nuancen und genetisch-historischen Beziehungen
an. Taktisch-Körperhaft und Optisch-Dreidimensional sind Grade einer
Skala. Das Optisch-Dreidimensionale enthält die Möglichkeit, plastische
Form auch bei Fernsicht noch körperhaft wirken zu lassen, sogar ge-
steigert körperhaft Starke Schatten dienen dabei der Modellierung.
Innerhalb des Abendländischen finden sich Taktisches und Optisch-
Dreidimensionales oft nebeneinander. Darin liegt der Dualismus der
KUNSTCHARAKTERE SODABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 377
abendländischen Kunstseele. Das beginnt schon in der Antike, wo
immer die Befreiung vom Morgenlande unternommen und vollzogen
wird.
Immer aber ist auch das Optisch-Dreidimensionale im Körperhaften
. verwurzelt. Immer geht der echte Abendländer vom Körper zum
Geist. Das Taktische liegt auf der Seite des Materialismus, eines
durch und durch gesunden Materialismus. Burckhardt würde von
unbefangener Naturnähe und frischer Naivität sprechen. Das Optisch-
Dreidimensionale strebt zum Spiritualismus, auf Grund eines künst-
lerischen Phänomenalismus, den Konrad Fiedler unter dem Ausdruck
»Sichtbarkeit« zu fassen suchte.
Eine Kunstanschauung, die folgerichtig und eindeutig auf das
Taktische eingestellt ist, setzt dem Monismus des Morgenlandes in
ihrer Art wieder einen Monismus entgegen, den Monismus der schönen
Körperlichkeit. Das Optisch-Dreidimensionale bringt ebenfalls in letzten
Auswirkungen einen Monismus unter der Herrschaft des Geistigen
zustande, wobei der Begriff der Bewegung, namentlich in der Gestal-
tung der Raumform, eine wichtige Rolle spielen wird.
Beide Möglichkeiten stehen ^ und das gehört wieder zum abend-
ländischen Kunstwollen — von vornherein unter dem Grundsatz: Form
um der Form willen. Die artistische Auffassung hat das Symbolische
des Morgenlandes überwunden. Daß dies' erstmalig für europäisches
Bauschaffen verwirklicht wurde, ist Verdienst der Hellenen, mehr noch,
ist Verdienst des sonderlich taktisch veranlagten hellenischen Stammes
der Dorier.
Man kann sagen, daß der Dorier dem Orientalischen gegenüber
eine Kantische Tat vollbrachte. Wie Kant die Philosophie vom dog-
matisch-spekulativen Rationalismus befreite, das Denken vom Himmel
auf die Erde herabholte und vor allem auf die reine Formkraft der
Vernunft hinwies, die Philosophie zur Theorie der Formprobleme des
Denkens machte, so erlöste der Dorier die Architektur aus der Symbolik
des Morgenlandes, aus der religiösen Transzendenz, um sie ihren im-
manenten Aufgaben zuzuführen. Das Architekturale ist kein Gleichnis
mehr, sondern »wahrhaftige« Baukunst. Wie durch Kant die abend-
ländische Erkenntnistheorie vollendet wurde, so vollendete der Dorier
praktisch die abendländische Ästhetik. Das Tektonische braucht nur
5schön« zu sein, dann enthält es seine sakrale Würde von selber.
Schön aber ist die greifbare Körperhaftigkeit, und so enthält das Be-
wußtwerden des Abendländischen zugleich eine Verwirklichung takti-
scher Formwerte.
Was dem Dorier innerhalb des Taktischen, gelingt dem lonier
unter Führung des Optischen gegenüber dem Orientalischen. Der
378 OTTO HÖVER.
lonier setzt dem Optisch-Flächenhaften zum ersten Male das Optisch-
Körperhafte entgegen. Dorischer und ionischer Kunstdialekt sind also
in dem Streben nach Körperlichkeit einig und vertreten beide das
Abendländische im Gegensatz zum Morgenländischen. Das Unter-
schiedliche der beiden Dialekte liegt nur im Optischen hier und im
Taktischen dort. Allemal bleibt das Optische des Ionischen dem Orient
um einige Grade näher.
Abendländische Tektonik, wie abendländische Kunst überhaupt,
beginnt von vornherein mit einem Dualismus, zweierlei Möglichkeiten
stehen am Anfang. Das wird zum Schicksal Europas.
Der Wille zur Befreiung vom Orient war schon in mykenischer
Zeit einmal sehr stark vorhanden. Orientalisch in der mykenischen
Architektur war vor allem die Art, Wand und Säulen zu verkleiden
mit bemalten Platten oder Metallbeschlägen. Doch spürt man überall
schon den Drang zum Plastischen (Metallrosetten der Atreuskuppel,
Reliefierung der Zickzackbänder an den Säulen des Einganges usw.).
Ganz eindeutig aber wird der Gegensatz zwischen Morgenländischem
und Abendländischem bei den eingelegten Dolchklingen und am Gold-
becher von Vaphio. Die Tierbilder der Dolchklingen sind schon ihrer
Technik nach rein orientalisch. Hier ist alles optisch-flächenhaft zu
nehmen. Die Reliefdarstellungen des Vaphiobechers sind dagegen
körperhaft wie nur je eine form aus klassischer Zeit. Doch will die
Plastizität der Vaphioreliefs optisch gefühlt sein. Darin behält Alois
Riegl recht. In dem Optisch-Dreidimensionalen dieser Reliefs liegt also
das Abendländische, das echt Griechische.
Die Mykenäleute mit ihrer Veranlagung zu optisch-körperhafter
Gestaltung finden wir in archaischer und klassischer Zeit als lonier
im Osten wieder. Das Dorische und damit der Wille zum Taktischen
tritt ganz neu in die Kunstgeschichte der mittelländischen Völker
ein. Im (dorischen) Dipylonstil hätten wir einen Fall, wo sogar rein
flächenhafte Ornamentation eine Fülle tastbarer Linearwerte enthält.
Alle bemalte Frühkeramik der lonier steht, am Dipylonstil gemessen,
dem Orientalischen näher, was ja durch ihre Abkunft und die Nähe
des Orients bestätigt wird.
Die taktischen Werte dorischer Keramik sind im tiefsten verknüpft
mit den frühen Kunstäußerungen Alteuropas. Schon die neolithische
Keramik des Nordens (Donauländer, Nordbalkan) läßt die Absicht auf
Taktisches erkennen. Der neolithische Töpfer begriff die Ornamentik
aus dem Wesen seines Handwerks*).
') Vgl. die Keramik aus der neolitliischen Station Butmir bei Serajewo: plastisch
aufgelegte Spiral bänden
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 379
Die ornamentalen Leistungen aus den besten Perioden hoch-
nordischer Bronzezeit, jene Schilde, Gürte! und Haisplatten mit ge-
punzten geometrischen Zieraten, Spiralen und Wellenmotiven (laufen-
der Hund), sind ebenso aus dem Tastgefühl zu verstehen wie etwa
die sauberen klaren Linien Dürerscher Kupferstiche'). Punze und
Stichel sind völlig taktische Instrumente. Auch in der dorischen Plastik
(Sikyon) ist Erz das gegebene Material: dorische Toreuten stehen gegen
ionische Porossteinschneider.
Die Tektonik der Dorier ist ganz materialgebunden. Dorik ist
Stein und nichts als Stein. Der Reiz dorischer Archaik liegt gerade
darin, zu beobachten, wie sich das Anthropomorphe aus dem Kristal-
linischen losringt. Man hat die ägyptische Tektonik und Statuarik
kristallomorph genannt. Das widerspricht der eigentlich ägyptischen,
der orientalischen Auffassung. Das Kristallinische des Steins wurde
erst von den Griechen, den Abendländern, künstlerisch erkannt.
Das Maß der Geformtheit des Steins im dorischen Stil deckt sich
mit den taktischen Werten. Jede Wand hellenischer Architektur ent-
hält noch einen optisch-flächenhaften Charakter. Wir begreifen, daß
der Grieche, vorab der Dorier, diese Flächenhaftigkeit aufheben mußte
durch das peripterale Prinzip. An der dorischen Säule sind die scharfen
Stege der Kannelüren das Wesentliche. Diese Grate kommen dem
Tastgefühl entgegen. Wölfflin gebraucht gern das Gleichnis von den
scharfen Kanten eines eckigen Bleistiftes zwischen den Fingerspitzen.
Wie die Kannelüren und Stege des Säulenschaftes sind auch die Stege
der Triglyphen Tastbahnen.
Allgemein gilt: das Weiche, Glatte, Runde, das Stoffliche und
Nachgiebige ist nicht unter allen Umständen tastbar, vielmehr un-
taktisch. Tastbar ist das Eckige, Rauhe, Kantige, das Gebrochene und
Widerstandleistende. Alle stoffliche Charakteristik in Plastik und
Malerei fällt schon in das Gebiet reiner Sehbarkeit^).
Die Ausmaße des Säulenkörpers geben die Norm für den Aufbau
des Tempels ab. Das Interkolumnium ist nichts, die Kolumna als
plastisches Individuum alles. In der plastischen Gesamtform der Säule
lebt unsere eigene Leiblichkeit, das anthropomorphe Gesetz. Der
statische Ausgleich zwischen Kraft und Last wirkt wohltuend, weil
wir unsere eigene körperliche Leistungsfähigkeit hineinfühlen. Alle
orientalische Tektonik bedeutet etwas anderes, Außertektonisches. Die
') Vgl. die Erzeugnisse der zweiten und fünften Periode nordiscfier Bronzezeit
nacti Oskar Montelius.
^) Vgl. die Gewandung und die Behandlung des Nackten bei den sogenannten
Tauschwestern des Parthenongiebels gegenüber den Steilfalten am Peplos dorischer
Tänzerinnen usw.
380 OTTO HÖVER.
hellenische Säule ist nur Körper, sie trägt wirklich, erscheint nicht
symbolhaft verschleiert.
Jede Tropfenleiste, jedes Profil, jedes Gesims ist taktisch empfun-
den. Die Metopen, anfänglich noch Tonplatten in orientalischer Manier
flächenhaft ornamentiert, werden zu Reliefs mit hochplastischen Figuren.
Dasselbe gilt von den Giebel- und Eckakroterien : aus einfachen Platten-
ziegeln werden skulpturale Gebilde. Doch niemals wird plastisches
Optimum überschritten. Das rein Dorische und damit das Taktische
gelangen bis zur Klassik, weiter aber nicht, ja sie gelangen nicht ein-
mal zur Klassik. Die letzte Erfüllung des Taktischen dorischer Tek-
tonik ist vielleicht noch reif-archaisch. Immer kann nur Pästum ge-
nannt werden. Auf dem Peloponnes ist der olympische Zeustempel
das letzte Ergebnis reiner Dorik. Am Parthenon ist das dorische
Säulenwerk schon aufgegangen im Optisch-Körperhaften i). Das ioni-
sche Attika und seine Künstler haben die Führung. In dieser be-
ginnenden Macht des Optisch-Körperhaften ionischer Baugesinnung
über das Taktische des rein Dorischen liegt ein leis klassizistischer
Zug der Perikleischen Bauten.
Ludwig von Sybel sagt angesichts des Erechtheion: »Auf der
Höhe klassischer Zeit ein malerischer Bau.« Malerisch im barocken
Sinne, wie Sybel es meint, ist das Erechtheion noch nicht — griechi-
scher Gliederbau kann niemals malerisch sein. Es ist ein Bau, der
optisch -körperhaft, nie taktisch erlebt sein will, und nur insofern
liegen grundsätzlich die Wege zum Malerischen barocker Formbildung
von hier ab offen. Mit dem Erechtheion ist sogleich die ganze Fülle
der Möglichkeiten der ionischen Kunstart gegeben: Möglichkeiten der
Freiheit und der Strenge, des Klassischen, des Klassizistischen und
des Barocken.
Die Karyatiden der Korenhalle, ursprünglich dorischer Abstam-
mung (Gewandung), mußten sich die gleiche Ionisierung gefallen lassen
wie die Säulen des Parthenon.
Das rein Dorische bevorzugt die greifbare Sonderheit, das ab-
tastbare, schöne Einzelne. Jede Kannelüre will gefühlt sein. Das
Ionische dagegen geht immer auf das sichtbare Ganze. Man rechnet
schon mehr mit fernsichtigem Standpunkt. Ionische Säulen können
immer mehr in Massen auftreten als dorische (vgl. die großen Dipteroi
Kleinasiens).
Die Gegensätze von Hell und Dunkel, optische Faktoren, spielen
') Bei einem iWeister wie Iktinos, der im Innern der Zelia des Apollotempels
zu Phigalia sich freie Umbildungen jonischer Kapitelle erlaubt, kann die Einstellung
auf Optisches nicht wundernehmen (vgl. auch wie die Säulen mit der Zellamauer
durch eine Art Streben verbunden sind).
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 381
eine größere Rolle im Ionischen als im Dorischen. Die kubische
Strulctur des Zahnschnittfrieses ist eigentlich untaktisch, besitzt nur
visuelle Momente. Die tiefen Kannelüren der ionischen Säule sind
ausschließlich Schattenbahnen, die Stege breitere, helle Bänder, keine
scharfen Grate. Das Volutenstück des ionischen Kapitells in der
plastischen Durchformung hochklassischer Zeit nimmt man gern als
besonders tastbar hin. Wir erkennen an, daß hier ein bemerkens-
werter Orenzfall vorliegt. Bedenkt man jedoch, daß die immerhin
schwache Reliefierung in der Fernsicht sich dem Taktischen entzieht,
so bleibt schließlich wieder nur ein optisches Spiel von Licht und
Schatten über, wie am ionischen Säulenschaft. Die plastische Bildung
ionischer Voluten hat im Vergleich zu den scharfen und bestimmten
Kannelüren des dorischen Säulenschaftes etwas Weiches und Ver-
schwimmendes. In Kapitell wie Schaft der ionischen Säule lebt niemals
die pralle Körperlichkeit dorischer Ordnung. Die ionische Schönheit
offenbart sich dem Auge allein. Sie verlangt einen weiteren Gesichts-
winkel.
Im Ionischen ist das Interkolumnium schon in ganz anderem
Maße künstlerisch bedeutsam als in echter Dorik. Daraus ergeben sich
weitreichende Konsequenzen im Verlauf der Bauentwicklung, wobei
schließlich an die Stelle plastisch-tektonischer Existenzen die unkörper-
lichen, rein visuellen Wesenheiten der späteren sogenannten Schalt-
räume') (vgl. Basilika) treten.
Das für dorisches Körpergefühl so wichtige Kunstmittel der En-
tasis erscheint am ionischen Säulenschaft reduziert, kaum bemerkbar
und fällt später ganz fort. Alle dorischen Säulen sind in dem Maße
ionisiert, dem Optischen näher gerückt, wie die Entasis abgeschwächt
wird oder allmählich ganz fortfällt.
Daß aus dem an sich flächenhaften Volutenstück auf besondere
Art eine körperhafte Form herausgeholt wurde, wird besonders deut-
lich an der Genesis dieses Architekturteils. Vermutlich v/aren ja die
ältesten wirklichen Sattelhölzer mit flachen, unplastischen, bemalten
Tonplatten nach orientalischer Art verkleidet. Hier schuf der lonier
kraft seiner plastischen Begabung gründlichen Wandel und prägte die
europäische Form: Körperhaftes mit optischen Wirkungen.
An sich bleibt das Unternehmen der Okzidentalisierung bei den
ionischen Griechen bewundernswert genug. Denn die lonier hatten
es in einer Weise schwerer, sich vom Orientalischen loszuringen,
einmal wegen der Überlieferung von ihren mykenischen Vorfahren
') Den Terminus iScIialtraunis hat August Schmarsow geprägt; er meint
damit vor allem die Arkaden der altchristiiclien Basilika.
382 OTTO HÖVER.
her, zum andern waren sie infolge der geographischen Lage ihrer
hauptsächlichen Wohnsitze an der kleinasiatischen Küste sowie auf
den Inseln der Ägäis dem Orient und allen orientalischen Einflüssen
viel näher als die Dorier im westlichen Oroßgriechenland oder auf
dem Peloponnes. Dorisches verfällt schließlich der ionischen Optik,
diese aber verfällt zu guter letzt wieder dem Morgenlande.
Dorik und lonik, das sind Polyklet und Phidias, das sind: die
Giebelskulpturen des olympischen Zeustempels und des Parthenon.
Die Formprobleme hier und da verhalten sich zueinander wie plasti-
sche Gruppe zur Einzelfigur. Der taktische Wille dorischer Bildner
wirkt sich aus an der schönen männlichen Einzelstatue. Polyklets
Kanon ist Höhepunkt und Abschluß zugleich. An der archaischen
Plastik dorischer Herkunft hat Emil Waldmann (Griechische Originale,
Leipzig 1912) treffend hervorgehoben, wie jede leise Hebung und
Senkung des Torso, der feine Atem der plastisch geformten Ober-
fläche mit liebender Hand nachgefühlt sein will. Rodin liebkoste gern
die Schönheiten seiner Antikensammlung.
Ionische Archaik (von den Inseln) entzieht sich dem Tastorgan.
Die zieren Gewandfältelungen der Akropolismädchen wenden sich nur
an das Auge. Auch lebt ein letzter Rest orientalischer Front^lität
noch in dieser köstlichen Archaik, durch östliche Herkunft und geo-
graphische Nähe des Morgenlandes erklärlich. Das archaische Lächeln
wurde ausgelegt (Wilh. Lermann, Altgriechische Plastik, München 1Q08)
als ein erster Versuch, die morgenländischen Fesseln des Nur-Flächen-
haffen zu sprengen. Man wollte das Antlitz körperlich »begreifen«.
Die Bildung des Mundes sollte die Tiefe andeuten, wurde aber wie-
derum flächenhaft nach oben gezogen und erstarrte so zu ewig hei-
terem physiognomischem Ausdruck.
Die Akropolismädchen treten gleich in Korona auf. Die statiia
quadrata Polyklets und der Dorier duldet nichts neben sich. Die
Brustwölbung, die Rückenlinie und der herrliche Beckenschwung des
Doryphoros reizen zum Nachmodellieren mit der Hand. Man ver-
gleiche dagegen die temperierte, weiche Körperlichkeit des sogenannten
Theseus aus dem Parthenongiebel. Ganz unter dem optischen Gesetz
ist natürlich der Panathenäenzug des Cellafrieses geschaffen. An den
Metopen des Parthenon läßt sich die allmähliche Entdorisierung fast
Schritt für Schritt verfolgen.
Adolf von Hildebrand hat in seinem »Problem der Form« nichts
anderes fixiert als das optische Gesetz ionischer Plastik und Archi-
tektur. Reliefanschauung besagt nicht, körperhafte Daseinsform in eine
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 383
nur zweidimensionale Erscheinungsform zu verwandeln, heißt viel-
mehr, das Kubische so zu gestaUen, daß das Augenerlebnis die Drei-
dimensionalität überall klar erfaßt von einem unverrückbaren frontalen
Standpunkt aus. Hat der Plastiker die Aufgabe, »dem Kubischen das
Quälende zu nehmen«, so ist damit auf keinen Fall gesagt, daß er die
reale Körperlichkeit zu bloß flächenhafter Wirkung herabmindert. Das
wäre ägyptische Statuarik. Das Quälende des Kubischen besteht nur
in jener plastischen Formgebung, wie sie der naturalistische Pseudo-
barock der Begasschule kultivierte, wo der Betrachter ruhelos um
Einzelfigur und plastische Gruppen herumgetrieben wird, um ihrer rein
gegenständlichen Bedeutung habhaft zu werden und das eigentlich
Künstlerische verloren geht. (Vgl. von antiken Bildwerken etwa den
farnesischen Stier.) Aus dem tiefgefühlten Gegensatz zu dieser Manier
ist Hildebrands Büchlein entstanden. Die Möglichkeiten echter Barock-
plastik läßt der Münchner Meister offen. Gegen Schlüter, selbst gegen
Bernini richtet sich seine Theorie nicht. Reine Reliefanschauung bei
frontaler Einstellung ist plastisches Optimum in geklärter Sichtbarkeit.
Barock ist gesteigerte Tiefenhaftigkeit, plastisches Maximum, optisch
erlebt bei Schrägansicht, wobei niemals die Forderung an den Be-
schauer gestellt wird, ruhelos um die Figur oder Gruppe herumzu-
wandern. Alle echte Barockplastik bietet ihr fruchtbares Moment auch
nur in einer Ansicht dar (Schrägansicht von links oder rechts). Das
beweisen Berninis heilige Therese oder sein Reiterbildnis Konstantins
des Großen am Fuße der Scala Regia ebenso wie jede Altarkompo-
sition des 18. Jahrhunderts mit Figuren von Franz Ignaz Guenther oder
I. B. Straub. Plastisches Maximum ist zu bildhaftem Eindruck ge-
bändigt, ohne etwas von gesteigerter Dreidimensionalität einzubüßen.
Man muß den geheimen Impressionismus bei Hildebrand heraus-
fühlen. Seine Theorie entwächst in der Tat einer impressionistischen
Grundeinstellung, wie die ganze Kunstanschauung Konrad Fiedlers
(Begriff der Sichtbarkeit, vgl. auch Hans von Marees). So sehr auch
Hildebrand persönlich gegen Rodin Stellung nahm, aus dem Problem
der Form lassen sich die besten Werke des französischen Meisters
trotzdem rechtfertigen. Der Unterschied liegt nur im Äußerlichen:
der Münchner ist rückschauend, ein spätgeborener Klassizist bester
Schulung, Impressionist der Theorie nach; der Pariser geht eigene
Wege, entdeckt neue Möglichkeiten körperhafter Flächenbelebung, ist
Impressionist in der Praxis und insgeheim allen Spätgotikern und
Barockbildnern verwandt.
Die plastischen Meisterwerke Hildebrands sind bei aller Bildhaftig-
keit voller raumkörperlicher Beziehungen. Anderes wollte Hans von
Marees auch nicht.
384 OTTO HÖVER.
Von diesen Grundlagen aus kann die ganze klassische und nach-
klassische Plastik und Architektur der Hellenen beurteilt werden, ins-
besondere das Problem der Gruppe. Dieses kann restlos nur gelöst
werden unter dem Formgesetz des Optisch-Dreidimensionalen, gleich-
viel ob es sich um die Parthenongiebel, den Laokoon oder das Reiter-
standbild handelt. Alle Reiterstandbilder, in denen es nicht gelungen ist,
die beiden plastischen Massen Mann und Pferd zu vollständiger Einheit
optisch zu binden, müssen unvollkommen bleiben. Deswegen ist das
Reiterstandbild das eigentlich plastische Problem des Barock. Dem
Gattamelata mögen die höchsten Vorzüge zuerkannt werden — immer-
hin hat Donatello für die reine Seitenansicht die Gestalt des Feldherrn
allzusehr von der Schmalseite aufgefaßt. Verrocchio gab sich Mühe,
die Figur seines Colleoni dem Relief des Gaules anzupassen. Lionardo
versuchte in einem ersten Entwürfe für das Reiterdenkmal des Fran-
cesco Sforza die spätquattrocentistische Bewegtheit des Colleoni zu
überbieten, indem er dem Pferde die Sprungstellung gab, also in etwas
eine barocke Lösung vorwegnahm, die jedoch hier, nach den Zeich-
nungen zu urteilen, auf reine Reliefansicht berechnet war. (Vgl. auch die
Zeichnung des Pollaiuolo, Abbildungen bei W. von Seydlitz, Lionardo da
Vinci.) Die späteren Studien für die Denkmäler des Sforza und Tri-
vulzio zeigen das Pferd in der Schrittbewegung. Das Ganze ist im
Sinne der Hochrenaissance beruhigt, doch muß man sagen, daß auch
Lionardo hier der Schwierigkeit eines optischen Ausgleichs der beiden
Massen Roß und Reiter nicht ganz Herr geworden wäre. Die Neu-
aufstellung des Marc Aurel auf dem Kapitolsplatz durch Michelangelo
wird dann zu bündiger Norm für Aufstellung barocker Standbilder
überhaupt. Andreas Schlüter erreicht in seinem Großen Kurfürsten,
nicht ohne starke Einflüsse von selten der Italiener i) und der Franzosen
(Girardons Reiterbilder für Ludwig XIV.)') das Höchste an optischer
Bindung der beiden plastischen Massen. Hier ist die Figur des Reiters
mit wallendem Mantel wahrhaft groß gesehen. Das Ganze gipfelt sich
bei Schrägansicht in einheitlichem Zuge pyramidenartig auf (man be-
achte die gedrungene Gestalt des Pferdes, auf dem der Kurfürst sitzt).
Bezeichnenderweise kommt auch Hildebrand bei seinen beiden Reiter-
denkmälern in Bremen (Bismarck) und München (Prinzregent) nicht
um die Schrägansicht als Schauseite herum.
Im dorischen Olympiagiebel sind alle Figuren noch in sich ge-
schlossene Individuen. Der Zusammenhang des Ganzen ist nur durch
') Vgl. die Reiterdenkmäler der beiden Farnese auf der Piazza dei Cavalli zu
Piacenza von Francesco Mocchi.
2) Vgl. das Reiterdenkmal Heinrichs IV. von Pietro Tacca (Mitarbeit des Gio-
vanni da Bologna) auf dem Pont neuf zu Paris.
I
KUNSTCHARAKTERE SODABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 385
rein gegenständliche Bedeutung, ist durch etwas Mythologisch-Mimi-
sches gewährleistet (vgl. auch die Ägineten). Die Spieler sind ge-
stellt wie bei einem lebenden Bild. Nicht anders ist etwa die Myro-
nische Gruppe Athena und Marsyas zu beurteilen. Phidias und seine
Leute lassen alles Mythologische und Mimische weit zurück, binden
alle Figuren rein optisch zu künstlerischer Einheit miteinander. Das
Artistische ist ausschlaggebend geworden. Selbst an den kläglichen
Fragmenten der Londoner Elgin marbles läßt sich noch die optische
Vereinheitlichung des Ganzen erkennen. Das künstlerische Geheimnis
aller Gruppenprobleme ist gefunden. Und es konnte nur gefunden
werden von einem lonier. Ja noch mehr: Phidias erweist sich als der
wahre Schüler des ionischen Malers Polygnot. Es muß ein ähnliches
Verhältnis gewesen sein zwischen diesen beiden wie zwischen Hilde-
brand und Marees.
Was neuerdings behauptet wurde: daß in der hellenischen Kunst
nicht die Plastik, sondern die Malerei die Führung gehabt habe, kann
für das Ionische zugestanden werden, insofern das Optische hier von
Anfang an den Ausschlag gegeben hat, aber nur in diesem Betracht.
Wollte man damit sagen, der Grieche sei ebenso nur — malerisch ver-
anlagt gewesen wie der Niederländer des 17. Jahrhunderts, so stimmt
das auf keinen Fall. Und ebenso ist es verfehlt, wenn man aus der
Tatsache, daß alle griechische Plastik und Architektur bemalt war, eine
Vorherrschaft der Malerei in hellenischer Antike herausfinden will.
Vorliebe für Buntfarbigkeit ist noch kein Zeichen für malerische Grund-
einstellung. Alle Buntfarbigkeit, alles Kolorierte der tektonischen Glieder
diente so oder so doch wieder zur Klärung des Körperlich-Dreidimen-
sionalen.
Man lasse sich nicht täuschen: körperhaft-plastisch war auch die
klassische Malerei der Griechen (Polygnot), auch sie war anthropo-
morph. Es ging immer um die menschliche Figur, den Akt, um die
körperhafte Existenz, darauf war alles Räumliche bezogen, und das
Räumliche wiederum konnte nur aus den gegenseitigen Beziehungen
der Körper abgelesen werden. In allem entschied letztlich das Optische.
Hans von Marees bemühte sich um die gleichen Probleme, seine Bilder
wurden nicht mit Unrecht gemalte Metopen genannt.
Ionische Malerei und Plastik sind beide gleichwertig. Die Führung
hat in beiden das eine übergeordnete Prinzip optisch-körperhafter Ge-
staltung. Das ist vorab festzustellen. Dann konnten immerhin die
Malwerke großer Meister, etwa der Polygnotschule, Vorbilder abgeben
für die wirkliche Plastik, wie es am Heroon von Gjölbaschi usw. der
Fall war, und wie es Phidias eben von Polygnot lernte. Wenn es
scheint, als sei die Plastik ganz in das Fahrwasser der Malerei ge-
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XV. 25
386
OTTO HOVER.
raten, so heißt das nur: das ionische Prinzip des Optischen hat über
das rein Dorische gesiegt, hat das Taktisch-Körperhafte in seinen Bann
gezogen und nach Polyklet die ausschließliche Führung gewonnen,
wie auch am dorischen Gesäule des Parthenon erkennbar.
Alle großen griechischen Maler seitdem sind vorwiegend ionischen
Stammes gewesen: Zeuxis — Parrhasios — Apelles usw. Im optischen
Prinzip der ionischen Kunst sind die geschichtlichen Grundvoraus-
setzungen für den gesamten weiteren Entwicklungsverlauf der Malerei
abendländischer Antike gegeben. Eine Darstellung des hellenistischen
Impressionismus hätte, immer soweit abendländische Wesenheiten (Raum-
Körperliches) in Frage kommen, mit den ionischen Malern zu beginnen.
Die Entwicklungslinie optischer Kultur ist einheitlich zu verfolgen.
Wir begreifen, daß nur der ionische Stamm eine bildhafte Archi-
tektur wie die des Erechtheion hervorbringen, daß die Idee einer bild-
haften Plastik wie die der Nike des Päonios nur in einem ionischen
Meister entstehen konnte. Gerade an der Nike sehen wir, wie alles
Optisch-Bildhafte gesteigert dreidimensionale Werte enthält und ent-
halten muß: die kühne Kurve des zurückwehenden Mantels, die untere
Gewandung, die sich fest um den stark gebauten Mädchenkörper legt
und alle Glieder hervortreten läßt. Hier liegen die Anfänge zum hel-
lenistischen Barock. Ionische Freiheit unter optischem Gesetz wirkt
weiter. Das Nereidendenkmal zu Xanthos, die Werke des Skopas,
die Niobiden, die Gigantomachie von Pergamon sind die Rastorte des
Weges. Überall ist es wieder das Ganze, nie mehr die Einzelstatue.
Die Schatten, die sich in den immer tiefer eingebauchten Gewandfalten
einnisten, sind stärkste Mittel für dreidimensionale Wirkung, bei den
Frauen des Nereidenmonumentes um so nötiger, als die hohe Auf-
stellung der Figuren nur die Fernsicht zuließ. Gewiß bietet die mäch-
tige Plastizität der Gigantomachie bei Nahsicht (Treppenaufgang) viele
tastbare Schönheiten, aber nur im Detail. Für den Genuß des Ganzen
mußte der Beschauer zurücktreten und wurde damit erst der künst-
lerischen Absicht gerecht. Einzelstatuen werden zwar auch noch ge-
schaffen in hoher Vollendung. Lysipp bemüht sich in bewußtem
Polykletisieren um männliche Schönheit, findet aber gerade dabei sein
neues — rein-optisches — Motiv der Gliederverkürzung. Lysipp er-
reicht vom Thema der freistehenden Einzelfigur aus eine erste barocke
Möglichkeit. Der Grundsatz des Optischen bleibt gewahrt, nur wird
statt frontaler Ansicht jetzt mehr und mehr die Schrägansicht gefordert.
Gleichzeitig ist das rein tektonische Prinzip durchbrochen. Zu Lysipps
Apoxyomenos gehört der Raum, mehr noch, gehört der überkuppelte
Zentralraum.
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 387
Unter dem optischen Gesetz vollzieht sich des weiteren die ganze
Bauentwicklung späthellenischer und hellenistischer Antike. Ohne die
Norm der reinen Sehbarkeit wäre die Vervielfältigung des tektonischen
Apparates weder im griechischen Klassizismus noch die Steigerung der
plastischen Kraft im hellenistischen Körperformenbarock möglich. Es
handeh sich immer um das optische Erlebnis des Ganzen. Davon
hängen letzten Endes auch die Raumwirkungen der Säulenstraßen
und der Hallen um die Agora usw. ab. Alle städtebaulichen Probleme
ließen sich künstlerisch nur unter optischen Absichten verwirklichen.
Die Säule behält in der mannigfachen Verwendung wohl noch
ihre Körperlichkeit (darin konnte sich Griechisches, Abendländisches
nie verleugnen), aber die Interkolumnien werden immer weiter ge-
nommen. In die dorische Ordnung besonders reißt jene Laxheit ein,
die für alles Klassizistische bezeichnend ist. Man kann geradezu sagen,
und beim Parthenon deuteten wir es schon an, daß überall da, wo die
ehemals rein taktische dorische Ordnung nur noch optisch behandelt
und verwertet wird, der Klassizismus gegeben ist. Das gilt, wie für
den antiken, so auch für den neueren Klassizismus. Der Dorismus
eines Gilly ist durchaus optisch, ebenso wie das Dorische an der
Petersburger Börse des Thoma de Thomon oder der Portikus an der
Frauenkirche zu Kopenhagen. Alle Tektonik des nachbarocken Klassi-
zismus ist nur sehbar, niemals tastbar gedacht, gleichviel ob bei Klenze
oder Schinkel (Propyläen in München, Ruhmeshalle an der Theresien-
wiese, Walhalla, Neue Wache in Berlin usw.). Klenze versucht zwar
auch Taktisches zu geben, wo es etwa in seinen Vorbildern aus der
italienischen Renaissance vorhanden war, jedoch selbst da verfällt sein
Epigonentum der Macht des Optischen. Den Außenbau des Münchner
Odeon mag man noch irgendwie taktisch empfinden. Der Königsbau
am Max-Joseph-Platz bedeutet, am wahren Pittipalast in seiner tastbaren
Rauheit gemessen, optische Verflachung.
Dem neueren Klassizismus war das optische Gesetz vom Barock
hinterlassen. Was jedoch im Barock unter Führung der Raumvorstel-
lung geschaffen war, wurde im Klassizismus wieder dem Vorrang der
reinen Körperform unterstellt. Im antiken Klassizismus war das Op-
tische, noch vor räumlicher Problematik, mit dem Ionischen gegeben,
und dieses Ionische wurde seiner Sehbarkeit wegen die Ordnung
schlechthin für den hellenistischen Klassizismus. Hier konnte dann auch
ein Klenze nicht fehlgehen. Die »ionische^ Glyptothek bleibt sein er-
freulichstes Werk.
Das Antik-Ionische wurde schließlich immer schmächtiger in seiner
Körperlichkeit. Die Säulchen des Pergamonaltares bieten an Körperlich-
keit höchstens das, was der Schinkel-Epigone Persius zu geben vermag-
388 OTTO HÖVER.
Wo die Neigung zum Barocken, zur Steigerung der Körperlichkeit für
den Augeneindruck vorherrschte, mußte naturgemäß die korinthische
Ordnung oder eine Verbindung verwendet werden.
An rein klassizistischen Typen, wie bei der forensischen Basilika,
wo nie der Versuch zu barocker Umgestaltung gemacht wurde — das
hätte von vornherein ein Versuch mit untauglichen Mitteln am untaug-
lichen Objekt bleiben müssen — , verflüchtigt sich das Körperhafte des
Tektonischen immer mehr. Schließlich ist der Punkt größter Annähe-
rung an das Optisch-Flächenhafte des Orients gegeben. Der Klassi-
zismus gleitet in das Morgenländische über. Was an hellenischem
Säulenwerk noch übrig war, erstand zu neuem Leben in der altchrist-
lichen Basilika und ihren transarchitekturalen») Wirkungsmöglichkeiten.
Bedeutende Meister unter den späteren griechischen Klassizisten
wissen trotz allem aus der Gesamtsituation ihrer Bauten noch höchst
reizvolle Wirkungen herauszuholen, so schon Hermogenes in Magnesia
(Tempel und Hallenhof), besonders aber Apollodor von Damaskus mit
der Anlage des Forum Trajanum, der Bibliothek, der Basilika Ulpia und
der Trajanssäule. Sicher war die körperliche Form des Tektonischen
durchaus klassizistisch; das optische Ganze aber mit seinen Durch-
blicken, Überschneidungen und der Zusammendrängung auf relativ
kleinen Raum muß stark barocke Effekte enthalten haben. Zum hel-
lenistischen Körperformenbarock im eigentlichen Sinne gehört die
trajanische Anlage nicht. Beim Körperformenbarock scheint es, als ob
das Auge immer stärkerer Reize bedürfe, um das Körperliche als solches
zu fassen. Da alles mehr denn je auf Fernsicht berechnet ist, muß
das Relief der Baukörper entsprechend betont werden, muß vor-
quellen und zurücktreten, damit das Dreidimensionale zur Geltung
kommt. Die Fernsicht ist natürlich, weil dieser Fassadenbarock von
der tektonischen Dekoration der scenae frons des Theaters ausgegangen
war, also hier ganz nur auf Sehbarkeit und Fernsicht eingestellt ge-
wesen war.
Gegen die abendländische (führende) Stimme zu Baalbek, Petra,
Palmyra usw. verschlagen die Orientalismen der Ornamentik nicht
sonderlich viel. Die machtvolle Plastik der enggestellten Säulenkörper
an den Baalbeker Großtempeln drängt sich ohne weiteres auf. Daß
ein Fries im beginnenden Tiefendunkel ausgearbeitet ist, kommt erst
bei genauerer Prüfung zur Geltung. Man bedenke immer, daß der
kleine runde Venustempel mit seinem barocken Gebälk und Säulen-
werk erst im späten 2. Jahrhundert n. Chr. entstanden und noch
') Über den Begriff des Transarchitekturalen vgl. einen anderen Aufsatz des
Verfassers, der voraussichtlich in dieser Zeitschrift erscheinen wird.
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 380
immer Kronzeuge des Abendländischen ist. In dem hufeisenförmigen
Forum von Oerasa') waren sicher Wirkungsmöglichkeiten der Bau-
situation enthalten, die erst ein Bernini vor St. Peter wieder er-
reichen sollte.
2. Das abendländische Italien.
Unter rein optischer Orundein Stellung erfolgte auch die Vereini-
gung von Oliederbau und Wölbung im östlichen Hellenismus*). So-
lange hellenisches Körpergefühl noch lebendig war im Osten, wurde
das Abendländische, das Optisch -Dreidimensionale vollkommen ge-
wahrt. Schließlich aber geschah dasselbe an dem durchgliederten ge-
wölbten Raumbau wie später an der altchristlichen Basilika: die An-
näherung an das Unkörperliche. Damit war die orientalisierte Spät-
antike, war der byzantinische Raumbau gegeben.
Bevor die Angleichung an das Morgenländische eintrat, machte
erst noch Rom-Italien seine baukünstlerische Kraft geltend. Es hatte keine
geringere Aufgabe, als den neuerstehenden Raumbau des hellenistischen
Osten noch einmal zu okzidentaiisieren. Rom verhält sich zum be-
ginnenden östlichen Raumbau nicht anders als einst der Dorier zum
lonier, d. h. die optisch-dreidimensionale Auffassung wurde ersetzt durch
die taktisch-körperhafte Vorstellungskraft des Italieners auch dem Raum
gegenüber. Damit haben wir die Nationalkonstante des abendländischen
Italien gefaßt.
Im Osten barg nur gesteigerte Körperlichkeit für das Auge noch
dreidimensionale Wirkungen. In diese barocke Situation greift der
frische Raumwille der frühen Kaiserzeit und bringt eine neue, verjüngte
Art, den Raum wie den Oesamtbaukörper zu gestalten. An die Stelle
des Nur-Barocken östlicher Herkunft tritt die Renaissancegesinnung des
neuen Westen. Das raumhafte Schaffen steht hier unter einem neuen,
kraftvollen Körpergefühl. In die Entwicklung, die im Osten auf dem
besten Wege zu S. Konstanza und zur Hagia Sophia war, mußte vor-
erst noch das Pantheon verzögernd eintreten. Die abendländischen
Kunstkräfle Italiens hatten noch ein gewichtiges Wort zu sprechen.
Was der Dorier alles auf seine Säulen übertragen hafte, verwirk-
lichte Rom nunmehr im Raum. Der Raum wird verkörperlicht. Die
geistige Polarität der Baukunst wird zu einer edlen Stofflichkeit und
') Djemal Pascha, Alte Denkmäler in Syrien und Palästina. Berlin, Reimer, 1918.
Vgl. auch die optischen Effekte im Innern des Serapeion zu Alexandria.
-) Vgl. im übrigen zu diesem Abschnitt vor allem: K. M. Swoboda, Römische
und romanische Paläste. Wien 1918.
390 OTTO HÖVER.
Diesseitigkeit gezwungen. Der abendländische Raum in Italien ist jetzt
in Wirklichkeit die erweiterte Sphäre der organischen Leiblichkeit. Das
Anthropomorphe dieser Raumwesen, das hohe Maß räumlicher Schönheit
beruht in den durchaus taktischen Absichten der Schöpfer und wird zu
einem bestimmenden Merkmal aller klassischen Raumstimmung in Italien.
Taktischen Absichten hat im Pantheon alles zu dienen: die einheit-
liche, äußerst konzentrierte Beleuchtung (keine Verzettelung der Licht-
quellen), die Kassettierung der inneren Kuppelfläche, rein architektonische
Bedeutung aller sonstigen tektonischen Gliederungen. Die gesamte Pro-
portion ist taktisch abgestimmt. Alles bleibt sozusagen in Reichweite.
Nach allen Dimensionen sind in greifbarer Nähe die festen Grenzen
zu spüren. Wiederum geht der taktische Wille auf das insichbe-
schlossene Einzelne, und das bedeutet für den Raumbau: Addition i).
Alle Absichten auf Raumaddition in der Architektur des abendländi-
schen Italien in Antike wie Neuzeit sind unverbrüchlich mit der tak-
tischen Veranlagung verknüpft. Jeder Raumsummand enthält tastbare
Erlebniswerte. Das gilt wie für den Zentralbau so auch für die kreuz-
gewölbten Abteile der Tepidarien oder die tonnengewölbten Säle
kaiserlicher Paläste. Die taktische Formkraft mußte notwendigerweise
alle Ansätze zum durchgliederten Zentralbau östlicher Herkunft in
einen raumhegenden Massenbau umbilden, dann aber auch einer
Raumvereinheitlichung entgegenarbeiten. So kommt es, daß in den
säulendurchgliederten Raum werken, die Montano ') abbildet, und
deren vermutliche Vorbilder aus dem hellenistischen Osten in die
Ahnenreihe der Hagia Sophia gehören, durch die Hand römischer
Architekten das isolierende Prinzip den Sieg davonträgt.
Der optische Wille des Hellenismus hatte auch im Raumbilde die
Gesamtwirkung angestrebt; Rom und dann die reichsrömische Raum-
kunst, soweit sie von abendländischer Triebkraft erfüllt war, negierten
das Raumganze zugunsten der einzelnen, selbständigen Raumexi-
stenzen. Das ist kein Rückschritt, zeugt vielmehr davon, wie sehr die
reine Nebeneinanderordnung gleichwertiger Räume unter dem taktischen
Prinzip Ausdruck eines freischöpferischen Willens ist, der über alle
konstruktive Gebundenheit hinausgeht. Alle Raumaddition morgenländi-
scher Bauten entspringt demgegenüber mehr oder weniger konstruk-
tiven Bedingungen, die selbst in westeuropäischer Romanik noch eine
ausschlaggebende Rolle spielen.
') Zum Begriff der Addition in der Raumgestaltung vgl. Paul Frankl, Ent-
wicklungsphasen der neueren Baukunst, Leipzig 1914.
^) Giovanni Battista Montane (G. B. Soria), Scielta dl varii tempiäü antichi.
Roma 1624. Giuseppe Mongeri, Le rovine di Roma al principio del secolo XVI.
Mailand 1875.
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 391
Die eingestellten Stützkörper mußten, wo die Vereinheitlichung
des Raumes schon weit vorgeschritten war, in ihrer immer noch kräftigen
Plastizität in eine Gegenwirkung zum Räume treten. Die Säulen wirkten
allemal mehr trennend als verbindend, und erst die orientalisierte Spät-
antike konnte kraft ihrer besonderen formalen wie geistigen Möglich-
keiten diesen Dualismus in der Raumbehandlung ganz überwinden.
Für diesen Prozeß aber waren die hellenistischen Raumtypen, die in
die Hände Roms gerieten, von vornherein verloren.
Die Prachtliebe römischer Kaiser stattete alle Raumbauten ver-
schwenderisch mit polierten Marmorplatten aus, verwendete Säulen aus
blankem Granit und Porphyr, das Pantheon war am Äußeren ganz
inkrustiert, alles zugegeben: das abendländische Orundgefühl überwiegt
dennoch. Der Römer hat, wohl zum ersten Male unter den Abend-
ländern, die bare Masse körperhaft und taktisch empfunden — der
Grieche hatte es ja nur mit seinem Oliederbau zu tun — , dafür ist die
Moles Hadriani bis heute hinreichendes Zeugnis. Was in späteren
Bauten des mittelalterlichen Italien, die mit Inkrustation versehen sind,
das Orientalische ausmacht, ist nicht diese Inkrustation allein, viel-
mehr auch die Unkörperlichkeit der Wände und Säulen, ist das Trans-
architekturale überhaupt. Bei aller Vorliebe für reiche Ausstattung
mit vielen bunten Marmorsorten vergaßen die Meister des römischen
Raumstils nie das Eigentlichste und Wesentlichste einer rein archi-
tekturalen Wirkung im statischen Aufbau wie im Gesamtaussehen
ihrer Großkonstruktionen. Masse, Säulen und Raum werden in erster
Linie körperhaft durchgefühlt. An diesem Fall der Römerbauten wird
klar, daß man, namentlich bei Abendländischem, sich nicht auf den
schließlichen Eindruck des Bauwerkes allein verlassen soll, sondern
auf die Raum-Kgrpervorstellung des Künstlers zurückgreifen muß. Im
Morgenländischen ergibt sich auch von dieser Seite her die völlige
Einheit von Absicht und Wirkung unter Führung des Optisch-Un-
körperlichen. Im Abendländischen stellt sich oft genug, und meist
gerade in klassischen Zeiten, eine Zwiespältigkeit ein: die körperhaft
taktische Absicht als Grundlage und völlig originell, der Apparat
äußerer Ausstattung oft entlehnt und ganz unabendländisch. Trotz-
dem bleibt die Gesamthaltung immer architektonisch.
Auf keinen Fall enthielten die römischen Räume einen derartigen
Widerspruch wie etwa der überkuppelte Lichthof der Münchner Uni-
versität, wo die Wand optisch-flächenhaft, die kassettierte Kuppel (und
das Tonnengewölbe der Freitreppe) aber taktisch-körperhaft behandelt
sind, also ein Ausgleich zwischen Byzantinischem und Römischem
vorhanden ist.
Man hat nur das Ingenieurhafte der römischen Großkonstruktionen
392 OTTO HÖVER.
als sonderlich römisch gelten lassen wollen; abgesehen davon, daß
auch dieses schon genügte, das Hochschöpferische zu rechtfertigen,
ist doch mit dem taktischen Willen eine eminent künstlerische Wesen-
heit gegeben, die außerhalb Roms und römischer Gesamtkunst in jener
Zeit nicht mehr ihresgleichen hatte und haben konnte.
Je mehr sich römischer Raumbau mit östlichem Hellenismus aus-
einanderzusetzen hatte, je mehr durch viele offene und geheime Kanäle
orientalische Baugewohnheiten sich einzuschleichen wußten, um so
staunenswerter bleibt, wie Rom sein Amt als Sachwalter und Vertei-
diger des Abendländischen noch mit kräftiger Hand und straffem Geiste
auszuüben vermochte. Schließlich mußte es ja nachgeben, die Kaiser
selbst mit ihren Überspanntheiten arbeiteten dem Morgenländischen
zur Genüge vor, aber in jenem ersten nachchristlichen Jahrhundert, in dem
die entscheidenden Leistungen des Raumbaues vollbracht werden, ist
der abendländische Geist noch stark genug, um sieghaft die Renais-
sancelinie zu wahren, d. h. nunmehr: taktisch-körperhafte Vorstellung
in Raum, Tektonik und Masse voll zu verwirklichen. Auch später
gelingt das noch hier und da. Vorbehaltlich aller fremden Ein-
schläge kommt Römisches, kommt Italienisches und Abendländisches
in der Minerva Medica und in Spalato^) doch wieder zum Durchbruch.
Hat man sich das Recht genommen, hier nur »Orient« zu sehen, so
müssen wir billigerweise das Ohr spitzen, um jene leisen Töne zu
vernehmen, die noch abendländisch, noch römisch sind, müssen das
herausfühlen, was die Minerva Medica mit dem Pantheon anstatt mit
Armenien*) verbindet. Es ist das gleiche, was in weitem Bogen die
Jahrhunderte überspannt und alle die wahrhaft abendländischen Raum-
bauten römischer Kaiserzeit mit denen der italienischen Renaissance
verknüpft, wo zum zweiten Male Italien für Europa und für den Ok-
zident gewonnen wird^). Es ist das gleiche, was die prachtvollen
plastischen Charakterporträte der späten Republik und frühen Kaiser-
zeit mit den Porträtwerken des Florentiner Quattrocento verbindet.
Gerade in dieser Bezüglichkeit offenbart sich die besondere, tiefste
Menschlichkeit, die an dem Willen zum Taktisch-Körperhaften grund-
legend beteiligt ist.
Zugegeben, daß in jenen Charakterköpfen der Porträtplastik der
echt römische Grundzug zum Vorschein kommt, so könnte ihre zeit-
liche Entstehung (späte Republik) besagen, daß in der Kaiserzeit nichts
mehr davon vorhanden war, was scheinbar durch die klassizierenden
') Vgl. Swoboda a. a. O.
') Vgl. die einschlägigen Arbeiten Sirzygowskis.
') Denn alle mittelalterliche Kunst Italiens mit Einschluß der sogenannten]
Protorenaissance Toscanas steht unter orientalischem Vorzeichen.
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 393
Bildhauerschulen unter Augustus bestätigt wird. Soweit die figurale
Plastik in Frage kommt, können wir das im gewissen Sinne einräumen.
Das Echt-Römische und Abendländisch-Italische, das den Porträtbüsten
der späten Republik innewohnt, bricht aber während der Kaiserzeit
eben in der Raumgesinnung hervor, ist in den gewaltigen schöpferi-
schen Architekturwillen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts hinein-
verlegt. Daß trotzdem auch in der Plastik ein echt römischer Kunst-
wille weiterlebt, hob schon Julius von Schlosser hervor: In diesem
intransigenten Realismus (Münzporträte der Kaiserzeit) liegt die histo-
rische Bedeutung der solange verächtlich beiseite geschobenen römi-
schen Kunst, deren Wesen nicht in der Kopistenarbeit ihrer Gräkuli,
sondern darin zu suchen ist, daß sie das große, vom Hellenismus
unterbrochene Werk des echt nationalen Griechentums aufgenommen
und weitergeführt hat.«
Wie sich die quattrocentistischen Bildhauer von Florenz zu den
baukünstlerischen Taten der Hochrenaissancemeister in Rom (Bramante)
verhalten, in der gleichen äußeren wie tiefinneren Beziehung stehen
die republikanischen Charakterköpfe der Plastik zum kaiserlichen Rom.
Mögen die Kaiser Roms im Punkte der Moral gewesen sein, wie sie
wollen, das geht uns nichts an. Die schöpferische Geste, der Bauwille
ist entscheidend, gleichviel ob im alten Rom oder bei den Florentiner
Finanzleuten.
Es kann eingewandt werden, griechische Bildhauer — auch im
Hellenismus war das realistische Porträt zum Hauptthema geworden —
hätten die republikanischen Römer porträtiert. In manchen Fällen
sicherlich, doch was so auffallend im 15. Jahrhundert wiederersteht
ohne Griechen, das muß schon damals in der Antike römisch und
italienisch der künstlerischen Urheberschaft nach gewesen sein. Die
hellenistischen Porträtköpfe, die optisch-impressionistisch gestaltet sind
(sogenannter Seneca), verhalten sich zu unseren taktischen Römern
plastisch wie ein Rodin zum Quattrocento. Echt italienisch bleibt
immer der Typus der Dargestellten, ob ein römischer Konsul, Latifun-
dienbesitzer oder ein florentinischer Bankier, der innere Kern ist ur-
wüchsiges, bodenständiges, realpolitisches Bauerntum. Das Rustikale
erscheint als bindende Formel für die Dorier und abendländischen
Italiener. Dorische Plastik, römische und quattrocentistische Porträte
sind erdfeste Bauernkunst edelsten Geblütes. Die künstlerische Ein-
stellung, die wir hier mit dem terminus technicus taktisch belegen, ist
in dieser bodenfesten Bäuerlichkeit verankert. Man will das Reale, ist
jeder ideologischen Verstiegenheit abhold und bringt trotzdem, nein
gerade deshalb, die höchsten Leistungen zustande. Überall hat man
Boden unter den Füßen. In den Behausungen dieser Menschen darf
394 OTTO HÖVER.
man fest und breit auftreten: ein Punkt weitester Entfernung vom
Orientalischen.
Es gibt Leute, die das plastische ideal Europas einzig und allein
in den Werken des Polyklet sehen. Das Porträt soll nach ihnen über-
haupt keine plastische Aufgabe sein. Der echte Plastiker könne nur
so weit in der Bildung eines Kopfes gehen wie Polyklet bei seinem
Doryphoros. Wir sind der Meinung, daß römische Porträtbüsten und
Polyklet auf einer Linie liegen. Was der große Dorier auf den ganzen
männlichen Akt verteilte, sammelten Römer und Quattrocentisten auf
den Kopf, auf das Gesicht. Das Physiognomische wird taktisch er-
lebt und plastisch geformt: kann es intensiver erlebt, kann es wesen-
hafter geformt werden? Auch hier finden die Möglichkeiten der plasti-
schen Kunst eine höchste Erfüllung, vom naturnahen Realismus geht
es zu feinster Durchgeistigung. Die herrliche Materialität der Bronze
ist, wie bei sikyonischen Toreuten, so auch zur Zeit der römischen
Republik und im Quattrocento Grundbedingung aller formalen (tak-
tischen) und geistigen Werte, geistiger Werte, die den Möglichkeiten
der Plastik (und ebenso dann denen der Architektur) in jeder Richtung
immanent sind.
In der Rustikafassade des Pittipalastes ist die ganze erdgeborene
Kraft des toskanischen Bauerntums, das zu Höchstem fähig war und
vor allen anderen sich neu auf abendländisches Wesen besann. Stein
geworden. Brunelleschi, der Wortführer, begreift die Mauer wieder
aus der rauhen Stofflichkeit des Steins. Die abendländische Wand ist
gegeben. Der Strozzibau des Benedetto da Majano bildet die Vor-
stufe, Brunelleschi aber geht erst mit äußerster Konsequenz vor. Die
trotzige Einzelhaftigkeit des hohen Oesamtkörpers des Pittipalastes mit
nur sieben Achsen ursprünglicher Breite entsprach völlig dem takti-
schen Willen nach gesonderter Körperlichkeit. Andere florentinische
Paläste folgen darin. Es heißt die ursprüngliche Absicht ins Gegenteil
verkehren, wenn der Klassizist Klenze im Gefolge barocker Tradition
einen ganzen breiten Straßenzug i) — alle italienischen Straßen sind
schmal und eng — mit quattrocentistischen Palastexistenzen zu flan-
kieren versucht. Das gelingt schließlich nur unter Ausschaltung aller
taktischen Absichten. Die Bindung zu einem einheitlichen Ganzen wird
erreicht durch das optische Prinzip barocker Abkunft.
Eindeutig und klar abtastbar zieht Brunelleschi seine Architrave, Ge-
simse, Rahmungen aus grüngrauem Stein über weißes Gewände in S. Lo-
renzo, in der Pazzikapelle, in der Sacrestia vecchia usw. In S. Lorenz©
okzidentalisiert er ganz aus eigener schöpferischer Idee heraus die alt-
I
') Die Ludwigstraße in München.
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 395
christliche Basilika von neuem i). Das Raumproblem der Basilika wird
von ihm selbständig nochmals durchdacht. Der allgemein spätantike
Raum wird italienisiert, wird zur Einheit nur durch Nebenordnung
selbständiger, individuell-greifbarer Einzelräume (vor allem in den Seiten-
schiffen mit ihren Stutzkuppeln).
Über alle äußerliche Nachahmung antikischer Formen hinaus bleibt
also vom tiefsten Wesen künstlerischen Willens aus Brunelleschi das
Verdienst, das Zeichen zum Beginn der wahren und eigentlichen Re-
naissance gegeben zu haben. Der Weg zu neuer Körperhaftigkeit war
an sich ja schon seit Niccolo Pisano beschritten. Aber hier herrschte
die optisch-dreidimensionale Einstellung. Giotto erschloß dem Auge
ein neues Raumerlebnis auf der Fläche. Da zeigt sich nun wieder,
daß alles Abendländische ohne Dualismus nicht auskommen kann.
Ghiberti und Donatello tragen beide Möglichkeiten in sich, das Takti-
sche wie das Optische. Man mag sie wieder Strenge und Freiheit
nennen. Die malerischen Reliefs des Ghiberti, die impressionistischen
Szenen Donatellos an den Kanzeln von S. Lorenzo usw. sind Zeugen
der optischen Möglichkeit. Einig aber gehen alle im Körpergefühl, das
wieder anthropomorph geworden wie nur je in den besten Zeiten der
Antike. Oft mag man schwanken, ob taktisch oder optisch empfunden,
nie wird man über das Körpergefühl im unklaren sein, das sich in
aller italienischen Tektonik und Raumgestalt ausspricht. Bramante,
Michelangelo sind gewiß in erster Linie Raumdenker, doch sie denken
den Raum plastisch, verkörperlichen das Geistige wie jener unbekannte
antike Italiener, der Meister des Pantheon, es tat*).
Alles in allem bedeutet die italienische Renaissance für Europa
einen letzten großen Akt der Bewußtwerdung des Abendländischen
und stellt sich solchermaßen den anderen wichtigen Okzidentalisierungs-
prozessen an die Seite, die da heißen: das Werden abendländischer
Tektonik in Hellas, insonderheit durch dorische Baugesinnung, die
Schöpfung des abendländischen Raumstils im römischen Imperium und
zum dritten der Weg vom romanischen Stil zur Gotik als Ergebnis
lebhaftester Auseinandersetzung der jungen Nordvölker auf neuem
Boden mit dem Erbgut der orientalisierten Späiantike.
Bramante setzt in der ultima maniera durchaus die taktischen Ab-
sichten des Brunelleschi fort. Das zeigen die Säulen des Tempietto
bei S. Pietro in Montorio oder die mächtig schwellenden Halbsäulen
der Palastfassaden. Giulio Romano geht sogar noch weiter. Die
') Im Wölbedom des romantischen Stils lag der andere (erste) Versuch vor,
die Basilika zu okzidentalisieren.
') Spengler freilich denkt anders über das Pantheon und seine Meister!
396 OTTO HÖVER.
toskanische Ordnung wird unter seinen Händen dem Wesen der do-
rischen Säulen völlig adäquat (Pal. del Te).
Bramante leistet für die römische Hochrenaissance, was Brunel-
leschi für die Fruhrenaissance in Florenz tat. Durch Bramante holt
Rom in Kürze den Vorsprung Toskanas ein, und als es im Begriff
steht, die Spitze zu nehmen, ist der Barock gegeben, der spezifisch
römische Barock: Masse und Bewegung. Michelangelo modelliert
Wandkörper und Raum. Die herrlichen Kurven seiner Peterskuppel
werden selbst noch bei Fernsicht zum taktischen Erlebnis. Daß die
ganze erste Phase des italienisch-römischen Barock plastisch sei, steht
heute überall geschrieben (vgl. Pinder). Man kann weiter gehen: der
italienische Barock überhaupt ist plastisch, ist körperhaft-taktisch im
Vergleich zu den Leistungen des deutschen Spätbarock. Hier kommt
es mehr denn je auf die Nuancen und Bezüglichkeiten an und vor
allem auf das, was sich in der schaffenden Vorstellung des italieni-
schen Künstlers abspielte. Caravaggio oder die Carracci sind Rem-
brandt gegenüber immer noch taktisch. Wir nehmen vieles rein op-
tisch, was auch bei späten Leistungen taktisch gemeint ist. Das
italienische Seicento zeigt, daß unter taktischen Absichten auch ein
Barock, ein Körperformenbarock möglich sei. Taktisches und Optisches
schließen aber einander nicht aus in abendländischer Kunstgestalt, in
Italien nun schon gar nicht.
Überblickt man die Gesamtheit des italienischen Barock, so wird
in der Tat klar, daß die besten und originellsten Leistungen sich inner-
halb der Möglichkeit der Körperform halten. Wölfflin brauchte dem
Raumhaften (Renaissance und Barock) nur eine kurze Erörterung zu
widmen. Masse und Bewegung sind ausschlaggebend, und diese Ter-
mini gewinnen an den beiden nordischen Bewegungsstilen gemessen
noch besondere Bedeutung: Gotik = Bewegungsstil des Gliederbaues,
deutscher Barock als Bewegungsstil eines Raumbaues höchster Ordnung.
In Michelangelos St. Peter und im Gesü Vignolas ist die Lösung
des Raumproblems sicherlich nach den spezifischen Bildungsgesetzen
eines barocken Raumbaues angestrebt. Niemand wird das bestreiten.
Auch Palladio tritt als barocker Raumdenker auf, als welchen ihn
A. E. Brinckmann jetzt endgültig hingestellt hat. Aber was diese Meister
zuwege brachten in der Großraumbehandlung, ist als Barockleistung
zugleich ein Äußerstes für Italien. Gegenüber allem, was deutsche
Spätbarockisten aus den Raumproblemen machen, bleibt das Italieni-
sche doch wieder der additionalen Möglichkeit nahe. Gerade der
Gesü enthält starke additionale Wesenheiten: Tambour und Kuppel,
Seitenkapellen usw.; er ist Mischcharakter (ähnlich etwa wie die Hagia
Irene in Byzanz, vgl. S. Ignazio und S. Andrea della Valle). Mit dem
I
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 397
Gesütyp ist der Umkreis der Raumprobleme in Italien von vornherein
verengert, und darin mag ein triftiger Grund liegen, daß um so mehr
alle schöpferischen Kräfte sich auf die Steigerung plastischer Wesen-
heiten sammeln konnten. Das gegebene Feld waren die Gewände
des Inneren und der Fassade (Fassadenbarock). Gewiß wird das reine
Rund zentraler Räume der Renaissance ins Ovale umgebildet. Die
Ellipse kommt zu großer Bedeutung schon in einigen Entwürfen Vi-
gnolas. Borromini und Guarini wagen Äußerstes an Raumkomplizierung.
Dennoch: erstlich sind es immer klein dimensionierte Bauten, Extra-
vaganzen besonderer künstlerischer Launen und in dem Grade, wie sie
solches sind, vielleicht oft ganz unitalienisch, dem Nordischen nahe-
stehend. Niemals hat S. Ivo alla Sapienza des Borromini innerhalb
des italienischen Gesamtcharakters die Bedeutung wie Vierzehnheiligen
oder Neresheim für unseren Barock. Auch daß die letzteren Bauten
später sind als alles Italienische, verschlägt nichts. Deutschland ist
an sich später daran. Italien durchlief alle Möglichkeiten schon im
Seicento. Zum anderen: den Borromini und Guarini war das Räum-
liche doch nur eine Nebensache. Hauptsache war ihnen die möglichst
künstliche Führung aller struktiven und tektonischen Elemente, die
Komplizierung des Körperformenapparates außen und innen, die Aus-
lösung bizarrer Möglichkeiten an Wand und Wölbung, wobei sich
Guarini sogar bei den Arabern Rat holte. Die Endabsicht geht immer
auf die höchstbewegten Umrißlinien der raumbegrenzenden Körper.
Im deutschen Barock wird das Raumhafte selbst in Bewegung gesetzt.
Das Wesentliche an Borromini ist tatsächlich erfaßt, wenn gesagt
wurde, die Fassade von S. Carlo alle Quattro Fontane sei wie aus Ton
geknetet und über dem Ofen getrocknet, oder: er gebe sich alle Mühe,
die Wände der Lateranbasilika in Aufruhr zu bringen. Hinter den Kurven
der Fassade von S. Carlo alle Quattro Fontane steckt nur zu einem
geringen (mittleren) Teile die eigentliche Raumform. Die Plastizität der
Säulen und das schwingende Gebälk bleiben unbedingt führendes Thema.
Vor S. Ivo alla Sapienza hat man das Gefühl, die Wendungen der Laterne
seien Borromini wichtiger als alles andere gewesen. Ähnliches gilt von
dem Stern der Gewölberippen im Turiner S. Lorenzo oder an der Kuppel
der Capeila S. Sindone (vgl. A. E. Brinckmann) '). Staunenswert, welche
Beweglichkeit der zähen Materie abgerungen wird. In S. Maria della
Divina Providenza zu Lissabon holt Guarini sicher ungeahnte Neuheiten
aus dem modifizierten Gesüschema, indem er das Ganze in eine Folge
ellipsoider Teilräume auflöst und damit der Neumannschen Raum-
') Die Baukunst des 17. und IS. Jahrhunderts in den romanischen Ländern
(Burgers Handb. d. Kunstwissensch.).
398 OTTO HÖVER.
behandlung sehr nahekommt, aber die Schrägstellung der Gurtungen,
die Wellenbewegung des Gewölbes lagen Guarini als solche scheinbar
doch mehr am Herzen als das Raumschöpferische an sich. Dieser
Barock muß mit englischer oder französischer Spätgotik zusammen ge-
nommen werden, Guarini bringt es nur zu einem style flamboyant.
Man denke auch an S. Gregorio in Messina. In Deutschland bemühen
sich die Dienzenhofer, angeregt durch Bauten Guarinis in Böhmen,
und der junge Balthasar Neumann um die Nachahmung Guarinesker
Kurven in den Gewölbegurten und entsprechender Verdrehung der
Säulen und Pfeiler. Den Dienzenhofern (Kloster Banz) war es nicht
gegeben, Guarinis Körperformkünsteleien zu überwinden, das bleibt dem
Neumann vorbehalten. Seine Raumphantasie gewinnt Macht über die
Kurven der Körperform, sie werden aus Selbstzweck zu bloßen struk-
tiven Mitteln. Im Dienste des Raumhaffen höchster Ordnung verlieren
die kunstvollen Führungen von Wand und Gurtungen alle Wunder-
lichkeit, werden selbstverständlich wie hellenische Tektonik. Das
Geistige hat gesiegt über den Körper. Es ist der Weg von der Würz-
burger Schloßkapelle zu Vierzehnheiligen und Neresheim *).
Borromini, Guarini, Padre Pozzo sind alles in allem eigenwillige
Seitenzweige am eigentlichen Stamm italienischer Kunst, krause
Schnörkel wie Meissonier und die Männer der Rokokodekoration in
Paris gegenüber der antikischen Rechtgläubigkeit französischer Aka-
demiker. Nach Michelangelo wird der Tektoniker Palladio zum Wort-
halter der offiziellen Baukunst auch in Italien, und im Auslande wurde
gerade seine Art als italienisch empfunden: eine Antike gesehen durch
das Temperament, besser durch die Temperiertheit des Vicenfiners.
Für das »orientalische« Venedig hatte Palladio noch die besondere
Aufgabe, die Okzidentalisierung der Architektur zu vollenden, die von
Sansovino und anderen begonnen war.
Wie in dem Cavaliere Bernini das Körpergefühl lebendig war,
zeigen seine Peterskolonnaden. Gewiß hat er den Platzraum zu meistern
verstanden, kein Klassizist hat ihn darin je begriffen, aber er meisterte
eben diesen Platzraum, indem er ihn als Körperlichkeit nahm. Darin
beruht das Geheimnis aller barocken Stadtbaukunst in Italien. Der
Raumeffekt in den hellenistischen Säulenstraßen war dagegen allzusehr
optisch. Bernini stellt das Gleichgewicht her zwischen Körpergefühl
und optischer Wirkung. Das erstere aber hat die Führung. Der
Raum wird als Ganzes plastisch vorgestellt, nicht nur die Kolonnaden
wie in der Antike. Der Klassizismus konnte dann nur noch mit dem
') Wir möchten Neumanns raumkünstlerische Begabung gerade gegenüber
einer jüngst vorgebrachten Kritik unentwegt zu höchst einschätzen!
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 399
Reißbrettschematismus arbeiten; er projizierte das Körperhafte als Punkte
auf die Ebene des Grundrisses. Bernini wußte, was sich in der
figuraien Plastik gehört, und was in der Architektur unstatthaft ist.
Als Bildhauer läßt er der Phantasie die Zügel schießen, streift hart die
Grenzen des Möglichen, in der Architektur weiß er immer die römische
gravitas zu wahren (vgl. Pal. Odescalchi). Das Tabernakel von
St. Peter faßt er nicht als bauliche Aufgabe, sondern als Modelleur.
Interessant, wie er das ursprünglich orientalische Motiv der gewun-
denen Säulen mit körperlicher Kraft zu füllen weiß.
Das kleine Kirchlein S. Andrea al Quirinale von Bernini ist trotz
seiner ellipsoiden Raumgestalt fast streng zu nennen im Aufbau des
Inneren wie an der Fassade. Alles ist klar und übersichtlich geordnet,
das tektonische Empfinden wird nie verletzt. Die Scala Regia wurde
immer als non plus ultra freiperspektivischer barocker Gestaltung an-
gesehen. Erwin Panofskyi) hat diesen Glauben zerstört. Der Rest ist
wieder: zwei Reihen mächtiger Säulen, die den Raum verengern. (Vgl.
auch die Säulen der Wendeltreppe des Pal. Barberini in Rom.) Treffend
weist Panofsky auf den Dualismus in der Seele Berninis hin: »Der
architektonische Geschmack Berninis wird — theoretisch — durchaus
vom Plastischen und zwar antiken Ideal bestimmt.« Im Architektoni-
schen bleibt er immer strenger Vorschrift unterworfen (vgl. Konrad
Escher, Barock und Klassizismus, Leipzig IQll).
Was den Franzosen nicht gefiel in der Louvresache, war gerade
das hochplastische Massengefühl des Italieners. In Paris bedurfte es
nur der dünnen Kolonnaden, um die ewig klassizistischen Gemüter zu
befriedigen. Optischer Geschmack war schon vorhanden, aber das
Körpergefühl war schwach, schwächer jedenfalls als das eines Voll-
blutitalieners auf der Höhe des Seicento.
Wo italienische Meister bewußt auf bühnenperspektivische Raum-
wirkung ausgehen in der Großarchitektur, liegen doch die Akzente auf
den plastischen Formen von Säulen und eingezogenen Streben. Diese
behalten in ihrer Funktion als Kulissen etwas durchaus Kubisches und
Festes (etwa im Innern von S. Maria in Campitelli). Im Grunde ist
die Raumwirkung gerade in dieser Kirche noch nicht über die Raum-
schichten der Hintergrundsarchitektur auf Raffaels Schule von Athen
hinaus gelangt. Auch in Palladios Teatro Olympico wird immer die
Körperiichkeit gewahrt. Er konstruiert die Perspektive wie ein Quattro-
centist den Bildraum. Das Perspektivische wird taktisch durchgefühlt.
Der Blick tastet sich aus einer Raumschicht in die andere, greift von
') Vgl. Piiiiofsky, Die Scala Regia im Vatikan und die Kunstanschauungen
Berninis, Jahrb. der preuß. Kunstsamini. Bd. 40, 1919.
400 OTTO HÖVER.
einem vorspringenden tektonisclien Glied zum nächstfolgenden über. Im
deutschen Barockraum, der nach solchen bühnenmäßigen Grundsätzen
gestaltet ist, geht der Blick einheitlich über alle Körperformen hinweg
in die Tiefe. Der Raum als solcher wird perspektivisch und optisch
erlebt. Er hat nichts Konstruiertes, ist nur geschaut, kein Schreiten
von Schicht zu Schicht, die Kurve rollt kontinuierlich in die Tiefe.
Der Geist des italienischen Seicento steht einem vor Augen überall
in jenen hochplastischen Fassaden von S. Maria della Face, S. Vincenzo
e Anastasia usw. bis zu dem Spätwerk von S. Giovanni in Laterano
(1734 von Alessandro Galilei), das schon hart an der Grenze zum
Klassizismus steht, in einer Zeit, wo die Raumkünstler des deutschen
Barock und Rokoko erst zu entscheidenden Taten auszuholen beginnen.
In jeder italienischen Stukkatur lebt noch die gleiche Gesinnung
wie in der Rustika des Pitti. Pietro da Cortona ist als Dekorateur
dafür typisch (vgl. auch die hochplastische Dekoration im römi-
schen Pal. Spada aus der Schule des Giulio Romano). Daß der
ganze Stuckdekor, der um 1670 — 1690 über die Alpen dringt, so
volltönend plastisch und körperlich greifbar (taktisch) gestaltet ist,
macht den Unterschied zum deutschen Dekorationswillen, der nach
Optischem strebt und immer flacher ist, deutlich fühlbar. Wie die
Wessobrunner zu dem Stucko der Theatinerkirche, so stehen schon
vorher Sustris sowie die Niederländer und Deutschen vom ausgehen-
den 16. Jahrhundert zum tiefgehöhlten Kassettenwerk der MantuaYier.
Aus Plastisch-Taktischem macht der nordalpine Kunsthandwerker immer
etwas Optisches. Die Körperlichkeit wird gedämpft um des Raumes
willen. Daneben gab es in Deutschland natürlich auch eine Richtung,
die auf plastisches Maximum im Ornament ausgeht und sogar stark
taktische Absichten hat: den Knorpelstil. Der plastische Stil wird
Selbstzweck, man sucht Italien zu überbieten. Bezeichnenderweise aber
wird das Knorpelornament in eigentlichen Raumwerken wenig ver-
wendet. Es bleibt mehr eine kunstgewerbliche Angelegenheit, Produkt
des Schnitzens und Schreinerns (Möbel, Türen und äußere Dekoration
der Gebäude: Giebel usw.). Im Gegensatz zum ruhenden plastischen
Ornament des italienischen Stukkators kommt es den Deutschen immer
auf bewegte Flächenfüllung an. Im Knorpelstil wird das beruhigt
Plastische italienischer Abkunft ins Bewegte umgebildet.
Der Italiener Barelli wird daran erkannt, daß seine mächtig schwel-
lenden Halbsäulen in den Raum vordrängen (Theatinerkirche), daß jede
Ecke, jede Wand mit schwerer Körperlichkeit gleich Posaunentönen
zum Bersten angefüllt wird. Raum, Tektonik und Dekoration stehen
im italienischen Barock immer noch in jener Gegenwirkung zueinander,
wie sie schon in den Bauten der römischen Kaiserzeit vorhanden war.
KUNSTCHARAKTERE SODABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 401
Der Deutsche hebt mit fortschreitender Entwici<lung diese Oegen-
wiri<ung auf, darin den Prozeß der Spätantii<e wiederholend. Auch
der Deutsche kann stärkste Tonarten in der Dekoration anschlagen,
aber alles Dekorative bleibt eben nur Ornament, während alles italie-
nische Ornament zugleich Architektur sein will. Wir haben natürlich
auch unsere »Italiener«, so den großen Andreas Schlüter, der immer
plastisch tektonisch denkt.
Taktisches und Optisches stellen sich alles in allem als die zwei
wesentlichen Richtungen künstlerischen Schaffens wie Erlebens bei
den kunstbegabtesten Stämmen des europäischen Mitteimeerkreises
heraus. Diese Richtungen sind hier nicht dem Wesen, sondern nur
dem Grade nach verschieden, Möglichkeiten einer durchgehenden
Folge. Zwischen beiden gab es eine ganze Reihe von Übergängen
und vermittelnden Zwischengliedern. Das Dreidimensionale, das immer
mitgesetzt war, enthielt den grundsätzlichen Unterschied zum Orientali-
schen. Damit ist jedoch noch kein Kennzeichen zur Scheidung des
Südabendländischen vom Nordabendländischen gegeben. Das liegt erst
darin, daß für den künstlerischen Ausdruck südabendländischer Völker
das Körperhafte immer anthropomorph und in Ruhe, als beruhigtes
Sein gedacht wird. Taktisch und Optisch ordnen sich der schönen
Menschlichkeit unter. Auch italienischer Barock ist immer noch anthro-
pomorph. Gewiß wird der Versuch gemacht, Masse in Bewegung
umzusetzen, aber es ist weniger die Vertikalbewegung, die schließlich
immer die Masse überwindet, als vielmehr eine Bewegung der Masse
in der Horizontale: der plastische Ausdruck wächst nach der Mitte zu.
Man kann im italienischen Barock einen letzten, äußersten Versuch
sehen, auch für den südalpinen Kunstkreis zu einer Art Gotik zu ge-
langen. Immer aber mußte es ein Versuch mit untauglichen Mitteln
bleiben. Hinderlich waren die Massen, das Tektonische, das Körper-
hafte, das Anthropomorphe und überhaupt die ganze Verwurzelung
des italienischen Barock in der Renaissance. Alle barocke Bewegtheit
enthält in Italien gleichzeitig doch wieder ein statisches Moment der
Ruhe, der Ausgewogenheit. Es fehlt das ruhelose Streben in die
Unendlichkeit, das dem gotischen Gliederbau im Norden und den
barocken Raumwesen Süddeutschlands innewohnt. Wo Guarini diesem
nahekommt, wo er mit spätgotischen Strukturen arbeitet, da geht er
eben über die allgemeine Architekturauffassung des echten Italieners
hinaus.
Darin, daß man nie recht von der Säule loskommt, liegt ein We-
sentliches südalpiner Kunsteinstellung beschlossen. Zum anderen sind
ein für allemal die Proportionen entscheidend (Gesetz der stetigen Pro-
portion, Gesetz von der Wiederholung ähnlicher Figuren usw.). Alle
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft XV. 26
402 OTTO HÖVER.
italienischen Architekturtheoretiker bemühen sich um die regola deüi
cinque ordini. Auch die psychologische Grundlage der Artikulation,
jener Organisierung der Massen in der Baukunst Italiens wie in der
italienischen Kunst überhaupt, ist nichts anderes als diese taktische
Einstellung. Fühlen wir, daß die tektonische Struktur in den Gelenken
bewegt sei, so projizieren wir ein taktisches Erlebnis, das aus dem
freien Spiel der Gliedmaßen in unser ästhetisches Bewußtsein dringt,
in die schön gegliederte Gestaltung des Kunstwerkes hinein. Wie die
Gelenke federn und zweckvoil ineinandergreifen, wird mit dem Tast-
sinn erfaßt.
Dem ganz Geistigen des Orients setzen Hellenen wie Italiener
die insichruhende Materie gegenüber, und diese Materie ist für sie
gleichzeitig organische Materie. Alle Architektur wird organisch ge-
dacht, der menschliche Organismus ist A und O in Körper wie Raum-
gestalt, Grundbedingung des ästhetischen Humanismus, Grundbe-
dingung auch für das Artistische. Niemals versucht der Südabend-
länder, die Grenzen der einzelnen Kunstprovinzen zu überschreiten.
Das Geistige ist nur so weit da, als es in schöner Körperhaftigkeit oder
in schöner Raumbildung ausdrückbar ist. Das Reich der Kunst wahrt
auch der Religion gegenüber seine volle Selbständigkeit. Alle großen
Schöpfungsbauten des abendländischen Italien sind ebensoweit von
bloßer religiöser Symbolik entfernt wie die hellenischen Tempel. Das
wahrhaft Große der Renaissancekirchen liegt darin, daß alle kultliche
Zweckgesinnung überwunden wurde, und doch zugleich der höchste
Zweck gewissermaßen idealisch erfüllt ist. St. Peter nach Bramante-
Michelangelo verkörpert die Idee einer Wallfahrtskirche (Zentralbau)
der Gesamtchristenheit ohne eigentliche kultliche Vorschriften. Viel-
leicht ist das Beste am Michelangelowerk das grandiose Heidentum,
jenes Heidentum, das zur abendländischen Antike gehörte und ebenso
im Parthenon wie im Pantheon zum Ausdruck kam.
Die zwei Arten des Taktischen und Optischen gehen für den
Südabendländer doch wieder zu einem Monismus zusammen, einem
anthropozentrischen Monismus, der rein artistisch und ästhetisch
bleibt, einem physischen Monismus. Es kam dann darauf an, ob es
dem Kunstschöpferischen, das der abendländischen Menschheit zuge-
messen war, gelang, von der bloßen Physis aus wieder zum Geistigen
durchzudringen, und damit für Europa das zu erreichen, was der
Orientale von jeher in sich trug. Diese Riesenaufgabe fiel den
Nordabendländern zu. Zweimal unternahmen sie — Franzosen und
Deutsche, enger gefaßt Nordfranzosen und Süddeutsche — die Lösung
dieser Aufgabe: die Überwindung der Materie durch den Geist, der
Physis durch die Psyche. Die Ergebnisse stehen vor uns als Gotik in
KUNSTCHARAKTERE SÜDABENDLÄNDISCHER VÖLKER. 403
Nordfrankreich, als Spätbarock in Süddeutschland. Der Barock geht
sogar noch weiter als die Gotik, in welcher immer noch ein dualisti-
scher Rest übrig bleiben mußte. Die Aufgabe des nordischen Men-
schen war von vornherein schwerer als die des südalpinen, weil im
Norden die Materie gleichsam anorganisch, transanthropomorph war.
Nordisches Künstlertum mußte den weiteren Schritt tun, vom Kristal-
linischen zum Geistigen vorzudringen, wobei die Auseinandersetzung
mit der anthropomorphen Form des Südabendländers unvermeidlich
war. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung, Gotik und deutscher
Barock, halten den weitesten Abstand vom Südabendländischen, von
antiker Klassik wie von der Renaissance. Italienischer Barock ist nur
eine Stilphase der Renaissancebewegung, ihre Endphase.
Der Schritt zum Geistigen im Norden geschieht, indem die Ma-
terie als solche in ihrer Wesenheit gewahrt bleibt, womit der Unter-
schied zum Morgenländischen gegeben ist. Die Wirkungen von Körper
und Raum bleiben immer dem Kunstmäßigen immanent, gehen nie über
den Umkreis des Ästhetischen hinaus, will heißen ein Transarchitek-
tural-Geistiges und Religiös-Symbolisches nach morgenländischer Ein-
stellung gibt es im Nordischen nicht. Der religiöse und kultliche
Zweck wird auch hier, wie in Italien und in der Antike, idealisch er-
füllt. Das Geistige ist immer aus den spezifischen Mitteln des bau-
künstlerischen Schaffens begriffen. Der Raum als solcher in seiner
Bewegtheit ist im nordischen Barock höchster geistiger Wert. Darin
liegt zugleich beschlossen, warum der Gotik immer ein dualistischer
Rest verbleiben mußte: weil sie zu ausschließlich Gliederbau war und
für sie der Raum nur eine Funktion des kristallinischen Gerüstes sein
durfte. Wie sich gotisches und barockes Schicksal vollziehen am
nordischen Menschen, am Franzosen hier und am Deutschen da, kann
ebenfalls an einer Deduktion der Begriffe Taktisch und Optisch-Körper-
haft deutlich werden, die sich dann unter dem anderen Begriff der
Bewegung vereinigen lassen. Doch das bleibt einer besonderen Arbeit
vorbehalten.
XII.
Beiträge zur Lehre vom Ornament.
Von
F. Adama van Scheltema.
I. Die technisch-materialistische Erklärung
der ersten Ornamentformen.
Mit Tafel I-III.
Der scharfe, nie genügend betonte Gegensatz in der Entwicklung
der ornamentalen Kunst bei den Naturvölkern und dem Menschen der
Diiuvialzeit einerseits, in der jüngeren Steinzeit und den anschließenden
Entwicklungsperioden anderseits, vereinfacht den kritischen ersten Teil
dieser Untersuchung, die sich ausschließlich mit der prähistorischen
Ornamentik Europas seit dem Anfang der Neolithzeit beschäftigt. Denn
von den beiden Hauptwurzeln des primitiven Ornaments, die man
gewöhnlich unterscheidet, nämlich der Erstarrung ursprünglich natura-
listischer Formen und der Übertragung technischer Muster, kann hier
nur letztere in Betracht kommen. Zeigen doch die Strich- und Tupfen-
reihen der neolithischen Gerätverzierung, besonders auch in ihren An-
fängen — dänische Muschelhaufenkeramik der Litorinazeit — , daß von
irgendwelcher Beziehung zu den erstarrten Formen einer vorhergehen-
den naturalistischen Kunstübung nicht entfernt die Rede sein kann.
So ist es begreiflich, daß die Theorie von der Übertragung tech-
nischer Motive als Entstehungsursache für das Ornament sich beson-
ders in den prähistorischen Forscherkreisen einer allgemeinen Beliebt-
heit erfreut ^).
Bei dieser technisch-materialistischen Erklärungsweise, die meines
') Eine entschiedene Bekämpfung erfolgte nur von Seite der Kunsthistoriker:
Alois Riegl in seinen Stiifragen (1893), dann vor allem Aug. Schmarsow (Zeitschr.
f. Ästh. 1910) ; dazu die lehrreiche, die Ergebnisse der Ornamentforschung zusammen-
fassende Darstellung seiner Schülerin Elisabeth Wilson (Das Ornament, Erfurt 1914).
Meine hier folgende Widerlegung der technischen Erklärung, die sich in erster Linie
auf die konkreten, geschichtlichen Erscheinungen stützt, berührt sich nur zum Teil mit
Schmarsows theoretisch-psychologischen Gedanken. Die Feststellung des eigenartigen
Verhältnisses zur Technik und zu den technischen Formen bewegte sich in einer
anderen Richtung und ergab abweichende Resultate.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 405
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Erachtens auf einem grundsätzlichen Vericennen der Semperschen Ge-
danken beruht und diese ihres geistigen Inhalts entkleidet '), spielen
bekanntlich die geometrischen Verzierungen der neolithischen Oefäß-
kunst und die in den textilen Techniken, vor allem in der Korbflechterei,
automatisch erzeugten Muster die Hauptrolle. Bei den späteren, ge-
bogenen Linienmotiven, dem Kreis, der Spirale usw., könnte zur Not
noch an eine primitive Nachahmung von natürlich-konkreten Gegen-
ständen — Sonnenscheibe, Schneckengehäuse, Pflanzenranken uswr. —
gedacht werden; für diese geradlinigen Verzierungen dagegen schien
es nicht möglich, eine annehmbare Vorlage in der Natur aufzutreiben.
Hier füllte die technische Erklärung eine Lücke aus, indem sie es er-
möglichte, nun auch diese streng geometrischen Muster als Nach-
ahmungsprodukte aufzufassen und damit die gesamte ornamentale und
bildende Kunstentwicklung von dem, allerdings für die höhere Kunst
inzwischen glücklich überwundenen, Gesichtspunkt der Nachahmung
aus zu betrachten. Zugleich schien dadurch, daß man die Technik als
Wechselbalg in die Wiege der neugeborenen Kunst legte, das Problem
von dem Anfang der Kunst in überraschender Weise gelöst.
Die führenden Gedanken bei dieser Erklärung der geradlinigen
neolithischen Gefäßornamentik aus der Nachahmung von Flechtmustern
sind kurz gefaßt diese: 1. In der Flechttechnik entstehen automatisch
Muster von sich kreuzenden oder parallelen Linien. 2. Ein gewisser
Zusammenhang zwischen Flechttechnik und Töpferei ist bei vielen
Naturvölkern nachweisbar. Die Tongefäße werden durch geflochtene
Hüllen geschützt, sie werden an Schnüren getragen, Hals und Fuß
können angeflochten werden. Es kommt vor, daß eine geflochtene
Hülle bei der Herstellung des Gefäßes benutzt wird, daß ein Flecht-
werk von innen mit Ton bestrichen und beim Brennen zerstört wird,
sodaß der Abdruck des Flechtmusters in der Gefäßwand zurückbleibt.
3. Auch das frühe keramische Ornament ist geradlinig und kann eine
gewisse Ähnlichkeit mit Flechtmustern aufweisen. 4. Also ist das erste
geradlinige Ornament aus der Übertragung von textilen Mustern, in
erster Linie aus der Flechttechnik, zu erklären.
Während wir die wichtigsten Vertreter der technischen Erklärung
') Wer den ^Stil« aufmerksam liest, wird sehen, daß Seniper zwischen beiden,
dem technischen Muster und der Kunst- beziehungsweise^Ornamentform, geflissent-
lich Raum läßt für die schöpferische Betätigung der künstlerischen Phantasie, indem
er von dem technischen Erzeugnis übergeht zu dem »Begriff« oder auch der »Idee«
der in ihm waltenden Kräfte. Hiermit ist Semper gegen kritische Angriffe gedeckt;
es mag aber sein, daß der richtige Grundgedanke im Laufe seines umfangreichen
Werkes nicht immer scharf genug hervorgehoben und damit einer irrtümlichen Auf-
fassung Vorschub geleistet wird. Ich komme unten kurz auf den Qedanken Sem-
pers zurück.
406 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
im Laufe dieser Untersuchung l<ennen lernen werden, möchte ich gleich
zu der Bekämpfung der Flechtwerktheorie selbst schreiten, indem ich
auf folgendes hinweise:
Die oben ausgesprochenen vier Sätze scheinen auf den ersten
Anblick sehr annehmbar; treffen sie aber zu, d. h. ist in der Tat das
geradlinige Ornament, so wie es in der Neolithik seine höchste Blüte
erreichte, eine Nachbildung von Flechtformen, so muß das früheste
Oefäßmaterial, das wir kennen, notwendig ganz bestimmte Bedingungen
erfüllen, die sich sowohl auf die Form der Gefäße selber als auch auf
die Ausdehnung, die Gestalt und die Stelle der geometrischen Ver-
zierung beziehen. Handelt es sich um das Bestreichen einer textilen
Hülle mit Ton, wobei nach dem Brande der Topf zurückblieb, oder
um den Abdruck beziehungsweise die Nachbildung einer stützenden
oder schützenden Hülle, so ist zu erwarten, daß gerade im Anfang,
als ja die abhängige Beziehung zu dem textilen Vorbild am engsten
war, das geradlinige Ornament größere zusammenhängende Flächen
ausfüllt, daß es sich in erster Linie über die untere Gefäßhälfte
ausbreitet und in der Zeichnung völlig oder doch möglichst genau
dem geflochtenen Muster entspricht. Haben wir mit der Nachbildung
von geflochtenen Behältern selber zu tun, so muß außerdem die Ge-
fäßform die geflochtene Form des Vorbildes wiederholen. Es ist nicht
erlaubt, daß man, um die Richtigkeit der Flechtwerkhypothese zu be-
kräftigen, immer wieder gerade die späteren Entwicklungserscheinungen
heranzieht: die mitteleuropäische Winkelbandkeramik, die späte Mega-
lith-, Schnur- und Glockenbecherkeramik im Norden. Die Chronologie
der verschiedenen neolithischen Gruppen mag im allgemeinen noch
ziemlich unsicher sein, in den Hauptzügen steht sie fest, und gerade
hinsichtlich der frühesten Periode der nordeuropäischen Neolithik kann
kein Zweifel sein: diese haben wir in den dänischen Muschelhaufen
vor uns. Und gerade hier zeigt sich nun, daß den soeben aufgestellten
Bedingungen in keiner Weise entsprochen wird.
Die Dänen ') unterscheiden in diesen Abfallhaufen zwei Perioden.
In keiner von beiden ist noch das geschliffene Beil bekannt, was dazu
geführt hat, daß man die Kultur der Muschelhaufen als ein Übergangs-
stadium zwischen der älteren und jüngeren Steinzeit aufgefaßt hat.
Dagegen war in beiden Perioden die Töpferei bekannt, und so besitzen
wir nicht nur ornamentierte Scherben, sondern auch vollständige Ge-
fäße. Typisch für die erste Periode ist eine dickbäuchige Urne mit
spitzausgezogenem Boden und weitausladendem Mund; Ornament fehlt
') A. P. Madsen, S. Müller, Neergaard u. a., Affaldsdyngar fra Stenaldern i
Danmark. Kopenhagen 1000.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 407 '
entweder gänzlich oder es beschränkt sich auf einen Saum von Finger-
eindrücken auf oder gleich unter dem Mundrand. Da sehr ähnliche
Oefäße aus der Pfahibautenkultur unter anderem vom Michelsberg
bekannt sind und auch am Rhein Spuren dieser Keramik gefunden
wurden, haben wir wahrscheinlich mit einer größeren Ausdehnung
dieser frühneolithischen Kultur zu rechnen. Wie die dänischen Gefäße
sind auch die deutsch-schweizerischen entweder ornamentlos oder mit
Fingereindrücken geschmückt.
Erst in der zweiten Periode der dänischen Muschelhaufen tritt das
geradlinige Ornament auf, und zwar in weitaus den meisten Fällen
— von 545 Bauch- und Bodenscherben waren 8, von 125 Rand-
scherben dagegen die Hälfte verziert — als Randornament, das nun
als eine Reihe senkrechter oder schräger Striche, als eine wagrechte
Linie, als eine Kette aus kleinen Dreiecken oder auch als eine Kom-
bination solcher Formelemente erscheint. Mit anderen Worten: in
dieser frühesten neolithischen Keramik und ihrer Verzierung ist von
einer direkten Nachahmung geflochtener Hüllen oder Behältern keine
Spur zu finden.
Höchstens wäre noch an eine Imitation von Schnüren zu denken.
Wie unbillig es aber ist, gerade dieses früheste Fingertupfenornament
als eine Nachbildung von Schnüren aufzufassen, folgt nicht nur daraus,
daß es sich anfänglich oben auf dem Mundrand befindet, an einer
Stelle, wo keine Schnur etwas zu suchen hat, sondern auch aus der
Erwägung, daß keine keramische Verzierung sich so unmittelbar aus
der eigenen Technik ergibt als diese Fingereindrücke in dem noch
weichen Ton. Durch die ganze Neolithik findet sich dieses primitive
Ornament vereinzeh, mit dem Verfall der keramischen Kunst kommt
es gegen die Metallzeit wieder in Ehren und bleibt dann besonders
beim grobwändigen Oebrauchsgeschirr der gesamten prähistorischen
Metallzeit eine ganz gewöhnliche Erscheinung. Wir finden es von
Kleinasien (Troja) bis England (Pitt Rivers collection), von Italien bis
in das arktisch-baltische Gebiet, ja noch in der heutigen Volkskunst
ist es anzutreffen (Fliesen im Museum zu Bern, in der österreichischen
und schwedischen Bauernkunst, vgl. Studio, special number IQll,
Abb. 225, IQIO, Abb. 24, 28). Wie diese Reihe von Fingereindrücken
auf dem Mundsaum entstand, haben uns die Dänen gleichfalls erklärt.
Das Verfahren bei der Herstellung des Gefäßes war dieses, daß man
immer wieder einen neuen Tonstreifen auflegte und mit den Fingern
andrückte. Die dadurch entstandenen Vertiefungen wurden durch den
nächstfolgenden Streifen bedeckt, schließlich blieben sie aber auf dem
letzten Band stehen. Daher kommt es, daß sie zuerst oben auf dem
Rand erscheinen und erst nachträglich rein ornamental ausgenutzt
408 F. ADAMA VAN SCHELTEMA.
werden durch die Verschiebung unter den Rand. Was die überflüssige
rhythmische Anordnung dieser Eindrücke, ihre Verschiebung unter den
Rand, wo sie sich als Halsl<ette um den Oefäßhals legen, was endlich
der Übergang zum geradlinigen Ornament der zweiten Stufe zu bedeuten
hat, wird sich aus unserer eigenen Deutung des geometrischen Orna-
ments ergeben.
Diese Tatsache, daß gerade bei den frühesten Gefäßen, wo nach
der Flechtwerkhypothese mit logischer Notwendigkeit die größte Über-
einstimmung mit textilen Vorbildern zu erwarten wäre, die davon ab-
weichende Gestaltung am augenfälligsten ist, hat nun zu einer merk-
würdigen Ergänzung dieser Theorie, wiederum auf technisch-materia-
listischer Grundlage, geführt. Schuchhardt, einer der überzeugtesten
Anhänger der Flechtwerktheorie, sieht nämlich in diesen frühesten
Oefäßformen der Pfahlbauten und Muschelhaufen eine Nachahmung von
Lederbeuteln ^). Auf die sehr gesuchte Erklärung der Gefäßformen
selbst — die er übrigens auch wiederum mit afrikanischen Korb-
flechtereien vergleicht — werde ich hier nicht eingehen. Wichtiger für
uns ist, daß Schuchhardt die Kette von Fingereindrücken als eine Er-
innerung an die Stiche deutet, die durch das Einnähen eines festen
Ringes zum Festlegen der Beutelform entstanden. Nach dem, was hier
über das Entstehen dieses durchaus keramischen Ornamentes und
dessen Verbreitung auch dort, wo von einem Zusammenhang mit
Lederbeuteln keine Rede sein kann, gesagt wurde, scheint es über-
flüssig, auf diese Hypothese einzugehen. Ich möchte nur betonen,
daß in den Kulturresten der Pfahlbauten, die Weberei und Flechtwerk,
hölzerne Geräte usw. in vorzüglichem Zustand erhalten haben, keine
Spur von ledernen Beuteln gefunden worden ist.
Wir haben gesehen, daß die Töpferkunst in Nordeuropa ganz un-
abhängig von der Flechttechnik entstanden sein muß; von einer wach-
senden Befreiung von dieser Technik, von der bewußten oder un-
bewußten Nachbildung ihrer Erzeugnisse ist nichts zu bemerken. Im
allgemeinen scheint es angebracht, die Untersuchung auf ein bestimmtes
Gebiet, auf Nordeuropa, zu beschränken, nicht nur, weil hier weitaus
das reichste Material zur Verfügung steht und sich gerade im Norden
die größte Blüte und eine Alleinherrschaft der geradlinigen Ornamentik
feststellen läßt, sondern auch, weil durch die sorgfältige Betrachtung
der Erscheinungen auf einem und demselben Gebiet sicherere Ergeb-
nisse zu erwarten sind, als wenn man willkürlich Griffe tut aus dem
unübersehbaren Stoff der gesamten vorgeschichtlichen Kunst und der
') Carl Schnchhardt, Das technische Ornament in den Anfängen der Kunst.
Prähistor. Zeitschr. 1910. Derselbe, Alteuropa.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 409
der Naturvölker. Doch möchte ich hier darauf hinweisen, daß diese
Unabhängigkeit vom Flechtwerk in der frühesten Keramik keineswegs
ein ausschließliches Merkmai der nord- und mitteleuropäischen Neo-
lithik darstellt. Die gleiche Erscheinung ist an den verschiedensten
Stellen im Süden wahrzunehmen: in Spanien, auf Kreta, Zypern, in
Kanaan ist die älteste neolithische Keramik ornamentlos, erst später
setzt das geradlinige Ornament ein ').
Aber es sind nicht nur die frühesten keramischen Erzeugnisse,
die den Anforderungen der technischen Erklärung nicht entsprechen.
Betrachten wir die Gefäße mit voll entwickeltem geradlinigem Ornament,
so zeigt sich, daß weder die Stelle noch die Gestalt des Ornaments
die gehegten Erwartungen erfüllen. Ich habe bemerkt, daß das Orna-
ment sich nach der technischen Erklärung in erster Linie an der
unteren Gefäßhälfte befinden müßte. Nichts erscheint da nun naiver
als Götzes Bemerkung, daß das Gurtsystem, welches Hals und Schul-
tern der Thüringer Amphoren umfaßt, sicher aus der Nachahmung von
tragenden Gurten entstanden sei, daß es also gerade an der unteren
Hälfte der Amphore sitzen müsse, aber nun nach oben verlegt worden
sei, um dort besser ins Auge zu fallen -). Beispiele dafür, daß die Ver-
zierung sich auch in der Blütezeit der geradlinigen Ornamentik auf Hals
und Schultern beschränkt, sind zahllos. Die Ausbreitung des Orna-
ments vom Hals und Rand abwärts nach dem Boden zu ist gerade
bei den frühen Megalithamphoren, die übereinstimmend im Beginn der
Entwicklung — nach der Muschelhaufenkultur — angesetzt werden,
deutlich zu verfolgen: die Striche, die von der struktiv wichtigsten
Stelle, dem scharfen Knick zwischen Hals und Schultern, ausstrahlen,
beschränken sich erst auf einen Halskragen, der darauf einige Strahlen-
bündel über den Bauch entsendet, bis schließlich der ganze kugel-
förmige Körper mit solchen Strahlen bedeckt wird. Erst wenn sich
das Ornament über das ganze Gefäß ausgebreitet hat, wird natürlich
auch die untere Hälfte in die Verzierung einbezogen. Hat das Gefäß
einen langen Hals, so kann es in der Tat vorkommen, daß nur der
eigentliche Körper, d. h. der untere Teil, geschmückt wird, aber gerade
in diesen Fällen — bei den kleinen Megalithbechern und den soeben
') Für Spanien u. a. Cartailhac, Ages prMstoriques de l'Espagnc et du Portugal.
Ein bei Cartailhac abgebildeter geflochtener Korb zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit
dem Oefäß Abbildung 70, das aber nur am Rande verziert ist; die iberische Muschel-
haufen-Keramik ist schmucklos. Für die früheste spanisch-portugiesische Megalith-
keramik vgl. Wilke, Südwest-europäische Megalithkultur; für Kreta: Duncan Mackenzie,
The pottcry of Knossos m Journal of Hell. Studies vol. XXIII; für Zypern: Hoemes,
Urgeschichte der bildenden Kunst S. 363; für Palästina: Pere Vincent, Canaan.
^) Die Oefäßformen und Ornamente der neolithischen schnurverzierten Keramik
im Flußgebiet der Saale.
410 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
genannten Amphoren — kann an eine tragende oder schützende Hülle
nicht gedacht werden. Die 10—12 cm hohen Becher wurden nicht
getragen und verlangten, weniger als irgend eine andere Form, Schutz
oder Stütze; die freien Megalithamphoren dagegen sind mit einer aus-
gezeichneten Tragevorrichtung versehen, kleinen, zwischen Hals und
Schultern befindlichen Zapfen mit einer Durchbohrung, groß genug,
um eine Schnur durchzuziehen.
Ich gehe jetzt zu der Gestalt des geradlinigen Ornaments selber
über. Auch hier muß eine streng wissenschaftliche Kritik ganz be-
stimmte Forderungen aufstellen. Daß ein entwickeltes System aus
geraden Linien, das sich an die Form des Trägers hält, eine gewisse
Ähnlichkeit mit einem Flechtwerk aufweisen kann, das ja selber eine
Struktur aus geraden Linien — Ruten, Binsen, Spänen usw. — dar-
stellt, die zusammen eine analoge Form bestimmen, ist klar. Aber mit
dieser vagen Übereinstimmung dürfen wir uns nicht begnügen, im
Gegenteil, für den direkten Abdruck oder die Nachahmung primitiver
Flechtformen sind ganz bestimmte Muster zu erwarten. Ich betone
dabei das Wort »primitiv«, weil bei dem Vergleich mit komplizierteren
Korbflechtereien, die selber Kunst sein wollen, für sich eine so und
nicht anders gemeinte künstlerische Zusammenstellung bezwecken, die
Frage nach dem Entstehen der geometrisch-ornamentalen Kunst nur
nach dem Gebiete der textilen Technik verschoben würde. Jedenfalls
haben wir, wenn wir den mechanischen Abdruck oder die Nachahmung
von geflochtenen Behältern ins Auge fassen, in erster Linie an die
einfachsten Flechtwerke zu denken.
Nun sind wir über die Art des primitiven, prähistorischen Flechtwerks
ziemlich genau unterrichtet. Die Seen der Schweiz haben uns Flecht-
werk geliefert, besonders aus Robenhausen sind verschiedene Beispiele
bekannt. Ein Geflecht aus der bayerischen Bronzezeit finden wir bei
Naue^). Abdrücke von Flechtwerk in Ton kennen wir aus Stütz-
heim im Elsaß ^), ein sehr ähnliches Muster aus dem Lago di Varese
gibt Montelius'). Der Abdruck einer Matte, auf die das Gefäß zum
Trocknen gestellt worden war, ist aus Amorgos bekannt*). In all
diesen Fällen entstanden, wie zu erwarten, Systeme von sich kreuzen-
den Bändern oder Strichlagen — Kette und Einschlag — , in den
meisten Fällen das Schachbrettmotiv. Ein Stück Flechtwerk, das
in Bern aufbewahrt wird, zeigt durch die Kreuzung der flachen breiten
Streifen das reine Schachbrett; noch in unseren Tagen ist die gleiche
') Jul. Naue, Die Hügelgräber zwischen Ammer- und Staffelsee, Taf. XXXV.
4 R. Forrer, Reallexikon. Abb. 202, 203; Taf. 69.
^) O. Montelius, La civilisation primitive en Italic. Serie B, Taf. 2, 22.
^) Myres m Journal of the anthropol. Inst. 1898.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 4t 1
Technik in der Volkskunst von Italien bis Skandinavien allgemein. Es
sei mir erlaubt, hier darauf hinzuweisen, daß noch in der bildenden
Kunst des späteren Mittelalters neben der gröberen Korbflechterei aus
vertikalen Rippen, die ganz durch wagrechte Bänder bedeckt werden,
die zierlicheren, reicher gegliederten Flechtwerke genau die gleichen
Rechtecke oder Rauten zeigen. Das ist zwar kein Beweismaterial für das
prähistorische Flechtwerk, aber in diesem Zusammenhang scheint mir die
nordische Technik aus dem Mittelalter von ungleich größerer Bedeutung
als etwa Kongoflechtwerke aus dem 19. Jahrhundert, um so mehr, weil
wir das gleiche Muster in vorgeschichtlichen Flechtwerken wiederfinden.
Ein entsprechendes Muster aus regelmäßig abwechselnden wag-
rechten und senkrechten oder schrägen Bändern ist nun aber in der
neolithischen Keramik sehr selten anzutreffen. Das Schachbrett kommt
ganz vereinzelt in Schweden vor, einmal in England, Frankreich (in
all diesen Fällen spät), und in der nordwestdeutschen Megalithkeramik
gibt es einzelne Muster, die einem solchen Flechtwerk einigermaßen
ähnlich erscheinen; das ist aber ungefähr alles. Aus sehr guten Grün-
den, die ich nachher darlegen werde, vermeidet die neolithische Orna-
mentik fast ausnahmlos das Zerhacken der geradlinigen Motive.
Dies sind die wichtigsten Argumente, die ich gegen die Erklärung
des geradlinigen Ornaments aus der Technik anzuführen habe. An-
gesichts dieser Hunderttausende von Töpfen und Vasen, Schalen und
Bechern, die in den späteren Perioden mit Ornament überzogen werden,
muß man doch fragen, wie sich die Vertreter der Flechtwerktheorie
das Verhältnis zu diesen gänzlich unbekannten geflochtenen Hüllen
und Schnüren eigentlich wohl vorstellen. Haben diese keineswegs
nomadisierenden Menschen denn ihr gesamtes Geschirr an Schnüren
getragen? Warum gibt es in den nordischen Mooren und den Schwei-
zer Seen, die sogar Kleidung und Gewebe bewahrt haben, keine Spur
von einem dem neolithischen Ornament entsprechenden Flechtwerk,
das, wenn die technische Erklärung richtig wäre, doch allgemein ver-
breitet gewesen sein müßte? Warum hat sich nichts davon in die
Volkskunst gerettet? Warum hat man, wenn man es schon nicht
lassen kann, die Töpferei als etwas Sekundäres zu betrachten, nicht in
allererster Linie auf die Holzbearbeitung hingewiesen, die, wie viele
Reste zeigen, neben der Keramik geblüht haben muß, die zum Teil die
gleichen Formen, so z. B. die Megalithamphoren, in Holz angefertigt
hat und deren Erzeugnisse so auffällig dem Besitz unserer Senn-
hütten und der skandinavischen Bauernstuben entsprechen ')? Die Ant-
') Schweiz: Schafis, Vinelz, Robenhausen. — Dänemark: vgl. S. Müller, Nor-
dische Altertumskimde I S. 343. — Bayern : vgl. Jul. Naue, Die Hügelgräber zwischen
Ammer- und Staffelsee. Taf. XXV, 6 usw.
412 F. ADAMA VAN SCHELTEMA.
wort liegt auf der Hand: aus der Holztechnik war nicht das mecha-
nische Entstehen eines bestimmten ornamentalen Stils abzuleiten.
Es ist ganz bezeichnend, daß die Vorkämpfer der technischen
Erklärung zum Beweis der Richtigkeit ihrer Theorie immer Fiechtwerke
aus Japan (Schuchhardt), Afrika (Holwerda), Brasilien (Wilke) heran-
ziehen müssen, d. h. das beste Flechtwerk, das überhaupt bekannt ist,
und Produkte einer zum Teil hochentwickelten, jedenfalls uralten Kultur,
deren historische Entwicklung uns nahezu unbekannt ist. Abgesehen
von vielen anderen Bedenken, dürfen wir schon darum diese exo-
tischen Flechtwerke nicht zur Vergleichung verwenden, weil die Ent-
wicklung dieser äußerst verfeinerten Flechttechnik in Japan, im Kongo-
gebiet usw. aufs engste mit einem Material — Bambus- und Palm-
fasern, harten Gräsern — zusammenhängt, das nur in den genannten
tropischen bzw. subtropischen Gebieten zur Verfügung stand. Warum
man diesen bedenklichen Schritt tat, ist begreiflich: nur in den er-
wähnten raffinierten, großenteils selber als Kunst aufzufassenden Flecht-
werken war die gesuchte Ähnlichkeit mit dem geradlinigen Ornament
der europäischen Steinzeit zu entdecken. Daß dieser unglückliche
Vergleich mit afrikanischen Geflechten tatsächlich dazu geführt hat, die
Heimat unter anderem der nordeuropäischen Megalithbevölkerung nach
Afrika zu verlegen, sei nur nebenbei erwähnt. Hier kommt es mir vor
allen Dingen darauf an, die fehlerhafte Logik der technisch-materia-
listischen Beweisführung zu betonen, wenn diese nun den Gegensatz
zwischen dem geradlinigen »Flechtwerkstil« des Nordens und dem
sogleich zu besprechenden »Kürbisstil« des Südens aus dem Unter-
schied des angeblich vorbildlichen Materials erklärt. Das alte Europa
war Holz- und Pelzgebiet, es war ebensowenig Flechtwerk- wie Kür-
bisgebiet. Sowohl »Kürbis«- wie »Flechtwerkmuster« sind — wohl-
verstanden nach der technischen Erklärung — unmittelbar abhängig
von einem tropischen oder subtropischen Pflanzenmaterial und damit
an den Süden gebunden.
Als das Gegenstück und eine Ergänzung der Flechtwerkhypothese
ist die Kürbistheorie zu betrachten. Der grundlegende Gedanke
ist dabei folgender: im Gegensatz zu dem ausschließlich geradlinigen
Ornament der nordeuropäischen Neolithik begegnet man im Süden
schon sehr früh einer freien Verzierung aus gebogenen Linien oder
figürlichen Darstellungen, im besonderen steht die, sicher aus dem
Süden eingedrungene, Bandkeramik mit ihrem Spiralvoluten- und Mä-
anderornament scharf der nordischen Zierkunst gegenüber. Nun zeigen
die kugel- und birnförmigen Gefäße der Bandkeramik eine gewisse
Ähnlichkeit mit Kürbissen; der Kürbis wird aber noch heutzutage im
Süden vielfach zur Herstellung von Flaschen, Näpfen usw. verwendet.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 413
Bei diesen aus Kürbissen angefertigten Gefäßen fehlt — es sei denn,
daß Fuß, Henkel oder Hals angeflochten werden — die Beziehung
zum Flechtwerk, dagegen konnte das in die Schale eingeschnittene
Ornament sich frei in jeder beliebigen Form entfalten. Das »freie«
südliche Ornament verdankt also dem Zusammenhang der südlichen
Keramik mit Kürbisgefäßen sein Entstehen, der Gegensatz zwischen
den geradlinig nordischen und den gebogenen südlichen Mustern ist
in dem nachgeahmten Material begründet: Flechtwerk im Norden,
Kürbisse im Süden. Die Grenze des Kürbisstils ist nach Norden mit
der Verbreitung des Kürbis selber gegeben '). — Wie man sieht, eine
sehr plausible Erklärung. Aber auch sie verträgt keine Kritik.
Cucurbita Lagenaria, der Flaschenkürbis, ist ursprünglich heimisch
in den Tropen der alten Welt, wird aber jetzt in allen wärmeren Län-
dern angebaut, in Ägypten wird sie verwildert und kultiviert ange-
troffen, auch in Kleinasien wird sie gebaut, in Rußland nur in den süd-
lichen Provinzen. In Spanien und Südfrankreich wird sie kultiviert, in
Dalmatien sieht man die Frucht bei den Fischern und Bauern vielfach
in Gebrauch. In der Flora Deutschlands und der Schweiz wird sie
nicht mehr erwähnt*).
Zunächst nun muß man sich doch etwas wundern, daß die Er-
klärer vorzugsweise afrikanische Flechtwerke als Vorbild für das
geradlinige Ornament heranziehen, während jetzt gerade im Süden,
dem Dorado des Flechtmaterials, der Kürbis zur Erklärung der typisch
südlichen Stilformen erhoben wird.
Betrachten wir nun das südliche Ornament, so müssen wir fest-
stellen, daß vielfach ausgesprochen kürbisförmige Gefäße vorkommen^
die teilweise oder ganz mit einem rein geradlinigen Ornament bedeckt
sind, und zwar in einer Weise, die jede Beziehung zu tragenden Schnü-
ren oder angeflochtenen Teilen ausschließt''). Umgekehrt ist wieder
das freie Ornament der vordynastischen Keramik in Ägypten in weitaus
den meisten Fällen auf Gefäßen anzutreffen, die nichts mit Kürbissen
zu tun haben; ich denke hier vor allem auch an die spiralverzierten
Gefäße von El Amrah, die aus einer Nachahmung von Gefäßen aus
muschelhaltendem Kalkstein entstanden sind (nach Schweinfurth und
Flinders Petrie).
Bedenklicher ist, daß das Verbreitungsgebiet von Cucurbita Lage-
naria keineswegs dem der freien, sei es der Spiralvoluten-, sei es
der figürlichen Ornamentik, entspricht. Weder Spanien noch Süd-
') Holwerda, Die Niederlande in der Vorgeschichte Europas. Leiden, 1915.
») Holwerda, I. c. S. 34.
•) Zypern: Cesnola, Taf. Xill; Kleinasien, Oordion: O. Körte und A. Körte,
Taf. 3.
414 V- ADAMA VAN SCHELTEMA.
frankreich sind bandkeramische Provinzen, dagegen besitzen sie, wenig-
stens gegen Schluß der Steinzeit, ein entwickeltes geradliniges Oefäß-
ornament. Italien erhält gleichfalls die Spirale von auswärts, wahr-
scheinlich aus dem Ostadriagebiet, eingeführt. Dagegen fehlt wiederum
der Kürbis, z. B. in Böhmen, das doch offenbar ein Ausstrahlungs-
gebiet der Spiralverzierung gewesen sein muß.
Was aber meines Erachtens die Kürbistheorie unhaltbar macht,
ist folgendes: Sowohl auf Sizilien und Kreta wie in Kleinasien und
Palästina, d. h. in idealen Kürbisgebieten, sehen wir, daß das älteste
keramische Ornament streng geradlinig ist, und zwar, wie in Nord-
europa, eingeschnitten und meistens mit weißer Füllung. Sizilien (Sten-
tinello) kennt in der Neolithik nur diesen rein »textilen« Stil, eine
Änderung tritt erst ein unter dem Einfluß der höher entwickelten Bronze-
kultur aus ägäisch-krelischem Gebiet, der zugleich die Vasenmalerei
bringt. Kreta besitzt in seinen 6 m tiefen neolithischen Schichten eine
ausschließlich geradlinige Oefäßornamentik; in der frühminoischen
Vasenmalerei werden die alten Muster durch die neue Technik wieder-
holt, erst in der mittelminoischen Periode erscheint ein naturalistisches
Ornament und mit ihm die Spirale. Die neolithische Kultur Kanaans
kennt gleichfalls nur die »textile« Verzierung; in Hissarlik-Troja besitzt
die I. — V. Stadt eine den nordischen Formen manchmal sehr ähnliche
geradlinige Ornamentik; die Spirale erscheint erst in der VI. Ansied-
lung, und zwar von den Inseln eingeführt. In Gebieten, wo der Kürbis
einheimisch war und auch zweifellos für die Herstellung von Gefäßen
Verwendung fand — Troja I hat schon Kürbisflaschen i) — , wird also
zuerst, und zwar ausnahmslos das geradlinige und nicht das freie Orna-
ment angewandt. Erst mit der Bronzezeit, in Troja noch später, tritt,
zugleich mit der Gefäßbemalung, eine Änderung ein, die offenbar mit
dem Einfluß der alten Kulturzentren im fernen Südosten zusammen-
hängt. Mit anderen Worten: das Erscheinen des freien Ornamentstils
ist an und für sich völlig unabhängig von dem Vorhandensein des
Kürbis. Es handelt sich nicht um eine pflanzengeographische Frage,
sondern um ein Problem der Entwicklung, sei es infolge eigenen
Wachstums, sei es unter fremder Einwirkung.
Ich gehe jetzt zu einer möglichst kurz zusammengefaßten Betrach-
tung über, wie denn in Wahrheit das erste geradlinige Ornament ent-
standen sein mag, und möchte zunächst fragen: warum schreckt man
doch immer davor zurück, diese ersten Punkt- und Strichreihen aus
einem primitiven Gefühl für die Schönheit geometrischen Regelmaßes
zu erklären? Warum soll um jeden Preis dieses geistige Moment, das
') Hub. Schmidt, Troja und llion, Abb. 114.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 415
selbständige Erfinden und Schön-finden der allereinfachsten rhyth-
mischen und symmetrischen Zusammenstellungen ausgeschaltet werden?
Will man nicht die gesamte bildende Kunst von Anfang bis Ende zu
einer sinnlosen Nachahmung von natürlich gegebenen Formen ernied-
rigen, so muß man notgedrungen irgendwo im Laufe der Entwick-
lung ein erstes Auftreten der künstlerischen schöpferischen Kraft voraus-
setzen. Warum denn nicht gleich bei diesen ersten Formen, deren
primitive Schönheit, die sich im Regelmaß und in der richtigen An-
wendung des Ornaments äußert, dem unbefangenen Auge sofort er-
sichtlich ist? Man vergesse nicht, daß schon bei dem unentwickeltsten
ästhetischen Bewußtsein — auch bei Kindern — ein sicheres Urteil
darüber, ob eine Reihe von Elementen rhythmisch geordnet ist oder
nicht, ob zwischen zwei Elementen Symmetrie herrscht oder nicht,
vorhanden ist, und daß dieses selbe Urteil keinen Augenblick darüber
im unklaren ist, welche Anordnung die »schönere« ist. Man vergesse
nicht, daß wenige Jahrhunderte nach der Blüte der Dipylonkunst, die
das Geschick traf, technisch erklärt zu werden, das Parthenon entstand,
das mit dem besten Willen nicht auf Nachahmung von etwas zurück-
zuführen ist, vielmehr vielleicht das vollkommenste und reinste Denk-
mal schöner Maßverhältnisse darstellt, das wir kennen. Ist dieses
Gefühl für die abstrakte Schönheit mathematischer Beziehungen plötz-
lich aus der Luft gefallen oder liegt es nicht näher, die ersten Keime
davon im strengen Rhythmus der geometrischen Vasenmalerei zu er-
kennen?
Was nun den eigentümlichen Charakter der ältesten nordeuropäischen
— besser gesamteuropäischen — Ornamentik betrifft, so scheint mir
die Unzulänglichkeit der bestehenden Deutungsversuche darauf zu be-
ruhen, daß man sich nie ernstlich Rechenschaft davon gegeben hat,
was denn Ornament überhaupt eigentlich ist.
Und hiermit kehre ich zu dem Semperschen Grundgedanken zu-
rück. Schon Semper streift die Lösung der Fragen, um die es sich
hier handelt, indem er einerseits die Funktion, die die Gefäßteile er-
füllen, analysiert, anderseits die symbolische Bedeutung des Ornaments
selber betont und mit dieser Funktion in Beziehung setzt. Ornament
weist als solches auf etwas anderes hin, man kann sagen, auf
die andere Seite seiner selbst. Es verweist nach dem Ornamen-
tierten, nach dem, was geschmückt wird, nach dem Träger des
Ornaments. Dieser Gedanke, daß das Ornament seine Bedeutung
schöpft aus seiner Beziehung zum Träger, müßte eigentlich gerade
unserer Zeit geläufig sein, denn er wird schon längst für das moderne
Kunstgewerbe benutzt. Ich will hier nicht untersuchen, inwiefern
aus dieser Erklärung von dem ursprünglichen Wesen des Ornaments
416 F. ADAMA VAN SCHELTEMA
eine Forderung für die Verzierungskunst im allgemeinen und aller
Zeiten zu erheben sei; auf alle Fälle haben wir aber bei dem ersten
Auftreten des Ornaments mit dieser seiner fundamentalen Bedeutung
zu rechnen. Ornament ist, wie es sich auch später entwickeln, viel-
leicht auch befreien mag, seinem ursprünglichen Wesen nach eine
symbolische Darstellung von den im Träger tätigen Kräften, die zu-
sammen den nützlichen Wert des Gebrauchsgegenstandes bestimmen
und dessen Form diktieren. Ornament ist also, anders gesagt, eine
Betonung der Formen des ornamentierten Gegenstandes, es ist die an
sich völlig überflüssige und damit rein ästhetische Darstellung von
natürlich gegebenen Kräften oder, wenn man diese dynamische Be-
deutung ausschalten will, die nur dem Scheine dienende Betonung der
durch die Natur — Technik, Zweck — gegebenen Formen. Es ist
deshalb von Bedeutung, diesen eigenartigen Charakter der Kunstformen,
die am Anfang der nordischen Kunstentwicklung stehen, zu betonen,
weil dadurch sowohl der enge Zusammenhang dieser beginnenden
Kunst mit den Nutz- beziehungsweise den Naturformen als ihre geistige
Befreiung von denselben ausgesprochen wird.
Das mag alles ziemlich kompliziert scheinen, und ich bin wohl
der letzte, der annimmt, daß die Steinzeitbarbaren sich mit solchen
ästhetischen Problemen den Kopf zerbrochen haben. Aber schließlich
setzten sie doch unbewußt, als echte Künstler, die hier kurz skizzierte
Theorie vom Ornament in die Praxis um und taten damit genau- das
gleiche wie etwa ein Negerkind, das sich eine Muschelkette um den
Hals legt, so, daß diese auf der Brust herunterhängt und die größte
Muschel sich gerade in der Mitte befindet. Was dort geschieht, ist,
wie sich bei einer Analyse zeigen würde, zwar verwickelter als die
Verzierung eines Gefäß- »halses« mit einer Kette von Fingereindrücken;
im Grunde aber handelt es sich um den gleichen Vorgang. Warum
man bei der Deutung des Körperschmucks durchweg den richtigen
Weg wählt, indem man die Beziehung zum menschlichen Körper her-
vorhebt, beim Geräte- bzw. Gefäßschmuck dagegen diese Beziehung
zum tragenden Körper grundsätzlich übersieht uud dafür die unmög-
lichsten Beziehungen zu fremden Gegenständen und Techniken an den
Haaren herbeizieht, ist schwer einzusehen.
Das Merkmal der Kunst der nordischen Steinzeit ist nun kein
anderes als ihr streng ornamentaler Charakter. Damit ist in erster
Linie schon ihre Geradlinigkeit erklärt. Denn, wir wissen es ja
aus der Mechanik, die gerade Linie ist das Bild der einfachen, sich
frei betätigenden Kraft. Solange das Ziel ausschließlich darauf ge-
richtet war, die in dem Gefäß wirksamen Kräfte zu betonen und damit
seine eigenartige Struktur hervorzuheben, mußte also mit der geraden
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 417
Linie gearbeitet werden. Das erste Ornament, die gereihten Finger-
eindrücke, ist nur erst ein » Fingerzeig <; ; wohl wurde dadurch schon die
Stelle, die für die künstlerische Deutung am wichtigsten schien, der
Gefäßrand, wo der regelmäßige Umlauf, die regelmäßige Ausweitung
und damit das »Fassen« des Gefäßes am deutlichsten in die Augen
fiel, näher bezeichnet und der regelmäßige Verlauf selber durch die
rhythmische Anordnung der Fingertupfen markiert. Aber diese Ein-
drücke selber waren noch zu amorph, zu wenig sagend, sie verrieten
noch zu sehr ihr natürliches, zufälliges Entstehen, um auf die Dauer
befriedigen zu können. Der wichtigste Schritt war denn auch der
Übergang zum geometrischen, geradlinigen Ornament mit
seiner klar ausgesprochenen Begrenzung und nicht verkennbaren
Richtung. Hiermh setzt der äußerst interessante Kristallisations-
prozeß ein, der das erste Kapitel der nordeuropäischen Kunstgeschichte
ausfüllt.
Von der einzelnen wagrechten Linie, die gleichsam den Rand
unterstreicht, von der Reihe senkrechter oder schräger paralleler
Striche des Muschelhaufengefäßes, die wie eine Halskette die regel-
mäßig fortschreitende und in sich selbst zurückkehrende Rundung des
Halses Schritt für Schritt begleiten und verdeutlichen, breiten die struk-
tiv-symbolischen Linien sich aus, umgeben die Schultern der frühen
Megalithamphoren mit einem Kragen — statt mit einer Kette — aus
Strichen, die von der struktiv bedeutsamsten Stelle, dem scharfen Knick
zwischen Hals und Schultern, über die Schultern ausstrahlen. Dann
sendet dieser Kragen Strahlenbündel über den Gefäßbauch selber aus,
der Kristallisationsprozeß schreitet weiter. Neben die wagrechten
Linien, die in den horizontalen Querschnitten die Rundung und Aus-
weitung der Gefäßform verdeutlichen, treten die senkrechten Linien,
die die Beziehung zwischen oben und unten näher bezeichnen, die
zunehmende Ausweitung vom Boden aufwärts nach dem Bauch, wo
nun gern ein horizontaler Gürtel den größten Umfang markiert, dann
die Einziehung nach dem Hals. Neben den Randlinien entstehen
die Wand linien, neben die Betonung der Randsilhouette tritt die der
Wandsilhouette oder des Wandprofils. So entsteht das unendlich
wechselnde Horizontal-Vertikal-System der neolithischen Linearoma-
mentik, das den Gefäßbau wie in seinen Grund- und Aufrißlinien
enthält und in zahllosen Variationen vor Augen führt.
Ich werde im zweiten Abschnitt etwas ausführlicher auf diese
Probleme eingehen, vor allen Dingen auch auf die späten Entwick-
lungserscheinungen, mit denen wir bei fast allen Gruppen auf nord-
deutschem Boden zu tun haben: bei der Megalith- und Schnurkeramik,
der Bernburger Keramik, den Kugelamphoren und der Keramik von
Zeitsdir, f. Ästhetik u. all£. Kunstwissenschaft. XV. 27
418 F. ADAMA VAN SCHELTEMA.
Rossen. Hier möchte ich nur erwähnen, daß es an der Hand der
sicheren chronologischen Daten — Muschelhaufen, frühe Megalith-
keramik, norddeutsche Gruppen — in der Tat möglich ist, eine Ent-
wicklung festzustellen, die sich in einer zunehmenden Ausbreitung des
geradlinigen Ornaments und in sehr bestimmten Zeichen einer Be-
freiung von seinem Träger äußert.
Wir verstehen nun, warum gerade im Anfang der Entwicklung,
bei den ersten schüchternen Rand- und Halsketten, die Ähnlichkeit mit
zusammenhängenden Geflechten am geringsten sein muß, warum da-
gegen in den späteren Wachstumsphasen eine gewisse Übereinstimmung
mit Korbflechtmustern, die ja gleichfalls aus geraden Linien zusammen-
gesetzt sind, welche die Struktur eines Behälters bestimmen, entstehen
kann. Wir verstehen, daß neben den freihändig eingeschnittenen oder
eingestochenen Ornamenten auch sehr wohl bestimmte Hilfsmittel, wie
Muschelschalen (Herzmuschel), Stempel, Schnüre mit oder ohne Kno-
ten usw. herangezogen werden können, um die sicherere und schnel-
lere Herstellung des beabsichtigten Musters zu ermöglichen ^). Aber
das sind dann die technischen Hilfsmittel, nicht die technischen Vor-
bilder, und wir tun gut, einzusehen, daß es der eigentümliche, auto-
nome Charakter des geradlinigen Ornaments ist, der die Wahl dieser
technischen Hilfsmittel erklärt, und daß es nicht diese sind, welche
das geradlinige Ornament erklären. Wir verstehen auch, warum das
Schachbrett, dieses rein textile Muster, und die sich schneidenden
Linien so äußerst selten anzutreffen sind: sie können nichts anderes
ausdrücken, als die gleichmäßige Ausdehnung in zwei, senkrecht auf-
einander stehenden Richtungen. Die symbolische Bedeutung der hori-
zontalen Umriß- und vertikalen Aufrißlinien ginge durch die wieder-
holte Unterbrechung gänzlich verloren, das tektonische Skelett, das
uns die Oefäßform deutet, würde zu einem gleichmäßig bedecken-
den Geflecht werden, das die Form verbirgt. Etwas Ähnliches kann
in der Tat geschehen, nämlich bei einem für die späte thüringische
Schnurkeramik charakteristischen Muster aus ineinandergreifenden,
schraffierten Dreiecken, dem einzigen Flechtornament, das in der nor-
dischen Neolithik eine Rolle spielt. Es erscheint gegen Ende der
Steinzeit und findet dann auch in der Bronzezeit gerne Verwendung.
Dieses vollständige Zudecken größerer Flächen des tragenden Grundes
durch ein Kleid, das die unter ihm liegende Struktur des Gefäßes mehr
verhüllt als betont, ist eine typisch späte Erscheinung, die eng mit
der zunehmenden Ablösung des geradlinigen Ornaments von seinem
') Nicht nur in der späteren Sclinurlteramik, sondern, wie Sophus Müller ge-
zeigt hat, auch schon in der Übergangsperiode zu der Kultur der großen Stein-
gräber. {Memoires de la sodüi royale des antiquaires du Nord, 1914—1915.)
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 41 Q
Träger zusammenhängt. Ich sehe in diesem späten Auftreten der
Fiechtwerkimitation gegenüber dem sehr beschränkten, streng geo-
metrischen, struktiven Ornament der frühesten Keramik den sicheren
Beweis, daß dieses geometrische Ornament in seinem Entstehen und
seinem Wesen nichts mit der Flechttechnik zu schaffen hat.
Eine kurze Bemerkung über das Verhältnis zum Süden.
Im scharfen Gegensatz zu Nordeuropa zeigt die Kunst der alten
Kulturländer im Südosten, Vorderasien und Ägypten, von Anfang an
die ausgesprochene Neigung zu einer naturalistischen bildenden Kunst.
Wir kennen aus Elam Formenreihen, die uns die allmähliche Erstarrung
von Tier- und Menschengesfalten in der vorgeschichtlichen Gefäßorna-
mentik zu geometrischen Mustern deutlich vor Augen führen und
damit ein anfängliches naturalistisches, figürliches Ornament voraus-
setzen '). Im vordynastischen Ägypten sind bekanntlich äußerst lebendig
aufgefaßte und fein empfundene Tierdarsfellungen allgemein : als Felsen-
zeichnungen, Vasenornament, Tierstatuetten, Schiefertafeln usw. Man
hat hier Zusammenhänge sowohl mit der bildenden Kunst junger
afrikanischer Naturvölker als auch mit der paläolithischen Höhlenkunst
der Pyrenäen und der Dordogne konstruiert. Wie dies nun sei, die
alteuropäische Neolithik, die offenbar auch Südeuropa umfaßte, steht
von Anfang an als polar entgegengesetztes Gebiet dem Süden mit
seinen völlig anders gerichteten Kunsttendenzen gegenüber. Nicht die
symbolische Darstellung abstrakter Kräfte, sondern der unmittelbare
Eindruck der sinnlichen, von der Natur gegebenen Wirklichkeit war
hier der Ausgangspunkt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß bei allen
sich ablösenden Vertretern der Südkultur, in Vorderasien, Ägypten,
Kreta, Griechenland, Rom, dieses sinnlich-naturalistische Moment sich
fortpflanzt — die jeweiligen direkten Zusammenhänge lassen sich nach-
weisen — und daß dieses mit zu der schnellen Entwicklung der über-
legenen bildenden Kunst im Süden geführt hat.
Nichts ist nun so interessant, als zu sehen, wie diese beiden polar
entgegengesetzten Kulturen aufeinander eingewirkt haben, wie die Aus-
strahlungen des höher entwickelten Südens im Norden aufgenommen
wurden, wie dieser die aus dem Süden eingedrungenen Formen assi-
miliert hat. Das erste Beispiel des Vorganges ist in der Steinzeit in
der viel umstrittenen, aber noch nie erklärten Spiralmäander-Ornamentik
der bandkeramischen Familie zu finden.
Daß diese bandkeramische Kultur von südlichen Einwirkungen
abhängig sein muß, wird wohl kaum mehr bestritten, sogar Kossinna,
') J. E. Oautier et O. Lampre und Edm. Pottier in Dflegation en Perse, M6-
moires, Tome VIII und XIII.
420 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
der sonst immer die Möglichkeit einer südlichen Beeinflussung grund-
sätzlich bekämpft, gibt zu, daß sie ihr Angesicht nach Süden wen-
det i). Bis an den Rhein hat man die Spondylusmuscheln des Roten
Meeres und sogar rezentes Elfenbein gefunden, und deutlich ist die
Verbreitung der bandkeramischen Formen von der unteren Donau bis
nach Thüringen und Belgien, also von Südost nach Nordwest, die
großen Verkehrswege begleitend, zu verfolgen. Dabei lassen sich drei
Formgruppen unterscheiden: der entartete Spiralmäanderstil des nord-
westlichen Randgebietes am Rhein, in Nordböhmen, Sachsen usw.,
dessen bekanntester Vertreter die Keramik von Flomborn (Mittelrhein)
darstellt, während wir in den sogenannten Stichband- und Hinkelstein-
gruppen meines Erachtens nur die Übersetzung oder das Umschlagen
des fremden Spiralvolutenstils in die geradlinige Stiltradition des Nor-
dens vor uns haben ^). Zweitens haben wir vor allem in Böhmen und
Bosnien (Butmir) die Blüte des geometrisch exakten Spiral- und Wellen-
ornaments, in Böhmen als Gefäßmalerei, in Bosnien zum Teil eingeritzt,
zum Teil plastisch aufgelegt. Nach dem Osten, im pontischen Gebiet
an den nördlichen Zuflüssen des Schwarzen Meeres, ist eine dritte
bandkeramische Gruppe zu unterscheiden. Hier verliert das gemalte
Vasenornament den streng geometrischen Charakter, der für die mittel-
europäische Spiralornamentik bezeichnend ist. Die Muster bekommen
einen kolloidalen Charakter, es ist da ein unaufhaltsames Fließen, und
Gleiten von Linien, die an die Figuren, welche sich in der auf dem
Wasser schwimmenden Ölschicht bilden, erinnern. Es ist ein endloses
Schwellen und Sichzusammenziehen, wobei rein pflanzliche Formen,
Ranken mit Blättern (Bilcze, Ostgalizien), auftreten können.
Für diese höchst eigenartige Kunst kann ich nur eine Parallele
finden, nämlich in der mittelminoischen Vasenmalerei Kretas. Hier, in
der Familie der Kamaresgefäße, ist ein gleiches, manchmal überraschend
ähnliches Verschmelzen vom Vegetabilischen und Geometrischen zu
finden, das gleiche Bestreben, nicht Pflanzen darzustellen, sondern
das organische Leben der Pflanze schlechthin wiederzugeben. Daß
daneben die Spirale selber eine bedeutende Rolle spielt, ist nicht ein-
') O. Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte.
^) Die formale Abhängigkeit der Hinkelsteinformen von den Spiralvoluten Flom-
borns scheint mir zweifeisfrei nachweisbar und ist für uns wichtig, weil damit die
beliebte technische Erklärung des Hinkelsteinmusters aus einer Umschnürung der
Gefäße hinfällig wird. Daß die stratigraphischen Angaben Kohls dem zu wider-
sprechen scheinen, hat bei der annähernden Gleichzeitigkeit beider Gruppen, die wir
voraussetzen müssen, nichts zu sagen; die spätere Datierung Hinkelsteins entspricht
der eng verwandten Stichbandkeramik (Böhmen). Ich hoffe die ungemein inter-
essante, aber verwickelte Beziehung zwischen den verschiedenen grad- und krumm-
linigen bandkeramischen Gruppen an anderer Stelle zu erörtern.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 421
mal das wichtigste, die Familienverwandtschaft mit dem pontischen
Ornament liegt tiefer und ist nicht von einzelnen Motiven abhängig.
Kreta bietet nun aber die Gelegenheit, die Entstehung dieses
naturalistischen Ornaments zu erklären. Der gründliche Umschlag von
der alteuropäisch geradlinigen, eingeritzten und später aufgemalten
Ornamentik zum lebendigen, freien, sinnlichen Ornamentstil und der
hoch entwickelten bildenden Kunst der minoischen Blütezeit beruht
offenbar auf der Einwirkung der Kunst und Kultur des alten Süd-
ostens: Vorderasien und Ägypten.
Sehen wir nun, daß neben dem vegetabilisch-geometrischen Oefäß-
ornament des pontischen Gebietes auch figürliche Darstellungen von
Mensch- und Tiergestalten auftreten, die nur und allein in der prä-
historischen Kunsftradition Mesopotamiens (Elam), Ägyptens und der
Kykladen (Melos) eine Parallele finden, dann müssen wir mit der
Wahrscheinlichkeit rechnen, daß auch die Nord- und Westküsten des
Schwarzen Meeres, es sei durch Handelsverkehr oder Kolonisation,
in unmittelbarer Berührung mit der SüdkuHur gestanden haben '), Auf
diesen fremden Ursprung weist auch das spätere spurlose Verschwin-
den der pontischen Kultur.
Hiermit gelangen wir zu der Lösung des Rätsels von der Spiral-
mäander-Ornamentik. Diese ganze sogenannte Bandkeramik verbreitet
sich längs Donau, Neckar und Rhein über ein Gebiet, das durch die
Wasserwege mit dem hochentwickelten Süden in Verbindung steht,
ein Gebiet, das, vor dem Aufblühen der italischen Kulturen, die an-
gewiesene Ausgleichszone zwischen den beiden polar entgegengesetzten
Kunsttendenzen des Nordens und des Südens darstellt. Sie bringt
Formen, die mit der gebogenen Linie in prinzipiellem Gegensatz zu
der rein ornamentalen, struktiv-symbolischen und damit geradlinigen
Kunst des alten Europas stehen. Sie ist über das ganze mitteleuro-
päische Gebiet hin vergesellschaftet mit einer Idolplastik, wofür es im
Norden nirgends, im Süden zahllose Parallelen gibt. Sie arbeitet mit
den Mitteln der bildenden Kunst, Malerei und Plastik, und nimmt nach
der Donaumündung zu mehr und mehr einen vegetabilen, organischen
Charakter an, um schließlich Formen zu zeigen, die nur mit der natura-
listischen Kunst des Südens in Zusammenhang gebracht werden können.
Aus diesen Tatsachen, die ich nur ganz kurz andeuten kann, glaube
') Herodot berichtet, daß die Griechen eine Kolonie am unteren Dnjepr be-
saßen, die sich bis 40 Tagreisen flußaufwärts erstreckte. — Die Wahrscheinlichkeit
eines Zusammenhanges der pontischen Kultur mit dem prähistorischen Ägypten,
Elam, Summerien, findet neuerdings eine interessante Bestätigung durch die Aus-
führungen Rostvozeffs (Journal of egypt. archeol. VI 1, 1920), die besonders das
Kubangebiet in die genannten prähistorischen Kulturen einbeziehen will.
422 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
ich den Schluß ziehen zu dürfen: das Spiralmäander-Ornament
der mitteleuropäischen Bandkeramik ist nichts anderes
als das Ergebnis einer Einwirkung der naturalistischen
Kunst des Südens auf die geometrisch-abstrakte, Kräfte
symbolisierende Ornamentkunst des alten Europas, die
wir in ihrer reinsten Gestalt in der nordischen Neolithik vor uns haben
und dort studieren müssen. Mit Kürbissen hat das freie Spiralvoluten-
Bandornament so wenig zu tun, wie das nordische geradlinige mit
Korbflechtereien. Wir verstehen, daß in reinen Kürbisgebieten wie
Spanien, Südfrankreich, Italien, das bewußte Ornament gar nicht oder
erst spät und dann aus dem Osten eingeführt auftritt; es war nicht
abhängig von Kürbissen, sondern von der Einwirkung der natura-
listischen Ornamentik und bildenden Kunst des Südostens. Und weiter
verstehen wir, daß das rein geometrische Spiralornament nicht an der
Donaumündung, wo der naturalistische Einfluß vorherrschte, entstand
und auch nicht am Rhein, wo die geradlinige Überlieferung mächtig
war, sondern in einer mittleren Zone. Hier, in Böhmen, Bosnien,
ist die gleichmäßigste gegenseitige Durchdringung der südlichen und
der nordischen Kunst, hier waren offenbar die günstigsten Verhältnisse
gegeben, um aus den beiden Stammeltern eine neue Rasse mit reinen
Merkmalen hervorgehen zu lassen.
Die ganz mathematische Gestalt dieser Spiralen, ihre streng rhyth-
mische Einordnung in Reihen, die um das Gefäß laufen, in Zonen; die
Bauch und Schultern begleiten, das Auftreten eines geradlinigen Rand-
ornaments, das sind alles Merkmale der alten, nordischen geometrisch-
ornamentalen Kunstüberlieferung.
Die Spirale der mitteleuropäischen Steinzeit ist die Übersetzung
eines südlichen naturalistischen Ornaments in die Sprache des Nordens.
Sie ist eine Bastardform der beiden, einander scharf entgegengesetzten
Formenrassen des Südens und des Nordens. In den drei bandkera-
mischen Provinzen, die sich vom Schwarzen Meer bis zum Rhein
ausdehnen, können wir die verschiedenen Stadien dieser höchst be-
merkenswerten Auseinandersetzung zwischen den beiden künstlerischen
Tendenzen schon in der Steinzeit erkennen.
II. Die Entwicklung der ornamentalen Kunst
im nordischen Altertum.
Die Bekämpfung der technisch-materialistischen Auffassung des prä-
historischen Ornaments hat dem Versuch eines Aufbaus der prähisto-
rischen Kunstentwicklung voranzugehen, denn durch sie erhält diese
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 423
frühe Kunst wieder den selbständigen geistigen Charakter, der sie für
die kunstwissenschaftliche Behandlung geeignet macht. Ich habe, an-
knüpfend an die Korbfiecht- und Kürbistheorie, nur die bekanntesten
Deutungen berücksichtigt, weil mir die Methode der Bekämpfung
und, daran anschließend, die Darlegung der eigenen kunstwissenschaft-
lichen Betrachtungsweise wichtiger schien als die Widerlegung der
vielen einzelnen hier in Betracht kommenden Deutungsversuche, mögen
diese nun an Korbgeflechte oder Kürbisse, Stickerei oder Selbstbemalung
oder auch an die zufällige Verschiebung textiler Muster (zur Erklärung
der Spiralvoluten- und Mäanderformen) anknüpfen. Ganz abgesehen
von der Tatsache, daß es keinen Sinn hat, bei der Erklärung von
Kunstformen das geistige Moment auszuschalten und sie damit als
etwas anderes denn als Kunstformen hinzustellen, war es möglich, die
technisch-materialistische Richtung auf ihrem eigenen Gebiete anzu-
greifen, durch den Nachweis, daß die Schlußfolgerungen, zu denen sie
nötigt, Schlag auf Schlag den Tatsachen widersprechen. In den fol-
genden Ausführungen soll nun versucht werden, die Entwicklung der
prähistorischen nordischen Kunst bis zum Eintritt des Mittelalters in
kurzen Zügen darzulegen und damit eine Grundlage zu schaffen für
das noch immer nicht geschriebene erste Kapitel der nordeuropäischen
Kunstgeschichte.
Bei der Erklärung des geradlinigen neolithischen Ornaments wurde
schon kurz auf die Entwicklungstendenzen dieser frühesten Kunst hin-
gewiesen. Grundlage für das Ornament der Steinzeit war ein hori-
zontal-vertikales System von geraden Linien als der symbolische Aus-
druck der in den wagrechten und senkrechten Querschnitten beschlos-
senen Struktur des Gefäßes. Dabei wurden bestimmte Stellen bevor-
zugt: der Rand, der Halsansatz, die größte Ausweitung des Bauches
(Abbildung 1). Es sind Stellen, die, weil von hervorragend tektonischer
Bedeutung, den größten Anreiz zu dieser rein formalen Deutung
auslösten. Das Wachstum ist nun in erster Linie ein quantitatives:
eine Ausbreitung des Kristallisationsprozesses auch über Teile, wo ein
solcher starker Anreiz nicht durch die Form des Trägers gegeben war.
Ein Beispiel liefern unter anderem die ungegliederten Megalithschüsseln
mit schräg aufsteigender Wandung, die nun trotzdem in Zonen ein-
geteilt und ganz mit senkrechten Rippen und wagrechten Strichen
überdeckt wird. Das geradlinige Ornament hält sich nicht mehr krampf-
haft an bestimmten, stark dazu einladenden Stellen, es wird unab-
hängiger vom Träger — dient nicht mehr, sondern begleitet (Ab-
bildung 2). Diese Emanzipation gegenüber dem Träger führt dann zu
der dritten Phase der geradlinigen Ornamentik: diese hat ein eigenes
Leben unabhängig von ihren ursprünglichen Daseins- und Entstehungs-
424 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
bedingungen, die in der Struktur des Trägers begründet lagen. Da
die bekannten norddeutschen neoiithischen Gruppen dieser dritten Ent-
wicklungsphase, die schon hier und da mit dem ersten Auftreten der
Metalle zusammenfällt, angehören, möchte ich hier etwas eingehender
die Wachstumszeichen dieses letzten Stadiums erörtern.
Vor allen Dingen wird die tektonische Aufgabe, die das Orna-
ment zu erfüllen hat, vager oder verschwindet ganz. Es knüpft an
Stellen an, denen nur eine untergeordnete tektonische Bedeutung zu-
kommt — z. B. Ansatzstellen der Henkel — , vernachlässigt die Stellen
primärer tektonischer Bedeutsamkeit, läuft über diese hinweg. Die
Ansatzsfellen des Ornaments selber werden unbestimmter — es ent-
stehen schwebende Muster. Die regelmäßige Reihung von Ele-
menten, welche den gleichmäßigen Verlauf in den wagrechten Zonen
des Gefäßes begleiten, wird unterbrochen, Reihen sekundärer Ordnung
werden eingeschoben. Die vertikalen und horizontalen Liniensysteme
vermischen sich, d. h. die deutliche Sprache der Rand- und Wandlinien
geht infolge der wiederholten Unterljrechung durch andersgerichtete
Elemente verloren. Das sind die bezeichnendsten Merkmale des Orna-
ments mit Beziehung zum Träger. Bei der morphologischen Betrach-
tung der Ornamentform selber tritt der eigentümliche Charakter der
dritten Phase noch schärfer hervor. Da ist besonders auf das Auf-
treten der Diagonale hinzuweisen, die einen größeren Teil der Wand-
fläche durchläuft, d. h. eine Aufhebung des horizontal-vertikalen » Rippe-
Rückgraf Systems s worauf der Ursprung des geradlinigen Ornaments,
seiner struktiv-symbolischen Aufgabe gemäß, beruhte. Ebenso bezeich-
nend ist das Verlassen des Linearornaments überhaupt durch die Bil-
dung gemusterter Flächen — schraffierter Dreiecke z. B. — , wobei die
Linie ihre Bedeutung als solche und damit ihren tektonischen Wert
einbüßt: die Linie wird Füllung. In engem Zusammenhang mit
diesem Auftreten aneinanderstoßender gefüllter Flächen steht die nun
dann und wann anzutreffende scheinbare oder wirkliche Nachbil-
dung von Flechtmustern. Die Wand wird wie durch ein Geflecht
verhüllt, der äußerste Gegensatz zum ursprünglichen Skelett oder Ge-
rüst der struktiv-symbolischen Linien wird erreicht. Äußerst bezeich-
nend ist weiter der nun oft auftretende Umschlag von Grund in
Muster, Muster in Grund, und im Zusammenhang damit, das
Erscheinen negativer Muster. Ein solches Muster finden wir
z. B., wenn zwei Reihen schraffierter Dreiecke einen Teil der nackten
Wand einschließen, der nun, je nachdem die gegenüberliegenden Drei-
ecke sich mit den Spitzen berühren oder wechselnd angeordnet sind,
als ein Rauten- oder ein Zickzackmuster erscheint; es kann aber das
fragliche Muster auch einfach aus dem gleichmäßig gemusterten Grund
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 425
ausgespart werden. Die Wand, ursprünglich Trägerin des Musters,
wird also selber zum Muster, während umgekehrt die gemusterte Fläche
als Grund oder als Trägerin wirkt (Abbildung 3). Andere charakte-
ristische Erscheinungen sind: die Bildung von in sich selbst zusammen-
hängenden und damit von der Wand unabhängigen Bändern, deren
selbständiges Wesen oft noch durch punktierte Trennungslinien her-
vorgehoben wird. Dabei kann es zur bewußten Nachbildung fremder
Gegenstände, Bänder mit Troddeln usw. kommen. Endlich, um nur
das Wichtigste zu erwähnen, ist das Auftreten von komplizierten, in
sich zusammenhängenden Ornamentsystemen zu beachten und von
reicher gegliederten, selbständigen Motiven, die nun oft an das Ske-
lett organischer Lebensformen anklingen: Tannenzweige, Farn-
blätter, Fischgräten usw.
Kurz zusammengefaßt, bedeuten diese Merkmale einmal: die Ent-
bindung des geometrischen Ornaments von seiner ersten Pflicht,
den Bau des Trägers — des Gefäßes — zu veranschaulichen, d. h.
das Freiwerden des Ornaments von seinem Träger, des
Musters von seinem Grund. Und zweitens: die Entwicklung der
kristallinischen Form zu Gebilden, die schließlich die ornamentale
Bindung nicht mehr vertragen. Das geradlinige Ornament ist
nicht mehr dienend, nicht mehr begleitend, sondern
herrschend. Es bleibt aber bis zuletzt geradlinig, kristalli-
nisch.
Es ist klar, daß mit der Entfaltung dieser dritten Phase ein Krisis-
zustand geschaffen wurde, der die gleichmäßig fortschreitende Ent-
wicklung, die wir seit der horizontalen Randlinie der Muschelhaufen-
gefäße verfolgen konnten, nicht mehr gestattet. Das Ornament verliert
buchstäblich den Grund unter den Füßen, es macht diesen Grund
selber zum Ornament oder versteckt ihn unter eine geschlossene Hülle
oder auch es breitet sich in willkürlichen Motiven rücksichtslos darüber
aus. Es ist nötig, dies einzusehen, um die völlige Umkehr in der Ent-
wicklung der nordischen Kunst, die mit dem Erscheinen der Metalle
einsetzt, verstehen zu können. Es ist in der Tat möglich, scharf
zwischen der Form der Steinzeit und der der Bronzezeit zu unter-
scheiden. Die Kunst der Bronzezeit setzt sich ein ganz neues Ziel;
sie entsteht nicht mehr durch Evolution, sondern durch das revolutio-
näre Bekennen zu einem völlig neuen Grundsatz.
Wer aber die Kunstform als den sinnfälligen Ausdruck des Geistes
begreift, wird darauf gefaßt sein, daß diese radikale Neuorientierung
ebenso auf anderen Gebieten ihren Ausdruck gefunden hat, z. B. in der
Auffassung vom Verhältnis zwischen Körper und Seele: die Leichen-
bestattung wird allmählich ersetzt durch die Leichenverbren-
426 F. ADAMA VAN SCHELTEMA.
nung. über den engen inneren Zusammenhang dieser beiden Vor-
gänge später einige Worte.
Das neue Ziel, das die Kunst des Bronzealters sich setzt, tritt
schon bei einer Betrachtung der Keramik selber in die Erscheinung,
obwohl diese nicht mehr die Trägerin der neuen Form ist und inso-
fern auch unser Interesse hier nur nebenbei beanspruchen darf. Die
verschiedenen Gruppen der Bronzezeitkeramik gehen außerordentlich
auseinander, sie zeigen aber alle einen gleichen Unterschied der Stein-
zeit gegenüber dadurch, daß das geradlinige Ornament, das uns im
Laufe der dritten Phase reif schien, sich abzutrennen, nun in der Tat
abgestoßen oder doch höchstens nur geduldet wird. Dagegen greift
man wieder ganz allgemein auf das primitive Tupfenornament zurück,
schneidet und stempelt ein geometrisches Ornament tief ein (Zellen-
schnitt in Frankreich, »geschnitzte« Gefäße Süddeutschlands), arbeitet
gerne mit plastischen Verzierungen, Riefen oder Buckeln, die zu spitzen
Hörnern auswachsen können (Lausitzer Buckelkeramik). Noch bezeich-
nender ist, daß man in einigen keramischen Gruppen, besonders in
Süd- und Mitteleuropa, nicht mehr von der natürlich gegebenen Zweck-
form ausgeht und diese nachträglich mit einem eingeritzten oder auf-
gemalten Ornament verziert, sondern daß man die Form selber stili-
siert und dabei vielfach auf jede weitere Verzierung verzichtet. Der
Träger selber unterzieht sich einer Formveränderung, das Gefäß wird
von Grund auf neu aufgebaut, nicht nach den natürlichen Anforde-
rungen, sondern nach einem künstlerischen Grundsatz, der alle Teile
beherrscht, sie nach einem vorgefaßten Plan scharf einander gegen-
überstellt und durch kantige Profile trennt, die oft durch das Auf-
einanderstoßen von konkaven und konvexen Teilen entstehen — das
natürlich-keramische, weiche, runde Profil geht verloren. Man hat in
diesen Formen, die schließlich in die bekannten schönen Typen der
klassischen Keramik münden, den Einfluß von Metallgefäßen sehen
wollen. Das ist zum Teil sicherlich unrichtig, denn eine solche scharfe
Profilierung und künstlerische Unterscheidung der Teile finden wir
schon in der frühesten Metallzeit Spaniens (El Argar), wo von Metall-
gefäßen noch keine Rede sein kann. Unter dem Gesichtspunkt einer
solchen Stilisierung der Zweckform ist weiter die Hypertrophie ein-
zelner Teile zu betrachten: Henkel mit flügelartigen Auswüchsen {Ansa
liinata der Terramaren, Böhmen); auch die soeben erwähnte Buckel-
keramik könnte in diesem Zusammenhang genannt werden. Eine be-
sondere Form dieses Verlassens der natürlichen Gestalt und ein Über-
greifen in das Gebiet der bildenden Kunst bedeuten schließlich die
Hausurnen der späteren Bronzezeit und die anthropomorphen Urnen,
die im Süden (Troja) gleichzeitig mit dem Erscheinen der Metalle auf-
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 427
treten, im Norden mindestens 1000 Jahre später ihren Eingang halten
(westpreußische Oesichtsurnen).
Von mehr unmittelbarer Bedeutung ist für uns der Umschwung
im Norden. Hier, wo sich in der Steinzeit die höchste Blüte der
geradlinigen Ornamentik vollzog, wird nun jede Verzierung abgeworfen;
die norddeutsch-skandinavischen Tongefäße der Bronzezeit sind orna-
mentlos und gehören zum Nüchternsten, was man sich auf diesem
Gebiet vorstellen kann. Desgleichen entbehrt die früh-bronzezeitliche
Keramik im östlichen Mitteleuropa (Aunjetitzer Keramik) jeder Ver-
zierung.
In all diesen Fällen, vom völligen Verschwinden des Ornaments
in der nordeuropäischen Keramik bis zu der phantastischen Umgestal-
tung der Oefäßform im Süden, sehen wir also, daß das ästhetische
Interesse sich von der natürlichen Grundform abwendet; von einer
erläuternden Illustration derselben, der das neolithische Ornament einst
sein Entstehen zu verdanken hatte, kann nicht mehr gesprochen werden.
Damit sind wir in bezug auf das jetzt zu behandelnde Ornament der
Bronzezeit schon auf eines gefaßt: dieses kann nicht mehr in erster
Linie darauf gerichtet sein, die in dem zu schmückenden Gegenstand
wirkenden Kräfte zu unterstreichen. Eine negative Folge davon ist
schon diese, daß das Ornament nicht mehr geradlinig zu sein
braucht.
Mit der Abtrennung des Ornaments von der Keramik hat unsere
weitere Untersuchung sich ausschließlich auf die Metallgegenstände
der Bronzezeit zu richten, auf die Verzierung von Waffen und Werk-
zeugen, Schmucksachen und Toilettegeräten. Warum das gleiche Orna-
ment, dem wir hier begegnen, nicht auf der Wand der Tongefäße
angebracht wurde, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Der Hauptgrund
scheint mir der, daß das äußerst feine Linienspiel, das in die blank
polierte Bronze eingeschlagen wurde, in dem Ton nicht zur Geltung
gelangen konnte, und nur diese Metallgegenstände, die schon durch
das kostbare Material einen hohen Wert darstellten und an und für
sich Schmuckwert besaßen, der neuen Verzierung würdig befunden
wurden. Außerdem war es wohl eine Unmöglichkeit, das in Frage
stehende feine Ornament in die Gefäßwand zu ritzen. Im Gegensatz
zum gegossenen homogenen Metall war der Ton, wie fein auch ge-
schwemmt, ein grobes Material; das Ornament mußte schnell, in noch
weichem Zustande — al fresco! — eingegraben werden, und dabei
entstanden auf beiden Seiten der Schnitte Grate, die das zarte Linien-
spiel verwischt und vernichtet hätten. Die Wahl dieses neuen Grundes,
des Metalls, und das Verlassen der Gefäßwand erinnert einigermaßen
an den späteren Übergang von Wand- zur Tafelmalerei. Die erstaun-
428 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
lieh feinen und präzisen Formen der neuen Kunst waren nur auf dem
blanken Metall möglich, und was vorher in nur wenigen Stunden
fertig sein l<onnte und mußte, erforderte jetzt vielleicht ebensoviele
Monate.
Im Gegensatz zur jüngeren Steinzeit, deren aufeinanderfolgende
Abschnitte nur in großen Umrissen mit Sicherheit festgestellt werden
können, sind die Entwicklungsphasen der Bronzeperiode durch die
grundlegenden Arbeiten Oskar Montelius' und Sophus Müllers mit
ziemlich großer Genauigkeit bekannt. Montelius' Einteilung in 6,
später 5, Abschnitte ist von den meisten Forschern als prinzipiell richtig
anerkannt und übernommen worden. Sophus Müller will für Däne-
mark die Abschnitte I und VI abtrennen (Splieth betont dagegen das
Vorhandensein von I für Schleswig')); Beltz faßt für Mecklenburg die
Abschnitte II — III und IV — V zusammen ^). Für unsere Zwecke scheint
es zu genügen, vorerst einmal eine frühe und eine späte Blüteperiode
der Bronzezeitkunst zu unterscheiden (Montelius II und V) und die
dazwischen liegenden Stufen als eine Zeit der Vorbereitung auf den
neuen Stil, der sich mit V durchsetzt, aufzufassen.
Und jetzt die Form. Ein flüchtiger Blick auf die zahllosen Gegen-
stände, welche die reiche Bronzezeit Skandinaviens und Norddeutsch-
lands repräsentieren, läßt den Grundcharakter der gesamten bronze-
zeitlichen Ornamentik erkennen: dieser ist genau so eigensinnig wie
der der Steinzeit; hatten wir aber dort ein hartnäckiges Festhallen an
der geraden Linie, so erscheint die Kunst der Bronzezeit als eine durch-
gehende Verherrlichung der gebogenen Linie. Wohl kann immer
noch an Stellen, wo ein Abschluß, eine Umrahmung, ein Rand er-
forderlich ist, ein geradliniges Muster den strengeren Dienst versehen,
aber dort, wo das Ornament den Platz findet, sich frei auszubreiten,
entsteht sofort ein üppiges Spiel mit gebogenen Linien: Kreisen,
Spiralen, Wellen usw. Es ist ein endloses Kreisen und Winden, Ein-
und Ausrollen, Fließen und Ranken, in schroffem Gegensatz zum ab-
gehackt Eckigen, mathematisch Berechneten der kristallinischen Form
der Neolithik.
Da, wie gesagt, im Bereich der nordischen Kunst selber nur die
') W. Splieth, Inventar der Bronzealterfunde aus Schleswig-Holstein. Kie! 1900.
'0 Rob. Behz, Neue Funde aus der Bronzezeit in Mecklenburg. Jahrb. d. Ver.
f. Meckl. Gesch. 1889. Ich vermeide die Bezeichnung »Periode«, welche hier für
die gesamte Bronzezeit — bzw. Steinzeit, Eisenzeit — vorbehalten bleiben soll; aus
diesen drei Perioden baut die »Epoche« des prähistorischen nordischen Altertums
sich auf. Stilkritisch sind innerhalb der einzelnen Perioden -Phasen« zu unter-
scheiden; die Stilphasen des Bronzealters decken sich aber nur zum Teil mit Mon-
telius' 6 bzw. 5 Abschnitten.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT, 429
negativen Vorbedingungen zum Entstehen dieser grundsätzlich neuen
Formenweit gegeben sind, liegt es auf der Hand, daß man zu ihrer
Eri<lärung gern geneigt ist, eine Einwirl<ung von auswärts heranzu-
ziehen. Ich darf hier nicht zu lange bei dieser wichtigen Frage ver-
weilen, möchte aber doch kurz zwei Möglichkeiten fremder Beeinflus-
sung erörtern : durch das Spiralornament der mitteleuropäischen Stein-
zeit und durch die griechische Bronzezeit (Mykene).
Am wenigsten annehmbar scheint mir eine Einwirkung der mittel-
europäischen Spiralornamentik. Wir haben dieses Ornament oben
kennen gelernt als eine Bastardform der streng geometrischen ornamen-
talen Kunst des Nordens und eines naturalistischen Rankenwerks aus
der bildenden Kunst des Südens. Wir haben aber auch gesehen, wie
der Norden auf diese Bastardform reagierte: sie wird an der nordischen
Peripherie abgebaut, verdaut, wird dann wieder zu einem neuen gerad-
linigen Ornament aufgebaut (Hinkelstein- und Stichbandgruppen), wird
verdrängt durch neue schnurkeramische Wellen aus dem Norden. Außer-
dem ist zu beachten, daß das Spiralornament der nordischen Bronze-
zeit gerade nicht an den Tongefäßen, sondern ausschließlich auf
Metallgegenständen erscheint und daß es eng verknüpft mit einem
Motiv auftritt, das die Bandkeramik nicht oder nahezu nicht kannte:
dem Kreis beziehungsweise den konzentrischen Kreisen mit
Zentralpunkt.
Ernsthaft in Frage kommt eine Beziehung zur Spiralornamentik
der mykenischen Kultur, um so mehr, weil wir immer auf eine Aus-
strahlung von Formen des höher entwickelten Südens gefaßt sein
müssen, und die Kenntnis des neuen Materials fraglos dem Süden ent-
nommen wurde. Was aber davor warnt, den Einfluß aus dem Süd-
osten zu überschätzen, ist der Umstand, daß die Entwicklung und
Verbreitung bestimmter Gerättypen der Montelius-!-Stufe auf eine erste
Verbindung nicht mit dem Südosten, sondern mit dem Südwesten, der
Iberischen Halbinsel, hinweisen. Das Spiralornament stammt aber nicht
aus diesem Gebiete, denn gerade dort (El Argar) fehlt es. Von Be-
deutung ist weiter, daß Einfuhr mykenisch-griechischer Gegenstände
im Norden nicht nachzuweisen ist; erst in der zweiten Hälfte der
Bronzezeit setzt eine ziemlich starke Einfuhr aus dem Süden ein, nicht
aus Griechenland, sondern aus Italien, und wir sehen dann, wie alt-
italische Gegenstände ihren Weg quer durch Europa bis nach Skan-
dinavien wählen und ihr eigentümliches Ornament dort verarbeitet wird.
Wir haben es dann, im späten nordischen Bronzealter, mit- dieser
typischen Form der Ausstrahlung zu tun, die wir schon bei der Be-
handlung der mitteleuropäischen Spiralornamentik kennen gelernt haben
und der wir später, in der keltischen und germanischen Völkerwande-
430 F. ADAMA VAN SCHELTEMA.
rungszeit, wieder begegnen werden: die fremden Formen werden auf
mitteleuropäischem Gebiet, in der Ausgleichszone, aufgelöst, abgebaut,
und erst dann im Norden assimiliert und umgebaut zu Formen, deren
fremder Ursprung fast nicht wiederzuerkennen ist. Von diesem cha-
rakteristischen Ausstrahlungsvorgang, diesem sfätigen Anderswerden,
das durch die Formel a-ab-b wiederzugeben wäre, ist nun aber in
der frühen Bronzezeit unter dem Einfluß der mykenischen Kunst
noch nichts zu entdecken. Das Spiralornament erscheint im Norden
in fertiger Gestalt, dem mykenischen Ornament vergleichbar, jedoch
wesentlich feiner, reicher, zielbewußter als auf dem zwischenliegenden
zentraleuropäischen Gebiet (Süddeutschland, Ungarn). Aber auch wenn
eine entfernte Einwirkung fremder Einflüsse vorhanden sein sollte,
so setzt doch das plötzliche und allgemeine Auftreten der Spiral-
Kreismotive, das entschiedene Brechen mit der neolithischen Form,
der dauernde Charakter und vor allem die Entwicklung dieses Orna-
ments zu einem Reichtum, der in keinem anderen Lande erreicht wurde,
eine Bereitschaft für die neue Form voraus, die allein aus inneren
Gründen erklärt werden kann.
Die technischen Erklärungen sind auch hier von der Hand zu
weisen. Es ist klar, daß der biegsame, geschmeidige Charakter der
Bronze einer rundlichen Formgestaltung entgegenkam und sogar zum
spiraligen Aufrollen des Bronzedrahts einladen mußte. Aber, schon
die metallose mitteleuropäische Steinzeit verwendete die Spirale, und
umgekehrt haben ausgedehnte Gebiete, Westeuropa, Rußland-Sibirien,
sogar das kupferspendende Zypern, ein eigentliches Spiralornament zum
Schmuck von Metallgegenständen nicht gekannt; auch in der frühesten
Bronzezeit (Montelius 1), welche stilistisch der Steinzeit näher steht,
fehlt es. Es ist dabei zu beachten, daß wohl unterschieden werden
muß zwischen der rein technischen Form der drahtgewundenen Spirale
— z. B. als Abschluß von Nadeln — und dem entsprechenden frei
eingeschlagenen Linear- oder Flächenornament; die Hallstattkultur, welche
die erste vielfach verwendet, kennt die Spirale als Flächenornament
nicht. — Die durch nichts begründete Deutung des Spiralornaments
aus der Nachbildung von Stickereien glaube ich hier übergehen zu
können.
Der Name »Spiralornamentik«, unter dem gewöhnlich die Zier-
formen der nordischen Bronzezeit zusammengefaßt werden, ist irre-
führend, denn die Spirale beschränkt sich auf die erste Blüteperiode.
Bleibend dagegen und von Anfang an mindestens so aligemein ist ein
anderes Motiv, der Kreis oder die konzentrischen Kreise, und obwohl
es infolge ungenügender Datierung der Gegenstände des früheren
Bronzealters noch nicht möglich ist, den historischen und damit den
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 43 1
genetischen Zusammenhang zwischen Kreis und Spirale klarzulegen,
scheint es doch, daß es der Kreis und nicht die Spirale ist, der als
die Mutterform der gesamten Ornamentik der Bronzezeit
zu gelten habe (Abbildung 4). In einem Fall ist es möglich, die histo-
rische Priorität des Kreismotivs nachzuweisen, nämlich bei den Schwer-
tern der Frühzeit. Als Vorbild des frühen nordischen Bronzeschwertes
diente das mitteleuropäische Schwert mit kantigem, durch Nieten mit
dem Blatt verbundenem Griff. Bei den süddeutsch-ungarischen Formen
knüpft nun an diesen Kranz von Nagelköpfen um den halbrunden Ab-
schluß gegen das Blatt ein eigenartiges Stückchen Ornamentgeschichte
an: Zuerst werden diese Köpfe selber als Ornament empfunden und
durch Kreise umrahmt, dann treten unabhängig von den Nagelköpfen
konzentrische Kreise auf, und schließlich scheiden diese Köpfe aus
dem Ornament aus, so daß ein reines Ornament aus Kreisen übrig
bleibt. Bei den nordischen Schwertern mit rundem Griff, welche auf
diese südlichen Formen zurückgehen und damit später sind, können
sich nun diese konzentrischen Kreise in ein Ornament aus verbundenen
Spiralen verwandeln, etwas, was in Ungarn, Bayern nur höchst selten
vorzukommen scheint. Dieser Fall ist lehrreich, weil wir durch einen
glücklichen Zufall wenigstens hier die Spirale mit Sicherheit als eine
spätere Entwicklungsform des Kreises kennen lernen.
Dazu kommt folgendes: Sehr allgemein ist im Norden eine Über-
gangsform zwischen konzentrischen Kreisen und laufender Spirale, die
sich aus der Verbindung der Kreise durch eine Tangente ergibt, so
daß scheinbar eine laufende, sich ein- und ausrollende Spirale entsteht.
Betrachten wir nun aber die echten laufenden Spiralen der frühen nor-
dischen Bronzezeit, so zeigt sich, daß diese selber auf den ersten An-
blick den Eindruck von konzentrischen Kreisen hervorrufen, die isoliert
nebeneinander stehen und durch eine, oft kaum bemerkbare, tangierende
Linie verbunden werden. Es kommt offenbar nicht auf die über-
zeugende Wiedergabe des Ein- und Ausrollens und des Weiterrankens
zur nächstfolgenden Spirale an, sondern die Windungen werden so
eng zusammengelegt, daß das Ganze aussieht wie eine Reihe gefüllter
Kreise (Abbildung 5). Sehen wir nun weiter, daß im Gegensatz zum
Spiralornament, das später verschwindet, der Kreis sich als eine kon-
stante Grundform durch alle Entwicklungsphasen der Bronzezeit hält,
so gelangen wir zu der Überzeugung, daß das Kreismotiv, als die ein-
fachste Gestalt der gebogenen Linie — ohne Krümmungsänderung — ,
die Stammform der gesamten stark differenzierten bronzezeitlichen Or-
namentik darstellt und daß diese immer wieder über die Gegenstände
ausgestreuten Kreise oder konzentrischen Kreise mit Zenfralpunkt die
Zellen sind, aus denen zunächst die Spirale entstand und später die
432 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
Wellen- und Schlangenlinien hervorwuchsen. Gerade in dem Vor-
handensein dieser Zellen sehe ich den Beweis für den bodenständigen,
organischen Charakter der Ornamentik der nordischen Bronzezeit.
Hiermit nähern wir uns dem prinzipiellen Unterschied zur neo-
lithischen Kunst. Die Grundform der Bronzezeit ist der Kreis,
wie die der Steinzeit die gerade Linie. Im Gegensatz zu dieser
ist der Kreis ein in sich selbst geschlossenes Individuum, dessen Teile
sich alle auf einen zentralen Kern, den durchweg bei diesen Kreisen
oder konzentrischen Kreisen angedeuteten Mittelpunkt, beziehen. War
die neolithische gerade Linie nur auf dem Träger und durch ihn denk-
bar, so stellt sich das Grundelement der bronzezeitlichen Kunst als
einen selbständigen Mikrokosmos dar, eine Form, deren ständige Rich-
tungsänderung die ständige Einwirkung einer Kraft voraussetzt, deren
Sitz sich nun aber im eigenen Busen befindet. Hiermit ist die grund-
sätzliche Selbständigkeit — und nicht die zunehmende Befreiung wie
in der neolithischen Kunst — des Bronzeornaments festgestellt. Zwei
Individuen, der Träger und das Ornament, treten nebeneinander, es
kann in Zukunft nur die Rede sein von einem freiwilligen Abkommen,
einem modus vivendi zwischen beiden, in sich selbst ruhenden Per-
sönlichkeiten. Schien das neolithische Ornament aus dem Träger selber
hervorgegangen, so läßt sich das Ornament der Bronzezeit wie von
außen herab auf die Oberfläche des Trägers nieder. War das neo-
lithische Ornament dem tektonischen Gerüst des Trägers vergleich-
bar, seinem Skelett, das durch die Haut hindurch sichtbar wurde, so
ist hier eher an eine Tätowierung der Haut zu denken. Und weiter
lehrt uns die Gegenüberstellung der beiden Grundformen noch eines:
war das neolithische Ornament kristallinisch zu nennen, so zeigt sich,
wenn wir die Form der Bronzezeit »c6 ovo« verfolgen, sofort der
völlig andere, der organische Charakter. Diese Kreise mit zentralem
Kern sind die Keimzellen, der Samen, die Eier, aus denen das orga-
nische Leben sich entwickelt. Die Entwicklung der Kunst in
der Bronzezeit ist kein Prozeß der Kristallisation, son-
dern des organischen Wachstums.
Als das erste Produkt dieses Wachstums tritt uns die ein- und
ausrollende Spirale entgegen, die sich zum Kreis verhält wie das Zick-
zack zur geraden Linie. Nach der Behandlung des Spiralornaments
der Bandkeramik, das sich als die geometrische Übersetzung natürlich-
organischer Formen herausstellte, brauchen wir nicht lange bei dem
organischen Charakter der Spirale zu verweilen. Als das Bild einer
beim Fortschreiten gleichmäßig wachsenden, beziehungsweise abneh-
menden Spannung kann die Spirale ohne weiteres die graphische Dar-
stellung des Wachstumsprozesses heißen, und ist denn auch schon
I
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 433
früher als solche betrachtet worden '). Im Pflanzenreich ist die spiralige
Krümmung wiederholt anzutreffen, sei es in konkreter Gestalt an Ran-
ken oder den noch nicht ganz entfalteten Blumen- und Blätterdolden,
sei es latent als die imaginäre Linie, welche die Ansatzstellen der
Blätter, Knospen, Samenkerne usw. verbindet. Von unmittelbarer Be-
deutung ist hier die Tatsache, daß denn auch im naturalistischen
Pflanzenornament, von der griechischen Ranke und dem korinthischen
Kapitell bis zu dem von den skandinavischen Bauern in Holz ge-
schnitzten Blattwerk, die Spirale immer wieder als Leitmotiv zum Vor-
schein kommt, und höchst bezeichnend ist es, daß es umgekehrt in
der geometrischen Ornamentik der Bronzezeit einzelne Fälle gibt, wo
die laufende Spirale in eine Pflanzenranke umschlägt (Ungarn, vgl.
J. Hampel, Ungarische Bronzezeit, Taf. LXXXV, 1).
In der herrschenden Rolle, die das Spiralornament in der frühen
nordischen Bronzezeit spielt, sehe ich den sicheren Beweis, daß wir
es hier in der Tat mit einem vegetabilischen Ornament zu tun haben.
Nicht mit einem »Pflanzenornament« — es sind keine Pflanzen, die
nachgebildet werden, so wenig wie es Kristalle waren, welche die
neolithische Kunst nachbildete und, es sei gleich hinzugefügt, so wenig
wie es Tiere sind, die in der germanischen Eisenzeit dargestellt werden.
Keine bildende Kunst also; es bleibt bei der rein geometrischen Dar-
stellung abstrakter Kräfte. Nur ist das in geometrische Formeln ge-
faßte Leben ein anderes geworden, es ist organisch, pflanzlich ge-
worden. Das vegetabile Leben erscheint in der Anlage, als mathe-
matische Abstraktion, nicht in der Wirklichkeit, als naturalistisches
Bild. Der alte Gegensatz zu den bildkünstlerischen Tendenzen des
Südens ist der gleiche geblieben.
Ein erträgliches Zusammenleben dieser selbständigen Individuen
— Kreise, Spiralen — mit dem Träger, der doch seine Rechte geltend
machen mußte, konnte auf zweierlei Weise erzielt werden. Das Ein-
fachste war die Reihung dieser Spiralkreise. Sie werden wie Soldaten
in Reih' und Glied aufgestellt und richten sich nacheinander auf Befehl
des Trägers, der dabei aber nur sich selber im Auge hat. So erscheinen
an den Griffen der schon erwähnten Schwerter vielfach drei Reihen
konzentrischer Kreise, die dann den Umlauf des runden Griffes in
ähnlicher Weise begleiten, wie die neolithischen Striche den des Ton-
gefäßes. Den gleichen Zweck erfüllen die in kreisförmigen Bahnen
eingereihten Spiralen auf den besonders schönen Schmuckplalten der
') Moriz Carriere, Ästhetik, Leipzig 1859, Tl. I, S. 260 ff. »Als die Linie des
fortscfircitendeii Lebens nun betrachte ich die Spirale«; usw. Aber schon Goethe
schrieb im Jahre 1831 über »die Spiraltendenz, wodurch die Pflanze ihren Lebens-
gang vollführt«. (Über die Spiraltendenz der Vegetation.)
Zcilschr. f. AsIhcUk u. allg. Kunstwissenscluft. XV. 28
434 *'• ADAMA VAN SCHELTEMA.
dänischen Frauengräber (Abbildung 5). Aber zugleich zeigt sich hier
eine ganz andere, freiere Form des Zusammenlebens: diese runden,
in der Mitte mit einem spitzen Knauf versehenen Bronzepiatten sind
selber eine Verherrlichung des Kreises. Bis zu fünfzig äußerst fein
eingepunzte Kreise begleiten den Rand, teilen die runde Fläche in
Zonen, in die die soeben erwähnten Spiralen eingeordnet werden,
kreisen in immer kleineren Bahnen um die zentrale Achse. Der Kern,
die Seele des neuen ornamentalen Individuums, fällt also zusammen
mit dem des Trägers, beider Individualitäten führen ein gleiches Leben.
Ein anderes eigentümliches Beispiel einer ähnlichen freien Harmonie
zwischen Ornament und Träger sollte für die spätere Entwicklung von
besonderer Bedeutung werden. Es kommt nämlich häufig vor, daß
sich auf den Rand einer runden Fläche — Schwertknäufe, Schmuck-
platten — kleine Halbkreise niederlassen, die recht eigentlich als eine
Übersetzung der steinzeitlichen Dreieckreihen in die Formsprache der
Bronzezeit aufzufassen sind. Diese kleinen Rundbogen, die sich zu-
nächst mit ihren Fußpunkten auf den Rand stützen, wachsen dann mit
den Seiten zusammen, und zugleich verlassen ihre Fußpunkte den
Rand — statt einer Reihe gesonderter Stücke bildet sich ein Stern, ein
einziger, in der Mitte der runden Grundfläche zentralisierter, nach außen
differenzierter Organismus. Und schon fangen die Strahlenspitzen
— die früher auf dem Rand liegenden Fußpunkte der Bogen — an
zu treiben: dort bilden sich kleine spiralförmige Häkchen. Damit be-
finden wir uns aber schon im Anfang des späteren Entwicklungs-
prozesses.
Der spätere Abschnitt der frühen Bronzezeit (Montelius III) scheint
keine neue Form hervorgebracht zu haben; er macht vielmehr den
Eindruck eines eigentümlichen Stillstandes in der Entwicklung, einer
Ruhepause nach der ersten Blüteperiode. Im früheren Abschnitt der
späteren Bronzezeit (Montelius IV) zeigt sich dann aber eine begin-
nende Unruhe, ein Suchen nach neuen Formen. Sophus Müller, der
wohl von allen prähistorischen Forschern das feinste Empfinden für
die autonome ästhetische Bedeutung der vorhistorischen Kunstformen
zeigt, macht schon darauf aufmerksam, daß das Ornament sich jetzt
nicht mehr an den Kanten und Trennungslinien hält, sondern sich
über die Fläche selber verbreitet. Wichtig ist der Übergang zum Band-
ornament — aus parallelen Linien — , ein Prozeß, den wir gleich-
falls in der späten Steinzeit feststellen konnten: die abstrakt-mathe-
matische Linie wird durch eine gegenständliche Form ersetzt. Damit
war die Vorbedingung zum Entstehen der neuen Formenwelt der
zweiten Blüteperiode (Montelius V) geschaffen.
Der Übergang zu den Ornamentformen des späteren Bronzealters
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 435
zeigt eine auffällige Übereinstimmung mit gewissen Zeichen des
organisciien, im besonderen des vegetabilischen Wachstumsprozesses.
Wir lernten die Mutterform des Bronzezeitornaments, den in sich selbst
geschlossenen Kreis, als ein selbständiges Wesen kennen, als eine Zelle,
die nicht aus dem Grunde (dem Träger) entstanden gedacht werden
konnte, sondern sich von außen auf oder in diesen Grund niederließ.
Dieser autonome, in sich selbst beschlossene Charakter ging, wie
gesagt, mit dem Spiralornament der früheren Bronzezeit nicht verloren;
die Bildung der Spirale erscheint hier als innerer Vorgang der Zelle.
Was dann aber nach der Stockung zwischen der früheren und späteren
Blüteperiode vor sich geht, ist etwas ganz Neues. Kurz gesagt: die
Zelle wird verlassen, die Wand gesprengt, und statt der isolierten Ele-
mente — spiralgefüllten Kreise, durch eine dünne Linie verbunden —
breitet sich ein stätig fortlaufendes Bandornamenf aus, das die
scharfe Trennung in einzelne Stücke kaum mehr gestattet. Statt des
an Ort und Stelle In- oder Umsichselbstdrehens tritt ein unaufhalt-
sames Fortbewegen und Weiterfließen, statt der inneren Zellentwick-
lung ein Weiterranken und Umsichgreifen und Verzweigen dieser Bän-
der — nicht Linien — , die überall Raum suchen, um sich auszudehnen,
und schließlich den ganzen Boden überwuchern. Was hier geschieht,
erst das innere Wachstum der Zelle und darauf, als neuer Prozeß,
das Übersichselbsthinausgehen, das immer weiter Wurzeln in oder
Kriechen über den >Grund«, zeigt eine so merkwürdige Analogie mit
dem vegetabilen Wachstum, daß ich nicht unterlassen konnte, hierauf,
sei es auch vorläufig nur vergleichsweise, aufmerksam zu machen.
Kehren wir zu dem oben erwähnten zentralisierten, sternförmigen
Ornament zurück, dann bemerken wir, daß die kleinen Ranken, welche
aus den Spitzen entsprossen, jetzt selber zu Bändern werden, die nach
außen umbiegen und sich wieder vereinigen, so daß ein blasenförmiges,
pilz- oder quallenähnliches Muster entsteht (Abbildung 6, Mitte). Dort,
wo, wie bei den norddeutsch-skandinavischen Hängegefäßen oder
glockenförmig gewölbten Oürtelplatten, breite Streifen gefüllt werden
sollen, geschieht dies durch ein unendlich wechselndes kompliziertes
Bandornament aus Wellen- und Schlangenlinien, wobei nun auch ein
reiner, doppelter Mäander, natürlich mit gebogenen Windungen, ver-
treten ist. Sehr häufig erscheint als Orundmotiv ein Wellenband mit
spitzen Wellenbergen, die in frei endende Windungen auslaufen. Sind
diese letzten spiralig gekrümmt, so erscheint das Spiralornament in
einer ganz neuen Gestalt: als Ranke (Abbildung 6, oben). An das
freie Ende dieser Ranken können sich schließlich lippenblumenähn-
liche Gebilde ansetzen; es sind stark umgemodelte Derivate eines aus
dem Süden eingewanderten Vogelkopfes (Abbildung 6, unten). — Ein
436 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
eigentümliches und barockes Ornament dieser Spätzeit sei noch kurz
erwähnt: Vor allem auf den Rasiermessern der späten Bronzezeit ist
wiederholt eine Darstellung der nordischen Drachenschiffe zu finden,
deren Vorder- und Hintersteven in einen Tierkopf enden, der gleichfalls
auf den Zugvogel aus dem Süden zurückgeht. Auf die interessante
Entwicklung dieses Schiffsornaments aus einem einfachen Randorna-
ment aus gereihten Strichen kann ich hier nicht eingehen; das Messer-
blatt wird schließlich zum willigen Träger eines völlig selbständigen
Individuums — sei es nun Schiff oder Drache, das bleibt sich gleich — ,
welches zunächst noch die Form des Messers freiwillig begleitet; dann
aber kann die ganze Fläche von einem wirren Knäuel von Köpfen und
Drachenleibern bedeckt werden (Abbildung 7). Die ornamentale Bin-
dung, die erst durch eine strenge Reihung oder glückliche formale
Übereinstimmung, später durch die gleichmäßige Wiederholung der
frei sich auslebenden Wellen und Ranken erreicht wurde, hört auf.
Und schon hier, in der Bronzezeit, scheint der Boden bereit zur Auf-
nahme einer höheren Klasse von Formen: der tierischen.
Soll auf Grund der sich ablösenden Stilmerkmale eine strengere
Einteilung in Entwicklungsphasen vorgenommen werden, so ist es
klar, daß die beiden ersten Phasen mit den Blüteperioden des frühen
und späten Bronzealters (Montelius II und V) zusammenfallen, während
auf Grund des freien Drachen- oder Schiffsornaments wahrscheinlich
eine dritte Phase ab- beziehungsweise anzugliedern wäre.
Ein kurzes Wort über das Verhältnis zum Süden.
Das einzige Ornament, das dem Spiralornament des früheren
nordischen Bronzealters vergleichbar wäre, findet sich in der mykeni-
schen Kunst, wo die Spirale sogar in rein geometrischer Gestalt auf-
treten kann, obwohl von der eigenartigen Entwicklung, der wir im
Norden begegneten, hier keine Rede ist. Bezeichnend für den Unter-
schied zum streng ornamentalen Charakter der nordischen Kunst ist
nun, daß wiederholt eine Mischung dieser geometrischen Formen mit
einer imitativen bildenden Kunst stattfindet, indem es die Fangarme
von Polypen, die Fühler von Schmetterlingen, die Ranken von See-
pflanzen sind, die in diese Spiralen auslaufen. Waren es in der nor-
dischen Kunst abstrakte Formen, die entfernt an primitive Lebewesen
erinnerten, so sind es in Griechenland diese niederen Tiere und Pflan-
zen selber, die von einem Volke dargestellt werden, das nicht nur mit
dem Meer und seinen Erzeugnissen, sondern auch mit der Jahrhun-
derte alten Überlieferung einer blühenden bildenden Kunst auf ver-
trautem Fuße stand.
Noch bedeutsamer ist dieser Unterschied im späteren Bronzealter,
das im Süden schon ein frühes Eisenalter ist, weil jetzt ein engerer
I
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 437
Zusammenhang mit dem Süden nachzuweisen ist und südliche Einfuhr-
waren bis nach Skandinavien gelangen. Als Folgeerscheinung der.
Eindringens neuer Barbarenweilen aus dem Norden entstand im Süden
eine merkwürdige Bastardkunst, die in Griechenland (Dipylon, Olympia)
und Italien (Villanova bei Bologna) eine große Verwandtschaft zeigt
und nach Zentraleuropa (Hallstatt) hinübergreift. Im Gegensatz zur
nordischen Kunst ist in den genannten süd- beziehungsweise zentral-
europäischen Kulturen nirgends ein gleichmäßiges, organisches Wachs-
tum, eine zielbewußte Beschränkung auf ein bestimmtes künstlerisches
Prinzip — sei es das ornamentale, die Sprache der abstrakten Form,
oder das der bildenden Kunst — , eine solche innere Kraft, verbunden
mit einer doch äußerst verfeinerten Technik zu beobachten. Das Linien-
und Flächenornament macht einen undisziplinierten und ärmlichen Ein-
druck. Und während im Norden einige wenige Tierformen übernommen
werden und dann fast immer mit dem Gegenstand verschmelzen — ein
stark stilisierter Pferdekopf als Griff der Rasiermesser — oder in dem
Linienornament selber verarbeitet werden — der südliche Vogelkopf — ,
so wimmelt es jetzt im Süden von Löwen, Vögelchen, Pferden, Kühen
und menschlichen Figürchen, die völlig unorganisch mit dem Gegen-
stand verbunden und vielfach nur mit einem Stift aufgeheftet werden.
Es ist wieder der Unterschied zwischen Ornament, abstrakter Form
und bildender Kunst, mag die letzte diesmal auch in einer teils rudi-
mentären, teils primitiven Gestalt auftreten.
Es würde zu weit führen, hier eine eingehende Erörterung über
die Entwicklung der Zweckform anzuschließen. Auch hier zeigt
sich ein unaufhaltsames Schwellen und Treiben, nicht nur ein Größer-
werden, was schließlich zu den übertrieben schweren, aufgeschwollenen
Nadeln, Schmuckplatten, Armbändern, Halsringen usw. führt, sondern
auch eine immer stärkere Umgestaltung, Umwertung, ursprünglich tech-
nischer Details zu reinem Ornament. Die Zweckform wird mehr und
mehr zu einer sehr unzweckmäßigen, barocken Schmuckform. Dabei
ist manchmal wiederum eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem orga-
nischen Wachstum festzustellen. So finden wir in Dänemark Nadeln
mit einem kugelförmigen Kopf, der durch einige konzentrische Kreise
verziert wird. Diese Kreise schwellen an zu Knöpfen, die ihrerseits
wieder austreiben zu neuen kugelförmigen Knospen mit flachem Kopf »).
Der Körper des Trägers wird nicht nur geschmückt, er wird selber
zum Schmuck. Sind die frühen Halsringe schwach gerippt, so sind
die späten tief eingekerbt, sind selber gewunden und gedreht (Wendel-
') Sophus Müller, Ordning aj Danmarks Oldsager, Bronzealdern. Abb. 212,
213, 214.
438 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
ringe), sind ein einziges Stück Ornament. Auch hier sind deutlich
Entwicklungsphasen und Formenreihen festzustellen, die sich durch
eine zunehmende Entfernung von der natürlich-nützlichen Grundform
unterscheiden. Im übrigen handelt es sich hier um eine Erscheinung,
die sich, im Gegensatz zur Entwicklung des reinen Ornaments, genau
so in Mitteleuropa — Ungarn, Süddeutschland, Schweiz — beob-
achten läßt.
Die herkömmliche irreführende Einteilung der Kunstgeschichte in
»Altertum« — und was ist nicht alles Altertum! — , Mittelalter usw.
sieht sich gezwungen, alles, was nach dem Sturz des römischen Welt-
reiches entstand, mehr oder weniger als »mittelalterliche zu betrachten.
So findet man denn auch vielfach die Kunst der germanischen Völker-
wanderungszeit in das Kapitel ^ Mittelalter« eingereiht. Damit wird
die Spätkunst des nordischen Altertums aus dem organischen Zu-
sammenhang einer geschlossenen Kunst- und Kulturentwicklung, die
ja als solche noch immer nicht erkannt wird, herausgerissen. Sehr
zu Unrecht; denn soll die mittelalterliche Kunst kein sinnleerer Be-
griff bleiben, so müssen wir sie untrennbar verknüpfen mit der
Trägerin der mittelalterlichen Weltanschauung: der Kirche, d. h., kunst-
wissenschaftlich gesprochen, mit dem Kirchengebäude — Baukunst —
und in zweiter Linie vielleicht mit dem Buch — der Buchillustration —
d. h. der bildenden Kunst. Mit beiden haben Entstehen und Entwick-
lung der germanischen Zierkunst der Völkerwanderungszeit nichts zu
tun, wenn umgekehrt auch Spuren dieser Kunst in beiden weiterleben.
Das zeitliche Zusammenfallen mit dem ersten Wachstum und der Ver-
breitung der Kirche und der kirchlichen Kunst im Süden ändert an
und für sich noch gar nichts an dem heidnisch-barbarischen, ja prä-
historischen Charakter der spätnordischen Zierkunst, und ebensowenig
tut das die Tatsache, daß sich Teile vom germanischen Stämme-
gemenge loslösen, nach dem Süden wandern und sich dort mit
der fremden Kultur assimilieren. Mit Recht betrachtet schon Reinach
die Kunst der germanischen Eisenzeit als eine Parallele zu der um
500 Jahre früheren keltischen La-Tene-Kunst, einer rein prähistorischen
Erscheinung. Für uns ist die Zierkunst der Völkerwanderungszeit
nichts anderes als das letzte Stadium dieses großen Entwicklungs-
prozesses der nordischen ornamentalen Kunst und zwar unter der Ein-
wirkung und der Verarbeitung von Motiven aus der bildenden Kunst
des Südens, genau so, wie wir dies schon in den späten Abschnitten
der Stein- und Bronzezeit feststellen konnten.
Die scheinbare Stockung in der Entwicklung, die sich vom aus-
gehenden Bronzealter bis zur nachrömischen Eisenzeit über einen Zeit-
raum von nicht weniger als 800 Jahren erstreckt, braucht nicht allzu-
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 439
sehr wunderzunehmen. Eine ähnliche Unterbrechung der Entwici<lung
muß auch zwischen der letzten Blüte der neolithischen Kunst und der
Monteiius-lI-Stufe der Bronzezeit angenommen werden. Und diese
neue Unterbrechung ist schon dadurch erklärlich, daß sich zweimal
eine alles beherrschende politische und kulturelle Bewegung geltend
machte, die eine selbständige Weiterentwicklung nicht aufkommen ließ:
die keltische seit 500 v. Chr., dann die römische seit dem Anfang
unserer Zeitrechnung. Für die nordisch-germanische Kunst bedeutete
das schon dies, daß sie zweimal an fremde, übernommene Formen
anknüpfen mußte, die den Vorzug verdienten, sei es des besseren
Materials wegen — Eisenschwerter — , sei es wegen der billigeren
Konstruktion — die elastischen La- Jene- und römischen Fibeln, die
die nordische Bronzezeit nicht gekannt hatte — , sei es endlich wegen
eines völlig neuen Mechanismus, wie bei den römischen Schnallen.
Wohl werden wir darauf gefaßt sein, daß sich die nordische Kunst-
entwicklung auch nach dem Rückgang der römischen Expansion unter
ganz besonderen und erschwerenden Umständen vollziehen mußte.
Mit der Ausdehnung des römischen Weltreiches bis Rhein und Donau
war die Südkultur in ihrer politisch und kommerziell energischsten Ge-
stalt bis an die Grenze des nordischen Kerngebiets vorgedrungen; die
neutrale Ausgleichszone, wo die fremden Formen abgebaut wurden,
um darauf besser durch die nordische Kunst assimiliert werden zu
können, fiel aus, oder sie kam, mit der großen germanischen Verschie-
bung nach Süden, "nnerhalb des Gebietes der offenbar eng zusammen-
hängenden germanischen Stämme selber zu liegen. Der barbarische,
prähistorische Norden und der höchst kultivierte Süden verzahnten
sich wie nie zuvor. Römische Produkte oder Erzeugnisse der römischen
Provinzialkunst überschwemmen den Norden bis zu den Ostseeinseln
und der norwegischen Westküste. Was aber die klare Einsicht in das
Wesen dieser letzten vorhistorischen Kunstentwicklung ganz besonders
erschwert, ist die Tatsache, daß sie zwischen zwei Phasen größter
Ausdehnung der Südkultur eingeklemmt wird: die des römischen Im-
periums und, sei es auch in ganz veränderter Gestalt, die der Kirche.
Brachte erstere eine sublimste Kraftentfaltung und letzte Blüte der
nordischen abstrakt-ornamentalen Kunst, so bedeutet die Ausbreitung
der Kirche ihr endgültiges Ende. Um es konkreter auszudrücken und
noch schärfer hervorzuheben, worauf es hier ankommt: sowohl am
Anfang wie am Ende der in ihrem Wesen wieder geometrischen nor-
disch-germanischen Tierornamentik stehen Formen, die der Natur ent-
nommen werden, Formen also der bildenden Kunst. Besonders das
Verhältnis zum Blattwerk ist in dieser Hinsicht bezeichnend; das antiki-
sierende beziehungsweise karolingische Blattwerk bedeutet den Anfang
440 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
und das Ende dieser letzten Periode der prähistorischen Kunstentwick-
lung im Norden — sie selber kennt das Blattwerk nicht.
Auf den selbständigen Charakter der nordischen Kunst scheint
schon diese ganz ausgeprägte Vorliebe für bestimmte Motive aus dem
unerschöpflichen Vorrat hinzuweisen, den das ost- und weströmische
Weltreich aufgespeichert hatte. Wohl werden im Anfang auch Oorgo-
köpfe, das spätrömische Akanthusblattwerk und sogar ganze alt-
christliche Darstellungen — Daniel zwischen den Löwen — verarbeitet
und besonders in der eigentümlichen Mischkunst südgermanischer
Gebiete spielen diese Motive eine bedeutende Rolle. Aber schon
bald beschränkt sich die nordgermanische Kunst fast ausschließlich
auf die Tierform, sie ist Tierornamentik. Von der Krim bis
Belgien setzt sich die gesamte Fauna der alten Südkultur, manchmal
orientalisch-exotisch, oft phantastisch-mythologisch, aber immer natura-
listisch-organisch empfunden, gegen den Norden in Bewegung und
begehrt dort Einlaß: die Adler der Legionen, kauernde Löwen, Hippo-
kampe usf., besonders aber der Greif, dessen Kopf in der zweiten der
von uns zu behandelnden Stilphasen eine herrschende Rolle spielt.
Als die wichtigste Trägerin des Ornaments und ein Instrument,
das die Stilmerkmale am empfindlichsten registriert, ist die germanische
Bügelnadel zu betrachten, die, aus der edlen, ganz auf den praktischer.
Zweck beschränkten römischen Fibula hervorgegangen, in germanischen
Händen eine eigentümliche Verwandlung erfuhr. Schon hier ist ein
prinzipieller Unterschied mit der bronzezeitlichen Kunst zu betonen.
Auch das Bronzealter kannte bereits die Bügelnadel, die in ihrer ur-
sprünglichen, südlichen Gestalt unserer Sicherheitsnadel durchaus ent-
sprach, im Norden aber die elastische Spirale einbüßte und dafür aus
zwei getrennten Gliedern bestand: dem Bügel und der mit diesem
durch einen Ring verbundenen Nadel. Die Verzierung dieser Bronze-
zeitnadel beruhte in der Hauptsache darauf, daß an den beiden Enden
des Bügels Zierscheiben, zumeist Spiralen, angebracht wurden, die nun
aber eine deutlich erkennbare praktische Bedeutung besaßen: die
Scheibe unter der Spitze dient als Scheide, die unter dem Kopf als
eine Widerstandsfläche, die der Nadel erst ihre federnde Kraft verleiht.
Im Gegensatz zu diesem Verzierungsprinzip, das von einem technischen
Detail ausgeht und es nie ganz verleugnet, ist bei der germanischen
Fibel der ganze Mechanismus durch eine Platte oder eine Reihe von
Platten bedeckt: eine Kopfplatte über den Spiralwindungen, einen breiten
gewölbten Bügel über der Nadel und eine Fußplatte über der Scheide;
allgemein ist aber auch eine einzelne runde oder ovale Platte. Unter
diesen breiten Platten, die das begehrte Feld zum freien Entfalten des
Ornaments hergaben, ist der Nadelmechanismus angelötet und versteckt
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 44I
sich unter ihnen wie die Schildkröte unter ihrem Panzer. Die Sicher-
heitsnadel wird zur Brosche, wohlverstanden auch dort, wo sie
die Aufgabe des Zusammenhaltens zweier Säume, etwa auf den Schul-
tern, erfüllt. Das Ornament begleitet nicht mehr die Formen des nütz-
lichen Gegenstandes, sondern es hat sich völlig befreit und braucht
nur noch die neue, übrigens willkürlich zu verändernde Gestalt der
Platte als die willige Trägerin zu berücksichtigen. Und zugleich ist
zu bemerken, daß hier nun nicht mehr von einer Tätowierung der
Haut des Trägers gesprochen werden kann, sondern von einer regel-
rechten Bekleidung oder Panzerung seines Körpers.
Das Tierornament tritt nun, um bei den Fibeln zu bleiben, erst
als einzelner Kopf am vorspringenden freien Fußende auf; ähnliches
bemerkten wir schon beim Griff der bronzezeitlichen Rasiermesser.
Aus den Winkeln zwischen Bügel und Fuß wachsen dann Köpfe mit
langem Halse und aufgesperrtem Rachen hervor; schon für diese Köpfe,
mit langen Hälsen, die aus dem Rande eines Gegenstandes aufsteigen,
lassen sich Vorbilder in der römischen Provinzialkunst nachweisen.
Nachdem auf diese Weise das Terrain aufgeklärt war, kommen die
Tiere selbst: kriechende oder kauernde Gestalten setzen sich auf den
Rand der Fu(i- oder Kopfplatten. Ist bei den früheren, aus Metallblech
geschlagenen Fibeln mitunter noch ein bestimmtes Tier, ein Hippo-
kamp oder dergleichen, zu erkennen, so sind bei den späteren, ge-
gossenen Formen diese kauernden Tiere gänzlich undefinierbar. Es
sind Tiergestalten schlechthin, auch wenn sie zweifellos auf bestimmte
Gestalten der spätantiken Kunstüberlieferung zurückgehen.
Hiermit war die nordisch-germanische Kunst im Besitze des Roh-
materials, aus dem sie ihre eigene Form aufbauen konnte. Der uralte
Prozeß der Geometrisierung, des Abbaus und Wiederaufbaus zu selb-
ständigen, aber diesmal abstrakten Formen konnte beginnen. In erster
Linie ist dazu die Verdoppelung beziehungsweise die Erhöhung der
Konturen zu rechnen, eine germanische Eigentümlichkeit, auf die schon
der Schwede Salin in seinem schönen Buche über Die germanische
Tierornamentik« nachdrücklich hinweist (Abbildung 8). Gerade dieses
Übertreiben der Konturlinie, das bald zum Verfall des dazwischen
liegenden Körpers führt, bezeugt den Charakter der nordischen Kunst,
der es nicht auf das Tier, als dieses organisch zusammenhängende
konkrete Individuum ankam, sondern nur auf die stark bewegte, bi-
zarre Linie, die nun noch möglichst kompliziert wird: der Rachen wird
weit aufgesperrt, der Kopf vielfach scharf rückwärts gewendet, die
Gliedmaßen sind immer winklig gekrümmt und mit langen Krallen ver-
sehen. Daß es nur um diese heftig bewegten, nicht mehr kontinuier-
lich auseinander entstehenden, vegetabilischen, sondern plötzlich ver-
442 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
änderlichen, willkürlichen Linien zu tun ist, geht daraus hervor, daß
diese Tiere langsam aber sicher in ihre Teile zerlegt werden. Kopf,
Rumpf, Gliedmaßen hängen nicht mehr unter sich zusammen, sie
liegen wie zufällig nebeneinander. Schon bald geht dieser Mangel
an Interesse für den natürlichen, konkreten Zusammenhang so weit,
daß wir nur noch mühsam die zusammengehörigen Teile, die zunächst
doch wirklich noch vorhanden sind, zurückfinden können; dann ist
auch das nicht mehr der Fall, es fehlt ein Kopf, ein Fuß, und schließ-
lich wird die ganze Fibel durch ein Ragout aus Rumpf- und Fußteilen
(mit gelegentlich eingefügtem Kopf bedeckt), in dem wenig Tierisches
mehr zu entdecken ist. Hiermit ist nun aber zugleich ein anderer
Vorgang angedeutet: die ursprünglich außen auf dem Rand sitzenden
Tiere verschmelzen mit dem Fibelkörper selbst. Sie bilden erst einen
geschlossenen Rand, der sich dann innerhalb der Fuß- oder Kopfplatte
selber wiederholt und schließlich zu einem Flächenornament ausbreitet,
das die ganze Platte ausfüllt (Abbildung 9).
Hiermit ist das Ende der ersten Entwicklungsphase in der Tier-
ornamentik erreicht. Die fremden Tiere, die sich von außen auf diese
Fibeln niederlassen, werden wie Insekten auf den Blättern der fleisch-
fressenden Pflanze aufgesaugt und verdaut, die fremden Formen werden
abgebaut und einverleibt. Ich bezweifle, daß diese Auflösung nur als
eine negalive Erscheinung, als Abbauprozeß, zu bewerten ist. Dafür
ist die Form der Abbauprodukte und die Stelle, die sie auf den Fibeln
einnehmen, zu konstant, es kommt sogar vor, daß man fast identischen
Stücken in Italien, Weimar und Ostpreußen begegnet. Wie dies nun
auch sei, jedenfalls ist es klar, daß die Auflösung eine äußerste Grenze
erreicht hatte und neue Formen, ein neuer Ausdruck, nur auf anderem
Wege entstehen konnten.
Dieses Suchen nach einem neuen Ausdruck kennzeichnet den
merkwürdigen Entwicklungsgang in der zweiten Phase. Salin spricht
von einer »Renaissance: der Tierornamentik, gibt jedoch zu, daß die
neu entstehenden Tiere nicht weniger unnatürlich sind als die der
zweiten Phase. In Wirklichkeit haben wir nicht mit einer Renaissance,
sondern mit einer Reorganisation des Tierornaments zu tun. Die
Abbauprodukte der ersten Phase werden neu organisiert, aber jetzt auf
nordischer Grundlage. Man überwindet die heillose und schließlich
nichts mehr sagende Verwirrung in dem isolierten Nebeneinander der
Tierfragmente, man sieht ein, daß dieses wiederholte Zerhacken der
Teile keine Bewegung, kein Leben aufkommen läßt. Man will vor
allem durchgehende Linien, die zwar wild bewegt sind, sich verschlingen
und an denen sich an den unerwartetsten Stellen Köpfe und Glied-
maßen ansetzen, die aber bei all diesem phantastischen und dramati-
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 443
sehen Leben doch in der Hauptsache übersichtlich bleiben und gerade
dadurch wirken. Höchst bezeichnend ist hier nun wieder die Band-
formung, der wir also zum dritten Maie im nordischen Altertum be-
gegnen. Statt daß die Körper wie in der ersten Phase durch Quer-
schnitte zerlegt werden, ziehen sie sich nun bandförmig — Schlangen-
ornament!— in die Länge und werden auch gern der Länge nach
gespalten, was dann in der Folge zu den wildesten Verwicklungen
und Verschlingungen führen kann. Am Schluß der ersten Phase kann
von einer Form, einer Linie eigentlich nicht mehr gesprochen werden;
hier, in der Blüteperiode der germanischen Ornamentik, ist alles darauf
gerichtet, neue Wesen zu schaffen, die ihr wildes Temperament, zügel-
lose Kraftentfaltung und rastloses Streben suggerieren, wobei die ge-
krümmten Glieder, die vorspringenden Köpfe mit den großen Augen
nur die überzeugende Illustration sind. Hier bestimmte Tiere zu ver-
muten, ist sinnlos. Sicherlich sind gerade keine bestimmten Tier-
gestalten gemeint, und ich möchte mich noch schärfer, wenn auch
vielleicht etwas paradox ausdrücken: hier ist trotz diesen Köpfen und
Füßen überhaupt nicht an Tiere gedacht. Hier ist nur an den über-
zeugenden Ausdruck überschwenglicher Kraft, dramatischen Lebens,
wilden Zusammenprallens abstrakter Formen gedacht, wobei diese
Füße und Köpfe nur untergeordnete Akzente darstellen und beson-
ders dieser dämonische Kopf mit dem betonten Auge, als Sitz der
Individualität und des Willens, das »Willkürliches Eigenmächtige, be-
wußt so Gewollte, zu erkennen gab. Vielleicht dürfen wir sagen, daß
die Differenzierung und Individualisierung der abstrakten Form, die
vom Anfang an die Entwicklung der nordischen Kunst bestimmen,
hier, in ihrer letzten Blüteperiode, einen solchen Grad erreicht hat, daß
man solche, sei es auch höchst phantastische, organische Lebensformen
nicht mehr vermeiden konnte (Abbildung 10).
Die Form der dritten Entwicklungsperiode des nordischen Alter-
tums ist animalisch, wie die der zweiten vegetabilisch, die der
ersten kristallinisch ist. Ich habe den gebräuchlichen Ausdruck
»^Tierornamentik; beibehalten, weil es unmöglich ist, für diese nicht
mehr mathematisch benennbaren Formen eine der Strich-, Kreis- oder
Spiralornamentik entsprechende Bezeichnung zu finden. Im Grunde
genommen aber handelt es sich hier ebensowenig um ein »Tiere-
Ornament, wie in der Stein- und Bronzezeit um ein Kristall- beziehungs-
weise ein Pflanzenornament, und es kann nur zu einer Begriffsverwir-
rung führen, wenn Sophus Müller einen Gegensatz zwischen dieser
Tierornamentik«: und der »Linearornamentik der — zusammengefaß-
ten — Stein- und Bronzealter konstruiert oder sogar an eine gesetz-
mäßige, im Norden erst durch das einsetzende Mittelalter verwirk-
444 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
lichte, Entwicklung von Linear-, Tier-, Blattornamentik glaubt. Blatt-
formen hatten im Norden nichts zu suchen, weil sie als solche immer
Nachahmung sind. Allerdings kennt die nordische Kunst eine Periode
mit pflanzlichen Formen, diese fällt aber, wie wir feststellten, in
die Bronzezeit. Schon das ausgehende Bronzealter zeigte aber bei
seiner Neigung, die Eigenbeweglichkeit des gebogenen Linienorna-
ments bis zum Äußersten zu steigern, den Übergang zu animalischen
Formen.
Überflüssig zu betonen, daß das heftig bewegte Ornament der
germanischen Eisenzeit nichts mehr mit den verhältnismäßig beschei-
denen tektonischen Ansprüchen des Trägers zu tun hat. Um so
interessanter ist es, zu sehen, wie es dieser Kunst gelingt, doch wieder
das willkürliche Leben zu bändigen und wie durch ein höheres Gesetz,
das trotz allem eine Einheit in der wirbelnden Vielheit durchsetzt, zu
beherrschen. Das kann nun natürlich nicht mehr geschehen durch
eine trockene Wiederholung identischer Elemente wie in der neolithi-
schen Kunst, noch auch durch die gleichmäßige Wiederkehr der aus
sich selber hervorgehenden Formen der Bronzezeit. Dagegen ver-
wendet die Tierornamentik an erster Stelle die Symmetrie, die ihr
gestattet, auch die willkürlichsten Liniensysteme durch das exakte Spiegel-
bild in einer höheren Einheit aufzuheben und zusammenzufassen.
Gerade in dieser Beherrschung des scheinbar Unbeherrschten liegt
wohl der große Reiz dieser Ornamentik. Ungleich verwickelter zeigt
sich die neue Ordnung an den runden oder viereckigen Schmuck-
platten beziehungsweise Fibeln, wo 2 — 4 Tiergestalten ineinander ver-
schränkt und um einen Mittelpunkt angeordnet werden, so, daß die in
scharfem Winkel vorspringenden Köpfe oder Gliedmaßen den Eindruck
einer endlos drehenden Bewegung, eines Wirbels, hervorrufen (Ab-
bildung 11). So verwickelt diese ineinander verschlungenen Körper
auf den ersten Anblick aussehen, können wir doch eine einfache Grund-
form entdecken, die bei näherem Zusehen immer wieder festzustellen
ist und denn auch wiederholt in streng geometrischer Gestalt auftritt:
die Svastika. Sehen wir nun ab von der symbolisch-religiösen Be- .
deutung, die uns hier nicht beschäftigen darf, so glaube ich, daß,
wenn schon überhaupt die Rede sein kann von einer geometrischen
Formel, einer graphischen Darstellung des tierischen Lebens, wir diese
in der Svastika, dem Hakenkreuz, annehmen dürfen. Ich denke dabei
weniger an die rastlose Bewegung, welche diese Figur vorspiegelt, als
an ihre beiden elementaren Eigenschaften: die Organisation mit
Beziehung auf eine Zentrale — das Herz — und, mit dem
scharfen Umbruch der Haken, die relative Selbständigkeit und be-
sonders die Eigenbeweglichkeit der Teile, die sie als Glieder
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 445
mit Gelenken kennzeichnet. Ich darf hier nicht zu lange bei dieser,
eher naturästhetischen Frage verweilen, möchte aber doch darauf hin-
weisen, daß die für das Tier so bezeichnende Beweglichkeit, die Fähig-
keit des freien Platzwechsels, nur infolge einer Eigenbeweglichkeit
seiner Teile ermöglicht wird, und daß damit die plötzliche Umbiegung,
d. h. Richtungsänderung, im Gelenk aufs engste zusammenhängt. Es
ist daher durchaus kein Zufall, daß die griechische Kunst bewußt
diesen Charakter von Gliedmaßen mit Gelenken in der Svastika hervor-
hebt, indem sie ihr die Gestalt einer laufenden menschlichen Figur mit
gekrümmten Beinen (Knielauf) und gebogenen Armen verleiht oder die
Triskele nur aus drei gekrümmten Beinen zusammenstellt. Wir können
nicht so weit gehen, zu sagen, daß das Hakenkreuz die Grundform
der dritten Periode der nordischen Kunst ist, wie die gerade Linie die
der ersten, der Kreis die der zweiten Periode. Aber wohl scheint mir
diese, allen vielgestaltigen Wirbelformen dieser Zeit zugrunde liegende
Figur, eine graphische Darstellung des tierischen Lebens,
das die gesamte Kunst der germanischen Eisenzeit beherrscht.
Die dritte f^hase der Tierornamentik beschränkt sich auf nord-
germanisches Gebiet. Es scheint, daß nur hier, besonders in Skandi-
navien, genügend Kraft und Selbständigkeit übrig war, um die letzten
Entwicklungsmöglichkeiten zu verwirklichen. Bei den Südgermanen
geht die Bindung des Tierornaments weiter, es wird zum Band- d. h.
Riemselornament. Das wilde Bewegen wird gebändigt, der Fluß des
germanischen Barbarentums kanalisiert.
Im Gegensatz dazu schreitet der Norden weiter auf dem Weg zur
willkürlichen Entfaltung des Linienornaments. Bezeichnend ist dabei,
daß die Tiergestalt wieder zurücktritt, die Köpfe schrumpfen ein und
die Krallen wachsen so sehr aus, daß sie als solche kaum mehr er-
kennbar sind. Sogar das schwache organische Band, das noch in den
frei entworfenen phantastischen Tiergestalten der zweiten Phase vor-
handen war, scheint als eine Fessel empfunden zu werden. Dazu
wird der fast pathologische, leidende Charakter noch gesteigert durch
ein wiederholtes und unvermitteltes Anschwellen der Bandkörper zu
kleinen schildförmigen Flächen und wieder Zusammenziehen zu dünnen
Linien. Die Traumtiere der zweiten Phase werden zu einer Beklem-
mung, einem Albdrücken, und nur solchen nicht mehr greifbaren oder
begreifbaren Traumgestalten ist dieses Ornament, das faktisch kein Tier-
ornament mehr ist, vergleichbar. Hier begegnet nun wiederholt die
Erscheinung, daß alle Symmetrie, natürlich auch die Wiederholung
identischer Elemente, ausgeschaltet wird; die Einheit beruht nur noch
auf dem gegenseitigen Ausgleich der verschiedenen entgegengesetzten
Bewegungsakzente und dem gleichen, man kann wohl sagen deka-
446 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
denten, Charakter in den verschiedenen Teilen. Es ist nicht mehr das
dramatische, stark beherrschte Barock der zweiten Phase, sondern ein
rokokomäßiges Sichgeheniassen in diesen anspruchsvollen Linien, die
sich lieber leise verschlingen, als daß sie aufeinanderprallen (Abbil-
dung 12). Bezeichnend ist, daß diese keiner Regel mehr gehorchenden
Formen nun oft nicht mehr frei den Körper des Trägers bedecken
dürfen oder können. Sie werden in umrahmten Fächern untergebracht,
sozusagen eingesperrt in Käfigen, wo sie tun dürfen was sie nicht
lassen können. Es gibt kolossale Fibeln (Gothland), deren Flächen
ganz in solche Fächerchen aufgeteilt sind, jedes mit seinem eigen-
sinnigen Formengewirr.
Hiermit haben vvir den Endpunkt der als ein organisches Ganze
zusammenhängenden Kunstentwicklung des nordischen Altertums er-
reicht. Man bekommt den Eindruck, daß die letzte Ausdrucksmöglich-
keit, deren die Sprache der abstrakten Form fähig ist, erreicht und
erschöpft worden war. Mit der Wikingerzeit des Q., 10. Jahrhunderts
findet eine neue Einströmung von naturalistischen Formen besonders
aus der irischen und karolingischen Kunst statt. Dann setzt die Herr-
schaft des Mittelalters mit seinen völlig anders gearteten Kunstzielen
— Baukunst und bildender Kunst — ein.
Wir müssen die Kunst des nordischen Altertums als Ornament
bezeichnen, aber es ist nicht genug zu betonen, daß umgekehrt das
Ornament hier Kunst im höchsten Sinne des Wortes ist, d. h. daß
das Ornament hier eine ganz andere Bedeutung besitzt als in den
historischen Kunstepochen, wo es zu der untergeordneten Bedeutung
der bloßen »Verzierung« an oder neben den Werken der eigentlichen
Kunst degradiert wird. In der Kunst des nordischen Altertums ist das
Ornament das, was später die bildende Kunst ist: das beste, was sie
zu sagen hatte, wurde in diesen abstrakten Formen mitgeteilt. Um zu
einem tieferen Verständnis für diese Kunst zu gelangen, tun wir des-
wegen gut, sie von dem Odium, das der Bezeichnung »Ornament«
anhaftet, zu befreien und sie, bei ihrer grundsätzlichen Verneinung der
Nafurbeziehungen, als die Kunst der abstrakten oder auch der abso-
luten Form zu sehen. Die Geschichte der Kunst des nor-
dischen Altertums ist die Geschichte der Entwicklung der
absoluten Form.
Dieser Entwicklungsprozeß zerfällt deutlich in drei Perioden, die
ziemlich genau der bekannten und hier übernommenen Einteilung in
Stein-, Bronze- und Eisenzeit entsprechen, ohne daß dabei dieser,
übrigens nicht ganz unangreifbaren Unterscheidung auf Grund des
Materialunterschieds — der Schmuck der Eisenzeit ist in Bronze oder
Edelmetall — , eine mehr als untergeordnete Bedeutung beizumessen
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 447
wäre. Doch waltet auch hier eine bemerkenswerte Gesetzmäßigkeit:
das Material der neoiithischen Tongefäße hat, besonders im Norden,
nur Nutzwert, das Ornament ist in dieses Material eingeritzt, die weiße
Füllung hebt es nur hervor; auch in der Bronzezeit sind Nutz- und
Schmuckmaterial noch identisch, aber dieses Material, die Bronze, hat
an und für sich Schmuck-, auch Geldwert, eine Bronzefibel ist mit-
samt dem technischen Apparat ein Schmuckgegenstand; in der Eisen-
zeit findet eine klar erkennbare Trennung zwischen Schmuck- und
Nutzmaterial statt, der eiserne Mechanismus der germanischen Fibel z. B.
wird unter der bronzenen, silbernen, versilberten oder vergoldeten
schmückenden Platte angelötet. In diesem Zusammenhang sind die ver-
schiedenartigen neuen Techniken zu erwähnen, die für die Zeit der
Völkerwanderung so bezeichnend sind: das Versilbern und Vergolden,
das Niello und die Silberlauschierung, das Zellenemail und die Ver-
wendung von Olaspasten und Almandineinlagen usw. In all diesen
Techniken, die zwar nur teilweise den engeren Kreis der nordischen
Kunstentwicklung berühren, bekundet sich die entschiedene künst-
lerische Absage an den nützlichen Träger und dessen natürliche Be-
schaffenheit durch das Heranziehen eines fremden, kostbaren Beklei-
dungsmaterials. Das künstlerische Material der Eisenzeit ist nicht
das Eisen.
In jeder der drei genannten Perioden sind bestimmte Einflüsse aus
der bildenden Kunst der südlichen Kulturen nachzuweisen, jedoch
wirken diese immer bloß als eine Anregung zum Zustandekommen
selbständiger, nur den eigenen Entwicklungsgesetzen gehorchender,
höherer Formenreihen. Zwischen diese polar entgegengesetzten Kunst-
welten des Nordens und des Südens schiebt sich immer eine Aus-
gleichs- und Abbauzone mit eigentümlichen Bastardformen: die Spiral-
mäanderkeramik der mitteleuropäischen Neolithik, die Hallstattgruppen
während des späten nordischen Bronzealters, schließlich die südgerma-
nische Kunst der Völkerwanderungszeit.
innerhalb dieser drei Perioden der nordischen Entwicklung selber
sind immer Entwicklungsphasen zu unterscheiden in dem Sinn, daß
die späteren Phasen ein quantitatives Wachstum der in der ersten Phase
neu erworbenen Grundformen aufweisen und zugleich eine qualitative
Veränderung, die sich in einer zunehmenden Differenzierung und Selbst-
entfaltung der Teile äußert. In der ersten Periode — Steinzeit — ist
dieser Wachstumsprozeß naturgemäß in erster Linie eine Befreiung
des Ornaments selber von seinem Träger, der Kunstform von der
Natur-(Nutz-)form. In den späteren I^erioden ist zwar auch, die zu-
nehmende Emanzipation deutlich erkennbar, diese tritt jedoch an Be-
deutung zurück hinter der morphologischen Verwandlung der Kunst-
448 F. ADAMA VAN SCHELTEMA.
form selber. Diese erinnert in der zweiten Periode — Bronzezeit —
auffallend an das vegetabile Wachstum; in der dritten Periode — ger-
manische Eisenzeit — führt eine gesteigerte willkürliche Bewegung
erst zu phantastischen Tiergestalten und geht schließlich über jede
organische Bindung hinaus.
Eines der wichtigsten Ergebnisse unserer Untersuchung sehe
ich in der Feststellung des Verhältnisses der drei prähistorischen
Entwicklungsperioden als kristallinisch- vegetabilisch-anima-
lisch. Die letzte Erklärung dieser spontan zustandegekommenen Über-
einstimmung mit der Entwicklung der Form in den drei Naturreichen
mag das Werk der philosophischen Spekulation sein. Ich bekomme
den Eindruck, daß wir eine Entwicklung der absoluten Form
annehmen müssen, welche feststehenden immanenten Gesetzen unter-
liegt, die sich sowohl in der Natur wie in der Kunst, wo diese rein
abstrakte Formen gestaltet, Geltung verschaffen.
Es wäre eine dankbare und verführerische Aufgabe, die hier zum
Vorschein tretende gemeinsame Grenze zwischen der Natur- und Kunst-
ästhetik näher zu verfolgen und die Ergebnisse beider einer wechsel-
seitigen Kontrolle zu unterwerfen. Ich hoffe das an anderer Stelle
durchzuführen, kann hier aber nicht umhin, auf die überraschende Tat-
sache hinzuweisen, daß der gesamte hier skizzierte Entwicklungsgang
in den Hauptzügen schon bei einem Denker zu finden ist, der von der
Entwicklung der nordischen Kunstformen noch keine Ahnung haben
konnte, ich meine Swedenborg. Schon Swedenborg weiß in seinem
Regnu/n anmale (1744) über eine Entwicklung der absoluten Form
zu berichten, die von der geraden oder winklig gebrochenen Linie aus-
geht, über den Kreis und die Spirale zu »Wirbelformen« gelangt, um
sich schließlich zu Formen zu erheben, die außerhalb unseres Gebietes
und offenbar in die historische Kunstentwicklung fallen. All diese
Formen sind aber als Leitmotive der von uns behandelten Perioden
in der Tat vorhanden, und zwar viel deutlicher erkennbar als in der
Natur, die doch wahrscheinlich den »Magiker des Nordens« zu seinen
seltenen Gedanken angeregt haben muß.
Kehren wir zur Kunst zurück, so möchte ich noch bemerken,
daß die beobachtete Entwicklung zum Teil als eine stäiige Verände-
rung, als Evolution, auftritt, zum Teil auch als ein plötzlicher und
radikaler Umschlag gegen das zuvor Erreichte. Ersteres, die Evolution,
ist im besonderen innerhalb des Verlaufes der verschiedenen Perioden
selber zu beobachten, dann auch, sei es auch weniger ausgesprochen,
beim Übergang von der zweiten zur dritten Periode, mögen beide auch
infolge äußerer Einflüsse durch eine jahrhundertelange Unterbrechung
der Entwicklung voneinander getrennt sein. Das deutlichste Symptom
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 449
einer revolutionären Neuorientierung dagegen gibt der Über-
gang von der Steinzeit mit ilirer I<ristallinen, geradlinigen Ornamentik
zur Bronzezeit mit ihren krummlinigen Formen, die dann, von dem
Kreise ausgehend, die formale Grundlage des gesamten organischen
Wachstumsprozesses enthalten. Auch hier ist die Analogie mit der
natürlichen Entwicklung auffallend.
Für die Kunstwissenschaft ist die Feststellung einer solchen Spaltung
in drei Perioden, von denen die beiden letzten eng zusammenhängen,
wichtig, weil sie die gleiche Erscheinung für die historischen Kunst-
epochen festgestellt hat (romanischer Stil, Früh-, Spätgotik; Renaissance,
Barock, Rokoko), Mehr noch: die scharf kritische Analyse der Stil-
merkmale ist für die geschichtliche Kunstentwicklung zu einer exakten
Formulierung der Gegensätze zwischen den verschiedenen Stilphasen
gelangt. Vergleichen wir nun diese Resultate mit der oben dargestellten
Entwicklung der ältesten nordischen Kunst, so zeigt sich eine so
schlagende Übereinstimmung, daß wir die gleiche Formulierung fast
wörtlich übernehmen können, ja, dafi wir das Gefühl bekommen, daß
hier, in der prähistorischen Ornamentik, die Grundlagen
der mittelalterlichen und neueren Kunstentwicklung schon
in einem einfachen Schema vorgezeichnet werden •). Daß
den prähistorischen Kunstformen dieser eminent propädeutische Wert
für die Kunstwissenschaft zukommt, braucht nicht zu verwundem.
Wie die Biologie schon längst die niedrigsten Formen des natür-
lichen Lebens untersucht, in der Erkenntnis, daß sie gerade dort am
ehesten Aufschluß über die Grundfragen erhalten kann, die das natür-
liche Leben betreffen, so wird auch die Kunstwissenschaft, in dem
Maße, wie sie ihren pragmatischen Charakter verliert und das Wissen
von den Künstlern und den Kunstwerken sich zum Wissen von den
Kunstformen gestaltet, sich mehr und mehr. diesen unscheinbaren
Strichen und Schnörkeln als den niedrigsten Formen des geistigen
Lebens zuwenden müssen, um zu verstehen, was in den höheren, viel
verwickeiteren und gewiß auch viel »schöneren« Erscheinungen der
späteren Kunst eigentlich geschieht.
Leider muß ich mir im Rahmen dieser vorläufigen Darstellung
die systematische Behandlung versagen, deren dieses wichtige Problem
') Und zwar bezieht sich das aiif das Verhältnis sowohl der Phasen innerhalb
der drei Perioden, als der Perioden unter sich. Die Aufgabe müßte also sein, den
von der modernen Kunstwissenschaft aufgedeckten Stilkriterien (Heinrich Wölfflin,
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe; I'aul Frank!, Die Entwicklungsphasen der neueren
Baukunst) sowohl innerhalb der Stein-, der Bronze- und der Eisenzeit als in dem
Verhältnis dieser drei Entwicklungsperioden des nordischen Altertums selber zu
verfolgen.
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. W. 29
450 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
bedarf, um vollauf gewürdigt werden zu können. Es sei nur darauf
hingewiesen, daß bekanntlich die innere Verwandtschaft der germani-
schen Tierornamentik mit den Stilphasen der Gotik und des Barocks
schon früher empfunden worden ist und sogar dazu geführt hat, dieses
Tierornament als eine latente »Gotik« hinzustellen i). Diese, durch
rassenpsychologische Erwägungen etwas beeinträchtigten Anschauungen
werden aber meiner Ansicht nach leicht zu falschen Schlüssen führen,
solange diese Tierornamentik nicht selber, ebenso wie die Gotik und
das Barock, als das letzte Stadium eines Entwicklungsprozesses er-
kannt wird, das weit in das prähistorische Altertum zurückführt, d. h.
in eine Kunstepoche, die von der Kunstwissenschaft noch immer keines
Blickes würdig gefunden wird.
Zum Schluß noch folgendes. Es ist eine ebenso schwierige und
gefährliche wie dankbare und bedeutsame Aufgabe, aus den Kunst-
formen auf das geistige Leben zu schließen, dessen Spiegel sie sind.
Zwar ist es leicht, den eigentümlichen Charakter, der dem Beschauer
in einem Kunstwerk beziehungsweise in einer bestimmten Stilform ent-
gegentritt, auch für den Schöpfer in Anspruch zu nehmen, und bis
zu einem gewissen Grade wird das auch berechtigt sein, obwohl wir
auf Grund solcher mehr oder weniger persönlichen Eindrücke nie zu
exakten, objektiv feststehenden Ergebnissen gelangen werden. So ver-
mögen wir uns zu denken, daß die leidenschaftlichen, zügellosen, rast-
los immer neue Konflikte suchenden Formen der germanischen Völker-
wanderungszeit in der Tat der angemessene Ausdruck für den Geist der
germanischen Heldenzeit sind, mit ihrer höchsten Verehrung der Kraft
um der Kraft willen, des Kampfes um des Kampfes willen, und ich
bin überzeugt, daß wir angesichts der früheren Stilperioden annehmen
dürfen, daß dieser Geist keineswegs für das gesamte nordische Alter-
tum bezeichnend sein kann. Parallelen zum späten Mittelalter z. B.
liegen da nahe. Es scheint mir aber, daß wir an der Hand der ge-
gebenen kritischen Betrachtung des Ornaments auf ganz anderen Wegen
zu genaueren und bedeutsameren Schlüssen gelangen können. Ich
gebe, nur um den hier gemeinten Gedankengang zu skizzieren, ein
Beispiel.
Als das religiöse Korrelat zur Darstellung der in dem nützlichen,
d. h. natürlich gegebenen Gegenstand liegenden und unlösbar mit
diesem verbundenen Kräfte — in der Steinzeit — betrachte ich die
kultische Verehrung der natürlich gegebenen Objekte selber, d. h. des
Steines, des Baumes, des Tieres, aber dann auch der von dem Men-
schen angefertigten Geräte: des Schwertes, des Speers, der Axt, des
') Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 451
Tongefäßes usw. Allgemeiner gesagt: es ist eine Naturreiigion, ein
Kultus der in der Natur gelegenen Kräfte, jedoch nicht als Abstraktion
und noch viel weniger von neuem personifiziert in anthropomorphen
Gestalten, sondern vor den konkreten, beseelt gedachten Gegenständen.
Erst später wird von dem sinnlich Gegebenen abstrahiert, das schließ-
lich nur noch zum Attribut, zum Symbol wird einer mehr oder weniger
menschlich gedachten Gottheit, die ihrerseits die Personifikation eines
abstrakten Begriffes darstellt >).
Ich glaube nun erstens, daß die prinzipielle Abneigung des nor-
dischen Altertums gegen alle bildkünstlerischen Bestrebungen ein sicheres
Zeichen ist, daß man, im Gegensatz zum Süden, hier nie zu dieser
menschlich gedachten Abstraktion der Naturkräfte übergegangen ist,
mit anderen Worten, daß die bekannten Göttergestalten der höheren
germanischen Mythologie ein Produkt aus sehr später Zeit sein müssen
und höchst wahrscheinlich aus dem Süden übernommen und den
nordischen Verhältnissen angepaßt worden sind. Zum gleichen Er-
gebnis gelangen auf ganz anderen Wegen der Philologe Sophus Bugge
und auch Salin, der diesen Götterimport mit der Übernahme der süd-
lichen Tiergestalten in Zusammenhang bringt und mit der der Schrift,
d. h. mit dem Entstehen der Runen.
Anderseits scheint mir, daß allerdings auch im Norden bei der
religiösen Verehrung eine Abstraktion vom konkreten Gegen-
stand stattgefunden haben muß, und zwar, streng bei unserer orna-
mentalen Analyse bleibend, auf Grund der ästhetischen Abstraktion
vom Gegenstande, die wir mit dem Beginn des Bronzealters fest-
stellen konnten. Es waren da nicht mehr die in dem natürlich ge-
gebenen Gegenstand selber schlummernden Kräfte, die das Interesse
erregten und eine künstlerische Interpretation fanden — es entfaltete
sich ein selbständiges Leben in Formen, die, unabhängig vom Gegen-
stand, ihn freiwillig umspielten. Ich sehe aber die Revolution in den
religiösen Anschauungen, die sich während der Bronzezeit durchsetzt
und in dem Auftreten der Leichenverbrennung statt der Leichenbestat-
tung ihren Ausdruck findet, als das religiös-geistige Korrelat zu dieser
Wandlung der künstlerischen Anschauung: auch hier offenbart sich
die Überzeugung, daß die Quelle der geistigen Kräfte nicht mehr
identisch und nicht mehr unlösbar verknüpft ist mit dem natürlich
gegebenen Körper. Die Emanzipation des Ornaments als
') Belege dafür, daß auch bei den Naturvölkern die unmittelbar gegebene
Naturkraii bzw, der konkrete Gegenstand und nicht ein ungreifbares Abstraktum
Ausgangspunkt der religiösen Entwicklung ist, in dem ausgezeichneten Werkchen
von K. Th. Preuß, Die geistige Kuhur der Naturvölker. Aus Natur- und Oeistes-
welt S. 16, 26 ff., 47 ff. usw.
452 F- ADAMA VAN SCHELTEMA.
geistige Form vom natürlichen Körper des Trägers be-
deutet den Glauben an die Selbständigkeit des Geistes in
Beziehung zum Körper, den Glauben an die Selbständig-
keit der Seele.
Erklärung der Tafeln I— III.
1. Krug aus einer »kleinen Stubec, Dänemark. Frühe Megalithkeramik, erste Phase
der geradlinigen Ornamentik. Die schon durch die Form gegebene klare Gliede-
rung des Gefäßes in dem eigentlichen Behälter (Bauch), Schultern und Hals
wird durch das Ornament nochmals hervorgehoben. Von dem Knick zwischen
Hals und Schultern strahlen die Schulterlinien aus bis zur Stelle, wo der Oefäß-
bauch seine größte, durch einen Gürtel aus kleinen Dreiecken markierte Aus-
weitung erreicht. Abbildung nach S. Müller, Nord. Altert., Abbildung 36,
Höhe 22 cm.
2. Schale aus Osnabrück. Entwickelte Megalithkeramik, zweite Phase der gerad-
linigen Ornamentik. Trotz des Fehlens einer Gliederung der Gefäßwand unter-
scheidet das Ornament doch einen unteren, fassenden, und einen oberen Rand-
teil, durch eine wagrechte, die Griffwarzen verbindende Linie von einander ge-
trennt. Divergierende »Wandlinien«bündel am Bauch; der Rand wird von
neuem gegliedert in einen breiteren, gemusterten Streifen und einen dreifachen
Saum. Abbildung nach Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte, Abbildung 11,
Randbreite zirka 22 cm.
3. Krug aus Weddegast. Bernburger Keramik, dritte Phase der geradlinigen
Ornamentik. Das Ornament ist nicht mehr dienend, noch begleitend, sondern
herrschend. Die wagrechten Linien auf Hals und Schultern besitzen keine
struktiv-symbolische Bedeutung mehr, sie bilden ein zusammenhängendes Kleid.
In diesem neuen Grunde wird das charakteristisch spätneolithische Zickzack-
muster ausgespart, der nackte, ursprüngliche Grund erscheint hier also als
Muster. Abbildung nach Kossinna, a.a.O., Abbildung 41. Höhe 22cm.
4. Kreise und Spiralen als Grundelemente der Bronzezeitornamentik, Keimzellen
der organischen Form der Bronzezeit. Abbildung nach S. iVlüller, a. a. C, Ab-
bildung 161, 162.
5. Brustplatte aus Langsfrup, Seeland. Die ein- und ausrollenden Spiralen machen
den Eindruck isolierter, gemusterter Kreise. Abbildung nach Kossinna, Abbil-
dung 164, Durchschnitt 30 cm.
6. Formen aus der zweiten Phase der krummlinigen Ornamentik. Bandformung,
durchgehende Bewegung, keine Reihen isolierter Elemente, sondern Wellen
oder Ranken mit regelmäßiger, freier Wiederholung gleicher Teile oder Organe.
Unten links: Lippenblumenähnliche freie Endungen. Abbildung nach S. Müller,
Abbildung 214-219.
7. Rasiermesser aus der späten Bronzezeit. Die selbständigen Drachenfiguren be-
rücksichtigen kaum noch die Form des Trägers. Abbildung nach S. Müller,
Abbildung 220, Länge 10,5 cm.
8. Germanische Bügelnadel aus Seeland (Silber). Die fremden Tiere haben sich
auf die Ränder der Fußplatte niedergelassen, die starke Betonung der Konturen
führt schon den Zerfall der Körper herbei. Die Spiralhäkchen auf Bügel und
Kopfplatte sind Derivate vom antiken Akanthusblattwerk. Abbildung nach
Salin, Die altgerm. Tierom., Abbildung 134, Länge 16 cm.
BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT, 453
9. Kopf- und Fußplatte einer silbernen Bügelnadel aus Finnland. Die Tiere sind
absorbiert und verdaut. Völlige Zerlegung in isolierte Teile, die das Baumaterial
für die Form der zweiten Phase abgeben. Abbildung nach Salin, Abbil-
dung 527, Breite der Kopfplatte 8,5 cm.
10. Knopf eines Schwertgriffes, Uppland. Zweite Phase der Tierornamentik. Band-
formung, durchgehende Linien, willkürliche, plötzlich veränderliche Bewegung.
Die Einheit beruht ausschließlich auf Symmetrie. Abbildung nach Salin, Ab-
bildung 588, Breite zirka 5,5 cm.
11. Germanische Wirbelformen aus Oolhland (Bronze). Deutlich ist die Svastika
als Grundfigur zu erkennen. Abbildung nach Salin, Abbildung 596 ff., Durch-
schnitt 4 cm.
12. Zierformen von einer Bügelnadel aus Uppland. Dritte Phase der Tieiorna-
mentik. Der animalische Charakter verschwindet, zunehmende Willkür, Auf-
hebung der Symmetrie. Abbildung nach Salin, Abbildung 622, Höhe 5 cm.
Bemerkungen.
Hugo Goldschmidt
Von
Johannes Wolf.
Am 26. Dezember 1920 starb Hugo Goldschmidt. Mit ihm ist einer der fleißig-
sten musikwissenschaftlichen Arbeiter dahingegangen. Am 19. September 1859 zu
Breslau geboren, Jurist von Hause aus, kam er über den Sängerberuf zur Wissen-
schaft. Ihn trieb es, die im Unterrichte Stockhausens gewonnenen Kenntnisse
historisch zu vertiefen. Wenn er auch nicht verkannte, daß in den kirchlichen Ge-
sangschulen seit alters her die solistische Ausbildung eine reiche Blüte erlebte, die
in fein geschwungenen, tonreichen Melodien des gregorianischen Gesanges ihren
Ausdruck fand, so setzte seine Forschung bewußt und mit einem gewissen Recht
doch erst in der Zeit der Spätrenaissance ein, die in ihren monodischen Formen
den künstlerischen Einzelgesang forderte und seine schulmäßige Pflege zur Voraus-
setzung hatte. Eine erste Frucht seiner Studien, die unter den Augen Emil Bohns
heranreifte, war »Die italienische Gesangsmethode des 17. Jahrhunderts und ihre
Bedeutung für die Gegenwart« '), ein Werk, das für seine Zeit volle Anerkennung
verdient und auf tüchtiger Quellenkenntnis aufgebaut ist.
Seine weiteren Studien führten Goldschmidt nach Berlin, wo er als einer der
Leiter des Klindworthschen Konservatoriums auf das Musikleben Einfluß gewann,
Oesangunterricht erteilte und auch durch historische Konzerte für die Wiederbe-
lebung älterer Musik eintrat. Er war einer der ersten, der hier die reiche und dank-
bare Madrigalliteratur des 16. Jahrhunderts zu neuem Leben zu erwecken suchte.
Sein Hauptstreben galt aber der Musikgeschichte, betrachtet unter dem Gesichts-
winkel der Gesangspädagogik. Mit aller Eindringlichkeit suchte er den Geist des
17. Jahrhunderts, in dem für die virtuose Gesangstechnik der Grund gelegt wurde,
zu erfassen. Bald beschäftigten ihn SpezialStudien über das Orchester *), bald solche
über das Formenmaterial '). Die bisher arg vernachlässigte römische Oper wurde
von ihm in ihrem Gegensatz zu der der Florentiner und Venetianer klar erkannt
und in einem besonderen Buche »Studien zur Geschichte der italienischen Oper im
17. Jahrhundert«') behandelt. Aber auch der Venetianer Oper, die in Monteverdi
einen der glänzendsten Vertreter fand, kamen seine Forschungen zugute. Er erwies
den »Ritomo d'Ulisse«^) als ein bedeutendes Werk Monteverdis und legte im 2. Band
') Breslau, Schlesische Buchdruckerei 1890.
') »Das Orchester der italienischen Oper im 17. Jahrhundert« (Sammelbände der
IMG II [1900] Seite 16 ff.).
') »Zur Geschichte der Arie- und Sinfonieformen« (Monatshefte für Musikge-
schichte 33).
*) Leipzig, Breitkopf und Härtel 1901.
') Claudio Monteverdis Oper: »II ritomo d'Ulisse in patria« (Sammelbände der
IMG IX, 570 ff).
BEMERKUNGEN. 4S5
seiner »Studien«') die von Hermann Kretzsciiniar als wertvollste Schöpfung IWonte-
verdis iiingestellte »Incoronazione dl Poppea« in Neudruci< vor. Schließlich (rüg
er auch zur Klärung der Neapolitaner Oper bei: »Francesco Provenzales Bedeutung
als Dramatiker« wurde von ihm festgelegt und dieser als Richtung gebendes Haupt
der neapolitanischen Schule vor Alessandro Scarlatti charakterisiert *). Die Geschichte
lehrte ihn weiter, wie der Sänger nicht nur seine Vorlage wiedergab, sondern ihr gegen-
über sich auch schaffend betätigte, welche Macht der Gestaltung ihm das Verzie-
rungswesen, die gorgia in die Hand legte. Ein neues Werk wuchs aus seinen
hierauf gerichteten Untersuchungen heraus, die »Lehre von der vokalen Omamentikt*).
Mit bewunderungswürdigem Fleiße und feinem Stilempfinden folgte er den gesang-
lichen Absichten der einzelnen Meister des 17. und 18. Jahrhunderts bis Gluck hin
und legte ihr Verzierungswesen klar. Schritt für Schritt bahnte er sich den Weg
zum vollen Verständnis der vergangenen Kunstpraxis. Alte Erkenntnis für die heutige
Praxis nutzbar, verschüttete Wege zur Kunstübung wieder gangbar zu machen, das
war das Ziel seines Strebens. Die Historie war ihm Mittel zum Zweck, selbst in
Aufsätzen, mit denen er unmittelbar in die heutige Praxis eingriff, wie »Sprach-
gesang und Vokalise«*) oder 'Die ausgleichende Regelung der deutschen Bühnen-
sprache«'*). Ein Mann von seiner theoretischen und geschichtlichen Kenntnis des
Gesanges, von seiner praktischen Lehrerfahrung fühlte sich mit Recht berufen, ein
»Handbuch der Gesangspädagogik^") zu schreiben. Leider blieb das Werk unvoll-
endet, nur der erste Teil erschien.
Das letzte Jahrzehnt seines Lebens war ein steter Kampf mit seinem gebrech-
lichen Körper; jede neue wissenschaftliche Leistung mußte diesem mühselig abge-
rungen werden. Und trotzdem war Goldschmidt bis zum Ende rastlos tätig. Drama-
tische Werke des Neapolitaners Traetta brachte er in den Denkmälern der Tonkunst
in Bayern ') zum Druck. Vor allem aber fesselte ihn die Musikästhetik, die er schon
in früheren Arbeiten gestreift hatte. Kleinere Studien, wie »W. Heinse als Musik-
ästhetiker«") und »Reform der italienischen Oper des IS.Jahrhunderts und ihre Beziehun-
gen zur musikalischen Ästhetik« °) sowie »Die konkret-idealistische Musikauffassung
im 18. Jahrhundert«'") bildeten den Auftakt zu seiner 1915 erschienenen umfassenden
»Musikästhetik des 18. Jahrhunderts und ihre Beziehungen zu seinem Kunstschaffen« "),
welche einen klaren Einblick in den Wandel der musikästhetischen Anschauungen des
IS.Jahrhunderts gewährt und das Kunstschaffen mit dem Kunstgenießen in Beziehung
setzt. Wieder schon beschäftigten ihn neue Probleme, ein Werk entstand »Die
Ästhetik des Sebastian Bachschen Kunstschaffens, eine Absage an die französische
Schule«. Schon waren einzelne Teile wie »Tonsymbolik« '»), »Die Mehrstimmigkeit
') Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1904.
») Sammelbände der IMG. VII, 608 ff.
») Charlottenburg, Paul Lehsten 1907.
*) Blätter für Hausmusik und kirchliche Kunst 5, I.
") Allgemeine Musikzeitung 15.
•) 1. Auflage 1896, 2.
') Jahrgang XIV, 1 (1913) und XVII, 2 (1916).
") Leipzig, Max Hesse 1901 Seite 10 ff.
*) 3. Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft. Bericht, (Wien, Leipzig 1909)
Seite 196 ff.
'") In dieser Zeitschrift erschienen.
") Zürich und Leipzig, Rascher und Co.
'^) In dieser Zeitschrift erschienen.
456 BEMERKUNGEN.
der charakterisierenden Themen in S. Bachs Kirchenmusik. ') und »Die Anführung
von Kirchenmelodien in den Mitteiteilen der J. S. Bachschen Kantaten« ^) in Zeit-
schriften erschienen, als der Tod seinem rührigen Schaffen Halt gebot. Ein großes
Wollen und ein ehrliches Können fanden damit ihren Abschluß. Ehre einem solchen
Arbeiter, der seinen Beruf so hoch erfaßt und trotz körperlichen Leidens so treu er-
füllt, wie Hugo Ooldschmidt! Seine Fachgenossen werden ihn nicht vergessen.
Über das System der Künste.
Von
J. J. de Urries y Azara.
Benedetto Croce hält jede Teilung der Kunst für nutzlos und eine daraus ab-
zuleitende besondere Theorie der verschiedenen Künste für unmöglich : man könne
nur von Kunst im allgemeinen sprechen, nicht von einer ästhetischen Theorie jeder
einzelnen Kunst (unbeschadet ihrer verschiedenen Technik). In Wahrheit sondern
sich die Künste nicht nur durch ihre Ausdrucksniittel. Die Konzeption von
Raffaels »Brand des Borgo« ist eine ganz andere als diejenige, die ein Dichter für
denselben Gegenstand haben kann: eben eine malerische. Wenn man mit Croce
glauben soll, daß derselbe ästhetische Sachverhalt sich erst beim Übergang zur
Ausführung differenziert, so muß man ein inneres Bild voraussetzen, das weder
optisch noch akustisch oder auch beides zugleich ist.
Im Gegensatz zu Croce erklärt Volkelt eine Gliederung der Kunst für notwendig.
Er will sie aber nur auf die Psychologie des künstlerischen Schaffens gründen und
verwirft die anderen Einteilungen als abstrakt. Indessen, Abstraktionen lassen sich
nicht vermeiden. Sie brauchen ja nicht so seltsam zu sein wie die des Italieners Fausto
Squillace, der Baukunst, Bildhauerei und — Sport als Künste der Berührung zu-
sammenfaßt, weil ihre Gegenstände tastbare Gestalt besitzen; ebensogut könnte
man die Malerei als Kunst des Geruchsinnes bezeichnen, weil Ölfarben und Firnis
riechen. Es gibt doch Klassifikationen von Rang, an die unser Versuch sich an-
schließen soll. Grundlegend ist Lessings Unterscheidung der Raum- und Zeitkünste.
An sie knüpft Schasler an (wenn wir Kant, Hegel, Vischer übergehen dürfen, da
ihre Systeme den Lesern dieser Zeitschrift bekannt sind) und erweitert sie durch
Einbeziehung der Musik: Baukunst, Bildhauerei, Malerei — Musik, Gebärdenkunst,
Poesie. Man hat dagegen eingewendet, daß doch auch der Dichter unserer Ein-
bildungskraft Räumliches darzustellen vermag und daß der bildende Künstler den
Eindruck der Bewegung hervorrufen kann. Aber was tatsächlich aufgenommen wird,
ist und bleibt in dem einen Fall Räumliches, in dem anderen Fall Zeitliches: wenn
wir gleichzeitig alle Töne einer Beethovenschen Sonate hörten, so wäre das keine
Musik, und wenn wir alle Farbenschattierungen eines Rubensschen Gemäldes hinter-
einander an unserem Auge vorübergleiten ließen, so wäre das kein Bild. Hiermit
ist eine notwendige Aufeinanderfolge bei Bildbetrachtungen nicht ausgeschlossen,
auch nicht das fviovoi in der Musik, das Aristoxenos entdeckt und Riemann uns in
die Erinnerung gerufen hat. Ebensowenig ist eine Verbindung der beiden Gruppen
ausgeschlossen. Tatsächlich liegt sie im Tanze vor, die Mila eine »zugleich ko-
') Festschrift Hermann Kretzschmar (Leipzig, C. F. Peters 1918) Seite 37 ff.
') Zeitschrift für Musikwissenschaft li (1920) Seite 392 ff.
BEMERKUNGEN. 457
existente und sukzessive Plastik« nennt. Auch wir anerkennen neben den Künsten
des Raumes oder der Zeit solche des Raumes und der Zeit.
Von den zeitgenössischen Ästhetikern hat Volkelt die reichhaltigsten und aus-
führlichsten Betrachtungen angestellt. Es wurde schon bemerkt, daß seine Ein-
teilung sich an die Psychologie des künstlerischen Schaffens anschließt. Von vier
Punkten geht sie aus. Sie gliedert die Künste erstens nach den Arten der Sinnlich-
keit in optische, akustische und optisch-akustische (wozu die Poesie als Kunst der
Phantasiesinnlichkeit tritt), zweitens vom Oehalt her (dingliche und undingliche
Künste), drittens nach dem Grade der Oeformtheit des Stoffes, viertens in bezug
auf den Gebrauchszweck. Der letzte Gesichtspunkt scheint uns mit dem ästhetischen
Wert nichts zu tun zu haben, während wir die ersten beiden Einteilungsgründe
ungefähr annehmen können. Sehr merkwürdig ist die dritte Gliederung: auf die
eine Seite stellt sie die nachahmenden Künste und die Musik, auf die andere die
Poesie, nämlich als Wortkunst, neben Pantomime und Gartenkunst. — Lipps teilt
die Künste nach ihrem Ausdruck in abstrakte und konkrete; Den geht von den
Sinnen aus, von Gesicht und Gehör, die allein allgemeine Empfindungen hervor-
rufen, und sucht durch scharfsinnige Kombination zu ermitteln, welche Künste möglich
sind. Dessoirs hier als bekannt vorausgesetzte, ziemlich verwickelte Klassifikation
hat neben großen Vorzügen doch auch ihre Mängel. Es fehlen neben den Künsten
des Raumes und der Zeit die raumzeitlichen Künste; die Mimik wird als Nach-
ahmungskunst behandelt, was beim Tanz nicht zutrifft; es werden fälschlich die
Nachahniungskünste mit den konkreten, die anderen mit den abstrakten Künsten
gleichgesetzt; endlich wird auf die Unterschiede zwischen Lyrik, Epos, Drama keine
Rücksicht genommen. Am vollständigsten ist vielleicht Wizes Übersicht (in dieser
Zeitschrift II, 178). Ihre großen Gruppen sind: redende Künste, bildende Künste,
Hewegungskünste. Redende Künste und Bewegungskünste zerfallen, je nachdem
sie bestimmte oder unbestimmte Vorstellungen wecken, in Dichtkunst und Tonkunst
auf der einen, Pantomime und Tanz auf der anderen Seite. Die bildenden Künste
gliedern sich nach demselben Gesichtspunkt als dreidimensionale in Bildhauerei und
Baukunst (Kunstgewerbe) einerseits, als zweidimensionale in Malerei (Graphik) und
dekorative Kunst anderseits. Hiergegen wäre einzuwenden, daß auch hier die
Poesie als einheitlich behandelt und der Gesichtspunkt der Nachahmung vernach-
lässigt wird.
Mein eigener Versuch eines Systems der Künste wird aus der folgenden Tafel
ersichtlich. Vier Einteilungsgründe (oben und unten, rechts und links aufgeführt)
bestimmen das Gefühl, Erstens: Kunstwerke werden in Nachbildung oder frei aus
dem Gefühl geschaffen. Natürlich schließt das eine das andere nicht aus; auch hat
Jean Paul wohl recht, wenn er meint, daß die Poesie immer subjektiver geworden
ist: man vergleiche den modernen Roman mit dem klassischen Heldenepos.
Wenn Mila zwischen objektiv und nachahmend unterscheidet, weil die Baukunst
- - ohne nachzuahmen — objektive, d. h. äußere Formen verwende, so finde ich
den Unterschied nicht wichtig und glaube überdies, daß man beinahe dasselbe von
der Musik sagen könnte. — Zweitens: konkrete und abstrakte Künste. Diese Unter-
scheidung deckt sich vielfach mit der ersten, aber doch nicht durchweg: die (ob-
jektive) Griffelkunst z. B. wird abstrakt, wenn sie einen Menschen karikiert, und die
(subjektive) Lyrik ist der Regel nach konkret in ihrem Ausdruck. — Von dem dritten
Einteilungsgrund nach Raum und Zeit ist das Nötige schon früher gesagt worden.
— Der vierte Gesichtspunkt der bildenden und musischen Künste faßt unter dem
letzten Namen die rhythmischen Künste zusammen, die im Altertum miteinander
verbunden waren, und die nach Spitzers Vorschlag dionysische heißen könnten; unter
458
BEMERKUNGEN.
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BEMERKUNGEN. 459
dem ersten Namen vereinigt er Künste, die für das Auge bestimmt sind und es teils
mit der Fläche, teils mit dem Körper (und dann wieder nach Schmarsows Vorschlag
mit Innenraum oder nicht) zu tun haben. Unter den musischen Künsten gibt es
ausführende'), die sich an die beiden oberen Sinne wenden und gewissermaßen
von den bildenden Künsten zur Wortkunsf überleiten; sie gliedern sich nach der
Sinnesbeanspruchung in drei Gruppen, nach Raum und Zeit in zwei Gruppen. Alles
übrige erklärt sich durch einen Blick auf die Tafel.
Hieraus ergibt sich, daß wir nicht mehr einfach von sechs Künsten sprechen
dürfen (Baukunst, Bildhauerei, Malerei, Mimik, Musik, Dichtkunst), sondern daß wir
auch solche Fälle berücksichtigen müssen wie die Griffelkunst (objektiv-abstrakt),
Denkmalskunst (Baukunst ohne Innenraum), die Arten der Musik, den Unterschied
zwischen Epos und Lyrik usw. Die Verknüpfung mehrerer Künste miteinander, z. B.
im Musikdrama, ist längst bemerkt worden; sie steht ästhetisch höher "als die Be-
einflussung einer Kunst durch die andere, z. B. der Barockskulptur durch die Malerei,
und kommt als selbständiger Wert in unserer Tabelle zum Ausdruck. Man beachte
die Dreiteilung des Musikdramas, die Zweiteilung der Vokalmusik, ferner die Höhen-
lage aller einzelnen Angaben, schließlich auch die jeweils gewählte Schriftgröße:
mit allen solchen kleinen Mitteln sind die Beziehungen der Künste möglichst er-
schöpfend angedeutet (die schmückenden Künste sind wegen ihrer Unselbständigkeit
in Klammern gesetzt). Meines Erachtens fehlt in dieser Übersicht nichts Wesent-
liches. Wenn Deri weitere Kombinationen erwähnt, etwa das Lesen einer Novelle
beim gleichzeitigen Anhören von Musik, so handelt es sich bloß um eine Spaltung
der Aufmerksamkeit. Eine viel wirksamere Zusammenstellung verschiedener Künste
findet sich im katholischen Gottesdienst. In einer herrlichen Kathedrale, die mit
malerischen und plastischen Werken ausgestattet ist, bewegen sich die Priester in
ihren prachtvollen Gewändern, lesen die heiligen poetischen Worte mit musikalischer
Begleitung und bringen auch mimisch die Liturgie zum Ausdruck: hier erleben wir
eine Art von Gesamtkunstwerk.
Zum Schluß sei an den Beginn angeknüpft und hervorgehoben, daß die ge-
nannten Gattungen, die übrigens auch noch mehrere Arten unter sich haben, in
ästhetischer Beziehung durchaus selbständig und nicht weiter aufeinander zurück-
zuführen sind.
Über das Komische und den Witz.
Von
Rolf Wolfgang Märten s.
Die Literatur bietet uns eine stattliche Anzahl verschiedenartiger Erklärungen
des Komischen, die zum größten Teil den Fehler aufzeigen, daß sie zu eng und zu
weit sind, d. h. daß sie einerseits nicht umfassend oder intensiv genug sind, um
alles Komische unter sich zu begreifen, und daß sie andererseits sich auch auf
Prozesse anwenden lassen, die wir nicht als komisch bezeichnen'). Ein Grund dieser
') Der Verfasser nennt sie Artes de la ejecuciön; ich habe die wortgetreue Über-
setzung gewählt, obwohl sie nicht gerade geschickt ist. M. D.
') Diese Bemerkung findet sich schon bei Jean Paul (Vorsch. d. Ästh. I, par. 26),
bei Schopenhauer (Welt a. W. u. V. II, S. 106) und bei Kuno Fischer (Über den
Witz, S. 14). — Ein jeder macht seinen Vorgängern den gleichen Vorwurf und über-
sieht, daß er auch auf ihn selbst paßt.
460 BEMERKUNGEN.
Unzulänglichkeit liegt in der Natur der Systemphilosophie, die jede neue Erscheinung
im Zusammenhang ihrer allgemeinen Welterklärung verständlich zu machen bestrebt
ist; auch hat wohl den gelehrten Erklärern für ihre Untersuchung eine nicht ge-
nügend große Anzahl komischer Prozesse, wie Anekdoten und humoristische Kunst-
gebilde, vorgelegen.
Wenn wir die komischen Prozesse betrachten, — sowohl die Ereignisse im
Leben, die wir komisch nennen, z. B. das unfreiwillig Komische, als auch jedes
künstlerische Erzeugnis des Humors, — wenn wir sie zunächst ganz im allgemeinen
betrachten, so fällt uns vor allem ins Auge, daß in unserer Seele Lustgefühl und
Fröhlichkeit ausgelöst wird, wie das im übrigen nur durch sinnliche Genüsse ge-
schieht, die zur Erhaltung unseres Lebens und zur Erhaltung der Gattung dienen,
und bei den darauf bezüglichen Gedankengängen. Daraus folgt, daß der Grund-
charakter des Komischen ein lebenbejahender, lebenfördernder sein muß. Soll
etwas komisch wirken, so muß die Empfindung des Genusses am Dasein heraus-
leuchten. Eine pessimistische Lebensauffassung — mag sie der Überzeugung und
Stimmung des Einzelnen auch noch so sehr entsprechen — hat mit Komik nichts
zu schaffen. — So kann ein Gebilde völlig die Struktur des Witzes zeigen und wirkt
doch nicht komisch, weil eben die Heiterkeit fehlt. In Aeschylos' aTotenopfer« sagt
der Knecht zur Klytemnaistra : »Die Toten, sag' ich, morden die Lebendigen!;; —
Worauf diese entsetzt erwidert: sWeh, — ich versiehe schon dein Rätselwort !< —
Die komische Struktur — mit der wir uns unten näher befassen werden — ist hier
in den beiden kontrastierenden Vorstellungen vorhanden: »Die Toten«, als eine leb-
lose, für das menschliche Wirken abgetane Sache, — und «Die Toten« in anderer
Bedeutung, als Begriff von dem Rechte des Gestorbenen, das wegen des ihm
schmählich zugefügten Verbrechens in seinen Nachkommen lebendig ist und sie
zur Rache treibt. Aber trotz dieses für das Komische charakteristischen Baues wird
wegen des finsteren Charakters niemand das Wort als scherzhaft ansehen. "— Ein
anderes Beispiel : wir lächeln, wenn wir im Heine lesen, daß er, nachdem er uns
die Sage von den »Meerbischöfen>: erzählt hat, uns versichert, daß diese nicht etwa
von ihm erfunden seien, denn er hätte schon an den »Landbischöfen« genug
und werde sich hüten, noch »mehr Bischöfe zu machen«! Aber der Humor ver-
geht uns, wenn wir dasselbe Wortspiel hören in der Verbindung, daß ein west-
fälischer Reisender, der in Italien, nachdem er ein Glas Wasser getrunken hatte,
noch mehr Wasser verlangte, worauf ihm salziges Meerwasser gebracht wurde,
daß darauf der sehr kräftige Reisende den kleinen, italienischen Kellner, der ihn
positiv mißverstanden hatte, fast zum Krüppel schlug.
Die für das Komische kennzeichnende lebenbejahende Freude am Dasein äußerte
sich in den Anfängen der Kultur als Bestätigung des Ichgefühls zumeist in dem
Bekämpfen der anderen. Diesen Charakter trägt die damals geprägte Komik und
noch heute. Wir haben auch hier, biogenetisch gesehen, die Ähnlichkeit in der
Geschmacksrichtung der Völker im Urzustände, der Kinder und der Ungebildeten.
Das Kind befriedigt nichts mehr, wie Kuno Fischer richtig bemerkt, als wenn
wir im Spiel mit ihm uns so anstellen, daß es sich uns überlegen fühlen kann.
Und wie der Ungebildete sich hier verhält, erfährt man am besten, wenn man zu
einer Sonntagnachmittagsvorstellung in den Zirkus geht und die Menge in wiehern-
des Gelächter ausbrechen hört, sobald der Clown dem »Dummen August« eine
schallende Ohrfeige versetzt. Die Zuschauer nehmen nicht, wie es Kultur und
Humanität erfordern, für den Geschlagenen Partei. Das würde kein Lustgefühl
auslösen; der Kampfinstinkt will eben beschäftigt sein. — Wohl aber erweist es
sich hier schon als nötig, daß zu diesem Zwecke Kunst aufgewendet werden muß,
BEMERKUNGEN. 461
damit keinerlei entgegengesetzte Interessen aufkommen: Der dumme August muß
eine groteske Erscheinung sein, deren närrisches Gebaren, lächerhcher Anzug und
dummes Gesicht Mitleid von vornherein ausschließen. Er muß die JV\erkmale des
Törichten tragen, über das wir uns im Leben oft haben ärgern müssen und über
das wir vielleicht auch in Fällen triumphiert haben, wo das Recht nicht auf unserer
Seite war. Daher können wir uns mit dem Gegner identifizieren und uns über die
Niederlage des armen Tölpels freuen. Unsere kriegerischen Instinkte werden durch
den siegreichen Angriff geweckt und ihre Erregung läuft lustgemäli ab.
Die gleiche Freude an dem Verletzen des anderen finden wir in den komischen
Erzeugnissen der Völker in ihren frühen Entwicklungsstadien. Ich will hier einen
Bericht aus der Hansezeit erwähnen, der sich mit den Spielen der Deutschen in
Bergen von 1478 bis zu Ende des 16. Jahrhunderts beschäftigt, ein Bericht, der also
nicht einmal aus einer ganz frühen Epoche stammt').
Es handelte sich um Spiele, die bei der Aufnahme der im Kontor neuangc-
kommenen Hanseaten veranstaltet wurden. — Da ist zunächst das Rauchspiel«;
Butterfässer wurden mit Lohe, Tran, Holz, Unrat und alten Haaren gefüllt und an-
gezündet, während man den Neuaufzunehiiienden an einem Strick darüber hinauf-
zog bis zur Höhe des Klappfensters im »Schütting« und geraume Zeit im Qualm
hängen ließ. Nachdem ihm Mund und Nase gehörig damit angefüllt waren,
wurden ihm Fragen vorgelegt, die er beantworten mußte; danach wurde er zur
Tür hinaus geführt und mit 6 Tonnen Wasser beschüttet, um den Rauch abzuspülen.
Nur einer, heißt es gemütvoll, sei bei dem Spiele erstickt. Die Neulinge wurden
weiterhin betrunken gemacht und auf einer Pritsche verprügelt, nachdem man ihnen
einen Teppich über den Kopf gebunden hatte, damit sie ihre Peiniger nicht er-
kannten; dazu wurde auf einem Becken getrommelt, um das Geschrei zu übertönen.
Es gab ferner noch ein Beichtspiel, ein Barbierspiel, das Pferdeken - Beslan,
Vinkenfangen, Swineken-Bränen, Ankersmeden, Schinkenschniden, Endekenstricken
usw. Bei allen bildete Schlagen und Wehetun die Pointe.
Eine andere Art des komischen Ergötzens, die ebenfalls auf der Befriedigung
des Machttriebes beruht, ist der obszöne Witz. Wenn man erwägt, daß Sitte
und Anstand den Menschen in einer Art umspannen, die oft — und besonders auf
jugendliche und rohe Gemüter — einengend und bedrückend wirkt, so erscheint es
begreiflich, daß sich das Ich gehoben fühlt, sobald es diese Schranke durchbricht.
Bekannt ist die Ausdehnung und Beliebtheit dieser komischen Art im Volke und bei
der Jugend. Wer mit Kindern zu tun hat, weiß, wie ein einziges unanständiges
Wort oft genügt, um jubelnde Heiterkeit auszulösen.
Die Scherzart des Verletzens und des Obszönen bildet die Komik der Völker
in den Stadien der beginnenden Kultur, wie auch die der breiten Volksmassen.
Wir begegnen ihr beim Kasperie , dem Kölner Henesche, bei Till Eulenspiegel,
und dem Hans Wurst, den, als das literarische Moment die Oberhand gewann, der
alte Gottsched auf der Bühne der Neuberin in Leipzig verbrennen ließ. Bei den
romanischen Nationen finden wir diese Komik der Kampfinstinkte in den Spielen
des Arlechino, der Kolombine, des Pantalone usw. Die gleiche Struktur weisen die
Scherze von Poggios Facetien, Boccaccios Dekamerone und ihren Nachahmern auf.
Viel ist aus solchem volkstümlichen Humor in die Lustspiele des Venetianers
Goldoni, wie auch in die komischen Dichtungen Shakespeares und seiner Zeit-
genossen übergegangen.
') Die Spiele der Deutschen in Bergen. Von Privatdozent J. Harttung in
Tübingen. — In den Publikationen aus dem k. preuß. Staatsarchiv. Leipzig, bei
Hirzel 1878.
462 BEMERKUNGEN.
Alle Art der Komik jedoch, wie Karl Groos will, auf den Kampftrieb (in Ver-
bindung mit den beiden kontrastierenden Vorstellungen, von denen wir weiter unten
noch zu sprechen haben werden) zurückzuführen scheint mir nur dann möglich,
wenn man den Begriff des »Kampfinstinktes« unberechtigt weit ausdehnt (vergleiche
Groos, Spiele der Menschen, S. 2Q8). Wenden wir uns daher einer zweiten Auf-
fassung zu, die mehr die objektive und intellektuelle Seite komischer Phänomene
betont, und die, wie ich meine, am treffendsten von Ed. v. Hartmann dahin aus-
gedrückt worden ist, der komische Vorgang bestehe in einer reductio ad absurdum
des Unlogischen, das sich als Gernegroß spreize. Von den primitiven Arten des
Komischen, die wir in den Anfangsstadien der Entwicklung gesehen haben und
deren Spuren wir hier und da noch begegnen, steigen wir hiermit zu den feineren
und vergeistigteren auf und betreten damit das Gebiet, wo für den Gebildeten
eigentlich erst Humor und Komik beginnen, nämlich in der künstlerischen Gestaltung
der Kulturepoche. —
Um eine festumrissene und dabei ausreichende Definition des komischen Kunst-
werks aufzustellen, sind die einzelnen Objekte nach Völkern, Zeiten und Sitten zu
verschiedenartig; wohl aber lassen sich gewisse Dominanten feststellen, die in den
komischen Gebilden wiederkehren und sich in verschiedener Weise miteinander
kreuzen und gegenseitig bestimmen. Das in allen komischen Vorgängen vorhandene
Merkmal ist das oben erwähnte Prinzip der Daseinsfreude.
Eine freudige Bejahung unseres Ichgefühls findet unter anderem auch statt,
wenn wir uns einem fehlerhaften oder kleinlichen Objekt gegenübersehen und uns
ihm überlegen fühlen können, im Gegensatz zum Erhabenen, das den Beschauer,
»indem es ihn erhebt, zermalmt«. Durch das Sich-überlegen-fühlen entsteht schon
die gute Stimmung, die wieder weitere komische Momente entdeckt und sich so
ausbreitet. Fernerhin darf das Verletzen oder ein anderes negatives Moment im
komischen Vorgang nicht so schwerwiegend sein, daß es uns niederdrückt. • Über
die Ohrfeige des Clowns können wir noch lachen, über einen Totschlag nicht.
Dergleichen hatte Aristoteles vor Augen, als er im fünften Kapitel der Poetik
schrieb: »Das Lächerliche ist nämlich eine solche Abirrung und Entstellung, welche
weder Schmerz noch Schaden bereitet, wie denn die komische Maske etwas Ent-
stelltes und Verzerrtes ist, aber ohne schmerzlichen Ausdruck«. Aus diesem Grunde
kommen für den feiner organisierten Menschen gewisse unverschuldete Übel, wie
die des Buckligen und des Wahnsinnigen als Gegenstände komischen Genusses
nicht mehr in Frage '). So darf auch beim obszönen Witz das Unappetitliche oder
Sittenlose nie überwiegen, — oder es ist um die humoristische Wirkung geschehen.
Das Empfinden ist auch hier individuell, wie das erhöhte Feingefühl unserer
Frauen beweist. Ferner verlangt es der Charakter der Heiterkeit, daß uns das
Verstehen eines Witzes oder einer Lustspielsituation leicht gemacht werden muß.
Wir erinnern uns an das Shakespeare wort: »Weil Kürze denn des Witzes Seele
ist...!« Komik verträgt eben am allerwenigsten Erdenschwere.
Ergaben sich die bisherigen Schlüsse durch die Betrachtung der komischen
Prozesse in großen Zügen, so stellen sich uns, wenn wir — nach Fechnerscher
Methode der Ästhetik von unten — eine genügend große Anzahl von Anekdoten
uns vor Augen führen und untersuchen, bei allen komischen Prozessen (wie wir
') E. V. Hartmann will das Unlogische, das im komischen Vorgang ad absurdum
geführt wird, nicht etwa als notwendige Folge der natürlichen Unzulänglichkeit
unseres menschlichen Denk- und Vorstellungsvermögens dargestellt wissen, sondern
nur als fahrlässig verschuldetes Übel.
BEMERKUNGEN, 463
schon oben erwähnt) zwei verschiedene Vorsteilungskreise entgegen, die, wenn auch
nicht immer, miteinander kontrastieren, was die alte Ästhetik behauptete, so doch
entgegengesetzt sind. Allerdings finden sich auch komische Oefüge, wie z. B. die,
welche aus einem Satz oder einer Handlung bestehen, bei denen die zweite
Vorstellung zu fehlen scheint. Dies erweist sich jedoch als Täuschung, denn
sobald wir genau prüfen, worüber wir lachen, stellt sich heraus, daß wir die
zweite Vorstellung sillschweigend ergänzt haben, und daß unsere Freude nur durch
ihre Hilfe zustande kommt. So verhält es sich mit dem Talleyrandschen Paradoxon:
'Die Sprache ist dazu da, die Gedanken zu verbergen!« Die herbeigerufene Vor-
stellung ist: »Die Sprache ist das Ausdrucksmittel der Gedanken«.
Von dem einen Vorstellungskreise springen wir gewissermaßen in den
anderen hinein; dieser Sprung erfolgt zwanglos, ganz in den Anschauungen und
der Logik der ersten Vorstellungsgruppe, aber er vollzieht sich plötzlich und in
überraschender Weise, — meistenteils durch ein Wort, das eine doppelte Bedeutung
hat, -- oft auch durch eine falsche und unerwartete Beziehung. Ich möchte dies
den komischen Sprung nennen. Ein Beispiel: »Der große Omithologe X. hat
festgestellt, daß die Tauben nicht hören!« — Wir sind zunächst verblüfft über die
Neuigkeit, die wir da erfahren. Wir verstehen diesen Ausspruch aus dem An-
schauungskreise der Zoologie: Die Taube, der Ornithologe, aber plötzlich begreifen
wir, daß hier ein Doppelsinn des Wortes »Die Tauben« vorliegt. Wir geraten in
die Gedankenkreise des Otologen und wissen, daß Nichthörende damit gemeint
sind. Die anfangs verblüffende Tatsache zerflattert in eine leere Tautologie.
Th. Lipps hat in seiner Schrift »Komik und Humor, versucht, den Vorgang des
Komischen psychologisch zu deuten; leider aber hat seine Bemühung nicht zu dem
gewünschten Ergebnis geführt. Er gehört zu denjenigen Erklärern, die, wie wir
anfangs sagten, das besondere Problem vom Standpunkt ihrer allgemeinen Anschau-
ungen aus zu beleuchten suchen ; bei Lipps muß für das Komische seine Stauungs-
theorie des seelischen Flusses herhalten, die von der Tendenz getragen ist, alles
seelische Geschehen aus dem Mechanismus des Vorstellungslebens zu erklären.
Von der großen Anzahl Arten der gegensätzlichen Vorstellungen nennt Lipps nur
die erhabene und die unbedeutende und sucht mit ihnen das Zustandekommen jedes
komischen Eindrucks zu deuten. Natürlich tut er damit den Dingen Gewalt an
und ist bestrebt, die Eigenschaften des Großen und Minderwertigen auch in solche
Arten der beiden Vorstellungsgruppen des komischen Oefüges hineinzukonstruieren,
in denen sie nicht enthalten sind. Er kommt zu dem Schluß, daß alle Komik auf
folgendem psychischen Vorgang beruht: Eine große und erhabene Vorstellung wird
plötzlich durch das, was wir den komischen Sprung genannt haben, in ein Kleines
und Niedriges verwandelt, z. B. die Dekoration eines Königspalastes kippt durch
das Versehen des Theatermaschinisten über dem Haupte des agierenden Tragöden
zusanmien und erweist sich als ein bemalter Papp- und Leinwandfetzen. Die für
die große Vorstellung des Königspalastes aufgewendete Energiemenge in uns kann
nicht durch die enge Bahn der banalen Vorstellung einer Theaterkulisse sogleich
abfließen. Sie staut sich und flutet, wie Lipps behauptet, zu dem erhabenen Vor-
stellungskomplex des Königspalastes zurück, von wo sie wieder zu dem kleinen
Gedanken hingewiesen wird; — so pendelt sie einige Male hin und her. — Diese
Theorie scheint in einer Bemerkung Kants (Kritik d. Urt.) einen Vorläufer zu haben:
»Unsere gespannte Erwartung in der Komik, die in keiner Weise erfüllt wird,
sehen wir als einen Mißgriff an, die wir wie einen Ball noch eine Zeitlang hin und
her schlagen, indem wir bloß gemeint sind, ihn nur zu ergreifen und festzuhalten !«
Lipps irrt aber; denn es handelt sich beim komischen Vorgang zunächst einmal
454 BEMERKUNGEN.
nicht immer um pathetisch große und kleine Vorstellungen. Bei folgendem Scherz
ist jedenfalls nicht zu sagen, welches die erhabene und welches die minderwertige
Vorstellung sein soll: >Einem Herrn, der im Nichtraucherabteil mit brennender
Zigarre angetroffen wird, bemerkt man, daß hier ,Für Nichtraucher' sei. — ,Ja, ja,
ich weiß! Bin ja auch Nichtraucher!' — ,Aber Sie rauchen doch!' , Herrgott noch ein-
mal! — Das geschieht nur ausnahmsweise!'«
Es gibt außerdem auch noch komische Oefüge, in denen es sich allerdings um
erhabene und kleinliche Oedankengruppen handelt, aber bei denen, umgekehrt, wie
Lipps behauptet, die erhabene Vorstellung die nachfolgende ist. — Ein Beispiel:
Katharina 11. fragt in einer Staatsratssitzung, in der man bemüht war, einen Vor-
wand für den neuen Krieg gegen die Türken zu finden, als ein Geräusch an der
Tür entstand, «Que (fest cela, Patiumkin?" — Majeste, ce n'est rienl La parte de-
mande la graisse! — *Quol donc, La Porte demande la Qrece? — casus belli!' —
Die Lippssche Auffassung läßt sich also bei objektiver Betrachtung vieler
komischen Prozesse nicht halten. Seine Behauptungen über das Pendeln zwischen
den Vorstellungen erweisen sich, wie Richard Bärwald im Band II, 2 dieser Zeit-
schrift nachgewiesen hat, nur bei wenigen Individuen als zutreffend; ebensowenig
läßt sich die Stauungshypothese in allen Fällen des Pendeins feststellen. — Dem
möchte ich noch hinzufügen, daß meines Erachtens ein überraschend guter Witz
so intensiv auf uns wirkt und eine so wichtige Stellung in unserer Gedankenwelt
einnimmt, daß wir nicht gleichgültig über ihn zu anderen Vorstellungskreisen hin-
weggehen, sondern noch öfter genießend zu ihm zurückkehren, wie wir dies ja
auch bei allen gewichtigen Vorstellungen zu tun pflegen.
Ein wesentlich anderes Bild, als Lipps es entwirft, zeigt mir die Selbstbeobachtung
während des komischen Genusses ; auch die Berichte, die ich auf mein Befragen
von anderen Personen erhielt, lauten dem meinen ziemlich ähnlich. Im übrigen
vermag ja ein jeder den Vorgang in sich selbst nachzuprüfen. — Bei dem plötz-
lichen Hinübertreten aus dem einen zuerst angeschlagenen Vorstellungskreise in den
anderen, fremdartigen, befällt uns zunächst eine Überraschung, wie auch Lipps an-
erkennt, eine Überraschung durch die neuen Eindrücke, die andere, unerwartete
Gefühlstöne in uns wachrufen. Unsere Aufmerksamkeit wird in intensiverer Weise
angespannt, wir vergleichen und erkennen zwischen den beiden verschiedenartigen
Vorstellungsgruppen entweder verborgene Ähnlichkeiten (Jean Paul), oder auch
Verschiedenheiten, wo Gleichheiten erwartet werden, wenn z. B. ein Ausdruck
doppeldeutig ist und zwei ganz verschiedene Begriffe bezeichnet, wie wir es oben
an dem Beispiel mit den »Tauben« gesehen haben. Auf dieser Struktur beruhen
die meisten Scherze. — Eine andere häufig vertretene Art des Komischen ist, wie
Schopenhauer sie charakterisiert, die Subsumtion eines Dinges unter einen falschen
Oberbegriff ; noch eine andere Handlungsweise, die durch verkehrte Mittel zu ihrem
Zwecke zu kommen sucht, wie v. Kirchmann ausführt. — Diese Dinge haben sich
bei den Kulturvölkern allmählich zu den Hauptmomenten des Komischen heraus
entwickelt, und das, was mit den Kampfinstinkten zusammenhängt und im Anfang
den Ausschlag gab, erscheint jetzt nur noch als Hilfsprinzip. Die Beschäftigung
mit dem Komischen geschieht, wie aller Kunstgenuß, nicht unter dem Druck und
Zwang unserer realen Lebensbetätigung, sondern frei im ästhetischen Anschauen,
in idealer Hinsicht. Deshalb definiert Kuno Fischer den Witz als »spielendes
Urteil«. —
Vergegenwärtigen wir uns unser Verhalten beim komischen Genuß an folgen-
dem Beispiel: Einem übelberüchtigten Börsenmakler, der auf sein Anbieten von
Papieren, da niemand mit ihm etwas zu tun haben will, keine Antwort bekommt
BEMERKUNGEN. if^
und deshalb wütend schreit: »Ein Gebot will ich hören!- wird erwidert: >Du sollst
nicht stehlen !<: Aus der ersten Vorstellung von Preisangebot für Börsenpapiere
geraten wir durch den komischen Sprung (das Wort »Gebote) in die andere Vor-
stellungsgrnppe der religiösen Gebote. Unser Urteil wird in Bewegung gesetzt zu
erkennen, daß hier etwas Unähnliches, Wesensverschiedenes vorliegt. Wir kommen
zu einer Überraschung, die in uns das Gefühl der komischen Freude auslöst, ver-
stärkt durch das befriedigte Gerechtigkeitsgefühl über die dem Betrüger gesagte
Wahrheit. Wenn nun der Kunstgenuß überhaupt einen spielerischen Charakter
trägt, so möchte ich den komischen Sprung und die sich daranschlieBenden, spielen-
den Urteilsfunktionen usw. mit einer Unterart des Spiels, einer bekannten körper-
lichen Tätigkeit, nämlich der turnerischen Bewegung unserer Gliedmaßen vergleichen.
Wie dort ein Recken und Strecken unserer Sehnen und iV\uskeln stattfindet, so hier
ein ähnliches unserer seelischen Kräfte. Bei den verschiedenartigen komischen
Fällen, vom einfachen Witz bis zu dem feinsten und kompliziertesten Lustspiel
werden unsere Seelenfunktionen in mannigfacher Weise in Bewegung gesetzt und
die ausgelösten Gefühle und Willenstriebe laufen, ohne, wie im realen Leben durch
neue Reize, die dazwischen kommen, gestört und unterbrochen zu werden, ihrer
Natur gemäß ab, was eine Lust in uns auslöst. Diese Lust bildet den Selbstzweck
der künstlerischen Tätigkeit an Stelle der praktischen Absichten. Wie es nun beim
körperlichen Turnen die verschiedensten Übungen gibt, von der Freiübung bis zum
Geräteturnen an Barren, Reck, Stange, Sprungbrett, so gibt es auch auf dem
psychischen Gebiet die verschiedensten Variationen, von denen Lipps nur das Hin-
und Herpendeln an den Ringen erwähnt.
Wenn wir Witz und Anekdote unter ästhetischen Gesichtspunkten zergliedern,
so stellt sich uns ihre Struktur folgendermaßen dar: 1. die Fabel mit der heiteren
Tendenz; 2. und 3. die beiden gegensätzlichen Vorstellungsgruppen; 4. der komische
Sprung. — Und dazu kommen noch 5. die Hilfsprinzipien, wie wir sie von Fechner
her kennen. Ein Scherz ohne Hilfsprinzip wirkt dürftig: z. B. Unterschied der roten
Nasen und der Kanonen; die einen kommen von Trinken, die anderen von Essen.
Das Hinzutreten eines Hilfsprinzipes, z. B. das der Abwehr oder auch Bosheit, gibt
die Würze, z. B. : Ein französischer Gesandter wirft einem Deutschen die vielen
gleichbedeutenden Worte unserer Spräche vor, z. B. Essen und Fressen ! Das stimme
nicht, erwidert der Deutsche, denn der Gesandte könne wohl gefressen, aber nicht
gegessen werden! Darauf versetzt jener hartnäckig: >Und senden und schicken?«
Das stimme wieder nicht, denn jener sei wohl ein Gesandter, aber kein geschickter !
— Als Hilfsprinzip kann alles dienen, wie wir dies in der historischen Entwicklung
gesehen haben, was mit den Kampfinstinkten zusammenhängt. Zunächst das Ver-
letzen des anderen, und auch die Freude an der Schlagfertigkeit und Scharfsinnig-
keit. Darin liegt unser Gefallen an der witzigen Antwort, die die alternde Hofdame
dem Talleyrand gab, auf sein feindseliges Wortspiel : 'Passez, passez beaute ! ■^ indem
sie erwiderte: iConime votre renommde!* Ferner gibt die Erregung der Kampf-
instinkte das Hilfsprinzip beim Satirischen, besonders beim satirischen Epigramm.
Schließlich entsteht die Lust am Sieg des Logischen und der damit verbundenen
Niederlage des Törichten (reducUo ad absurdum). Aber auch hier, wo wir dieses
Moment als Hilfsprinzip kennen lernen, verlangt die beabsichtigte, lustvolle Gesamt-
wirkung die öfters schon erwähnte Begrenzung, daß niemals eine allzuernste
Schädigung stattfinden darf. Doch ist die persönliche Empfänglichkeit, wie wir oben
gesehen haben, verschieden; ich z. B. kann über einen rohen Scherz nicht mehr
lachen und mich bei einem Lustspiel, wie George Dandin von JVlolifere, nicht ergötzen.
Es lassen sich aber wiederum Fälle finden, in denen gerade die Gegenteile der
Zeitschr. (. Ästhetik u. allg. Kuiistwissen>ch«ft. XV. 30
466 BEMERKUNGEN.
soeben angeführten Prinzipien als ästhetische Hilfen auftreten. So kann zu dem
egoistischen Angriffsprinzip, mit welchem der Zuschauer sich einfühlend sympathisiert,
dasjenige hinzutreten, was man mit »poetischer Gerechtigkeit« zu bezeichnen pflegt.
Ich habe selten im Theater ein so herzlich-jubelndes Gelächter gehört, als über
Onkel Bräsig (in einer Dramatisierung des Reuterschen Romanes), als er dem guten,
schwergeprüften Habermann den Spazierstock, den er beim Durchprügeln des intriganten
Übeltäters Pomuchelskopp zerbrochen hat, zurückgibt. — Daß man einen Spazier-
stock, der durch seinen zerbrochenen Zustand werllos geworden ist, zurückerstattet,
ist ein mäßiger Witz; aber daß hierdurch gezeigt wird, wie ein gemeiner Mensch
seine gebührende Strafe erhalten hat, macht das Volk jubeln.
Eine noch feinere Art der durch befriedigenden Gerechtigkeitssinn verstärkten
Komik findet sich in den Lustspielen des Beaumarchais »Figaro« und »Figaros
Hochzeit«, auch in Molieres Komödien, in Scribes :>OIas Wasser« und »Frauenkampfr,
in- dem »Zerbrochenen Krug« Heinrich von Kleists und in Gogols »Revisor«.
Hier hat die vornehmste Art der Komik, der Humor eingesetzt, von dem zum
Schluß noch zu reden sein wird.
Ebenfalls kann das Gegenteil der Freude am Logischen, das Paradoxe als Hilfs-
prinzip dienen, doch nur selten, da die Freude am Unlogischen zu sehr mit dem
Lebensnerv aller Komik, der Daseinsfreude im Widerspruch steht.
Als weiteres Hilfsprinzip tritt uns das Durchbrechen der sittlichen Normen ent-
gegen, ähnlich wie das Durchbrechen des Anstands im obszönen Witz. Wenn wir
hören, daß eine junge JVlutter auf die Rede »Dein Kind ist ja der ganze Vater!«
erwidert: »Nicht wahr! — und mein IVlann bildet sich ein, es sieht ihm ähnlich!« —
so lächeln wir über die Kenntnisnahme des Ehebruches.
Außer den hier angeführten Momenten, denen, die aus dem Kampfinstinkte
entspringen, denen aus Lust an der Schlagfertigkeit und dem Geistreichsein, denen
aus der Freude über den Sieg des Logischen und der Niederlage des Törichten,
denen aus der Befriedigung unseres Gerechtigkeitsgefühls und ferner denen aus der
Lust am Paradoxen und denen aus Freude am Durchbrechen der sittlichen Schranken,
— außer diesen werden sich noch andere als solche erweisen; — grundsätzlich
ausgeschlossen sind nur diejenigen, die keine lebensfreudige, ichbejahende Tendenz
haben.
Die Schwierigkeit, auf dem ästhetischen Sezierboden mit dem Skalpell der Kritik
die fünf einzelnen Teile herauszuschälen, ist freilich größer, als es auf den ersten
Blick erscheinen mag. Wie in der Fassung mancher Scherze — wir sahen es oben
bei dem Talleyrandschen Ausspruch — die zweite Vorstellung nicht in das Auge
fälh, weil sie sich nicht ausgeprägt vorfindet, so ergeben sich jene einzelnen Teile
nicht ohne weiteres, und erst, nachdem wir nach der Ursache dessen, worüber
wir lachen, geforscht haben, gelangen wir zu der gewünschten Klarheit. Selbst
ein Theodor Fechner gibt bei den von ihm angeführten Scherzen (Vorsch. d. A.
I.Teil, S. 222) den komischen Sprung, den er »Bindeglied« oder »einheitliche Ver-
mittlung« nennt, jedesmal falsch an. Seine Beispiele lauten: Von einer Tänzerin,
die 4000 Taler bekommt und hauptsächlich Elfenrollen tanzt, wird gesagt:
2000 Taler für jedes Bein, das ist teures Elfenbein! — Ferner: Saphir sagt zu dem
Bankier, der ihm 300 Gulden zu leihen zugesagt, und der deshalb zu ihm kommt,
auf dessen Rede: Sie kommen um die 300 Gulden! — : »Nein, Sie kommen um
die 300 Gulden!« — Und die dritte: In einer Gesellschaft, auf der man fast auf
alle Anwesenden unter den nichtigsten Vorwänden getoastet hatte, erhebt sich ein
Engländer, der seine mangelhafte Beherrschung der deutschen Sprache dazu benutzte,
um Wortspiele zu machen und läßt die Onkels mit Nichten leben! —
BEMERKUNGEN. 467
Fechner erklärt: >lni ersten Beispiel ist es der Begriff der Teuerung, im zweiten
das Geschäft mit den 300 Oulden, im dritten der Toast auf die Mitglieder der Ge-
sellschaft, was die einheitliche Vermittlung zwischen den verschiedenen Bedeutungen
begründet!« — Das ist unrichtig, denn im ersten Fall ist es das Wort »Elfenbein«,
worunter 1. das Bein der elfentanzenden Tänzerin, 2. Elephantenzahn verstanden
wird. Im zweiten Fall ist es der Ausdruck >kommen, um«, — was 1. bedeutet
»hergehen«, und 2. »verlieren«. Im dritten Fall bildet das Wort »mit Nichten« den
komischen Sprung; 1. bedeutet es »mit Geschwisterkindern«, 2. »unberechtigter-
weise«. — Wie ich während der Vorarbeiten zu dieser Studie feststellen konnte,
hängt die Fähigkeit hier richtig zu urteilen , lediglich von der Häufigkeit der
Übung ab.
Das Komische selbst kann aber wiederum seinerseits als Hilfsprinzip respektive
als Mittel für andere Zwecke auftreten, z. B. in den politischen Komödien der Alten,
in der Satire, in der Karikatur usw., zu den realen Zwecken der Verächtlichmachung
des Gegners oder der Diskreditierung gewisser Ansichten und Geistesrichtungen,
oder zur Verhöhnung unberechtigter Machtfaktoren. — Die Ironie benutzt die
komische Form einer scheinbaren Anerkennung von bestimmten Eigenschaften des
Gegners oder der zu tadelnden Sache, um auf das Fehlen derselben oder ihren un-
zulänglichen Zustand hinzuweisen. In der Parodie dient das komische Element zur
Verspottung einer literarischen Stilform, in der Travestie zur Herabsetzung eines
mißliebigen Stoffes. Auch die ernste Dichtung gebraucht das Komische zur Ver-
stärkung des Gegensatzes zum Tragischen, wie die vielen komischen Figuren in
seriösen Werken beweisen. ^
Die Komik, auch der Witz kann nun in einer ganz besonders veredelten Form
auftreten, die man seit dem achtzehnten Jahrhundert mit Humor bezeichnet.
(Früher wurde das Wort ziemlich gleichbedeutend mit Komik gebraucht ; ein scharf
umrissener Begriff hat sich erst nach und nach herausgebildet.) Wenn wir nun fest-
stellen wollen, was im Humor zu den komischen Grundelementen (der Fabel mit
der heiteren Tendenz, den beiden verschiedenartigen Vorstellungen, und dem komi-
schen Sprung) noch hinzutritt, so werden wir finden, daß es sich hier im wesent-
lichen nicht um ein Moment handelt, das der Sache anhaftet (also objektiv ist),
sondern daß es hier auf unsere Betrachtungsweise, mit der wir das komische
Objekt auffassen, ankommt. Es handelt sich im Humor um eine erweiterte An-
schauungsform, die uns die Dinge sab specie neternitatis sehen läßt, und die sie mit
einer Weltanschauung in Verbindung bringt. Das Kleinliche, Lächerliche des vor-
liegenden komischen Vorfalls wird verglichen mit dem Ewigen und den dahinter-
liegenden Gesetzen der Natur. Dadurch gewinnt unsere Stellungnahme eine Größe,
ein Verstehen des Unvollkommenen und Erbärmlichen, ein Verzeihen des Fehler-
haften und oft sogar ein Aussöhnen mit der Wirklichkeit, das etwas Optimistisches
an sich hat. Am einfachsten sagt es eine Bemerkung Dessoirs: »Unter Humor
verstehen wir eine Oeniütsstininuing, in der ein Mensch sich seiner Bedeutung und
zugleich seiner Bedeutungslosigkeit bewußt ist.« (Ästhetik und allgem. Kunstwissen-
schaft, S. 224.)
„Psychoanalyse und Kuiiitphilosopie". Zu diesem Aufsatz des Herrn Dr. O. E. Hose
(S. 328) wünscht Herr Dr. Otto Rank fcsteettcllt zu sehfn, daß sein Buch „Der Künstler" in erster Auf-
lage bereits 1907, also vor Stekcls Duch, erschienen ist und durch das umfangreiche Werk „Das Inzest-
■liOliv in Dichtung und Sage" (1912) ergüiiit wird.
Besprechungen.
Walter Brecht, Konrad Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner
Gedichtsammlung. Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller. Universitäts-
Verlagsbuchhandlung. O. m. b. H. 1918. 233 S.
Innerhalb der neueren, aufs Objekt gerichteten wissenschaftlichen Bestrebungen,
soweit sie die Lyrik betreffen, bezeichnet das Buch einen beachtlichen Fortschritt.
Wir haben nach den biographischen Ausschweifungen gewisser Schulen wieder ge-
lernt ein Gedicht rein für sich aufzunehmen. Es ist natüriich, daß der Wunsch sich
regt, auch eine Sammlung von Gedichten einmal auf ihren in ihr selbst ruhenden
Wert zu untersuchen. Nichts zeigt besser als das Buch Brechts, daß unsere ästhe-
tische Kritik den toten Biographismus innerlich überwunden hat. Das Biographische
muß in der Darstellung einer Gedichtsammlung als Kunstwerk natüriich stärker
heraustreten als bei einer ästhetischen Analyse einzelner Gedichte. Brecht hat auch
biographisches Material überall in seiner Darstellung verarbeitet. Aber das Bio-
graphische steht unaufdringlich im Hintergrund; seine Beherrschung ist selbstver-
ständliche Voraussetzung, nicht das Ziel der Erklärung. Im Vordergrund steht
immer das objektive Gebilde, die Gedichtsammlung. Das Erlebnis tritt nur soweit
in die Darstellung ein, als es dazu dient, das Geformte in seinem ganzen Reich-
tum zu zeigen. Jener hoffentlich vergangenen Interpretationsweise war das Kunst-
werk, aus dem das Biographische herausgeschält war, ein Rest, mit dem man nichts
anzufangen wußte. Hier führt das Biographische nur noch tiefer in das objektive
Werk hinein, und das Erlebnis ist der Rest, der zurückbleibt, oder besser: Brechts
Buch ist deshalb ein Höhepunkt der objektivistischen Methode, weil es das Bio-
graphische nicht als ungelösten Rest zurückläßt, sondern in die Form aufhebt. Nicht
Meyers Leben, sein geformtes Leben zieht an uns vorüber, ein »wahreres« (207)
und doch höchst individuelles.
Soviel über die Methode. Im einzelnen zeigt uns Brecht ausführiich mit innigster
Versenkung in seinen Gegenstand, welch beziehungsreicher Kosmos die Meyersche
Gedichtsammlung ist. Sein Beispiel beweist wieder einmal, daß nur Liebe schöp-
ferisch wird. Hier ist etwas gesehen, das uns bereichert, und das heuristische Prin-
zip« erkenne ich in dem energischen Satz (den ich jeder künftigen Untersuchung
über Meyer als Motto wünsche) »an innerer Temperamentlosigkeit bei ihm glaube
ich zu keiner Zeit«; (206).
Die Feinheit des Meyerschen Formempfindens, was Gedichtanordnung betrifft,
die von Brecht bis in die zarteste Verzweigung verfolgt wird, lernt man pro-
grammatisch gleichsam aus einer Erinnerung des Dichters an ein Gespräch mit
Keller kennen. Keller hat seine Vergänglichkeitslieder in einen Zyklus zusammen-
gestellt (»Sonnwende und Entsagen«). Meyer ist das nicht recht. Der Dichter,
meint er, will keinen »erwiesenen Satz« hinstellen. Die Stimmung der Vergänglich-
keit, die im Leben immer wieder anklingt, muß auch in der Gedichtsammlung
immer wieder neu erstehen. Er wünschte diese »süßen Stimmen^ also durch die
ganze Sammlung verteilt. Keller wurde unmutig, als er das hörte und Meyer brach
BESPRECHUNGEN, 459
ab. — Die Grenze Kellers wird hier mittelbar deutlich. Meyers Bemerkung weist
auf den Gegensatz der Anordnung seiner und der Kellerschen Gedichtsammlung
hin (ich hätte gewünscht, daß Brecht auf diesen Kontrast mit einigen Worten ein-
gegangen wäre). Auch Keller hat geordnet. Bei ihm bleibt eine Zusammenstellung
nach Stimmungsmomenten (wobei besonders im »Buch der Natur« auch manche
feinere Beziehung hergestellt ist), was bei Meyer ein zweites unsichtbares Kunst-
werk wird, das in und zwischen den einzelnen Gedichten sein Leben führt und das
uns der Dichter »wortlos in die Hände legt« (209).
Über der Fülle der Ähnlichkeiten, Parallelen (Handlungs- und Situationsparallelen
für den Verstand, Stimmungsparallelen für das Gefühl, Gebärdenparallelen für das
Auge, Klangparallelen für das Ohr, architektonische Parallelen im Bau der Gedichte),
.den Gegensätzen in der Ähnlichkeit«, den Variationen, Kontrasten, Steigerungen,
Fintfaltungen, Auftakten und Abschlüssen könnte einem naiven Leser Angst werden
vor der Bewußtheit des Lyrikers. Brecht hat die Erklärung für dieses einzige
Phänomen in einem guten Worte wenigstens angedeutet. Er nennt Meyer »eine
äußerst harmoniebedürftige Natur, die antithetisch organisiert ist« (7). Das heißt,
wie ich ergänzend interpretieren möchte, die beziehungsreiche Form der Meyerschen
Gedichtsammlung ist nicht nur das Werk eines ordnenden Verstandes, sondern
spiegelt zugleich die Form eines Erlebens. Dieses Erleben war schon beziehungs-
reich. Der Künstlerverstand hatte bei der Zusammenstellung kein sprödes, zu-
sammenhangloses Material vor sich (wie es, um einen Antipoden zu nennen, z. B.
Liliencron gehabt haben mag, der gleichsam immer eigensinnig aus dem Augenblick
empfindet), sondern das Material rief nach der Formung, die wir an der fertigen
Sammlung bewundern. Meyer empfindet den Lebensaugenblick gleichsam schon
historisch, d. h. im Zusammenhang, in Beziehungen aus einem Ganzen — kein Wunder
daher, daß sich die Augenblicke später wieder zu einem Ganzen fügen lassen. Diese
»historische«, dem eigenen Ich gegenüber distanzierende Art des Erlebens hat wenig
Freunde. Man vermißt daran die »Unmittelbarkeit«. Ich kann in diesem Schlag-
wort aber nichts anderes als den Ausdruck der Verständnislosigkeit für einen so wert-
vollen Erlebenstypus finden, dem Hölderlin, Novalis, Leopardi und C. F. Meyer an-
gehören.
Aus der »historischen« Empfindungsweise Meyers erkläre ich mir, daß man die
bis auf die Verszeilen und einzelnen Worte sich erstreckenden Parallelen und Kon-
traste, die Brecht nachweist, nicht als gesucht oder gemacht empfindet, sondern
hinnimmt als etwas, was so sein muß. Auch die Einheit der beiden Hauptgruppen,
der persönlichen und der historischen Gedichte, rechtfertige ich daraus: die histori-
sche Stellung dem eigenen Leben gegenüber drängt von selbst zur Darstellung des
Ich an historischen Momenten.
Ich bin auf die Erlebnisweise des Dichters zurückgegangen, was auch Brecht
(206) hat tun müssen. Damit soll der Blick nicht vom objektiven Gebilde abgelenkt
werden. Die Rückwendung auf den Dichter soll vielmehr nur das Vorurteil be-
seitigen helfen, als ob alles, was Anordnung und Form sei, auch gemacht und ge-
künstelt sein müsse. Die Form des Ganzen ist bei Meyer ebenso natürlich wie bei
anderen Dichtern die Form des einzelnen Gedichtes.
Nur einige Proben von der Art, wie Brecht Beziehungen herstellt. Auf den
Beziehungsreichtum der in dem zweiten (historischen) Abschnitt mit den Abtei-
lungen: Antike (»Götter«), Mittelalter (»Frech und fromm«), Renaissance (»Genie«),
Reformation (»Männer«) deute ich nur hin. Die illustrierenden Beispiele hole ich
aus dem ersten Abschnitt. Es steht da z. B. der vielleicht schönste Gedichtreigen,
der Meyer gelungen ist, die Cleliagedichte : Weihgeschenk, der Blutstropfen usw.
470 BESPRECHUNGEN.
bis: Einer Toten, genau in der Mitte der zentralen Abteilung :> Liebe« (als »Haupt-
erlebnis seiner ganzen Erdenfabrt«). Die Feinheit der Anordnung beruht darin, da(i
Meyer diesem Erlebnis seine zentrale Stellung wahrt und es doch im Zusammen-
hang der Abteilung zugleich als vergänglich zu charakterisieren versteht. Denn ein-
gefaßt ist der Reigen der Cleliagedichte von den Gedichten an die Gattin. Ihre
Liebe ist lebensbeherrschend, jenes Ereignis ist aber der tiefsten Empfindung zum
Trotz, doch nur eine Episode (94). Wer in solchen Hineingeheimnissen nur Spie-
lerei sieht, wird Meyers Gedichte überhaupt nie lange in der Hand behalten. Wer
aber diesen Dichter liebt, kann aus solchen Aufschlüssen tief willkommene Bereiche-
rung künstlerischen Erlebens gewinnen.
An einer Stelle scheint mir Brechts Einfühlungsfähigkeit zu versagen, an einer
entscheidenden. Meyers Geschichtsphilosophie würde ich auch durch den »Glauben
an ein ewiges Ziel aller historischen Entwicklung« (115) charakterisieren. Aber
Brecht betont das »ewig« nicht genug. Er scheint bei Meyer den Glauben an ein
wirkliches Ziel der Geschichte vorauszusetzen. Das helfet aber den Sinn des
»ungeheuren Gedichts« (»Alle«) mißverstehen. Diese großartige Vision will nicht
eine Erfüllung in der Zukunft darstellen, sondern bedeutet den ewigen Ausgleich
gegen alle Ungerechtigkeiten und allen Jammer der Geschichte, den der Mensch
in seinem Innern findet, wenn er des Göttlichen sich bewußt wird. Brecht scheint
es dagegen als eine Art Vision des Zukunftstaates zu deuten. Wenn Meyer das
Gedicht »sozial^ genannt hat, so kann er es nur in dem Sinne gemeint haben, in
dem man auch die Bergpredigt sozial nennen darf. Eine platte Fortschrittsphilo-
sophie ist einem so feinen Kenner der Geschichte sicherlich fremd gewesen. Die
Geschichte macht keine Fortschritte, wohl aber der einzelne Mensch in der Ge-
schichte. Die Versöhnung mit Gott vollzieht sich nicht am Ende der Zeiten: in
jedem Augenblick spricht der Geist »sieh auf! es darbt ja keiner, sie sitzen alle an
Tischen des Lebens«.
Zum Schlüsse ein grundsätzliches Bedenken, das die Form des Buches betrifft.
Es ist kein Buch, was uns vorliegt, sondern nur das Material zu einem. Merk-
würdig wie wenig Brecht für sein eigenes Arbeiten von Meyer gelernt hat. Seine
Arbeit teilt einen Fehler mit fast allen Büchern, die wir bei solchen Untersuchungen
zu erhalten pflegen. Sie gibt zu viel unaufgelösten Stoff. Die philologische Treue
läßt sich wahren, auch wenn man zusammenfaßt. Brechts Werk hätte ein Buch für
die Gebildeten werden können, es ist ein Buch für Philologen geworden. Der
Deuter hätte uns den Organismus dieses unvergleichlichen Kunstwerkes, das uns
seine Bemühung erst geschenkt hat, darstellen, nicht beschreiben sollen. Ich
mache einen Vorschlag. Der Verfasser dränge das wichtigste in einen Aufsatz zu-
sammen und der Verlag Haessel gebe diese Zusammenfassung als einführenden
Ergänzungsband den Gedichten bei. Das ausführlichere Werk würde seinen Wert
als Quelle der Belege trotzdem behalten. Meyers Gedichte sind in 112. Auflage er-
schienen; die Arbeit Brechts könnte vielen ein Führer zu vertieftem Genüsse sein.
Beriin.
Alfred Baeumler.
Adolf V. Grolman, Fr. Hölderlins Hyperion. Stilkritische Studien
zu dem Problem der Entwicklung dichterischer Ausdrucks-
formen. C. F. Müllersche Hofbuchhandlung m.b.H., Karisruhe i. B. 1919.
34 S.
Von dieser Arbeit gilt in der Hauptsache dasselbe, was wir in der vorhergehen-
den Besprechung des Buches von Brecht sagen mußten. Mit der größten Feinheit
BESPRECHUNGEN . 47 j
der sachlichen Behandlung des Themas verbindet sich ein erstaunlicher Mangel an
darstellerischem Vermögen. Auch Qrolmans Interesse haftet am objektiven Werk.
Zwischen den Extremen der dithyrambisch-subjektiven und der rational-objektivieren-
den (»philosophischen^) Behandlungsart sucht er einen Weg zum Werk. Dazu
wäre es nicht nötig gewesen einen ganzen Zettelkasten auszuschütten. Bei Dich-
tern,, deren Werk unübersehbar groß oder schwer zugänglich ist, mag ein reich-
liches Anführen von Belegen willkommen sein; bei so leicht überblickbaren Er-
scheinungen wie Hölderlin ist es Pedanterie. Wer seinen Hölderlin kennt, braucht
nicht nachzuschlagen, ob die wesentlichen Aufstellungen richtig sind, und wer ihn
nicht kennt, wird ihn durch die zahllosen Verweise auf Seite so und soviel auch
nicht kennen lernen.
JV\it seltener Einführungsfähigkeit hat sich der Verfasser in die Arbeitsweise des
Hyperiondichters eingelebt. Er steht seinem Gegenstand innerlich so nahe wie
Brecht dem seinen und das zeichnet sein Buch in der ganzen Hölderiinliteratur
aus. Gewisse Peinlichkeiten in dem sonst so kostbaren Hyperionmaterial scheinen
mir durch Grolman völlig erklärt. Die Arbeitsweise Hölderiins am Hyperion ent-
stamme nicht der Überfülle an Gestaltungskraft, sondern einem aus dem Veriieren
der Distanz zu begründenden Tasten und Suchen nach Leichtigkeit und Mannig-
faltigkeit. Statt die Harmonie seiner Seele als (»vielleicht bestreitbaren« sagt v. Grol-
man; was läßt sich in diesem Sinne nicht »bestreiten«?) Eigenwert zu erkennen,
begeht Hölderlin eine Inkonsequenz nach der anderen (35). Im sogenannten Ich-
roman veriiert Hölderiin, im Streben nach dem »Gefühl der Überiegenheit«, alle
Distanz. Die Linie fehlt, die Reflexion ertötet das Leben. Der Wert der Grolman-
sehen Untersuchung beruht darin, daß sie diese Stilverirrungen an einem ganz be-
stimmten Kunstmittel nachweist und zwar an einem für Hölderiin entscheidenden:
der landschaftlichen »Bildgebung«. (Die Definition der Bildgebung, die der Ver-
fassers. 11 gibt, scheint mir nicht glücklich. Wie ich den Beispielen entnehme, ver-
steht er unter Bildgebung eine im Zusammenhang dichterisch bedeutsame, gleich-
sam geistig ausstrahlende Landschaftsdarstellung.) Es ist völlig berechtigt, gerade
dieses Stilniotiv in den Mittelpunkt einer Hölderlinuntersuchung zu rücken. Nicht
mit Unrecht sagt der Verfasser, daß das landschaftliche Bildmotiv für Hölderiin das
Gegenmittel gegen seine hauptsächlichste Gefahr, sich in der Überfülle der Re-
flexionen zu veriieren, darstelle (46).
Dem Motiv der Bildgebung entgegengesetzt, Anzeichen nicht der bauenden,
sondern der auflösenden Kräfte, ist das Stilelcment des Deskriptiven. Dies tritt in
der Endfassung des Hyperions hervor. Die Anschauungsfähigkeit hat sich gesteigert,
die Linien sind größer, aber die Einheitlichkeit des landschaftlichen Wertes hat ge-
litten (54). Diese Behauptungen zu belegen ist hier nicht möglich. Mir scheint
Grolman im ganzen richtig gesehen zu haben. Seine beste Arbeit steckt in den
»Tabellen«, denen er Leben einzuhauchen leider nicht verstanden hat. Einzelne
Beispiele, schlagend einander gegenübergestellt, hätten uns von Hölderlins Ringen
und Künstlertum mehr vermittelt als diese überaus fleißigen Zusammenstellungen.
Es ist naiv, wenn der Verfasser sagt: man vergleiche diese und jene Szene (S. 54).
Vergleichen ist seine Sache, nicht die des Lesers. Ein Gegenwartsmensch hat nicht
Zeit, tagelang Stellen aufzusuchen. Diese Ungeschicklichkeit ist bedauerlich, weil
sie uns bei der großen Innigkeit, mit der der Verfasser seinen Stoff umfaßt, zweifel-
los um schöne Ergebnisse bringt.
Außer der »Bildgebung« behandelt Grolman noch das Problem der Distanz,
das in der Briefform so schön zum Ausdruck kommt. Diese Form hat Grolman
mit großer Zartheit nachgefühlt und bis in ihre feinsten Wirkungen verfolgt. Er
472 BESPRECHUNGEN.
protestiert gegen Diltheys Bezeichnung des Hyperions als Bildungsroman. Der
Hyperion gibt keine Entwicklung im iierkönimlichen Sinne. Alle Entwicklung ist
durcli die Fiktion der rückscliauenden Betrachtung vorweggenommen. »Dieser
Grundzug der still-f rohlockenden, aber resignierten Selbstschau spiegelt ein leichtes
Behagen an dem, daß alles so geworden ist, und eine milde Trauer an dem, daß
nicht anders gekonnt wurde. Es ist wohl Flucht vor dem Leben, aber nicht
Flucht vor dem Leiden« (62). Die Bedeutung, die die Stellung des Schicksalsliedes
im ganzen hat, entgeht Grolman natürlich nicht.
Sehr schön ist die Übersetzung des Wortes: »Wir Griechen^; es bedeutet, sagt
Grolman, alle die Leidenden. In einem Exkurs weist er die Züge in Hölderlin
nach, die es unzweckmäßig erscheinen lassen, ihn unter die Romantiker einzureihen.
Dämmerung und Mondlicht ist für ihn nur ein Stilmittel unter anderen , z. B. für
Alabanda. Seine eigentliche Landschaft ist klar und nachdenklich. Griechenland
ist für ihn kein ästhetischer, sondern ein ethischer Begriff. Fein nennt Grolman die
Hölderlin eigenste Tendenz die des Wartens (83), also eine höchst »unromantische«
Form der Sehnsucht. So ganz unromantisch ist das Warten vielleicht nicht. Es
wäre jedenfalls gut, wenn Grolman deutlich gesagt hätte, daß der Trennungsstrich,
den er zwischen Hölderlin und der Romantik zieht, nur den Begriff der deutschen
literarischen Romantik von Hölderlin entfernt. Zur Romantik im weiteren Sinne
wird Hölderlin trotzdem immer gehören. Um hier genau zu unterscheiden muß
man schärfer bestimmte Begriffe des Klassischen zur Verfügung haben als Grolman
aufgerafft hat.
Beriin. Alfred Baeumler.
Max Hochdorf, Zum geistigen Bilde Gottfried Kellers. Amalthea-
bücherei. Bd. V. Amalthea Verlag. Zürich, Leipzig, Wien. 98 S.
Der erste »Zur Psychologie« überschriebene Abschnitt enthält eine Charaltteristik
des Erotikers Keller. Von diesem Zentralpunkt aus findet der Verfasser den Weg
zu dem, worauf es ihm vor allem ankommt: einer Kritik der Stileigentümlichkeiten
der Kellerschen Dichtung. Trotz dem subjektiv-psychologischen Eingang zeigt die
Studie Hochdorfs also die Richtung auf das objektiv-formale. Rein ist diese Richtung
insofern nicht eingehalten, als die formalen Extreme, zwischen denen sich Kellers
Erzählungsart nach Hochdorf bewegt, romantischer und realistischer Stil, nicht nur
zeitlose Darstellungsgegensätze, sondern auch historische Begriffe sind (es hat sogar
manchmal den Anschein, als ob der Verfasser jenen mit dem Unvollkommeneren
diesen mit dem Vollkommeneren identifizierte). Dann wäre der Hauptteil der Arbeit
einer Feststellung der historischen Stellung Kellers zwischen Novalis und Zola
gewidmet.
Es mag sein, daß es in dem unwirschen Junggesellen manchmal gewurmt und
gewühlt hat, weil er nicht einmal »das geringe Liebesglück des Alltagsmenschen
einheimsen konnte«. Man darf auch sagen, daß die Liebesszenen seiner Dichtung
»Träume seiner Sehnsucht« sind. Hochdorf zeigt, wie das Schicksal der Jünglinge
in Kellers Novellen meist dem Kellerschen entgegengesetzt ist, wie da ein »richtiger
Don Juan- und Casanovaspuk« anhebt. Aber man sollte doch nicht vergessen
darauf hinzuweisen, daß mit dieser psychologischen Feststellung vom Künstler
noch nichts gesagt ist. Denn damit ist nur etwas über die H a n d I u n g der Keller-
schen Novelle gesagt, noch nichts über ihre eigentümliche Darstellungsweise. Eine
tiefere Untersuchung begänne erst da, wo der epische Stil Kellers z. B. mit dem
Goethes verglichen würde. Goethe ist, was das Privatleben betrifft, Anlipode Kellers,
und doch würde ein Vergleich der Dichtungen beider wahrscheinlich starke Gemein-
BESPRECHUNGEN. 473
samkeiten enthüllen. Vor allem: ist nicht den Frauengestalten beider, die in der
Erotik so entgegengesetzt waren, derselbe Glanz eigen bei allem »Realismus«? Was
unterscheidet die Frau Regel Amrain von Dorothea, der Geliebten Hermanns? Das
Junggesellentum Kellers wäre also vielleicht nur eine Anekdote im Verhältnis zu
seiner Kunst? Ich will es nicht behaupten. Aber es scheint mir, als ob man häufig
zu schnell Kunst und Leben eines Dichters in Zusammenhang bringt, ohne zu
fragen, ob nicht ein entgegengesetzt gerichtetes Leben zu verwandten Kunstgebilden
führen könnte. Hochdorf hätte vielleicht besser auch den Schein vermieden, als sei
Kellers Liebesunglück irgendwie als Mangel aufzufassen. Eine solche Bewertung
entspränge nicht einer »Weltanschauung*, sondern, wie er an einer Stelle mit glück-
licher Entgegensetzung sagt, einer ' Schlafstubenanschauung«.
Hochdorf konstatiert in Keller einen »Zwiespalt zwischen der sehenden Er-
kenntnis und der Manier des formenden Schaffens«. Der Verfasser des grünen
Heinrich wittert Neuland, aber er entsetzt sich, wenn er wahrnimmt, daß er schon
hineingeschritten ist. Er mildert, also verhüllt. Hochdorf zeigt das Zunehmen dieser
verklärenden Tendenz an den beiden Fassungen des großen Lebensromans. Was
ist der junge Keller? Jedenfalls kein Romantiker. Selbst der Verfasser des Martin
Salander aber ist kein Realist. Kellers Stil ist ein Lustwandeln zwischen Romantik,
Realistik und Naturalistik. Hochdorf stellt das Gedicht: Die Spinnerin (1844) ver-
gleichend neben die Huldaepisode des grünen Heinrichs (um 1880) und findet trotz
dem Abstand der Jahre ein gleiches; dort eine echt romantische Metapher (»des
Lebens Myrthenkränze«), hier die Scheu vor dem naturalistischen Ausdruckmittel,
die die Prostitution der Arbeiterin mit Mondschein verschleiert. — Diese Beobach-
tungen, mögen sie auch oft etwas pointiert vorgebracht werden, weisen in der Tat
auf das Hauptproblem der Kellerschen Darstellung hin. Ich sehe dieses Problem
jn der Frage: inwieweit beruht Schönheit, Ruhe und Geschlossenheit der Kellerschen
Dichtung auf einen Mangel ? Ist sie aus Fülle hervorgegangen oder wird sie (zum
Teil wenigstens) der Flucht vor der Wirklichkeit verdankt? Die Antwort Hochdorfs
ist etwa die: Keller zögert, seinen naturalistischen Neigungen nachzugeben. Was
als strenge Wahrheit voraus berechnet war, wird oft nur «artige und selbst idyllisch
gleißnerische Abenteuerei«. Der junge Dichter (erste Fassung des grünen Heinrich)
wie der alte (Entwurf zum Martin Salander) mit ihrer »Untertänigkeit vor dem Wirk-
lichen« überwiegen den Keller der mittleren Zeit »der Legendenstimmungen und
der Lustfahrten durch Traumland und Phantastereien, die nicht im Gelände des Ver-
nünftigen anzusiedeln sind«. Was zwischen den beiden großen Romanen liegt, »die
Lieblichkeit der Legenden, die Launigkeit der Seldwyler Geschichten, die Lehrhaftig-
keit des Sinngedichts, die Erbaulichkeit der Züricher Novellen« erscheint Hochdorf
wie ein köstliches Abenteuer. Der Dichter hat in ihnen Kunststile erprobt, die ihm
fremd waren. Das Endurteil lautet also: Kellers Formensprache ist stellenweise
noch romantisch. »Der Pfadfinder auf einer sehr irdischen Welt kommt zeitweilig
von den romantischen Stilmitteln nicht los«. Seine Formgebräuche sind streng von
seinem Geist zu unterscheiden. Diesen eigentlichen Geist Kellers erblickt Hochdorf
in den kühneren, naturalistischeren Bildern des ersten grünen Heinrichs und des Sa-
landerentwurfs, nicht in dem des zweiten grünen Heinrichs und den vielbewunderten
Legenden.
So interessant die Herausarbeifung dieses verborgenen rücksichtslos »naturalisti-
schen« Kellers ist, scheint mir, hat Hochdorf dem Problem, um das es sich eigent-
lich handelt, durch sein Werturteil die Spitze abgebrochen. So wenig es angeht,
auf den ersten grünen Heinrich und die Salanderentwürfe allein eine Theorie des
Kellerschen Geistes zu gründen, so wenig kann man den Dichter der Legenden
474 BESPRECHUNGEN.
nur als Zwischenspiel betrachten. Mit dieser Gewaltsamkeit wird nichts gewonnen.
Das Problem erhebt sich von neuem: hat der Dichter des ersten grünen Heinrichs
alles gesagt? Ist nicht auch hier schon dieselbe stilisierende Kraft wirksam, die
später die sieben Legenden schuf? Mir scheint die Kellersche Erzählungskunst eine
Einheit zu bilden, in der sich Wirklichkeitsnähe und Stilisierung verschiedenwertig
verbinden. Beide Elemente sind immer gemischt, und statt zu trennen, was nicht
zu trennen ist, sollte man die Mischung untersuchen, d. h. feststellen, was diese
romantische, stihsierende Tendenz in ihrem Kern bedeutet, ob sie, unserer Frage
nach, ein Mangel oder eine Stärke des Dichters ist.
Zu einer Untersuchung dieser Frage bietet Hochdorfs Schrift manche gute Be-
obachtung. Offenbar würde seine Antwort der Stilisierung ungünstig lauten. Das
Gefühl der meisten modernen Kellerleser wird ihm recht geben. Man empfindet
oft etwas wie eine Scheinlösung, ein Kompromiß in der Darstellung. Vielleicht
tritt an allen diesen Stellen eine Art von .romantischer Metapher« für eine realistische
Wendung ein. Die Frage bleibt aber offen, ob durch die »Flucht^ vor der Wirk-
lichkeit nicht ein neuer Wert geschaffen wird. Auf solchen Stellen beruht vielleicht
mit das schwebende der Kellerschen Fabulierkunst.
Max Hochdorf sagt uns am Schluß, daß er viel der Beispiele im Kasten zurück-
behalten habe. Vielleicht öffnet er den Kasten noch einmal und führt sein fein-
sinnig begonnenes Zergliederungswerk des Kellerschen Erzählerstüs weiter. Dabei
werden ihm hoffentlich Wendungen wie die S. 78 über antike Tragödie und Mytho-
logie nicht mehr entschlüpfen. Durch ein Versehen steht auf S. 50 und 51 Romeo
und Julia »auf dem Lande«, statt »auf dem Dorfe«.
Berlin. Alfred Baeumler.
E. Troeltsch, Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichts-
philosophie des Positivismus. Philosophische Vorträge der Kant-
Gesellschaft, Nr. 23. Berlin, Reuther & Reichard, 1Q19. 9Q S.
Mit seiner bekannten Meisterschaft, große Zusammenhänge zu überbücken, Ge-
dankensysteme auf ihre letzten Motive und ihre kulturellen Grundlagen genau zu
untersuchen und die ganze ungeheure Masse des Materials mit allen andringenden
Assoziationen wuchtig zusammenzuballen, mustert der Verfasser die kausalgenetische
Methode der Geschichtsbetrachtung in ihrem Vorstadium bei St. Simon, ihrer Aus-
bildung bei Comte, Miil und Spencer und ihren letzten Nachwirkungen bei Wundt.
Dem ästhetisch interessierten Leser schwebt ja vor allem die Anwendung der
Methode auf das künstlerische Leben bei H. Taine vor. Dem kritischen Blicke des
Verfassers entgehen die Schwächen des ganzen Verfahrens nicht, läßt es sich doch
auf so zusammengesetzte und individuell differenzierte Erscheinungen und Gebilde
wie künstlerische Persönlichkeiten und Kunstwerke nur mit Gewaltsamkeit oder nur
mit steten Anleihen bei einer teleologischen Betrachtungsweise anwenden, die denn
doch wieder von der älteren dialektischen Auffassung nicht mehr wesentlich ver-
schieden ist. Es wird ein Hauptverdienst der scharfsinnigen Untersuchung bleiben,
die Annäherung von Wundts Lehre vom »historischen Auftrieb«^ an Gedanken Hegels
gezeigt zu haben, besonders was die höheren Schichten der Kultur, also etwa die
vierte Stufe der geschichtlichen Entwicklung nach der Anschauung des Leipziger
Denkers angeht. Damit ergibt sich von selbst T.'s ablehnende Stellung zu Lamp-
rechts Konstruktion, der die »Oleichläufigkeit« in der Stufenfolge vollentwickelten
Volkstums theoretisch behauptet, aber angesichts der recht verschiedenen Entwick-
lung, z. B. der Griechen und Römer, der Chinesen und Engländer doch nicht durch-
I
BESPRECHUNGEN. 475
führen kann und der, um für jede Stufe einen gewissen geistigen Kolleictivzustand
zu erweisen, jeweils die heterogensten geschichth'chen Elemente in sein psycho-
logisches Schema pressen muß, worunter gerade auch seine Darstellung der künst-
lerischen Entwicklung Deutschlands leidet. Schließlich kann auch seine Synthese
eines idealistisch-metaphysischen Hintergrundes nicht entbehren und so langen wir
doch, wieder in der Nähe des Ausgangspunktes an. Der Gewinn der ganzen Me-
thode liegt nach Troeltsch in der durchgängigen realistischen Durchfärbung der Ge-
schichte, die wir uns wohl gefallen lassen können; weiterhin in der Zurückführung
dieses Realismus auf möglichst allgemeine Prinzipien. Aber was helfen mir diese
»allgemeinen Gesetze«, d. h. zum großen Teil nur recht bedenkliche Verallgemeine-
rungen von Tatsachen, die auf induktivem Wege aus der Beobachtung einzelner
halle mit ihrer ganzen indirekten Besonderheit gewonnen sind. Bei rein »kausa'ert
Betrachtung kommen wir, wie Troeltsch am Schlüsse betont, weder zu einer rein-
lichen Abgrenzung des einzelnen Gegenstandes, der ja doch allemal ins Ganze ver-
fließt, noch zu einer wirklichen Entwicklung, sondern nur zu Reihenbildungen, die
allen höheren Gebilden gegenüber versagen.
Hamburg. Robert Petsch.
Johannes Volkelt, Das ästhetische Bewußtsein; Prinzipien fragen
der Ästhetik. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, Oskar Beck, Mün-
chen 1920. 228 S.
Als ich vor einiger Zeit an dieser Stelle die neue Auflage von Wundts Kunst-
band aus seiner Völkerpsychologie anzeigte, mußte ich — trotz aller Verehrung —
darauf hinweisen, wie dünn sich die Probleme lebendiger, moderner Forschung in
jenem Werke abzeichnen, wie stark die Fühlung zur Gegenwart gelockert ist. Das
gerade Gegenteil gilt von der vorliegenden Arbeit des Altmeisters unserer Wissen-
schaft, die mitten hinein in aktuellste Fragen leitet. Der Leser wird immer wieder
die weise, besonnene Klarheit aller Ausführungen bewundern, die Durchsichtigkeit
und Folgerichtigkeit des Aufbaues, die geschmeidige Fügsamkeit der Sprache, die
feinste seelische Verwebungen schaubar macht, vor allem auch die vollendete Be-
herrschung der Literatur, die sich bis auf die Jüngsten erstreckt. Ein Buch Volkelts
braucht man Fachleuten nicht zu empfehlen; sie wissen sehr gut, daß sie es lesen
müssen, und die Lektüre sich lohnt. Kritische Randbemerkungen will ich in diesem
Falle unterlassen, denn die beiden Bände meiner »Grundlegung der allgemeinen
Kunstwissenschaft« (1914 und 1920) boten mir hinreichend Gelegenheit zu eingehen-
der Auseinandersetzung. Ich bedauere nur lebhaft, daß Volkelt der allgemeinen
Kunstwissenschaft als solcher schroff ablehnend gegenübersteht, denn die Differenz
scheint mir gar nicht so unüberbrückbar. Den vvesensnotwendigen Zusammenhang
der Kunst mit dem Ästhetischen habe ich niemals geleugnet, im Gegenteil stets
nachdrücklich betont. Und Volkelt anerkennt »vollauf«, »daß die Kunst auch mora-
lische, pädagogische, volkswirtschaftliche, ethnologische Seiten in sich schließt«.
Ich ziehe daraus den Schluß, daß die Ästhetik dem vollen Tatbestand der Kunst
nicht gerecht zu werden vermag, imd daß von ihrem Standpunkt aus eine rein
ästhetische Kunst gefordert werden müßte. Auch im Betriebe der Wissenschaft
spielen verschiedene Faktoren mit, sie sind aber deutlich als trübende Medien er-
kennbar, psychologisch bedeutsam, nicht systematisch gerechtfertigt. Die außer-
ästhetischen Sachverhalte der Kunst scheinen mir jedoch nicht Beigaben, die sachlich
besser unterblieben, sondern verankert in Gegenständlichkeit, Wesen und Wert der
Kunst. Darum halte ich es für unzulässig, vom Ästhetischen ausgehend zur Kunst
476 BESPRECHUNGEN.
herabzusteigen, wie es Lipps in prachtvoller Strenge und rigoroser Einseitiglteit tat,
sondern erachte es für notwendig, mit einer Wesensuntersuchung der Kunst zu be-
ginnen und dann erst zu fragen, wie sich das Verhältnis des Künstlerischen zum
Ästhetischen gestaltet. Und Volkelt ist in seiner praktischen Arbeit allen Verzwei-
gungen des Künstlerischen so liebevoll nachgegangen, daß gerade bei ihm von
einem = Zwängen« und »Hineinpressen« der Gesamtheit der Kunst unter das Ästhe-
tische nicht die Rede sein kann. Nur nimmt er meiner Ansicht nach hierbei so
viel Außerästhetisches in die Ästhetik hinein, daß es mir methodisch und systema-
tisch einwandfreier erscheint, den Gesichtspunkt der Kunstwissenschaft vorherrschen
zu lassen. Gewiß ist nicht die konkrete Welt der Erfahrung »stückweise auf ver-
schiedene, einander ausschließende Wissenschaften aufgeteilt' , aber das Zusammen-
arbeiten der einzelnen Disziplinen erfolgt um so förderlicher und reibungsloser, je
klarer und reiner Kategorien und Problematik jeder einzelnen entwickelt sind. Der
»gemäßigte Psychologismus << — den Volkelt vertritt — ist keine unübersteigbare
Scheidewand, denn ohne Psychologie wird niemals eine allgemeine Kunstwissen-
schaft ihr Auskommen finden, und ihre Gleichsetzung mit Psychologie befürworten
zu wollen, liegt ihm völlig fern. Nur stehen seiner Natur gerade die Fragen be-
sonders nahe, die enge Beziehung zur Psychologie erfordern. Und darum ver-
schieben sich auch bei Volkelt die Akzente nach dieser Seite. In dem Buch, dessen
Erscheinen zu vermelden ich hier die Freude habe, bietet Volkelt sogar rein psycho-
logische Untersuchungen, und zwar solche von hoher Bedeutung. Ja diese lebens-
vollen und fein abgetönten psychologischen Beiträge sind so wichtig und wertvoll,
daß ich den Wunsch nach einer Gesamtdarstellung der Psychologie zu äußern mir
gestatten würde, wenn ich ihn nicht selbst für unbescheiden hielte.
Abschließend erwähne ich noch, daß der erste Abschnitt die ästhetische Gegen-
ständlichkeit behandelt, das Problem der Objektivität in der Ästhetik. Drei weitere
Abschnitte sind der »Einfühlung« gewidmet, der fünfte beschäftigt sich mit der
Frage »Illusion und ästhetische Wirklichkeit«, während der sechste der »Mit- Wahr-
nehmung und Phantasie im ästhetischen Betrachten« gilt. Der letzte Abschnitt er-
örtert den Gebild-Charakter des ästhetischen Verhaltens. Die Nennung dieser
Kapitelüberschriften soll nur die an alle Ästhetiker und Psychologen gerichtete Ein-
ladung bekräftigen — obgleich dies ohnehin nicht nottut — sich recht eingehend
mit diesem Buch zu befassen, das sich ebenbürtig dem berühmten »System der
Ästhetik« anreiht.
Rostock. Emil Utitz.
Melitta Gerhard: Schiller und die griechische Tragödie. (Forschungen
zur neueren Literaturgeschichte LIV.) Weimar, Alexander Duncker Verlag,
1919. 136 S.
Die vorliegende Arbeit untersucht die Beziehung zwischen der griechischen
Tragödie und Schiller: es handelt sich dabei nicht um Feststellen eines direkten
Einflusses, sondern einer entscheidenden mittelbaren Einwirkung, deren Gewinn für
das deutsche Schrifttum wie für das geistige Leben überhaupt in der Folgezeit
wichtig geworden ist. Wie Hellas für Schiller weniger eine eigene Wesensform
oder Bildungswelt als eine sittliche Weltanschauung war, so hat er von der Tragödie
kaum Elemente übernommen — und doch hat erst die Berührung mit ihr seinen
späteren Dramen die heroische Eigenheit ermöglicht und seinem Stilwandel die hohe
Form erleichtert. Schiller ist der griechischen Tragödie durch die tragische Grund-
stimmung verwandt: die Art der Tragik bleibt allerdings von der griechischen
grundverschieden. Er hat die Atmosphäre des Schicksalhaften und Verhängnisvollen
BESPRECHUNGEN. 477
aus der antiken Tragödie übernommen, dies hat jedoch in der Entwicklung der
deutschen Literatur unheilvolle Früchte gezeitigt. Andererseits ist durch Schillers
Vereinigung von sittlichem Pathos und »hohem Stil< die literarische Bildung aus-
schlaggebend beeinflußt und an das Tragische wie Heroische gewöhnt worden, zu-
gleich hat er durch starke Betonung des Allgemeinmenschlichen und des über den
Einzelfall Hinausgehenden am dramatischen Geschehen das Publikum zu dichterischem
Interesse, zu nicht nur stofflicher Aufnahme, zu symbolischer Betrachtung gezwungen.
Dies ist immerhin eine wichtige Folge von Schillers Beziehung zur griechischen
Tragödie für die deutsche Qeisteskultur, mögen die sentenziösen Allgemeinwahrheiten
seiner Dramen noch so sehr verflacht worden sein — ihr Betonen hat der Wahrung
dessen gedient, was Schiller als die Idealität der Kunst fordert.
Dies hat die Verfasserin gezeigt, mit einem tiefen Blick für geistesgeschichtliche
Zusammenhänge und für das Wesen der dichterischen Schöpfungsarten. Darin
schuldet die Arbeit in mancher Hinsicht Friedrich Gundolf Dank, obwohl sie durchaus
eigene wertvolle Gedanken entwickelt. Die wissenschaftliche Gründlichkeit wird
auch bei diesem Problem, dessen Tragweite über den engen Stoffkreis hinausreicht,
zu einer selbstverständlichen Voraussetzung. Nachdem in einem ersten Abschnitt
Schillers Beschäftigung mit der griechischen Tragödie in chronologischer Übersicht
dargestellt und im besonderen an seinen Euripidesübersetzungen untersucht wird,
behandelt der zweite die griechischen Elemente in Schillers Dramen nach Form und
Gehalt. Von hauptsächlicher Wichtigkeit ist der letzte Abschnitt über den Anteil
der Tragödie an dem Stilwandel der Schilierschen Dramen. Wir wollen die aus-
gezeichnete Arbeit im einzelnen besprechen.
Der erste Abschnitt zeigt, daß es Schiller nicht daran lag, restlos in die
griechische Tragödie einzudringen, sondern bestimmte, ihm gemäße Züge als Weg-
weiser für sein dramatisches Schaffen zu nutzen. Schiller, dessen griechische Sprach-
kenntnisse sehr gering waren, hat die Tragödie in französischer Prosaübersetzung
des Petrus Brumoy kennen gelernt und zwar zunächst den Euripides. Trotzdem hat
Schiller bei der ersten oberflächlichen Bekanntschaft schon den bewußten Willen, sie
für die eigene Dramatik auszubeuten, er verspricht sich griechische «Manierc und
übersetzt aus diesem Grund auch die Iphigenie des Euripides. Durch Humboldt
und Goethe angeregt, beschäftigt er sich gründlicher mit der Tragödie, gelangt aber
nicht zu einer vollen Erfassung der griechischen Sprache und damit — wie ich hin-
zufüge — der griechischen Seele. Mit Recht darf es als notwendiger Ausdruck von
Schillers Griechenfremdheit und nicht als Zufall angesehen werden, daß er sich in
den entscheidenden Jugendjahren nicht mit griechischer Dichtung abgegeben, und
daß ihn späterhin sein Instinkt an der näheren Berührung mit griechischem Sprach-
geist verhindert hat. Trotzdem wird Schillers Verhalten zur Tragödie von 1794 ab
theoretisch und von 1797 ab produktiv bedeutsam für seine geistige Haltung, man
meint aus seinen Briefen »unmittelbar zu spüren, wie etwas von der Luft der
griechischen Tragödie, die ihn so fortdauernd umgab, in seine eigenen Dramen ein-
strömen mußte« (S. 14). Freilich ist es nur etwas, nur eine Reihe von Zügen aus
dieser Atmosphäre. Eine Einwirkung kommt erst für die Dramen der Reifezeit in
Betracht, wobei Schiller immer noch auf Übersetzungen angewiesen ist. An einem
Vergleich mit Hölderiin und Humboldt wird noch offenbarer, daß es sich bei
Schiller um Mangel an Wahlverwandtschaft und Abneigung gegen griechisches
Sprachgefühl handelt. Denn wir können bei einem produktiven Künstler wie Schiller
Geist und Sprachform unmöglich trennen (S. 27). Dies zeigt sich auch an den
Euripidesübersetzungen: der wechselnde Rhythmus als Ausdruck dramatischer Be-
wegung und menschlicher Individualisierung, in »Iphigeniet und den »Phönizierinnenc,
478 BESPRECHUNGEN,
wird im Schilierschen Jambus abgeschwächt und verbreitert. Metrum, DiI<tion und
Charakter des Originals werden umgebogen. Schillers Neigung zum Rhetorischen,
unterstützt durch die französische Übersetzung, hat den Stil der Verdeutschung
wesentlich bestimmt, ebenso die Anwendung des Reims in den Chören mit intensiver
Betonung desselben.
Im zweiten Abschnitt weist die Verfasserin nach, daß weder formale Elemente
der griechischen Tragödie in sprachlicher, metrischer oder szenischer Hinsicht bei
Schiller tiefer wirksam geworden sind, noch Gepräge und Gehalt seiner Dramen
wesentlich Einfluß erfahren haben. Das erste läßt sich bei der Anwendung oft bis
ins einzelne durchgeführter Gleichnisse und ihrer äußeren Nachbildung nach antikem
Muster feststellen, wobei zugleich der Unterschied zutage tritt: die Gleichnisse der
griechischen Tragödie sind konkret, sinnlich, sichtbar — die Gleichnisse Schillers
abstrakt, anschaulich gemacht, fast immer gedacht. »Im Seelischen, nicht im Sinn-
lichen liegt der Nerv der Schilierschen Dramatik und darum auch seiner Dramen-
sprache, und im Seelischen wieder nicht in den Leidenschaften, sondern im sittlichen
Erleben (S. 48). Das Gedankliche arbeitet stark mit. Auch der Sprachbau ist
grundsätzlich anders: bei der griechischen Tragödie trotz des klaren Gesamtgefüges
ein lebhaftes Hervortreten jeder einzelnen Vorstellung, bei Schiller eine nie ver-
weilende Vorwärtsbewegung, die das einzelne nicht greifbar werden läßt, der Schwer-
punkt des Verses liegt fast immer am Ende. Annäherung, wenn auch nicht direkte
Einwirkung beobachten wir im Wechsel des Metrum und des Rhythmus bei den
späteren Dramen. Das Einführen des Chors ist ein bedeutsames Element, wenn
auch mehr um des dramatischen Gehaltes als um der szenischen Technik willen.
Bei alledem aber äußert sich griechischer Einfluß mehr im Vorhandensein als in
der Art dieser Elemente (S. 55). Was den Gehalt der Dramen Schillers betrifft, so
kann hierbei mit Recht nur die allgemeine Voraussetzung des tragischen Weltgefühls,
der heroischen Empfindung und der Selbstwertung des Menschen als verwandt an-
gesprochen werden — das besondere ist grundverschieden, vor allem die moralische
Einstellung Schillers unter dem Einfluß Kants. Bei Schillers tragischer Ansicht
»steht im Mittelpunkt die moralische Freiheit, die dem Menschen die Fähigkeit ver-
leiht, alle Hindernisse und Qualen seelisch zu überwinden, auch wenn er ihnen
physisch unterliegt« (S. 67). Hiermit wird hingewiesen auf die gänzlich ungriechische
Trennung des sittlichen und sinnlichen Menschen. Dieser Hinweis erscheint mir
besonders wichtig, insofern er die Wurzel der Griechenfremdheit Schillers und seiner
Dramatik berührt: Schiller verlegt den Schwerpunkt des tragischen Konfliktes in die
menschliche Seele, bei den Griechen spielt der dramatische Kampf vorwiegend
zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Geschick, bei ihnen liegt das Haupt-
gewicht im Geschehen. An einem Vergleich mit Shakespeare, der beide Elemente:
äußeres und inneres Geschehen vereint, wird der Unterschied verdeutlicht (S. 70).
Selbst beim Wallenstein, »wo unter dem noch frischen Eindruck der griechischen
Tragödie das äußere Geschehen immerhin am ehesten eigene Größe und Kraft
hat« (S. 74), und beim Teil werden Seelenkonflikte stark betont. Die »Braut von
Messina« ist zwar durchaus Handlungstragödie, aber auch sie verzichtet nicht
völlig auf den inneren Konflikt. Schillers Gleichgültigkeit gegen das äußere Ge-
schehen ist weniger aus Mangel an historischem Sinn als aus überwiegend psycho-
logischem Interesse zu erklären, wobei ich dieses allerdings nicht vom ethischen
trennen möchte. Jedenfalls zeigt die herangezogene Stelle (S. 77) eine ganz Kanti-
sche Einstellung. Hieran schließt sich eine tiefsinnige Ausführung über Schicksal
und Charakter in der antiken und modernen Tragödie. Mit Recht wird der land-
läufige Begriff vom blind waltenden Fatum als Ursprung allen Konfliktes sowohl
BESPRECHUNGEN. 479
für die griechische Tragödie als auch für Schiller abgelehnt. Auch in der >Braut
von Messiiia« dient das Fatum nur dem stinTmungmäßigen Element des allgemein
menschlichen Schauers vor seiner Unabwendbarkeit, und im »Wallenstein-i zeigt es
sich durchaus nicht allein entscheidend. Daß die unbewußte tragische Selbstbindung
und das Hineinspielen transzendenter Momente in den späteren Dramen im Mittel-
punkt steht — das hat vielleicht unmittelbar die Atmosphäre des griechischen Dramas
bewirkt. Doch auch hier ist die besondere Art verschieden: bei der antiken Tra-
gödie bedingt wie in Leben und Religion der Bann des überindividuellen Gesetzes
ein Zurücktreten des Einzelnen, bei ihr besteht der philosophische Widerspruch
Zwischen Freiheit und Notwendigkeit noch nicht, auch wird empfunden — wie ich
hinzufügen möchte — daß der einzelne dies überindividuelle Gesetz als selbst-
verständlich anerkennt, ja erst erschafft. Davon ist bei Schiller keine Rede, nur die
allgemeine Luftschicht des griechischen Fatum kommt bei ihm in Betracht und im
übrigen ist sie nur Symbol des seelischen Geschehens wie in der »Jungfrau von
Orleans . Daß der Begriff von Verhängnis« und Fatum« als Luftschicht aufzufassen
ist, die der tragische Held atmet, und nicht als starres Gegenüber, hat die Verfasserin
gezeigt (S. 86). Ich weise darauf hin, daß vielleicht eine Äußerung Goethes (im
Gespräch mit Schiller 1795) zu Mißverständnissen in dieser Frage beigetragen hat:
»Im Drama muß das Schicksal herrschen und dem Menschern widerstreben«. Der
Begriff des Dämonischen^ schlägt ja eine Brücke zwischen Schicksal und Charakter
und kommt sowohl für Ödipus wie für Cäsar oder Macbeth und die Helden der
späteren Schillerschen Dramen in Betracht.
Beim Übergang zum dritten Abschnitt erhebt sich die Frage, wieweit Schiller,
wenn er die griechische Tragödie als Vorbild betrachtete und sich doch keine ihrer
Elemente aneignete, mittelbaren Gewinn aus ihr zog, um »seinem eigenen Welt-
i^efühl eine neue gemäßere Form zu finden« (S. 92). Die Verfasserin will zunächst
in Schillers theoretischen Äußerungen den Begriff der griechischen »Simplizität» be-
cchtet wissen, an der er seinen Stil schulen wollte — namentlich durch das Vor-
bild des tragischen »hohen Stiles^. Dabei muß Simplizität nicht als Schlichtheit und
Einfachheit, sondern als Einheitlichkeit der Charakterisierung und des Niveaus in
der griechischen Tragödie gefaßt werden. Obwohl bei dieser der Schwerpunkt im
dramatischen Geschehen liegt, neige auch ich zu der Auffassung, daß ihr dennoch
die individualisierende Charakteristik nicht grundweg abzusprechen ist. 'Aber sie
erfolgt einem Bedürfnis der Handlung zuliebe, die ihrerseits sich nur zwischen
Personen des gleichmäßig hohen Niveaus bewegt« (S. 96). Von dieser Einheitlich-
keit wollte Schiller lernen, da er bei der künstlerischen Gestaltung stark vom Ich
ausging und dabei in den seelisch-sittlichen Konflikten befangen blieb. Das einheit-
liche Niveau sucht Schiller bei späteren Gestalten seiner moralischen Gegenspieler
(Isabeau, Geßler) zu erreichen und es zeigt sich, daß dort, wo er darauf verzichtet,
wie etwa bei Illo der Zweck der Haupthandlung bestimmend ist. Das Moment der
»Simplizität'^ weicht hier dem Moment des Geschehens, worin ich einen Widerstreit
zwischen zwei Errungenschaften sehen möchte, die Schiller für die Reinigung seines
Stils zu gewinnen suchte, ohne doch durch sie eine innere Umformung zu erfahren.
Dies wird bestärkt durch den anderen Fall, daß Schiller in dem Bestreben nach Ein-
iieitlichkeit des Stils einer färb- und gestaltlosen Charakterisierung seiner Menschen
nicht entgangen ist. Die Verfasserin zeigt noch, daß der hohe Stil »keineswegs aus
dem Wunsch nach einer Idealisierung der Wirklichkeit hervorgegangen ist« und daß
der Streit um realistische oder idealistische Kunst im Grund belanglos ist (S. 104—106).
Schillers »hoher Stil« ist mit Recht als Ausdruck seines Erlebens zu deuten, das
im Wesen dem der griechischen Tragödie fremd, doch durch ihr Vorbild erst seine
480 BESPRECHUNGEN.
Form gefunden hat. Es ist hier der Ort, auf die gänzlich unzulängh"che Gegenüber-
stellung von Idealismus und Realismus als Gesamtwesenheiten hinzuweisen, in ihnen
äuBem sich vielmehr jeweilige Lebenshaltungen: weder Shakespeare noch Goethe
noch Schiller lassen sich in eines dieser Schlagworte einfangen. Und wenn Schiller
als »der idealistische Dichter« der Deutschen gelten soll, so ist damit ein anderer
wichtiger Hinweis gegeben : daß der Gegensatz Goethe-Schiller unsinnig ist, denn
Schillers Leistung liegt in einer ganz anderen Ebene als die des deutschen Welt-
dichters, er hat im adligen Kampf um die Idealität der Kunst ihre Geltung ver-
fochten und das Betonen des Allgemeinmenschlichen in seinen Dramen ist mehr für
diesen Kampf wichtig, als daß es an sich ewigen Wert hätte. Es offenbart sich
darin nun auch die Bedeutung der griechischen Tragödie für Schillers Kunstschaffen.
Die Verfasserin scheidet sehr scharf den hohen Stil als Ausdruck, als Mittel Schiller-
schen Erlebens von der Idealität der Kunst als Zweck, als allgemeingültiges dich-
terisches Gesetz (S. 109). Schillers Anschauung von der notwendigen Trennung von
Kunst und Wirklichkeit fand in dem Vorbild der griechischen Tragödie eine be-
freiende Sanktion, dort sah er das Große und Typische dargestellt, dadurch fühlte
er sich berechtigt und befähigt, dem rein künstlerischen Interesse seines Erlebens zu
dienen. Der symbolische, auf das Allgemeine weisende Charakter zeigt sich in der
Anwendung des Chors und vor allem der Sentenz, wobei die Verschiedenheit des
Gepräges verdeutlicht wird: das reflektiv-gedankliche, auch auf das Publikum ein-
gestellte gegenüber dem dramatisch-rhythmischen (S. 120).
Eine Schlußbetrachtung geht auf die Bedeutung von Schillers Befruchtung durch
die Tragödie für unsere geistige Entwicklung ein, im Sinne des eingangs Ange-
deuteten. Ich glaube zu der erschöpfenden Behandlung des Problems nur bemerken
zu müssen: man darf vielleicht die Bedeutung von Schillers Verhältnis zur griechischen
Tragödie für unser Drama nicht als etwas Absolutes schätzen. Der Gewinn für das
deutsche Schrifttum ist ja gerade wie der für Schillers Dramatik nur ein mittel-
barer, oder besser: vermittelnder. Die Erziehung zu literarischem Verständnis des
Heroischen, Tragischen, Symbolischen in der Dichtung hat weniger Wert um der
allgemeinen Bildung und Kunststimmung willen als dadurch, daß sie Wert und
Wirkung der großen Dichter, Goethes und Hölderlins vor allem, sichert vor Ten-
denzen, die nicht von der »Idealität der Kunst« ausgehen. Das erscheint mir als
das bleibende Verdienst Schillers, denn Dichtung kann auch durch den feurigsten
und felsigsten Willen nicht Massen umbilden : er gerade wird den Wenigen echten
Anteil an der künstlerischen Idee vermitteln können.
Heidelberg. Erich Aren.
Hgö
Tafel I.
F. Adama van Scheltema, Beiträge zur Lehre vom Ornament.
' 'V.-
Fig. 3.
Fig. 2.
Fig. 4.
77:7^J!',
Fig. 7.
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. XV. Bd.
Tafel 11.
F. Adama van Sclieltema, Beiträge zur Lehre vom Ornament.
Fig-:5.
Fig. 6.
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. XV. Bd.
Hio'
Tafel III.
F. Adama van Scheltema, Beiträge zur Lehre vom Ornament.
mmmmmmmm
Fig. 9.
Fig. 11.
Fig. 12.
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. XV. Bd.
■^
N Zeitschrift für Ästhetik
3 und allgemeine
Z4.5 Kunstwissenschaft
Bd.l^-
15
PLEASE DO NOT REMOVE
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